23.5.2024: ändern
Ein frischer, klarer Duft lag in der Luft, als Hellen an diesem Morgen die Tür zum Balkon öffnete, der direkt an ihr Zimmer angrenzte. Judiths ältester Sohn hatte es für seine Tante räumen müssen und war nun beim Zweitältesten eingezogen – die Freude darüber hatte sich besonders zu Beginn sehr in Grenzen gehalten, aber inzwischen hatten sich die beiden Jungen mit der Situation arrangiert und Hellens schlechtes Gewissen sich beruhigt. Nun liebte sie es, sich morgens mit einer Tasse Kaffee auf den Balkon zu stellen und die erwachende Kleinstadt auf sich wirken zu lassen. Vieles hatte sie in den vergangenen Wochen geändert und so auch, dass sie nicht mehr vom Bett direkt in ihre Klamotten sprang und aus der Haustür eilte, um irgendwelchen Terminen oder Seminaren nachzugehen, sondern sich ein wenig Zeit für sich selbst nahm. Sie atmete die frische Morgenluft tief ein, streckte sich ausgiebig und beschloss, in den nächsten Morgen noch etwas früher zu starten, um auch eine kleine Sporteinheit mit einzubauen. Ein Gedanke, der sie an Jenny erinnerte, die dieser Routine auch immer nachging. Mit ihr war sie noch immer in Kontakt, wenn auch eher sporadisch. Wohin sich diese aufkeimende Freundschaft entwickeln würde? Sie wusste es nicht. Sie wusste auch nicht, ob sie überhaupt jemals wieder in ihre frühere Heimatstadt zurückkehren wollte. Spätestens, seit ihre Eltern vor einigen Jahren von dort weggezogen waren, gab es jetzt nichts mehr, das sie noch ernsthaft dorthin zurückziehen könnte. Aber darüber wollte sie sich jetzt auch keine Gedanken machen. Sie nahm noch einen tiefen Atemzug und spürte die Erleichterung darüber, jetzt nicht mehr so schnell Richards Gesicht in der Zeitung sehen zu müssen oder auf anderem Wege an ihn erinnert zu werden. Außerdem freute sie sich darüber, dass sich mittlerweile vieles weiter zum Positiven gewandelt hatte: Den Rest des Semesters pausierte sie mit der Uni, um sich stattdessen auf ihre Arbeit in einer Kleintierpraxis zu konzentrieren und hatte fast jeden Tag Spaß daran, dorthin zu gehen. Selbst, wenn es nur ein Studentenjob war, erfüllte sie diese Tätigkeit und bestärkte sie darin, ihren beruflichen Weg weiter in diese Richtung zu verfolgen. Sie hatte gleich nach ihrem Umzug die umliegenden Universitäten kontaktiert und zwar nicht den Platz an ihrer Wunschuni bekommen, dafür aber an einer, die ebenfalls einen guten Eindruck auf sie gemacht hatte. Und sie merkte, wie heilsam ihr Zusammenleben mit Judith und deren Familie war. Sie hatte nach den vielen Jahren der Zweisamkeit ganz vergessen, wie turbulent und lebhaft es früher immer im eigenen Elternhaus zugegangen war. Es war, als fülle sich nun alles mit neuem Leben. Aber trotzdem plante sie auch, mit Fortgang des Studiums nach eigenen vier Wänden zu suchen, um sich mehr aufs Lernen konzentrieren zu können und auch, um die Gastfreundschaft nicht auszureizen. Das zumindest redete sie sich selbst ein, wenn diese kleine Stimme in ihrem Kopf aufkam, die sagte, dass sie sich nicht wieder so abhängig machen dürfe…
Sie schaute auf ihre Uhr, leerte die Tasse und ging dann zurück ins Haus. Es wurde Zeit, dass sie Judith dabei half, die Kinder aus dem Bett zu werfen und zur Schule zu scheuchen, ehe sie sich danach selbst auf den Weg zur Praxis machte. Sie schloss die Balkontür hinter sich und musste beim Gedanken daran, wie viel sich geändert hatte, unwillkürlich lächeln.