Der Neue
„Aufstehen Mädchen und zwar sofort!!!“ Frau Puck rannte schon am frühen Morgen Wut schnaubend durch die Hallen des Waisenhauses und weckte die Jugendlichen mit strenger Stimme. Sie hatte sich heute beim Aufstehen ihre Hand in der Tür eingezwängt und jetzt war diese äußerst schlecht gelaunt. Die Mädchen wussten was das für sie zu bedeuten hatte und schimpften über ihre unmenschliche Erzieherin. Die jungen Frauen diskutierten heftig über ihre Theorie, dass die Leiterin des Waisenhauses eine Gesandte des Teufels sein musste und auf die Erde gekommen war, um sie zu quälen. Zwar wussten die Jugendlichen selbst, dass das nicht der Wahrheit entsprach, aber mit wenigstens ein bisschen Humor, konnten sie die Schreckensherrschaft von Frau Puck besser ertragen. Denn diese ließ ihre Wut wie immer an den Mädchen aus und deshalb entfiel auch das Frühstück, die einzig genießbare Mahlzeit des St. Helen Waisenhauses, für sie. Doch Hanako bekam von dem morgendlichem Radau und den Wutanfällen der Erzieherin nichts mit, sondern schlief noch tief und fest. Aber genau das, sollte ihr zum Verhängnis werden. Denn als die sowieso schon stinksaure Frau mitbekam, dass die Weißhaarige die Frechheit besaß, noch in ihrem „gemütlichen“ Bett zu liegen, musste diese den Zorn der Erzieherin über sich ergehen lassen. „Was fällt dir ein, einfach noch zu schlafen, du faules Stück! Was glaubst du wer du bist? Denkst du, du kannst dir alles leisten? Steh sofort auf, sonst werd ich dir Beine machen!“, schrie die Leiterin wutentbrannt. Sie war so aufgebracht, das Hanako sogar ihre Adern unter der Schläfe pulsieren sah, nachdem sie durch deren strenge und laute Stimme aufgeschreckt war. „E...Entschuldigung Frau Puck. Es tut mir Leid, aber ich konnte gestern nicht richtig einschlafen und da...“ „Deine Gründe interessieren mich nicht. Zieh dich bloß schnell an und verschwinde. Ich will dein Gesicht heute nicht mehr sehn!“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Wut und sie hob drohend die Hand. „Ja, ja wohl“, antwortete das Mädchen eingeschüchtert. Schnell zog sie sich an und machte sich hastig auf den Weg zur Schule.
Die Weißhaarige beeilte sich zwar, aber trotzdem schaffte sie es nicht mehr rechtzeitig zu kommen. Nach zehnminütiger Verspätung erreichte Hanako endlich das Klassenzimmer und klopfte zaghaft an. „Herein“, antwortete eine tiefe Stimme von drinnen. Langsam öffnete die 16-jährige die Tür und trat ein. Der Englischlehrer blickte sie mit hochgezogener Augenbraue und aufforderndem Blick an, während er auf eine Erklärung für ihr verspätetes Auftreten wartete. „Entschuldigung, aber ich habe verschlafen“, gab das Mädchen kleinlaut von sich. „Schön dass du es doch noch geschafft hast zu erscheinen, Fräulein Hanako“, sagte er ironisch, während er in weitaus strengerem Tonfall ein „Setz dich“ beifügte. Ohne ein weiteres Wort begab sie sich schließlich auf ihren Platz. Als sie saß, fing der Lehrer auch schon wieder an zu reden: „Also, wie ich eben schon gesagt habe, das ist euer neuer Mitschüler. Sein Name ist Daisuke.“ Während er sprach, deutete er auf einen ziemlich großen, bestimmt so um die 1.80m hohen Jungen, mit mittellangen, schwarzen Haaren, diversen dunkelroten Strähnen und einem etwas längern Seitenpony, der im locker ins Gesicht hing. Dieser ließ seinen Blick einmal kurz durch die Klasse schweifen und beobachtete nur gelangweilt seine neuen „Kameraden“, bis er seine Aufmerksamkeit wieder auf Herrn Schuller richtete und ihn mit seinen eisblauen Augen ansah. Der Lehrer schlug ihm vor, sich doch kurz den anderen vorzustellen. Unfreiwillig folgte er der Anweisung seines neuen Klassenleiters und sagte kurz angebunden: „Ich bin Dai. 17 Jahre alt und so wie`s aussieht, werde ich wohl jetzt auf eure Schule gehn.“
Es herrschte ein kurzes Schweigen, bis Herr Schuller überrascht feststellte, dass der Schwarzhaarige seine „Ansprache“ bereits beendet hatte. „Ja, dann setz dich. Such dir einfach einen Platz aus“, sagte er schließlich. Noch einmal schaute der Angesprochene sich seine Mitschüler an, doch diesmal etwas genauer. Die Mädchen, die schon die ganze Zeit miteinander über den gutaussehenden Neuankömmling geredet hatten, blickten ihn auffordernd an, während sie ihm den freien Platz neben sich anboten, sofern sie keinen Banknachbarn hatten. Der männliche Anteil hingegen stöhnte, genervt von so einem Verhalten, laut auf, wobei doch auch ein kleines bisschen Neid herauszuhören war. Der Rest der 10d, der überhaupt nicht reagierte, schlief hingegen oder hatte die Ankunft von Daisuke vor lauter Geschwätz noch nicht einmal mitbekommen. Doch das alles schien den Schwarzhaarigen überhaupt nicht zu interessieren, denn er hatte sich schon langsam auf den Weg gemacht und setzte sich einfach auf einen Stuhl, ohne die Reaktion des anderen, der an diesem Zweiertisch saß, abzuwarten. Hanako, neben der sich der Junge nun befand, drehte sich leicht weg und versuchte ihm nicht ins Gesicht zu schauen. Er sollte nicht sofort ihre roten Augen bemerken, auch wenn sie etwas verwundert darüber war, das er sie überhaupt zur Kenntnis nahm. „So, dann können wir jetzt anscheinend endlich mit dem eigentlichem Unterricht beginnen.“ Sofort fing der Lehrer auch schon wieder an seinen Schülern von der neuen Grammatik zu berichten, die sie die nächsten zwei Wochen durchnehmen würden. Doch seine Klasse hörten ihm gar nicht zu, was diesmal nicht an seinem langweiligen Vortrag lag. Die Mädchen waren anscheinend viel zu sehr damit beschäftigt, sich über Dai zu unterhalten. Die Frage des Tages war für sie, warum er sich ausgerechnet neben dieses komische Mädchen gesetzt hatte. Dass die Weißhaarige einer auch nur beachtet, war ihnen neu.
Nach 30 weiteren Minuten der Langweile, schlug endlich der Gong zur nächsten Stunde und eine braunhaarige Frau mit einer dicken Brille auf der Nase betrat den Raum. Als die Schüler die Person bemerkt hatten, ging ein allgemeines Stöhnen durch die Klasse. Na toll, die uninteressanteste Englischstunde aller Zeiten wurde durch die genauso „spannende“ Religionslehrerin abgelöst. „So meine Lieben", sagte sie mit schriller Stimme, "heute werden wir eine kleine Meditationsübung machen, um euer inneres Chi zu sammeln.“
„Ist die immer so?“ Überrascht von dieser Frage drehte sich Hanako schlagartig um und starrte in das Gesicht des Schwarzhaarigen, der ihr direkt in ihre blutroten Augen sah. Beschämt blickte sie zur Seite und flüsterte leise: „Naja, meistens.“
Nachdem die Klasse endlich auch diese Stunde einigermaßen gut überstanden hatte, freuten sich auch schon alle auf die wohlverdiente Pause, die durch einen weitern Gongschlag eingeläutet wurde.
„Hm, schönes Tattoo“, bemerkte Daisuke während er an Hanako vorbeiging und durch die Tür Richtung Pausenhof verschwand, der ihm bereitwillig von ein paar anderen Mädchen gezeigt wurde, die er mit genervtem Blick ansah,während sie ihn mitzogen. Tattoo? Er hatte doch wohl nicht etwa sie gemeint. Hanako besaß doch so etwas überhaupt nicht. Verwirrt über diese Aussage, rannte sie zu einer der Mädchentoiletten im oberen Stockwerk und inspizierte vor dem Spiegel genau ihren Körper, als sie angekommen war. „Oh mein Gott. Er hat Recht.“ Verwirrt starrte sie auf die linke Seite ihres Halses, dort prangte ein schwarzes Tattoo, das die Form eines chinesischen Schriftzeichens hatte. Wie konnte das passiert sein? Bis vor kurzem hatte die Weißhaarige keins, da war sie sich sicher. Hanako dacht noch einmal über die Ereignisse der letzen Tag nach und dabei fiel ihr etwas auf. Genau diese Stelle hatte gestern Abend, nachdem sie den Wolf berührt hatte, so fürchterlich gebrannt. Immer noch völlig konfus starrte sie ihr Ebenbild im Spiegel an. Alles was in letzter Zeit geschah, war so merkwürdig. Was passierte da bloß mit ihr?