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That feelings makes me insane

Wanderer x Lumine
von

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Ein neuer Tag brach in Sumeru, die Stadt der Weisheit, an und obwohl es noch sehr früh am Morgen war, erwachte Paimon gähnend durch die ersten Sonnenstrahlen, welche durch das offene Fenster ihrer Unterkunft herein fielen, blinzelte einige Male und streckte sich ausgiebig.

Inzwischen war sie das frühe Aufstehen schon längst gewohnt, schließlich begleitete sie die Reisende, die auf den Namen Lumine hörte, schon seit fast zwei Jahren durch Teyvat.

Auf ihrer gemeinsamen Reise hatten sie schon eine Menge gesehen und erlebt.

Bisher waren sie in jedem Land in eine gefährliche Angelegenheit verwickelt worden, aber irgendwie war es der Blondine, die sehr schnell Freundschaften knüpfen konnte, stets gelungen, mit ihren Kameraden die Städte vor der totalen Zerstörung zu bewahren.

Ja, Lumine war eine wahre Heldin.

Sie half, wo sie konnte, nahm jede Mission entgegen und gab jeden Tag ihr Bestes.

Natürlich wusste Paimon sehr wohl, wieso ihre Freundin nie eine der zahlreichen und auch fragwürdigen Missionen ablehnte, denn hinter jeden noch so simplen Auftrag könnte sich ein kleiner Hinweis auf Aether verbergen, den sie nach wie vor zu finden versuchte.

Vermutlich, Paimon hatte gar nicht erst gefragt, waren sie deswegen auch noch immer in Sumeru, weil sich Lumine noch weitere Informationen von Nahida erhoffte.
 

Nach nur wenigen Minuten schüttelte Paimon ihren Kopf, um vorerst all die Gedanken an den verschwundenen Zwillingsbruder zu vertreiben und wendete sich der Reisenden zu, die augenscheinlich noch im Land der Träume zu sein schien.

"Lumine, aufstehen. Ein neuer Tag ist angebrochen" rief sie ihrer Freundin zu, schwebte näher zu ihr heran und rüttelte sie leicht an der rechten Schulter.

Als Lumine jedoch keinerlei Reaktion auf ihre Weckversuche zeigte und vollkommen unverändert im Bett liegen blieb, rief sie ihren Namen ein weiteres Mal.

Leichte Panik stieg in Paimon auf, rief die Blondine erneut, dieses Mal jedoch lautstark und rüttelte etwas fester an ihr.

"Ku..." drang ein Wispern an ihr Ohr, weshalb Paimon das heftige Rütteln vorerst einstellte und nahm das Gesicht ihrer Freundin in Augenschein.

Offenbar durchlebte Lumine einen furchtbaren Albtraum, denn ihre Gesichtszüge zeugten von Schmerz und einer gewissen Traurigkeit.

"Kuni..." lauschte Paimon der brüchig klingenden Stimme der Blondine, aus deren Augenwinkel vereinzelte Tränen traten und nach einem letzten, verzweifelten Versuch, Lumine zu wecken, woran sie erneut scheiterte, flog Paimon aus dem offenen Fenster, um Hilfe zu holen.
 

Während Paimon in ihren Erinnerungen kramte, ob sie das Wort Kuni, eventuell handelte es sich sogar um einen Namen, schon einmal irgendwo gehört hatte, trat der Wanderer, der vor einigen Jahrhunderten noch den Titel Kunikuzushi getragen hatte, ins Freie und hielt noch einmal inne, als er die Stimme der niederen Herrin Kusanali vernahm, welche ihm einen angenehmen Tag wünschte.

Ohne eine Miene zu verziehen sah er über seine linke Schulter, nickte Buer zu, wie er sie vorzugsweise nannte und wartete geduldig, bis die großen Türen ins Schloss fielen, ehe er einen leisen, abfälligen Laut ausstieß und seine blauen Augen, die im Sonnenlicht einen leicht violetten Schimmer besaßen, auf den Weg vor sich richtete.

Keine Frage, er war Buer zum Dank verpflichtet, denn ohne sie würde er noch immer in Haft sitzen und auf sein Ende warten, aber manchmal, wie an diesen Morgen, konnte er diese übertriebene Freundlichkeit einfach nicht ertragen.

Seufzend und seinen Hut mit der rechten Hand ergreifend, den er sich tief ins Gesicht zog, setzte er sich in Bewegung, um seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, nämlich Sumeru aus dem Schatten heraus zu beschützen.
 

Bevor der Wanderer jedoch seine Aufgabe in Angriff nehmen konnte, ertönte eine hohe, piepsige Stimme in einiger Entfernung, was ihn unweigerlich zu einem weiteren, abfälligen Laut veranlasste.

Dennoch, obgleich sich seine Laune verschlechterte, eben weil ihm wohl nichts erspart blieb, hob er seinen Blick und entdeckte das schwebende Etwas auf der Brücke.

Vorerst ignorierte er den Umstand, dass Paimon voller Panik und offenbar auf dem Weg zum Heiligtum war, um vermutlich Buer um Hilfe zu bitten und fragte sich insgeheim, wo die Reisende war.

War ihr möglicherweise etwas zugestoßen?

Nein, unmöglich, schließlich hatte sie sogar gegen ihn in seiner damaligen Gottform gekämpft und kaum Verletzungen davon getragen.

Abgesehen davon fiel die Reisende nicht in sein Zuständigkeitsbereich, obwohl er natürlich auch ihr zum Dank verpflichtet war.

Offen zugeben würde er das allerdings nicht, aber vielleicht ergab sich eines Tages eine Gelegenheit, um seine offene Schuld bei ihr zu begleichen.

Mit jenem Gedanken machte er auf den Absatz kehrt und folgte Paimon, welche zuvor an ihm vorbei geflogen war und nun mit ihren kleinen Händen an die viel zu großen Türen klopfte.

Schmunzelnd stoppte er direkt hinter ihr, verschränkte seine Arme vor der Brust und beobachtete ihre verzweifelten Versuche, eine der großen Türen zu öffnen.
 

Erschrocken durch den Schatten an der Tür fuhr Paimon herum, starrte den jungen Mann mit dem viel zu großen Hut an und stemmte unverzüglich ihre Hände in die Hüften, als er leise über ihre Reaktion lachte.

"Paimon findet das überhaupt nicht lustig" beschwerte sie sich für den Schreck, den er ihr eingejagt hatte und versuchte sich an seinen Namen zu erinnern.

Nach nur wenigen Sekunden fiel ihr jedoch ein, dass ihre Freundin ihm noch keinen neuen Namen gegeben und ihn stattdessen um etwas Bedenkzeit gebeten hatte.

"Jetzt hör auf zu lachen und hilf Paimon, die Tür zu öffnen" murrte sie, drehte sich herum und setzte all ihre verfügbare Kraft ein, um die Tür irgendwie zu öffnen.
 

Noch immer schmunzelnd und mit nun wesentlich besserer Laune kam er ihrem Drängen nach, legte die linke Hand an die Tür und schob sie mit wenig Kraftaufwand nach innen.

"War doch gar nicht so schwer" konnte er sich jenen Spruch einfach nicht verkneifen und brachte sie ein weiteres Mal zur Weißglut.

"Du... Du bist so... So ein unverschämter Kerl" rief sie aufgebracht, weshalb sich sein Schmunzeln in ein belustigtes Grinsen verwandelte und zog seine Hand ohne Vorwarnung zurück.

"Solltest du nicht etwas freundlicher zu deinem Helfer sein?" fragte er sie und deutete auf die Tür, die sich wieder zu schließen drohte.

Lachend beobachtete er, wie Paimon murrend durch den minimalen Spalt flog, um ins Innere zu gelangen und glaubte sogar einen lautstarken Fluch zu vernehmen.

Allerdings war es ihm vollkommen egal, ob sie ihn beleidigte oder gar verfluchte, drehte sich mit dieser morgendlichen Genugtuung herum und lief die Brücken hinab, um in Sumeru nach dem Rechten zu sehen.

Ob sich Paimon über sein Verhalten bei Buer beschweren würde?

Vermutlich schon, aber auch das interessierte ihn nicht.

Die Freude, irgendwelche Personen zu triezen, sie regelrecht zur Weißglut zu treiben, machte eben unglaublich viel Spaß und eben jenes Vergnügen würde er sich nicht nehmen lassen.
 

Nahe der Klinik Bimarstan spitzte sich die Lage unter den Bewohnern bereits gehörig zu und sahen voller Furcht zum Haus, welches momentan von der Reisenden und Paimon bewohnt wurde.

Vor wenigen Minuten war ein Schrei ertönt, eindeutig von der blonden Reisenden, die starke Schmerzen zu verspüren schien, weswegen sich zwei Männer, die dem Regiment der Dreißig angehörten, unverzüglich in Bewegung gesetzt hatten, um nach dem Rechten zu schauen.

Bevor sie jedoch die Tür erreichen hätten können, war dunkler, fast schon schwarzer Qualm aus dem offenen Fenster geströmt, womit sie nur kurz in Berührung gekommen waren.

"Bleibt zurück. Wir..." hatte einer der Männer noch sagen wollen, ehe er in sich zusammen gesackt und bewusstlos im Vorgarten liegen geblieben war.

"Haltet Abstand und informiert... Die niedere Herrin..." hatte der andere Mann noch über die Lippen gebracht, bevor auch er das Bewusstsein verloren hatte.

Einer der Ärzte von der Bimarstan Klinik war schließlich durch den Tumult herbei geeilt, hatte die zwei bewusstlosen Männer im Vorgarten entdeckt und hatte die Warnungen der Bewohner ignoriert, war zu ihnen heran getreten und ebenfalls mit dem dunklen Qualm in Berührung gekommen, weswegen auch er zusammen gebrochen war.
 

"Mh?" entwich es dem Wanderer, blieb mitten auf dem Weg stehen und beobachtete eine verängstigte Menschentraube, die von herbei geeilten Wachmännern zur Ruhe gebeten wurden.

Einer der Wachmänner trennte sich schließlich von ihnen, hastete an ihm vorbei und rannte die Brücke hinauf.

Interessiert und natürlich auch voller Neugierde setzte er sich in Bewegung, mischte sich unter die Menschen und richtete sein Augenmerk sofort auf drei bewusstlose Männer, die vor einem Haus auf den Boden lagen.

Allerdings schenkte er ihnen nur für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit, hob seinen Blick und betrachtete den dunklen Qualm, der ihm durchaus vertraut erschien.

"Aber wieso sollte der Orden...". "Wanderer, kannst du mich hören?" wurde er bei seiner Überlegung gestört und sah zum Himmel auf.

"Laut und deutlich" antwortete er in seinen Gedanken und verschränkte seine Arme vor der Brust.

"Paimon ist bei mir und sie ist vollkommen aufgelöst. Sie berichtete mir, dass Lumine auf keinen ihrer Weckversuche reagiert hat. Wenn du in der Nähe der Bimarstan Klinik bist, möchte ich dich bitten, dir einen ersten Eindruck zu verschaffen, bis ich mit Paimon eintreffe" lauschte er ihrer Bitte und richtete seine blauen Augen abermals auf das Haus.

War es im Bereich des Möglichen, dass die Blondine eben jenes Haus bewohnte und in ernsthaften Schwierigkeiten steckte?
 

"Ich bin bereits vor Ort und bitte um die Erlaubnis, zur Tat zu schreiten" erwiderte er der niederen Herrin gedanklich, löste die Verschränkung seiner Arme wieder und trat aus der Menschenmenge hervor.

Die Warnungen der Männer und die Fragen von Buer ignorierte er vorerst, trat festen Schrittes auf das Haus zu, bis er die drei bewusstlosen Männer am Boden erreichte.

Äußerst unsanft packte er sie nacheinander am Kragen, warf sie aus dem Wirkungsbereich des dunklen Qualmes, der keinerlei Effekt auf ihn ausübte und setzte seinen Weg zur Tür fort, die er ohne weitere Umschweife öffnete.

In solchen Momenten war es doch von Vorteil, kein menschliches Lebewesen zu sein.

"Verstehe... Dieser Qualm strömt aus ihrem Körper" analysierte er den Ursprung, wobei jedoch etliche Fragen unbeantwortet blieben, als er die Reisende sich vor Schmerz krümmend auf dem Bett entdeckte.
 

"Soeben erreichte mich die Information, dass aus der Unterkunft, die ich Lumine und Paimon zur Verfügung gestellt habe, dunkler Qualm strömt, der bei Kontakt zur Bewusstlosigkeit führt. Kannst du diese Information bestätigen?" hörte er Buer fragen, während er an das Bett heran trat und stoppte instinktiv, als die Reisende gequält wimmerte.

Vor einigen Wochen hätte er sich noch an einen derartigen Anblick ergötzt.

Er hätte es sogar begrüßt, wenn sie endlich das Zeitliche segnete.

Doch ihre jetzigen Gesichtszüge, die von Wut, Trauer und Pein zeugten, verursachten gemischte Gefühle in ihm.

"Reisende?" rief er sie und erhob seine linke Hand, mit der er ihre rechte Schulter ergriff und rüttelte zaghaft an ihr.

Allerdings zeigte sein Weckversuch gar keine Reaktion, was vermutlich an diesen Qualm liegen musste, der unaufhaltsam aus ihrem Körper strömte.

Eine gewisse Wut breitete sich in ihm aus, weil er nicht wusste, was er tun sollte, denn wenn es selbst Paimon mit ihrer hohen Stimme nicht gelungen war, sie aus dem Schlaf zu reißen, brauchte er sich erst gar keine Hoffnung auf einen Erfolg machen.

Neben der Wut gesellte sich noch ein anderes, durchaus vertrautes Gefühl.

Eine gewisse Furcht, die Reisende vor seinen Augen sterben zu sehen.

Natürlich waren sie weder Freunde, noch standen sie in einem engeren Verhältnis zueinander und vielleicht hatte sie ihm aus diesem Grund auch noch keinen Namen gegeben.

Warum sollte sie auch einer Person einen Namen geben, der sie mit Abscheu entgegen trat und nicht ausstehen konnte?
 

"Erde an Kunikuzushi" wurde er aus seinen Gedankengängen gerissen, zog seine Hand wieder zurück und sah wütend zur Zimmerdecke auf, während er ungehalten mit den Zähnen knirschte.

"Nennt mich nie wieder bei einen meiner früheren Titel" äußerte er sein Missfallen gedanklich.

Kabukimono, Kunikuzushi und letzten Endes auch Scaramouche gehörten der Vergangenheit an.

"Wenn du auf all meine Fragen reagiert hättest, hätte ich dich nicht bei diesen Titel rufen müssen. Abgesehen davon hat Paimon gesagt, dass Lumine im Schlaf 'Kuni' geflüstert hat und anschließend in Tränen ausgebrochen ist" wurde ihm vorgehalten, wobei ihn die zusätzliche Information seiner sonstigen Fassung beraubte.

Hatte die Reisende etwa im Schlaf nach ihm gerufen?

Das konnte er sich irgendwie nicht vorstellen, vor allem weil sie ihn doch überhaupt nicht ausstehen konnte.

Bestimmt hatte sich der kleine Quälgeist verhört.
 

"Paimon und ich sind eingetroffen" erhielt er jene Information nur wenige Sekunden später und sah aus dem Fenster, nur um zu erkennen, wie Buer eine Barriere errichtete, um den dunklen Qualm an der weiteren Ausbreitung zu hindern.

"Wanderer, ich leihe dir einen kleinen Teil meiner Macht. Da wir Lumine nicht auf die herkömmliche Art und Weise wecken können und du die einzige Person bist, die dem dunklen Qualm widerstehen kann, wirst du in ihr Bewusstsein eintauchen, um sie zu wecken, während ich die Barriere aufrecht erhalte" übermittelte Buer ihren Plan, mit dem er einverstanden war und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante.

"Bist du bereit?" fragte die niedere Herrin, woraufhin er noch einen tiefen Luftzug nahm, um sich weitgehend zu entspannen, schließlich erforderte ihr Plan ein gewisses Maß an Konzentration.

"Ja, ich bin bereit" ließ er sie wissen, folgte ihren nächsten Anweisungen und ergriff die linke Hand der Reisenden, während er seine Augenlider senkte.

In nur wenigen Augenblicken würde er hoffentlich auf all seine Fragen die entsprechenden Antworten erhalten.

Lumine war sich inzwischen nicht mehr sicher, wie viele Minuten, vielleicht waren es sogar mehrere Stunden, sie auf dem harten Holzboden lag, vollkommen unfähig, sich zu rühren und wusste ebenso wenig, ob es sich noch um einen sehr realistischen Traum handelte oder ob das, was um sie herum geschah, ein reales Erlebnis war.

Sie wusste lediglich, dass sie kaum noch Luft bekam, immer wieder von heftigen Hustenanfällen übermannt wurde, die enorme Hitze um sie herum auf ihrer Haut brannte und das sie unerträgliche Schmerzen im gesamten Körper verspürte.

Schmerzen, die durch reine, hoch konzentrierte Magie verursacht wurde.

Eine uralte Magie, die gewöhnliche Menschen bei geringerer Konzentration mit der Zeit krank machte.

Abermals hustete Lumine, öffnete ihre goldenen Augen und versuchte durch den dichten Rauch, der sich durch ein Feuer gebildet hatte, jene Person zu erkennen, die Abyss Magie auf sie wirkte.

"Warum?" fragte sie hauchend, senkte ihre Augenlider wieder und versuchte sich an jenen Augenblick zu erinnern, als sich ihr angenehmer Traum in einen fürchterlichen Albtraum verwandelt hatte.
 

~
 

Ohne wirkliches Ziel, denn ihre täglichen Missionen hatte sie bereits erledigt, lief Lumine durch Inazuma und genoss den sonnigen Tag.

Hin und wieder kamen ihr vertraute Personen entgegen, denen sie in der Vergangenheit geholfen hatte und gerade, als sie ein kleines Schwätzchen halten wollte, tauchte in der Ferne eine Gestalt auf, die sie augenblicklich verstummen ließ.

"Entschuldigt mich" brachte sie leise hervor, rannte los und folgte der Person, die sich herum gedreht hatte und offenbar das Weite suchen wollte.

"Warte..." rief sie der Person zu, die in ihrem Alter war und ebenso blondes Haar wie sie besaß, doch anstatt zu warten, verschwand die Gestalt direkt vor ihren Augen.

Heftig atmend stützte sich Lumine auf ihren Knien ab und sah noch einmal zu der Stelle, an der die Person zuvor verschwunden war.

"Ob ich ihn mir nur eingebildet habe?" fragte sie sich gedanklich, atmete noch einmal tief durch und richtete sich wieder auf.

"Aether..." wisperte sie, stieß einen frustrierten Seufzer aus und wollte gerade auf den Absatz kehrt machen, als sich plötzlich die Umgebung verdunkelte und richtete ihre goldenen Augen gen Himmel.

"Was zum..." dachte sie, drehte sich rasch herum und öffnete bereits ihren Mund, um die Bewohner von Inazuma zu beruhigen und ihnen zu versprechen, den Grund der plötzlichen Finsternis zu ergründen, doch als sie bemerkte, dass sie von besagter Finsternis bereits verschlungen worden war, blieben ihr ihre Worte im Halse stecken.

Sie konnte die Hand vor Augen nicht erkennen und noch bevor sie einen vorsichtigen Schritt hätte wagen können, spürte sie einen starken Stoß im Rücken und fiel in einen bodenlosen Abgrund.
 

Als sie ihre Augen wieder öffnete, die sie vor Schreck geschlossen hatte, fand sie sich in einem Haus wieder.

Langsam richtete sie sich auf, sah sich in der bescheidenen Behausung um und erblickte schließlich einen kleinen Jungen, der vollkommen regungslos auf dem Holzboden lag, in der rechten Hand eine kleine Stoffpuppe haltend.

Obgleich sie glaubte, jenen Jungen, der vielleicht gerade einmal zehn Jahre alt war, schon einmal irgendwo gesehen zu haben, rutschte sie zu ihm heran und wollte ihre linke Hand an seine Schulter legen, um ihn zu wecken.

Allerdings glitt ihre Hand durch seine Schulter hindurch und als sie ihn näher in Augenschein nahm, bemerkte sie, dass sich sein Brustkorb weder hob, noch senkte.

Noch einmal versuchte sie ihn zu berühren und gelangte schließlich zur Erkenntnis, dass sie sehr wahrscheinlich träumte.

Das würde auch erklären, wieso Aether zuvor spurlos verschwunden war und sich der Himmel ohne ersichtlichen Grund verfinstert hatte.
 

Das leise Knarren der Haustür holte sie aus ihren Gedankengängen und als sie den jungen Mann erblickte, der mit freudigen Gesichtsausdruck im Türrahmen erschienen war, erspähte, fiel ihr unverzüglich wieder ein, wann und wo sie den toten Jungen schon einmal gesehen hatte.

"Kunikuzushi..." wisperte sie in die Stille hinein, denn unter jenen Titel war er zum damaligen Zeitpunkt bekannt gewesen und beobachtete, wie ihm die Freude aus dem Gesicht wich und sich langsamen Schrittes in Bewegung setzte, bis er den Jungen erreichte und sank vor ihm auf die Knie.

"Warum? Du... Du hast mir doch versprochen, dass wir für immer zusammen bleiben" hörte sie ihn mit erstickter Stimme sagen, bevor ihn die Trauer um den Verlust seines Freundes übermannte und ihm etliche Tränen über die Wangen liefen.

Im jenen Moment, vor allem weil sie ihn so hautnah leiden sehen musste, verspürte sie nicht nur Verständnis und Mitgefühl, sondern auch den starken Wunsch, zu ihm heran zu rutschen und ihn tröstend in die Arme zu schließen.

Ob er überhaupt jemals eine Umarmung erfahren hatte?

Wusste er um die Wärme und Linderung der Schmerzen, die eine Umarmung bewirken konnte?

Lumine wusste es nicht und senkte schluckend ihr Gesicht, als er lauthals schluchzte und sich all seinen Kummer von der Seele schrie.
 

Nach einigen Minuten wurde es wieder still im Haus und Lumine vermutete, dass sich Kunikuzushi vorerst beruhigt hatte, zumindest vergoss er keine einzige Träne mehr und schien wieder relativ gefasst zu sein.

Ein gewaltiger Irrtum, denn als er sich ohne Vorwarnung erhob, konnte sie blanke Wut in seinem Gesicht erkennen.

Abrupt erhob sie sich ebenfalls und rief ihn einige Male, wohl wissend, dass er sie wahrscheinlich nicht hören konnte und sah hilflos mit an, wie er die wenigen Möbelstücke im Haus zerstörte.

Als er jedoch eine Ölllampe ergriff, versuchte sie seinen Arm zu ergreifen, doch wie bei dem Jungen zuvor glitt ihre Hand durch seinen Körper hindurch.

Es klirrte und durch die Tatsache, dass das gesamte Haus aus Holz erbaut worden war, breitete sich das Feuer dementsprechend schnell aus.

Hustend, als sie den ersten Rauch einatmete, hielt sie sich ihre linke Hand vor Nase und Mund.

Warum konnte sie die Hitze der Flammen auf ihrer Haut spüren und den Feuerrauch riechen?

An ihren gesunden Verstand zweifelnd, trat sie auf Kunikuzushi zu, der an einen Holzpfeiler in sitzender Position lehnte und mit ausdrucksloser Miene in die Flammen starrte.
 

Sie wollte gerade ihre Stimme erheben und ihn fragen, ob er wirklich sterben wollte, doch anstatt Worte entfuhr ihr ein Schrei, sackte unverzüglich zu Boden und musste beobachten, wie ihr gesamter Körper von einer düsteren Macht umhüllt wurde.

Immer wieder hustend versuchte sie ihren Kopf zu bewegen und riss entsetzt ihre goldenen Augen auf, als sie ihren Zwillingsbruder erblickte, aus dessen ausgestreckter Hand jene Macht strömte.

"Aether..." brachte sie mühevoll über ihre Lippen und wurde von einer weiteren Welle des Schmerzes erfasst, die ihr die Luft zum Atmen raubte und verlor das Bewusstsein.
 

~
 

Erschöpft öffnete Lumine ihre Augen wieder, hustete heftig und linste zu Kunikuzushi, der nach wie vor teilnahmslos an den Holzpfeiler lehnte.

"Hilf mir" dachte sie, denn sie war sich relativ sicher, kein einziges Wort mehr über die Lippen zu bekommen.

"Bitte..." fügte sie noch gedanklich hinzu und konnte den folgenden Tränen keinen Einhalt gebieten, die ihr erbarmungslos übers Gesicht liefen.

Einerseits aus Wut, weil sie sich nicht selbst helfen konnte und andererseits aus purer Traurigkeit, weil ihr Bruder, ihr geliebter Zwillungsbruder, der Grund ihrer jetzigen Lage war.

Nach wie vor fragte sie sich, wieso er Abyss Magie auf sie wirkte und wie es ihm überhaupt gelungen war, jene Magie zu seinen Gunsten zu nutzen.
 

Ein plötzlicher Windstoß zwang sie dazu, ihre Augen zu schließen und spürte im selben Moment, wie der Schmerz abrupt aufhörte und wie sich Arme um sie legten, ehe ein Ruck durch ihren Körper fuhr und sie kühle, angenehme und vor allem frische Luft um sich herum wahrnehmen konnte.

Vorsichtig öffnete sie ihre Augen wieder, nachdem sie auf den Boden abgesetzt worden war und zuckte zusammen, als ihr etwas auf dem Kopf gesetzt wurde.

"Bleib sitzen" drang eine äußerst vertraute Stimme an ihr Ohr und nickte kaum merklich, nicht ohne ihre Hände zu erheben und den Hut zu ergreifen, der jener vertrauten Person gehörte und zog ihn sich tief ins Gesicht, um weitere Tränen zu verbergen.

"Danke..." brachte sie dennoch hervor, obgleich ihre brüchige Stimme verriet, wie sie sich im Augenblick fühlte.
 

Der Wanderer hingegen behielt seine Augen auf den blonden Kerl gerichtet, der zuvor seinen Angriff ausgewichen war, wodurch es ihm erst möglich gewesen war, zur Reisenden zu gelangen und sie aus dem brennenden Haus zu bringen.

Jenes Haus, welches schmerzhafte Erinnerungen in ihm hervor rief, aber für irgendwelche Sentimentalitäten hatte er nun absolut keine Zeit.

Stattdessen musste er in Erfahrung bringen, wer der blonde Typ war, der der Reisenden auf eine erschreckende Art und Weise unglaublich ähnelte, wieso er Abyss Magie wirken konnte und wie es ihm überhaupt gelungen war, in ihr Bewusstsein zu gelangen.

"Wenn Blicke töten könnten, würde ich vermutlich jetzt tot umfallen" sagte der Fremde, blieb nur wenige Meter vor ihm stehen und verschränkte provokant lächelnd die Arme vor der Brust, was ihn, den Wanderer, ungehalten mit den Zähnen knirschen ließ.

Was bildete sich dieser Fatzke überhaupt ein?

Mit einer derartigen Arroganz vor sein Antlitz zu treten war einfach nur selbstmörderisch und es juckte ihn bereits in den Fingern, aber er besann sich, eben weil er Informationen brauchte.

"Was hast du mit der Reisenden zu schaffen?" stellte er die erste Frage, die in seinen Augen durchaus berechtigt erschien und warf nur einen flüchtigen Blick zu Lumine hinab.
 

Lumine war es derweil gelungen, sich einigermaßen zu beruhigen und startete einen verzweifelten Versuch, sich zu erheben und scheiterte kläglich.

Ihre Beine zitterten unaufhörlich, vermutlich die Nachwirkungen des vorherigen Schmerzes und musste sich wohl oder übel eingestehen, dass sie dem Wanderer unter diesen Umständen keine großartige Hilfe wäre.

"In einigen Tagen wirst du dich wieder besser fühlen, Lumine" teilte Aether ihr mit, ohne die zuvor gestellte Frage zu beantworten und entnahm seiner Miene, dass ihm sein vorheriger Angriff keineswegs leid tat.

"Siehe diesen Testlauf als eine Art Warnung an und durchkreuze keinen weiteren meiner Pläne. Letzten Endes kannst du mich sowieso nicht aufhalten" ließ er sie wissen, schenkte ihr noch ein letztes Lächeln und löste sich schließlich in Luft auf.
 

"Wer war dieser Bastard?" durchbrach der Wanderer die Stille und verschränkte seine Arme vor der Brust.

"Mein... Mein Zwillingsbruder" wurde ihm sehr leise geantwortet, wodurch sich viele seiner Fragen von selbst beantworteten.

Deswegen sah er ihr so unglaublich ähnlich, besaß dieselbe Augen und Haarfarbe und hatte geradezu die gleiche Aura wie Lumine ausgestrahlt.

Deswegen konnte er Abyss Magie anwenden.

Vermutlich hatte dieser Testlauf dazu gedient, um ihr zu demonstrieren, zu was er inzwischen fähig war und im gleichen Atemzug hatte er seiner Schwester angeraten, die Füße besser still zu halten, wenn sie nicht wollte, dass Unbeteiligte zu Schaden kommen.

Das traf nicht nur auf die Einwohner von Sumeru zu, sondern auch auf all ihre Bekannten und Freunde.

Seine übrigen Fragen, beispielsweise ihr Ruf nach ihm, sofern Paimon sich tatsächlich nicht verhört hatte oder warum sie überhaupt von seiner Vergangenheit träumte, schob er vorerst in den Hintergrund, nahm ihr den Hut wieder ab und ging vor ihr in die Hocke.

Als sich ihre Blicke trafen, erschauderte er unwillkürlich, als er den Schmerz, die tiefe Traurigkeit und diese Hilflosigkeit in ihren goldenen Augen erkennen konnte.

"Gib mir deine Hand" sagte er und obwohl er eine Frage bezüglich seiner Anweisung befürchtete, streckte sie ihre linke Hand ohne ein Wort nach ihm aus und senkte lediglich ihren Blick.

Ohne ihre ungwohnte Folgsamkeit zu kommentieren, vermutlich besaß sie einfach nicht die Kraft, um eine Diskussion mit ihm zu führen, ergriff er ihre Hand und schloss seine Augen.

"Erwache..." wisperte er und als er seine Augen wieder öffnete, war er zurück in der Unterkunft.
 

Auch Lumine öffnete allmählich ihre Augen, wobei sie einige Male blinzeln musste, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen und erblickte neben sich den Wanderer auf der Bettkante sitzen, der nun erst die Verbindung ihrer Hände löste und sich ohne ein weiteres Wort erhob.

Noch bevor sie hätte etwas sagen können, wurde ihr Kopf umarmt und vernahm die weinerliche Stimme von Paimon.

"Paimon hat sich solche Sorgen um dich gemacht" stieß sie teils verzweifelt, teils erleichtert aus und versuchte ihre rechte Hand zu erheben, um ihrer kleinen Freundin zumindest tröstend über den Kopf zu streicheln.

Allein das leichte Anheben verursachte unerträgliche Schmerzen und glaubte, dass ihre Gliedmaßen auseinander reißen würden und konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.

"Lumine, was ist im Traum vorge..." hörte sie die Stimme von Nahida direkt neben sich, beendete ihre Frage aber aus unerfindlichen Gründen nicht und hörte, wie die Haustür geöffnet wurde.
 

"Hey, du begleitest Buer und mich. Die Reisende sollte sich vorerst ausruhen und kann keinen Quälgeist an ihrer Seite gebrauchen" rief der Wanderer, der Buer zuvor mit einem Handzeichen unterbrochen hatte und wartete auf besagten Quälgeist.

"Paimon ist kein Quälgeist" murrte sie ihm entgegen, nachdem sie von der Blondine abgelassen hatte und verdrehte genervt die Augen, als das kleine Nervenbündel an ihm vorbei und hinaus schwebte.

"Der Wanderer hat recht. Erhole dich und falls was sein sollte, kannst du telepathischen Kontakt zu mir aufnehmen" verabschiedete sich auch die niedere Herrin, welche zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nach ihr sehen würde und verließ im Anschluss das Haus.
 

Nach reifer Überlegung kehrte der Wanderer doch noch einmal zum Bett zurück und sah zu Lumine hinab, welche furchtbare Schmerzen zu verspüren schien.

Nicht wirklich wissend, was er für sie tun konnte, wobei er sich ernsthaft fragte, wieso er diesen drängenden Wunsch in sich verspürte, ergriff er schließlich seinen Hut, den er neben der Reisenden auf der Matratze ablegte.

Ja, eigentlich wusste er nur, wie ihr im Augenblick zumute sein musste.

Ihr Zwillingsbruder hatte sie in ihrem Traum angegriffen.

Ihr einziger Verwandter, den sie eigentlich schon seit Beginn ihrer Reise suchte.

Ob sie sich im Stich gelassen fühlte?

Fühlte sie sich von ihrem Zwillingsbruder sogar verraten?

Ja, wahrscheinlich und genau diese Gefühle konnte er sehr wohl nachempfinden.

"Bewahre meinen Hut bis zu meiner Rückkehr auf" murmelte er, machte auf den Absatz kehrt und verließ das Haus.

Für einen kurzen Moment, nachdem er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, lehnte er sich gegen das Holz und sah zum strahlend blauen Himmel auf, wobei ihn die Sonne jetzt schon störte und bereitete sich auf das kommende Gespräch mit Buer vor, die Maßnahmen ergreifen würde müssen, um die Bewohner in Sumeru im Ernstfall zu beschützen.

Mit jenem Gedankengang stieß er sich von der Tür ab und folgte der niederen Herrin, welche einige Worte mit den Menschen gewechselt hatte, um ihnen zu versichern, dass ihnen vorerst keinerlei Gefahr mehr drohte.

Die Nacht war schon längst herein gebrochen und während die meisten Menschen vermutlich schon längst schliefen, stand der Wanderer, der keinen Schlaf benötigte, mit verschränkten Armen an einen Baum gelehnt und behielt das Haus, in dem sich die Reisende aufhielt, im Auge.

Seufzend erinnerte er sich an das ausführliche Gespräch mit Buer und Paimon heute Morgen im Heiligtum, wobei Letztere erst nicht hatte einsehen wollen, dass sie sich vorerst nicht bei der Reisenden aufhalten durfte, aber die niedere Herrin hatte letzten Endes doch mit zahlreichen Argumenten auf sie einwirken können.

Im Anschluss hatte Buer ihm den Auftrag erteilt, die Reisende zu überwachen und ihr ein wenig zur Hand zu gehen, sofern sie Hilfe benötigte, worüber Lumine gegen Mittag in Kenntnis gesetzt worden war.

Ja, gegen Mittag war sie von Buer und Paimon, die in Begleitung einer Ärztin das Haus betreten hatten, um vermutlich Lumine zu untersuchen, über das weitere Vorgehen in Kenntnis gesetzt worden und obwohl es ihm überhaupt nicht schmeckte, in den kommenden Tagen Babysitter zu spielen, eben weil sich die Blondine scheinbar kaum rühren konnte, ohne bestialische Schmerzen zu verspüren, hatte er sich gegen jenen Auftrag nicht aufgelehnt.

Warum auch?

Schließlich wusste er um seine Sonderstellung, denn er war nun mal die einzige Person, die sich ihr im Ernstfall gefahrlos nähern konnte und er wusste ebenso, dass Buer diese Vorsichtsmaßnahme hatte treffen müssen, um die Bewohner in ganz Sumeru zu beschützen.
 

Während der Wanderer in seinen Gedanken noch einmal den gesamten Tag revue geschehen ließ, biss Lumine ihre Zähne aufeinander und versuchte den furchtbaren Schmerz, der durch all ihre Glieder fuhr, irgendwie zu ertragen und unternahm einen weiteren Versuch, um sich zu erheben.

"Verdammt..." presste sie zwischen ihren Zähnen hervor und fiel zurück ins Kissen.

Schwer atmend und nicht wissend, wie sie es aus eigener Kraft ins Badezimmer schaffen sollte, starrte sie eine ganze Weile an die dunkle Zimmerdecke und versuchte den Gedanken an ihren Zwillingsbruder zu verdrängen, der sie erst in ihre jetzige, sehr hilflose Lage gebracht hatte.

Unwillkürlich biss sie sich auf ihre Unterlippe und blinzelte einige Male, als sich erneute Tränen in ihren Augen bildeten und hätte sich liebend gern all ihre Gefühle, die sie schon seit Stunden plagten, von der Seele geschrien.

Jedoch hielten sie zwei entscheidende Tatsachen zurück.

Es war bereits mitten in der Nacht und sie wollte nicht die halbe Stadt in Aufruhr versetzen, nur weil sie nicht wusste, wohin mit all ihren Gefühlen.

Ein weiterer Grund ihrer Zurückhaltung stand irgendwo draußen und hatte von Nahida den Auftrag erhalten, sie zu überwachen und ihr zu helfen.

Diese Vorgehensweise, die zum Schutz der Bewohner in Sumeru diente, konnte sie selbstverständlich verstehen, vor allem nachdem sich Paimon verplappert und sie unweigerlich erfahren hatte, dass eine Art dunkler Qualm aus ihrem Körper geströmt war, wodurch drei Menschen das Bewusstsein verloren hatten.

Natürlich hatte sie sofort mit dem Gedanken gespielt, Sumeru zu verlassen, wenn sie sich wieder ohne Schmerzen rühren konnte, aber jenes Vorhaben hatte Nahida ihr letzten Endes ausgeredet.

"Stell dir folgende Situation vor. Du verlässt die Stadt, bist irgendwo im Regenwald unterwegs und wirst ein weiteres Mal von deinen Zwillingsbruder mit Abyss Magie attackiert. Ohne Barriere könnte sich die Abyss Magie in ganz Sumeru ausbreiten und weitreichenden Schaden anrichten. Hinzu kommt die Ungewissheit, ob er dich nicht nur im Traum aufsuchen kann, sondern auch im wachen Zustand. Deswegen solltest du vorerst bei uns in der Stadt bleiben und auf den Wanderer vertrauen. Bitte ihn um Hilfe, wenn du etwas brauchst" rief sie sich jene Worte ins Gedächtnis und bedachte noch einmal all ihre vorhandenen Möglichkeiten.
 

Ein erneuter Seufzer stieß der Wanderer aus und sah sich auf dem leeren Weg um, auf der Suche nach etwas Ablenkung, um seine anhaltende Langeweile ein wenig zu vertreiben.

Als er jedoch nichts Interessantes finden konnte, machte er sich eine gedankliche Notiz für den morgigen Tag.

Wohl oder übel würde er den nächsten Morgen dazu nutzen, um zur Akademie zu gehen, um sich in der dortigen Bibliothek ein Buch zu leihen.

Zwar glaubte er kaum, dass er noch neues Wissen erlangen würde, aber auf einen Versuch kam es schließlich an.

Abrupt nahmen seine Überlegung ein jähes Ende, als er ein polterndes Geräusch hörte und löste die Verschränkung seiner Arme, ehe er sich gemächlichen Schrittes auf den Weg zum Haus machte.

Vor der Tür blieb er stehen und lauschte in die Stille hinein, vernahm leise Fluchlaute und betätigte ohne weitere Umschweife die Klinke.

Kaum hatte er die Tür weit genug geöffnet, entdeckte er die Reisende neben dem Bett bäuchlings auf den Boden, während ihr Po, der nur spärlich bekleidet war, weil sie ein weißes, nicht gerade langes Nachthemd trug, in die Höhe reckte und hob rasch seine linke Hand, um sein Lachen zu dämmen.

Ein Bild für die Götter, musste er sich unweigerlich eingestehen.
 

"Na, Reisende? Hast du ein paar Mora gefunden oder sind das neue Trainingsmethoden?" hörte Lumine ihn erheitert fragen und verdrehte genervt ihre Augen.

Sie hätte vielleicht doch keinen weiteren Versuch unternehmen sollen, sich aus dem Bett zu quälen, vor allem weil der Schmerz beim Aufsetzen ins Unermessliche gestiegen war und ihr regelrecht die Sicht genommen hatte.

"Wenn du nur nach mir sehen wolltest, um dich über mich lustig zu machen, kannst du sofort wieder verschwinden" antwortete sie ihm und behielt ihre Augen auf das Badezimmer gerichtet, zu dem sie wohl oder übel kriechen musste.

Mit vereinten Kräften war es Nahida, Paimon und der Ärztin heute Mittag zwar gelungen, sie zum Badezimmer zu tragen, damit sie sich auf der Toilette erleichtern hatte können und vielleicht hätte sie den Ratschlag, sich einen Kateter legen zu lassen, annehmen sollen, aber eben jene Hilfestellung hatte sie aus vielerlei Gründen abgelehnt.

Sie wollte nicht schwach erscheinen und sich irgendwie selbst helfen.

"Du... Du kannst auf deinen Posten zurückkehren. Es ist... Ist nichts passiert, worüber du Meldung machen müsstest" teilte sie ihm unter enormer Anstrengung mit und kniff ihre Augenlider aufeinander, weil diese furchtbaren Schmerzen ihr erneute Tränen in die Augen trieben.
 

Das belustigte Grinsen verschwand von seinen Lippen, als er erkennen konnte, wie sich ihr gesamter Körper verkrampfte und wie ihr etliche Tränen über die Wangen liefen, vermutlich ausgelöst durch die Schmerzen, die Buer ihm beschrieben hatte und stieß einen leisen Seufzer aus.

"Du könntest mich um Hilfe bitten" sagte er, obgleich er sich relativ sicher war, dass sie seine Hilfe aus vielerlei Gründen ablehnen würde.

Schließlich hätte sie ihn schon vor etlichen Stunden rufen können, um ihn um Hilfe zu bitten.

"Nein, ich... Ich schaffe das schon" wurde ihm leise erwidert, trat nun gänzlich ins Innere, nicht ohne die Tür zu schließen und trat auf sie zu, ehe er direkt neben ihr in die Hocke ging.

"Bist du dir sicher?" horchte er nach und konnte innerlich nur seinen Kopf über ihre Sturheit schütteln.

Erschreckenderweise war sie ihm in diesem Punkt unglaublich ähnlich.

Er war ebenfalls sehr stur und unglaublich stolz.

Dementsprechend konnte er schon nachvollziehen, wieso sie keinerlei Hilfe in Anspruch nehmen wollte, denn dies würde unweigerlich eine gewisse Schwäche bedeuten.
 

"Nein, aber... Aber ich kann dich einfach nicht um Hilfe bitten" seufzte Lumine entkräftet und blieb vollkommen regungslos auf den viel zu harten Holzboden liegen.

Vielleicht sollte sie der Natur einfach freien Lauf lassen.

Sie besaß einfach nicht die Kraft, um zum Badezimmer zu kriechen und musste sich eingestehen, dass sie heute Mittag eine Fehlentscheidung getroffen hatte.

Eine Fehlentscheidung, die ihr nun zum Verhängnis wurde.

"Verstehe schon" murrte er ihr zu, hörte sehr wohl die unterdrückte Wut aus seiner Stimme heraus und linste zu ihm, als er sich wieder erhob.

Er wollte sich auch schon zum Gehen wenden, doch als sie den verzweifelten Versuch unternahm, ihre rechte Hand zu erheben, um seinen Fuß zu ergreifen, wimmerte sie vor Schmerz, was ihn unweigerlich stocken ließ.

"Ich... Ich kann dich nicht um Hilfe bitten, weil du... Weil du ein Mann bist" erklärte sie ihr eigentliches Problem und versuchte sich von der Schmerzwelle zu erholen.
 

Die Wut auf sie, aber vor allem auf sich selbst, weil er sich ihr auf eine gewisse Art und Weise aufgedrängt hatte, rückte vorerst in den Hintergrund und sah voller Unverständnis zu ihr hinab.

"Deine Worte ergeben überhaupt keinen Sinn" entgegnete er ihr und wartete auf eine plausible Erklärung, um das nötige Verständnis zu erlangen.

"Ich... Ich muss ins Bad" verriet sie ihm kleinlaut und ging erneut neben ihr in die Hocke.

"Und? Ich verstehe das Kernproblem nicht" erwiderte er ihr und versuchte sich in Geduld zu üben, obwohl Geduld nicht unbedingt zu seinen Stärken gehörte.

"Ich muss dringend zur Toilette" wurde ihm schließlich sehr leise offenbart, weshalb sich sein Gesicht ein wenig erhellte und stieß einen weiteren Seufzer aus.

"Ich bin zwar tatsächlich ein Mann, aber ich bin kein Mensch, falls dir diese Tatsache entfallen sein sollte" erinnerte er sie, beugte sich zu ihr hinab und lud sie sich auf die Arme, um sie zum Badezimmer zu tragen.
 

"Ich weiß, aber..." nuschelte Lumine beschämt, nachdem er den Lichtschalter mit dem linken Ellenbogen betätigt hatte und wäre ihm liebend gern von den Armen gesprungen, um das Weite zu suchen.

Schluckend senkte sie ihr peinlich berührtes Gesicht, als er zur Toilette heran trat, wobei er den Toilettendeckel mit dem rechten Fuß in die Höhe manövrierte und bedachte seine vorherigen Worte.

War ihm die jetzige Situation denn überhaupt nicht unangenehm?

"Schaffst du es, deine Arme um meinen Hals zu legen?" lauschte sie seiner Frage, hob ihr Gesicht wieder und begann zu verstehen, als sie direkt vor der Toilette vorsichtig auf ihre Füße abgesetzt wurde und kniff ihre Augenlider vor Schmerz aufeinander, als sie ihre Arme zu heben versuchte.

Immer wieder verkrampfte sie vor Schmerz, biss ihre Zähne aufeinander, um nicht zu schreien und keuchte erschrocken, als er einen seiner Arme, mit denen er sie auf ihren Beinen hielt, löste und ihr Handgelenk umfasste, um ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen.

Während er ihr half, verzog er nicht ein einziges Mal seine Miene und als er sich selbst vergewissert hatte, dass sie einen relativ sicheren Stand besaß, glitten seine Hände an ihren Seiten hinunter, was ihr augenblicklich die Röte ins Gesicht trieb.
 

Dem Wanderer entging die plötzliche Verkrampfung ihres Körpers keineswegs und hielt mit seinen Händen inne.

"Entspann dich" versuchte er sie zur Ruhe zu bewegen und stieß einen lautlosen Seufzer, als sie ihr Gesicht in seine rechte Halsbeuge vergrub.

Warum schämte sie sich denn gerade in Grund und Boden?

Glaubte sie etwa, dass er irgendwelche Interessen verfolgte?

"Ich verfolge keine niederen Interessen, falls es das ist, was dich beunruhigt" ließ er sie wissen und bedachte die jetzige, doch sehr ungewohnte Situation, die sie scheinbar sehr nervös machte.

"Außerdem habe ich noch nie verstanden, wieso sich die Menschen immer wieder ihren Gelüsten hingeben müssen. Die Fortpflanzung dient der Erhaltung der Menschen und nicht dem Vergnügen" schilderte er ihr seine Sicht der Banalitäten, die er in den vergangenen Jahrhunderten doch sehr häufig beobachtet hatte.

"Und dieses unsinnige Liebesgetue. Erst schwören sie einander ewige Liebe, nur um sich einige Jahre später zu trennen und sich gegenseitig zu hassen" fügte er noch voller Unverständnis hinzu und fuhr mit seinen Händen unter ihr Nachthemd, ergriff ihr Höschen und zog den seidigen Stoff langsam hinab.

Anschließend setzte er die Reisende vorsichtig auf die Toilette, blieb in gebeugter Haltung vor ihr stehen, damit sie den Halt nicht verlor und starrte auf einen unsichtbaren Punkt an der Wand.
 

Allmählich entspannte sich Lumine in seinen Armen, obgleich sie schon ein wenig überrascht über seine Sichtweise war, die ihr jedoch bewies, dass er keinerlei Hintergedanken besaß und versuchte sich nun auf das Wesentliche zu konzentrieren.

"Vielleicht... Vielleicht hast du recht, aber... Manchmal halten Beziehungen eben nicht für die Ewigkeit, weil wir erst zu einem späteren Zeitpunkt erkennen, dass die Chemie zwischen uns doch nicht stimmt. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir uns durch Fehlentscheidungen oder Tiefschlägen beeinflussen lassen sollten, denn uns werden im Laufe des Lebens noch weitere Personen begegnen, denen wir wichtig sind und die wir ins Herz schließen. Ich meine, für jede Person existiert irgendwo das passende Gegenstück. Eine Art Seelenverwandter, dem wir bedingungslos vertrauen, dem wir unsere Liebe schenken und mit dem wir uns eine Zukunft vorstellen" murmelte sie leise in die Stille hinein, nachdem das Plätschern aufgehört hatte und drehte ihren Kopf ein wenig zur linken Seite, als er einen tiefen Seufzer ausstieß.
 

"Und du glaubst diesen Schwachsinn?" erwiderte er ihr fragend und linste aus dem Augenwinkel heraus zu ihr herüber.

Ebenso fragte er sich, aus welcher Sicht sie eben gesprochen hatte.

Hatte sie aus der Sicht der Menschen und sich selbst gesprochen oder war es im Bereich des Möglichen, dass sie ihn und sich selbst im Fokus genommen hatte?

"Ja, zumindest möchte ich glauben, dass für jeden Topf der passende Deckel existiert" lauschte er ihren aufrichtig klingenden Worten, erhob sich mit ihr und zog ihr das Höschen wieder über.

"Ich entnehme deinen Worten, dass du deinen passenden Deckel noch nicht gefunden hast" merkte er an und betätigte den Abzug der Toilette, klappte den Toilettendeckel wieder herunter und hob die Blondine abermals auf seine Arme, um sie zurück zum Bett zu tragen.

"Das stimmt. Es gab zwar vereinzelte Interessenten, die sich wohl eine Beziehung mit mir vorstellen konnten, aber das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit" folgte eine weitere, äußerst aufrichtige Antwort, nachdem er das Licht im Badezimmer gelöscht hatte und legte sie nur wenige Sekunden später auf dem Bett ab.

Als er sich von ihr lösen und sich wieder aufrichten wollte, verstärkte sich die Umarmung um seinen Hals und hörte sehr wohl den wimmernden Laut, weil sie sich mit dieser Aktion nur unnötig Schmerzen zufügte.
 

"Warum umklammerst du mich?" lauschte sie seiner berechtigten Frage und biss ihre Zähne aufeinander, als ihr abermals Tränen in die Augen stiegen.

"Ich..." setzte sie zum Sprechen an und unterbrach sich selbst, als eine weitere Welle des Schmerzes durch ihren Körper fuhr und kniff ihre Augenlider fest zusammen.

"Ich möchte..." presste sie mühevoll hervor und schluckte schwer, als sie sich an den Traum und ihren Zwillingsbruder erinnerte.

Ein leiser Schluchzer entwich ihren Lippen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

Selbstverständlich wusste sie, dass sie ihm in irgendeiner Form eine Antwort geben musste, damit er nachvollziehen konnte, was sie im Moment bewegte, aber sie befürchtete, dass ihr ihre Stimme versagen würde.
 

Der Wanderer harrte in seiner nicht gerade bequemen Position aus, stützte sich lediglich mit der linken Hand neben ihrem Kopf ab und war sich nicht sicher, wie er die jetzige, doch sehr unwirkliche Situation bewerten sollte.

Wollte sie etwa, dass er vorerst bei ihr blieb?

Das ließ sich doch mit seinen Auftrag vereinbaren, weil er sie ohnehin überwachen sollte.

Allerdings keimte in ihm die berechtigte Frage auf, wieso sie im Moment derart verbittert weinte und was er tun sollte, um sie zu beruhigen.

Auf diesem Gebiet besaß er absolut keine Erfahrung, denn es hatte ihn bisher auch nicht interessiert, ob Personen um ihm herum Leid erduldeten.

"Ich... Es tut mir leid und..." lauschte er ihren stockenden Worten, ehe sich die Umarmung lockerte und ihre Arme zurück auf die Matratze fielen.

"Ich... Ich bin gerade ein wenig durcheinander. Die Angelegenheit mit Aether und ein paar andere Dinge beschäftigen mich schon den ganzen Tag" ergänzte sie noch leise, während er sich aufrichtete, blieb aber vorerst an ihrer Seite sitzen und nickte ihr lediglich zu.

Ja, vielleicht war sie tatsächlich noch etwas durch den Wind und brauchte einfach nur Zeit, um die jüngsten Vorkommnisse zu verarbeiten.
 

"Kann... Darf ich dich um einen weiteren Gefallen bitten?" fragte Lumine in die eingetretene Stille hinein und studierte seine Gesichtszüge, die ihr jedoch nicht verrieten, was er im Moment dachte.

"Kommt drauf an" entgegnete er ihr knapp, nickte ihm verstehend zu und hoffte inständig, dass sie mit ihrer folgenden Bitte nicht zu viel von ihm verlangte.

"Würdest du bei mir bleiben, bis ich eingeschlafen bin?" bat sie ihn leise und war nun doch etwas überrascht, als er ohne jeglichen Kommentar einverstanden nickte und sich neben ihr auf der Bettkante nieder ließ, nicht ohne die dünne Bettdecke zu ergreifen, die er über ihren leicht bekleideten Körper ausbreitete.

Vielleicht hielt er sich aber auch bewusst mit irgendwelchen Sprüchen zurück, weil sie ohnehin nicht die notwendige Kraft besaß, um sich mit ihm zu streiten.

"Aber erwarte bloß nicht, dass ich dir ein Schlaflied singe" wurde sie ermahnt und begann unverzüglich zu lächeln, als sie seiner Miene deutliches Missfallen entnahm.

Ihr lag zwar eine entsprechende Antwort auf der Zunge, aber sie wollte nicht riskieren, dass er sich doch noch erhob und das Haus verließ, weshalb sie ihm eine gute Nacht wünschte und sich noch einmal leise bei ihm bedankte.
 

Ohne auf die gute Nacht oder ihre erneute Bedankung zu reagieren, behielt der Wanderer seine Augen auf die Blondine gerichtet und hing abermals seinen Gedanken nach.

Letzten Endes hatte er die Gelegenheit versäumt, ihr die Fragen zu stellen, wieso sie im Schlaf nach ihm gerufen und warum sie überhaupt von ihm geträumt hatte.

Buer hatte ihm zwar erzählt, dass sie in diesen Traum hinein gestoßen worden war, aber vielleicht war das auch nur eine Schutzbehauptung.

"Warum beschäftigt mich das überhaupt? Kann mir doch egal sein, von wem oder was sie träumt" dachte er sich und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, nicht ohne einen prüfenden Blick zu seinen Hut zu riskieren, den er ihr heute Morgen überlassen hatte und noch immer unberührt an ihrer Seite auf der Matratze lag.

Seufzend und vorerst all seine plagenden Gedanken ignorierend, wanderte sein Blick zum offenen Fenster und starrte in die Nacht hinaus, die in nur wenigen Stunden enden würde.

~
 

"Warum?" fragte sich Lumine und sah sich in der bescheidenen Behausung um, in der sie sich schon in der vorherigen Nacht befunden hatte und trat auf den toten Jungen am Boden zu.

"Ob Aether hinter diesen Traum steckt oder ist das nur ein dummer Zufall?" überlegte sie und drehte sich alarmiert herum, als das leise Knarren der Haustür ertönte.

Allerdings stand im Türrahmen nicht wie vermutet ihr Zwillingsbruder, sondern Kunikuzushi.

Wie im vorherigen Traum wich ihm die Freude aus dem Gesicht, trat schließlich auf den leblosen Jungen zu und ließ sich auf die Knie fallen.

Dieses Mal wollte sie jedoch nicht seiner Trauer beiwohnen und hastete auf die Haustür zu, die er offen gelassen hatte, wollte ihren Fuß über die Schwelle setzen und stieß unerwartet auf Widerstand.

Verwundert erhob sie ihre Hände, konnte soetwas wie eine unsichtbare Mauer ertasten, vermutlich eine Barriere, die sie daran hinderte, ins Freie zu treten und zuckte erschrocken zusammen, als hinter ihr ein verzweifelter Schrei ertönte.

Als sie sich vom Schreck erholt hatte, drehte sie sich wieder zu Kunikuzushi herum, der sich allmählich erhob, nur um in seiner Wut die Möbel zu zerstören.

"Warum?" fragte sie sich noch einmal und zuckte abermals zusammen, als sie bei der linken Schulter ergriffen wurde.

"Erwache..." drang ein Flüstern an ihr Ohr und senkte ihre Augenlider, während sie versuchte, die Panik, die von ihr Besitz ergriffen hatte, nieder zu kämpfen.
 

~
 

Eben mit jener Panik riss die Blondine die Augen auf und vermutlich hätte sie sich auch vor Schreck aufgesetzt, wenn ihr nicht dieser höllische Schmerz beim Versuch durch die Glieder gefahren wäre.

"Entspann dich, Reisende" ertönte eine leise Stimme neben ihr, drehte ihren Kopf minimal, wodurch ein weiterer Schmerz durch ihren Körper fuhr und erblickte nun erst den Wanderer, der neben ihrem Bett stand und spürte Finger auf ihrer linken Schulter, die kaum merklich Druck ausübten.

"Wie... Wie spät ist es?" wollte sie in Erfahrung bringen und versuchte sich allmählich zu beruhigen.

"Kurz nach fünf Uhr. Versuche noch etwas zu schlafen" erfuhr sie von ihm und öffnete bereits ihren Mund, als er seine Hand zurück zog.

Allerdings brachte sie kein einziges Wort über die Lippen, schloss ihren Mund wieder und wendete ihren Blick von ihm ab.
 

Abwartend, obgleich sie ihren Blick von ihm abgewendet hatte, blieb der Wanderer neben dem Bett stehen und rief sich ihre leisen Wimmerlaute ins Gedächtnis, die sie zuvor im Schlaf von sich gegeben hatte.

Dementsprechend war er alarmiert vom Stuhl aufgesprungen, auf dem er sich gesetzt hatte, nachdem sie eingeschlafen war und war zu ihrem Bett heran getreten.

Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck war für ihn Anlass genug gewesen, um ihre Schulter zu ergreifen, seine Augen zu schließen und sich Zugang zu ihrer Traumwelt zu verschaffen.

"Nutze meine Macht nur im äußersten Notfall" hatte Buer gemeint und sehr wahrscheinlich hatte er die richtige Entscheidung getroffen, obwohl er sich die berechtigte Frage stellte, wieso sie ein weiteres Mal von seiner Vergangenheit geträumt hatte.

Diese Tatsache musste doch eine Bedeutung haben.

Sollte er sie direkt mit dieser Frage konfrontieren oder sollte er einen späteren Zeitpunkt abwarten?
 

"Könntest du mir bitte ein Glas Wasser bringen?" bat Lumine ihn nach einer Weile der Stille und hob ihren Blick wieder.

Nickend erhielt sie seine Antwort, ehe er aus ihrem Sichtfeld verschwand, die Nachttischlampe einschaltete und lauschte den anschließenden Geräuschen in der Ferne.

Nur wenige Sekunden später tauchte er wieder in ihrem Sichtfeld auf, in der linken Hand ein fast volles Glas Wasser haltend und beugte sich ein wenig zu ihr hinab.

Wortlos schob er seine rechte Hand unter ihrem Kopf, setzte das Glas an ihre Lippen an und ließ sie in vorsichtigen Schlücken trinken.

Als das Glas fast leer war, wurde ihr Kopf zurück auf das Kissen gebettet und wollte gerade ihre Stimme erheben, um sich ein weiteres Mal für seine Hilfe zu bedanken, doch sein erneutes Verschwinden hinderte sie an ihrem Vorhaben und lauschte erneut vereinzelten Geräuschen.
 

Seine Gedanken kreisten noch immer um die Frage, warum sie zum zweiten Mal von ihm geträumt hatte und schälte zwei Dämmerfrüchte, die er zu kleine Würfelstücke schneiden würde, damit die Reisende zumindest eine Kleinigkeit im Magen hatte.

Das er gerade aus eigenem Antrieb handelte, fiel ihm erst auf, als er die erste Frucht zu kleinen Häppchen verarbeitet hatte und hielt für einen kurzen Augenblick inne.

Warum machte er sich eigentlich diese Mühe?

Weil er ganz genau wusste, dass sich die Reisende wohl kaum selbst versorgen konnte?

Weil er Buer sein Wort gegeben hatte, sich um das Wohlergehen der Blondine zu bemühen?

Ja, vermutlich handelte er aus eben jenen Gründen, die ihm einen lautlosen Seufzer abverlangten und fuhr mit seiner Tätigkeit fort.

Nach nur einer weiteren Minute legte er das Messer ab und ergriff das kleine Holzbrett, auf dem er die Früchte zubereitet hatte und kehrte zu Lumine zurück, deren goldene Augen eine gewisse Überraschung ausstrahlten.
 

"Was? Im Gegensatz zu mir benötigst du Nahrung, um bei Kräften zu bleiben" erhielt sie jene Erklärung von ihm und nickte ihm zaghaft zu, obgleich sie noch immer ein klein wenig überrascht über seine ungewohnte Fürsorge war und beobachtete, wie er sich direkt neben ihrem Kissen auf die Bettkante setzte und sich ein minimales Stück zu ihr hinab beugte, nur um seinen rechten Arm unter ihren Nacken hindurch zu schieben.

Langsam wurde sie in eine aufrechte Sitzposition gebracht und stieß einen erleichterten Seufzer aus, weil sie diese Veränderung doch sehr begrüßte.

"Brauchst du wirklich keine..." wollte sie ihn fragen und verstummte durch eines der Fruchtstücke, welches er ihr vollkommen unerwartet in den Mund geschoben hatte.

Das süße Fruchtfleisch entlockte ihr augenblicklich einen genießerischen Laut und errötete um die Nase, als ihr Magen knurrte und nach weiterer Nahrung verlangte.
 

Ihr lautes Magenknurren ließ er unkommentiert und obwohl er für einen kurzen Moment mit dem Gedanken spielte, sie ein wenig zu ärgern, tat er es letzten Endes doch nicht und steckte ihr ein weiteres Fruchtstück in den Mund.

Augenscheinlich fühlte sie sich nun wieder etwas besser.

Sollte er nun die Gelegenheit nutzen und ihr seine Frage stellen?

Nein, er musste sich eine Taktik überlegen.

"Wir könnten eine Abmachung treffen, nachdem du aufgegessen hast" schlug er ihr nach reifer Überlegung vor, denn er wollte nicht mit irgendeiner Ausrede abgespeist werden.

"Ich beantworte dir all deine Fragen bezüglich meiner Person und im Gegenzug stelle ich dir eine Frage, auf die ich eine aufrichtige Antwort erwarte" stellte er ihr diese einmalige Chance in Aussicht, um auf diesen Wege an die Wahrheit zu gelangen.

"Gibt es einen Haken?" fragte sie skeptisch und er konnte ihr nicht einmal verdenken, dass sie seinem Vorschlag mit Misstrauen begegnete.

"Nein, es gibt keinen Haken. Ich kann dir natürlich nicht versprechen, ob ich auf all deine Fragen antworten werde, aber ich bin zumindest geneigt, dir mein Gehör zu schenken" setzte er sie in Kenntnis und sah ihr abwartend in die Augen.

Er wollte doch nur wissen, wieso sie ausgerechnet von ihm träumte.
 

Lumine überlegte noch und wägte vor allem ab, ob ihr durch eine solche Abmachung mögliche Nachteile entstehen könnten.

Warum unterbreitete er ihr ein derartiges Angebot?

"Du planst aber nichts Hinterhältiges, oder?" wollte sie sich noch einmal vergewissern und stieß einen leisen Seufzer aus, als er ihre Frage verneinte.

"Okay, ich bin einverstanden" stimmte sie dem Vorschlag zu und betrachtete ihn noch eine ganze Weile mit fragender Miene.

Durfte sie ihn wirklich bedingungslos ausfragen?

Natürlich hatte er ihr eben zu verstehen gegeben, dass er ihr nicht unbedingt auf jede Frage antworten würde, aber dennoch stellte sie sich die berechtigte Frage, wieso er ihr diese Möglichkeit gab.

Hing sein Angebot möglicherweise mit seiner Frage zusammen, die er ihr im Gegenzug stellen wollte?
 

"Hier kommt das letzte Fluggefährt" kündigte er schmunzelnd das letzte Fruchtstück an und lachte amüsiert, als er die Irritation in ihren Augen erkennen konnte.

"Sehr witzig" hörte er sie nach ihrem letzten Bissen murren und wollte sie eigentlich zurück auf das Bett legen, um einerseits das Holzbrett auf den runden Tisch zu legen und andererseits aus dem Grund, weil seine momentane Sitzposition nicht unbedingt bequem war, doch als sie leise anmerkte, dass sie noch etwas sitzen bleiben wollte, sah er sich nach einer Alternative um.

Sein Blick fiel auf die Wand, die an das Bett angrenzte, legte vorerst das Holzbrett auf der Decke ab und tastete mit der linken Hand nach seinen Hut, den er erst einmal in Sicherheit bringen wollte.

"Was hast du vor?" fragte die Reisende, doch anstatt ihr zu antworten hob er sie mit einem Ruck hoch, rutschte auf den Knien über die Matratze und setzte sie vor der Wand wieder ab.

"Hast du Schmerzen?" erkundigte er sich bei ihr, nicht ohne sich zu vergewissern, dass sie nicht zur Seite rutschen konnte und nickte ihr verstehend zu, als sie seine Frage leise verneinte.
 

Während der Wanderer vom Bett stieg, um seinen Hut und das Holzbrett auf den Tisch zu legen, hing Lumine ihren Gedanken nach.

Allmählich fühlte sie sich wie eine alte, gebrechliche Frau, die auf eine Pflegekraft angewiesen war.

Natürlich würde sich ihr momentaner Zustand in den kommenden Tagen bessern, sofern Aether ihnen die Wahrheit gesagt hatte, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie nicht wusste, wie sie ihr tägliches Leben bestreiten sollte.

Es fing schon bei der morgendlichen Routine an.

Am frühen Morgen aufstehen, der Toilettengang, die Zähne putzen, unter die Dusche steigen, sich für den Tag fertig machen und oftmals ein üppiges Frühstück, weil Paimon eben sehr viel aß.

All diese Kleinigkeiten konnte sie nun nicht tun und sie wollte dem Wanderer nicht unbedingt ihren sonstigen Tagesablauf aufzählen, davon einmal abgesehen, dass sie gewisse Dinge nicht in seinem Beisein tun wollte.

Der Toilettengang war ihr schon peinlich genug gewesen.
 

Nach einer kurzen Handwäsche, um seine Finger vom klebrigen Fruchtsaft zu befreien, kehrte der Wanderer zurück, blieb kurz vor dem Bett stehen und entledigte sich seiner Schuhe.

Anschließend stieg er auf die Matratze und fragte sich insgeheim schon, worüber die Blondine grübelte und setzte sich zu ihrer rechten Seite, um sich ebenfalls gegen die Wand zu lehnen.

"Überlegst du dir gerade deine erste Frage, die du an mich richten kannst?" durchbrach er die Stille, erhielt endlich ihre Aufmerksamkeit und zog sein rechtes Bein an, um seinen Arm auf das Knie zu stützen.

"Nein, ich habe nur über einige Probleme nachgedacht" erwiderte sie ihm und hob fragend seine linke Augenbraue, um Näheres zu erfahren.

"Probleme, bei denen du mir nicht helfen solltest. Besitzt du denn überhaupt kein Schamgefühl?" offenbarte sie ihm und kam nicht umhin, ihre erste Frage amüsiert zu belächeln.
 

"Nein, solche Gefühlsregungen habe ich noch nie empfunden. Ich mache keinen wirklichen Unterschied zwischen Mann und Frau. Ihr Körperbau mag sich voneinander unterscheiden, aber das war es meiner persönlichen Ansicht nach auch schon" erklärte er ihr im sachlichen Ton, weswegen Lumine erneut an die Situation im Badezimmer denken musste.

Er hatte sich tatsächlich nichts dabei gedacht, als er ihr das Höschen hinab gezogen hatte, eben weil er mit derartigen Gefühlsregungen wohl noch nie in Kontakt gekommen war.

"Aber bist du in deinem bisherigen Leben noch keiner einzigen Person über den Weg gelaufen, nach der du dich noch einmal umdrehen musstest, weil sie dir auf Anhieb gefallen hat?" hinterfragte sie seine Ansicht, denn es existierte ihrer Meinung nach schon ein gewaltiger Unterschied zwischen Mann und Frau.

Außerdem wollte und konnte sie sich nicht vorstellen, dass er wirklich alle Menschen aus gleicher Perspektive betrachtete.
 

"Nein, aber ich entnehme deinen Worten, dass du dich schon einmal in einer derartigen Lage befunden hast" erwiderte er ihr nach reifer Überlegung und klopfte sich innerlich auf die Schulter, als er ihren ertappten Gesichtsausdruck sah.

Da er im Vorfeld angekündigt hatte, ihr nur eine einzige Frage zu stellen, würde er einfach Behauptungen in den Raum werfen, um somit indirekte Fragen zu stellen.

Zwar hätte er gern den Grund erfahren, wieso sie ihm diverse Fragen stellte, aber vielleicht ergaben sich im Laufe des Gespräches noch weitere Hinweise auf ihre wahren Motive.

Er konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass sie sich ernsthaft für sein bisheriges Leben interessierte.
 

"Schon möglich" nuschelte Lumine verlegen und erinnerte sich unweigerlich an ihre erste Begegnung mit ihm.

Allein sein ungewöhnlicher Kleidungsstil hatte ihre komplette Aufmerksamkeit eingefordert.

Sie hatte kaum ihre Augen von ihm lösen können, nur mit halben Ohr der eigentlichen Unterhaltung gelauscht und hatte sein traumhaft hübsches Gesicht bewundert.

Sie war derart gefesselt von ihm gewesen und war erst aus ihrer intensiven Musterung erwacht, als er ihr direkt in die Augen gesehen und ihr ein charmantes Lächeln geschenkt hatte.

Irgendwie war es ihr schließlich gelungen, trotz ihrer Aufregung und der anhaltenden Nervosität, mit ihm zu sprechen und noch bevor sie ihn nach seinen Namen hätte fragen können, hatte er sich bereits von ihnen verabschiedet.

Diese Tatsache hatte sie wahrlich bedauert und als sie ihm Tage später erneut über den Weg gelaufen waren, hatte sie sich im ersten Moment doch sehr gefreut, bis Mona sie zurück gezerrt und sie nach ihrer Flucht von ihr erfahren hatte, dass er der sechste Harbinger der Fatui war.

"Das ist schon eine halbe Ewigkeit her" dachte sie, senkte ihre Augenlider und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Kein Mann nach ihm hatte sie noch einmal derart in den Bann ziehen können.

Ja, eigentlich war er sogar der Hauptgrund, wieso sich ihr Interesse für andere Männer in Grenzen gehalten hatte.

Dabei hatte sie sich ihm doch schon vor langer Zeit aus dem Kopf schlagen wollen.
 

"Wenn du keine weiteren Fragen hast, würde ich nun meine Frage an dich richten" erhob der Wanderer nach einer gefühlten Minute seine Stimme und linste zur Reisenden herüber, deren Augen sich wieder öffneten und erhielt ihr zaghaftes Kopfnicken.

"Und du musst mir aufrichtig antworten. Solltest du versuchen, mich zu belügen, werde ich ungemütlich" warnte er sie vor, was sie unweigerlich dazu veranlasste, ihren Kopf in seine Richtung zu drehen, obgleich jene leichte Drehung bereits unerträgliche Schmerzen verursachte.

"Ich werde es versuchen, sofern ich deine Frage überhaupt beantworten kann" wurde ihm versichert, konnte die Aufrichtigkeit in ihren goldenen Augen erkennen und holte noch einmal tief Luft.

"Warum träumst du von mir?" fiel er ohne weitere Umschweife mit der Tür ins Haus und war sich nicht sicher, wie er ihren betrübten Blick deuten sollte, wobei sie nun einen unsichtbaren Punkt auf der Matratze fixierte, weil es ihr scheinbar sehr unangenehm war, ihm noch länger in die Augen zu sehen.
 

"Ich weiß es nicht" murmelte Lumine nach einer Weile der Stille und hob ihren Blick wieder, als er einen unzufriedenen Laut ausstieß und die Arme vor der Brust verschränkte.

"Ist das so? Willst du mir ernsthaft weismachen, dass du mehrere Male von mir träumst, sogar im Schlaf nach mir rufst und diese Tatsachen keinerlei Bedeutung besitzen?" erwiderte er ihr nicht gerade im freundlichen Tonfall, weil er seinen momentanen Unmut irgendwie Luft verschaffen musste.

"Und glaube bloß nicht, dass du mich jetzt besser verstehen könntest, nur weil du einen weiteren, tieferen Einblick in meine Vergangenheit erhaschen durftest. Vergiss einfach, was du gesehen hast" presste er wütend hervor und noch bevor sie hätte etwas sagen können, um sich ihm gegenüber in irgendeine Art und Weise zu rechtfertigen, stieß er sich von der Wand ab, rutschte zum Rand des Bettes und erhob sich, um in seine Schuhe zu schlüpfen.
 

Der Wanderer wusste selbst nicht so genau, was ihn eigentlich derart wütend machte.

War er vielleicht wütend auf sie, weil er in ihren Augen soetwas wie Verständnis und Mitgefühl hatte erkennen können?

Was veranlasste sie bloß dazu, ihm derartige Gefühle entgegen zu bringen, nach allem, was er ihr in der Vergangenheit angetan hatte?

Vielleicht war er aber auch eher wütend auf sich selbst, weil er mit der entstandenen Situation beim besten Willen nicht umgehen konnte.

Er brauchte kein Mitleid von ihr.

Nein, zu ihm musste sie nicht einmal freundlich sein.

"Wanderer, ich kann dir wirklich nicht sagen, wieso ich gestern Morgen und vorhin von deinem früheren Ich geträumt habe. Ich... Ich bin genauso ratlos wie du und wüsste selbst gern, was diese Träume zu bedeuten haben" hörte er ihre verzweifelte Stimme, als er sich seinen Hut aufsetzte und hielt abrupt inne, als sie einen gequälten Laut ausstieß und sah prüfend zur Reisenden, welche sich wohl hatte bewegen wollen, bei ihrer unsinnigen Aktion zur Seite gerutscht war und nun auf der linken Körperhälfte lag.
 

"Vielleicht hast du recht und ich habe mir tatsächlich eingebildet, dich etwas besser zu verstehen und vielleicht sollte ich diese Träume wieder vergessen, aber..." fuhr Lumine fort und versuchte sich von den Schmerzen zu erholen.

"Aber..." setzte sie erneut zum Sprechen an und biss sich auf ihre Unterlippe, während sie ihre Augenlider senkte.

"Ich weiß doch auch nicht, was ich im Augenblick denken oder fühlen soll" ließ sie ihn wissen und bemühte sich um ihre Fassung.

"Seit gestern Morgen beschäftigen mich immer wieder dieselben Fragen. Was hat mein Zwillingsbruder mit dieser Aktion bezwecken wollen? Wieso hat er mich mit Abyss Magie angegriffen? Ist Aether wirklich für diese Träume verantwortlich oder wollte mir mein Unterbewusstsein nur vor Augen führen, dass ich dir schon vor Wochen vergeben habe? Können wir nicht endlich das Kriegsbeil begraben und Freundschaft miteinander schließen? Warum können wir nicht das, was zwischen dir und mir vorgefallen ist, einfach vergessen und einen Neuanfang beginnen? Wir stehen schließlich auf der gleichen Seite, oder nicht?" verriet sie ihm all ihre Gedankengänge und öffnete ihre Augen wieder, als sie leise Schritte hörte.
 

"Ich verstehe dich nicht" teilte der Wanderer sein Unverständnis mit und schaltete die Nachttischlampe aus, weil die Sonne inzwischen aufgegangen war und die ersten Sonnenstrahlen durch das offene Fenster fielen.

"Ich könnte keiner Person vergeben, die mir noch vor wenigen Wochen nach dem Leben getrachtet hat" offenbarte er ihr seine Sicht und trat auf die Tür zu, die er ohne Umschweife öffnete.

Vorerst wollte er der unwirklichen Situation entfliehen, um seine Gedanken zu sortieren.

Natürlich würde er sich nicht weit vom Haus entfernen, aber er brauchte zumindest etwas Abstand und vor allem Zeit zum Nachdenken.

"Rufe mich, falls du etwas benötigen solltest" sagte er noch abschließend, ehe er das Haus verließ und die Tür hinter sich ins Schloss zog.

"Können wir nicht endlich das Kriegsbeil begraben und Freundschaft miteinander schließen? Warum können wir nicht das, was zwischen dir und mir vorgefallen ist, einfach vergessen und einen Neuanfang beginnen? Wir stehen schließlich auf der gleichen Seite, oder nicht?" hallten jene Worte in seinen Gedanken wieder, die ihn regelrecht zur Flucht getrieben hatten und lauschte in die Stille hinein, als er ein leises Geräusch vom Fenster her hörte.

Leise, gedämpfte Schluchzlaute drangen an sein Ohr, die er ebenso wenig nachvollziehen konnte.

Voller Fragen, die ihn teils wütend und teils frustrierten, entfernte er sich schnellen Schrittes vom Haus und ignorierte den flüchtigen Gedanken, dass er möglicherweise der Grund ihrer jetzigen Tränen sein könnte.

Es war bereits nach zehn Uhr und die meisten Menschen gingen inzwischen ihrer gewohnten Arbeit nach, als Nahida mit Paimon im Schlepptau das Heiligtum verließ, um mit ihr gemeinsam nach Lumine zu sehen.

Der gestrige Tag war sehr ereignisreich gewesen.

Gegen Nachmittag waren Nilou und Dehya bei ihr erschienen und hatten sich nach der Reisenden erkundigt, nachdem sie von dem Vorfall am Morgen erfahren hatten und es ihnen von den Wachmännern untersagt worden war, persönlich nach der Blondine zu sehen.

Als sie ihnen ausführlich vom Vorfall erzählt hatte, hatten sie sofort ihre Hilfe angeboten, die sie jedoch aus vielerlei Gründen hatte ablehnen müssen.

"Ich verstehe, dass ihr Lumine helfen wollt, weil ihr miteinander befreundet seid, aber es besteht weiterhin die Gefahr, dass sich ein solcher Vorfall wiederholt. Momentan können wir nur warten, bis die drei Männer, die mit dem dunklen Qualm in Berührung gekommen sind, aus ihren komatösen Zustand erwachen und wir nähere Informationen erhalten" hatte sie ihnen noch sachlich erklärt und ihnen versichert, dass sie sich keine weiteren Sorgen um Lumine zu machen brauchten.
 

Während sich Nahida die jüngste Information ins Gedächtnis rief, die sie vor einer Stunde erhalten hatte, schwebte Paimon neben der kleinen Göttin her und war in ihren Gedanken bereits bei Lumine.

Vor allem der gestrige Mittag beschäftigte sie noch immer.

Anstatt gegen den Auftrag zu protestieren, wie Paimon es eigentlich erwartet hätte, hatte ihre Freundin einfach gar nichts gesagt.

Sie hatte einfach nur regungslos auf dem Bett gelegen und an die Zimmerdecke gestarrt.

Als die Ärztin ihre Untersuchung abgeschlossen und gemeint hatte, dass sie Lumine nicht helfen könne, eben weil sie noch nie mit einem derartigen Fall konfrontiert worden war, hatte sie der Reisenden vorgeschlagen, ihr einen Kateter zu legen, damit sie sich zumindest keine Sorgen um den Toilettengang machen müsse.

Es hatte nicht nur sie, sondern insbesondere Nahida verblüfft, dass Lumine eben jene Hilfestellung abgelehnt hatte.

Wie sollte sie denn in ihren schwachen Zustand das Badezimmer aufsuchen?

Wollte sie etwa den Wanderer rufen und sich von ihm helfen lassen?

Hatte sie nicht vielleicht eine Fehlentscheidung getroffen, weil sie sich nicht eingestehen wollte, wie hilflos sie im Augenblick war?

Mit all diesen Fragen hatte sich Paimon nach ihrem Krankenbesuch noch beschäftigt, machte sich dementsprechend Sorgen um ihre Freundin und blinzelte einige Male, als Nahida abrupt stehen blieb und folgte ihren Blick, ehe sie den Wanderer erblickte, der vor dem Haus auf und ab lief, immer wieder Selbstgespräche zu führen schien und sich offenbar ernsthafte Gedanken zu etwas machte.
 

"Aber diese Möglichkeit ergibt auch keinen Sinn" murmelte der Wanderer, der schon seit Stunden umher lief und nach einer Lösung suchte, die ihm erklärte, weshalb die Reisende derartige Worte an ihn gerichtet hatte.

"Sie sagte selbst, dass sie durcheinander ist. Das ergibt Sinn" überlegte er laut, machte auf den Absatz kehrt und legte seine rechte Hand an sein Kinn.

"Aber ihre Worte haben eigentlich zu glaubhaft geklungen" fuhr er nachdenklich fort, blieb mitten auf dem Weg stehen und drehte seinen Kopf etwas zur linken Seite, um zum Haus zu blicken.

Vor einer Stunde hatte er einen prüfenden Blick durchs offene Fenster geworfen.

Er wusste nicht, wie lange sie noch ihren Tränen erlegen gewesen war, aber offensichtlich war sie irgendwann vor lauter Erschöpfung in dieser unbequemen Liegeposition eingeschlafen.

Nach wie vor konnte er sich nicht erklären, wieso sie überhaupt geweint hatte, denn er hatte doch lediglich sein Unverständnis und seine persönliche Sicht geäußert.

Wütend, weil er sich schon seit Stunden den Kopf zerbrach und zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen war, setzte er seinen Weg fort und verschränkte seine Arme vor der Brust.
 

"Ah, ich verstehe" dachte sich Nahida insgeheim, die ihre Fähigkeit zu ihrem Vorteil genutzt hatte, um einen Blick in seine Gedankenwelt zu werfen und kam nicht umhin, über sein momentanes Unverständnis zu lächeln.

Natürlich stellte auch sie sich die berechtigte Frage, wieso Lumine ein weiteres Mal von seiner Vergangenheit geträumt hatte, aber vorerst genügte ihr das Wissen, dass der Wanderer ihre Erwartung erfüllte und sich um die Reisende kümmerte.

Als sie vorhin die Information erhalten hatte, dass er kurz nach Mitternacht das Haus betreten hatte und bis zum Morgengrauen bei Lumine geblieben war, war sie doch sehr erleichtert gewesen.

Mit diesem Wissen und einer gedanklichen Notiz, denn sie würde sich zu einem späteren Zeitpunkt noch einige Gedanken zu den Träumen machen müssen, die Lumine durchlebt hatte, machte Nahida räuspernd auf Paimon und sich aufmerksam.
 

Unverzüglich hob der Wanderer seinen Blick, erspähte Buer und den kleinen, durchaus lästigen Quälgeist und verscheuchte vorerst all seine Gedanken, um sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

"Ihr hättet Euch nicht hierher bemühen müssen. Ich habe die Lage unter Kontrolle" setzte er die niedere Herrin in Kenntnis und trat gemächlichen Schrittes auf sie zu.

"Ich weiß, aber ich habe Paimon versprochen, dass wir Lumine einmal am Tag besuchen werden" wurde ihm erwidert, nickte ihr verstehend zu und lenkte nun erst sein Augenmerk auf Paimon, deren Aufmerksamkeit dem Haus galt, in dem die Blondine schlief.

"Wenn du dich ruhig verhältst und die Reisende nicht aus dem Schlaf reißt, kannst du zu ihr" merkte er leise an und sah Paimon hinterher, welche zum offenen Fenster heran flog und ins Innere des Hauses spähte.

"Wie rücksichtsvoll von dir" sagte Buer schmunzelnd, weswegen er seinen Kopf senkte, um sein Gesicht mit dem Hut zu verbergen.

"Ich erfülle lediglich meinen Auftrag" wehrte er ihr Lob ab und kehrte ihr den Rücken zu, als sie leise über seine Worte kicherte.

Wusste sie etwa bereits, dass er die ganze Nacht im Haus gewesen war?

Vermutlich schon, wenn er die Wachen bedachte, die an jeder Ecke ihren Posten bezogen hatten.
 

Nahida öffnete bereits ihren Mund, um sich dennoch bei ihm zu bedanken, denn schließlich hätte er den Auftrag auch einfach ablehnen können, doch als Paimon einen erschrockenen Laut ausstieß und ihr Name fiel, hechtete der Wanderer los und sprang über das Fenstersims, um ins Innere des Hauses zu gelangen.

Rasch folgte sie ihm, öffnete jedoch die Tür, um das Haus zu betreten und blieb sofort stehen, als sie orangene Kristalle, die sie an Cor Lapis erinnerten, um das Bett herum auf dem Boden erkennen konnte.

Wieso hatte Lumine ihre Geo Fähigkeit eingesetzt?

Sie schien nach wie vor zu schlafen und rührte sich keinen einzigen Zentimeter, doch als die Kristalle in die Höhe wuchsen, wies sie unverzüglich den Wanderer an, die Reisende aus dem Schlaf zu reißen.

Nickend kam er ihrer Anweisung nach, ließ sich auf die Bettkante nieder und ergriff die linke Hand der Blondine, ehe er seine Augenlider senkte, um sie einmal mehr in ihrem Traum zu besuchen.
 

~
 

Wütend knirschte Lumine mit ihren Zähnen und senkte ihre rechte Hand wieder, mit der sie ihre Geo Fähigkeit eingesetzt hatte und starrte nachdenklich auf die unsichtbare Barriere, die sie daran hinderte, dieses verfluchte Haus zu verlassen.

Zuvor hatte sie ihr Schwert beschworen, um mit roher Gewalt durch die Barriere zu brechen, war zu einem der Fenster geeilt, um auf diesem Wege zu entkommen und hatte ein weiteres Mal versucht, mit Kunikuzushi in Kontakt zu treten.

Zum wiederholtem Male stellte sie sich die Frage, was dieser Traum, den sie nun zum dritten Mal erlebte, zu bedeuten hatte.

Natürlich war ihr bereits das Sabzeruz Fest in den Sinn gekommen, welches sich ebenfalls zu oft wiederholt hatte, aber einerseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Akademie erneut düstere Pläne schmiedete, vor allem nachdem das Akasha System von Nahida selbst abgeschaltet worden war und andererseits war das ihr Traum, den sie doch eigentlich kontrollieren sollte.

Durch die eingekehrte Ruhe im Haus drang ein äußerst leises Geräusch, es glich einem kaum hörbaren Summen, an ihre Ohren und sah sich unverzüglich um.

"Was ist das?" fragte sie sich insgeheim, wanderte im Haus umher und versuchte das leise Summen zu lokalisieren, nicht ohne sich zu fragen, ob jenes Geräusch in den vorherigen Träumen bereits existiert und sie es einfach nur überhört hatte.

Noch bevor sie einen weiteren Schritt hätte tun können, hörte sie ein weiteres Geräusch hinter sich, drehte sich ruckartig herum und erblickte den Wanderer.
 

Nur einen kurzen Moment ließ der Wanderer seine Augen durch das Haus schweifen und erblickte sein früheres Ich, welcher um den toten Jungen stumm trauerte und erspähte schließlich orangene Kristalle nahe der Haustür, für welche die Reisende verantwortlich war.

Schon wieder der gleiche Traum.

"Das kann doch kein Zufall sein" dachte er und rief sich sämtliche Informationen ins Gedächtnis, von denen sie Kenntnis hatten.

Möglicherweise hatte die Reisende recht und ihr Zwillingsbruder war tatsächlich für diese Träume verantwortlich.

"Hörst... Hörst du auch dieses leise Geräusch oder bilde ich mir das nur ein?" wurde er bei seinen Überlegungen gestört, lenkte sein Augenmerk wieder auf die Blondine und trat gemächlichen Schrittes auf sie zu.

"Nein, aber wenn du meine Hand ergreifst und dich auf dieses Geräusch konzentrierst, werde ich es ebenfalls hören können" erwiderte er, nachdem er sie erreicht hatte und hielt ihr seine rechte Hand entgegen.

Deutlich entnahm er ihren Gesichtszügen, wie verzweifelt sie eigentlich war, weil sie sich selbst nicht erklären konnte, wieso sie erneut von seiner Vergangenheit träumte und überdachte sein Verhalten von heute Morgen.

Offenbar hatte er ihr unnötige Vorwürfe gemacht.

Seufzend, als sie zögerlich nickte und seine Hand ergriff, senkte er seine Augenlider, um zu hören, was sie hörte.

In den ersten Sekunden hörte er jedoch rein gar nichts und vermutlich hätte er auch seine Augen wieder geöffnet, eben weil er nichts Ungewöhnliches hören konnte, wenn nicht dieses leise Summen in der Nähe ertönt wäre.

Für das menschliche Gehör wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmbar, aber er besaß feine Sinne und ein äußerst gutes Gehör.

Schließlich bestand der Großteil seines Körpers aus reiner Mechanik.
 

"Hast du dieses Summen in den vorherigen Träumen schon einmal gehört?" fragte der Wanderer und Lumine versuchte sich abermals zu erinnern.

Im ersten Traum war sie zu sehr auf Kunikuzushi fixiert gewesen und als sie von ihrem Zwillingsbruder aus dem Hinterhalt angegriffen worden war, hatten die Schmerzen all ihre Sinne beherrscht.

Beim zweiten Traum war ihr auch nichts aufgefallen, aber das mochte auch daran gelegen haben, weil sie in leichte Panik verfallen war und versucht hatte, sich der Situation zu entziehen, in dem sie das Haus verließ, was ihr aber letzten Endes durch die Barriere doch nicht gelungen war.

"Nein, aber ich war auch..." wollte sie ihm ehrlich antworten und wurde von einem verzweifelten Schrei unterbrochen, welcher ihr einen erschrockenen Laut entlockte.

Sie wollte gerade ihren Kopf zu Kunikuzushi drehen, doch der Wanderer hielt sie auf, trat gänzlich zu ihr heran und beugte sich zu ihrem rechten Ohr vor.
 

"Schenke ihm keinerlei Beachtung" bat er sie inständig und behielt seine Augen geschlossen, um sich auf ihre Gefühle zu konzentrieren, welche er durch den kleinen Teil der Macht, die Buer ihm verliehen hatte und durch ihre verbundenen Hände deutlich wahrnehmen konnte.

Er spürte, wie hilflos sie sich fühlte.

Er spürte, wie sehr sie doch eigentlich mit seinem früheren Ich litt.

Er spürte Verständnis, welches sie ihm entgegen brachte.

Er spürte die Vergebung, von der sie bereits heute Morgen gesprochen hatte.

Er spürte Zuneigung, was ihn verwunderte.

Er spürte das starke Bedürfnis in ihr aufkeimen, sein Leid lindern zu wollen.

All diese Gefühle überforderten ihn dermaßen, dass er glaubte, in ihnen zu ertrinken und holte tief Luft, um nicht den Verstand zu verlieren.

"Kunikuzushi existiert nicht mehr. Ich habe ihn ausgelöscht und...". "Ich weiß und dennoch werde ich ihn nicht vergessen" fiel sie ihm ins Wort und ließ abrupt ihre Hand los, trat einen gewaltigen Schritt zurück und ergriff seinen Hut, den er sich tief ins Gesicht zog.

"Ich kann dich einfach nicht verstehen" presste er mühevoll hervor und konnte nicht einmal verstehen, wieso seine sonstige Fassung bröckelte.

Warum wühlten ihn ihre Gefühle nur so auf, obwohl es ihm doch vollkommen egal sein konnte, was sie über ihn dachte und wie sie für ihn fühlte?
 

Lumine nahm nur am Rande zur Kenntnis, wie sich Flammen um sie herum ausbreiteten und beobachtete das kaum sichtbare Beben seiner Schultern.

Konnte er denn wirklich nicht verstehen, warum sie ihm ihre Hand entgegen streckte?

Wie heute Morgen ging er auf Abstand und schien mit der Gesamtsituation überhaupt nicht umgehen zu können.

"Du musst mich hassen, hörst du? Ich verdiene keine Vergebung" lauschte sie seiner leisen Stimme, in der sie seine Verzweifelung und eine gewisse Furcht heraus hören konnte, die sie schließlich dazu bewegte, den Abstand zwischen ihnen zu verringern, bis sie direkt vor ihm stand und erhob ihre linke Hand.

Vorsichtig, um ihn vor allem nicht zu erschrecken, hob sie seinen Hut ein minimales Stück an und als sie vereinzelte Tränen erblickte, die über seine Wangen liefen und von seinem Kinn hinab tropften, trat sie gänzlich zu ihm heran und legte ihre Arme um ihn.
 

Alles in ihm schrie auf und er verspürte den starken Impuls, sie von sich zu stoßen, um wieder genügend Abstand zwischen ihnen zu gewinnen, doch als sie ihm Worte ins rechte Ohr wisperte, schlang er unwillkürlich seine Arme um ihren zierlichen Körper und schluchzte unterdrückt.

"Stimmt, du hast viele, schreckliche Dinge getan und an deinen Händen klebt das Blut zahlreicher Menschen, aber hast du nicht ebenfalls versucht, Wiedergutmachung zu leisten, als du erkannt hast, dass du getäuscht wurdest und deine damalige Rache unbegründet gewesen war? Würde ein kaltblütiger Mörder auf diese Art und Weise handeln? Meiner persönlichen Einschätzung nach nicht und diese Tatsache ist für mich Grund genug, um dir zu vergeben. Ich vergebe Kabukimono, der sich einsam, verlassen und verraten gefühlt hat. Ich vergebe Kunikuzushi, der Rache geübt hat, weil er es nicht besser wusste und ich vergebe auch Scaramouche, der sich über einen langen Zeitraum ausnutzen ließ und mich einige Male töten wollte. Sie waren alle Teil deiner Persönlichkeit und du, der Wanderer, solltest sie nicht aus deinem Leben verdrängen, eben weil du an all deinen Erfahrungen gewachsen bist" hatte sie voller Überzeugung gewispert und er wusste nicht, wie er all die Gefühle, die ihre reinen und gütigen Worte in ihm ausgelöst hatten, benennen sollte.

Er wusste nur, dass er sie noch für einen kurzen Moment in seinen Armen halten wollte, doch als ihm sein eigentlicher Auftrag wieder in den Sinn kam, rief er sich selbst zur Vernunft.

"Erwache..." hauchte er und versuchte sich weitgehend zu beruhigen.
 

~
 

Ein erleichterter Seufzer entwich der niederen Herrin, als Lumine nach einer gefühlten Ewigkeit die Augen öffnete und die orangenen Kristalle im Raum zersplitterten.

Sie besaß zwar viele Fragen, aber als auch der Wanderer seine Augen öffnete und seinen Hut ergriff, den er neben der Blondine auf der Matratze ablegte, entschied sie sich vorerst, die Situation aus sicherer Entfernung zu beobachten und legte ihren rechten Zeigefinger an ihre Lippen, um Paimon zu signalisieren, dass sie ebenfalls still sein sollte.

Irgendein Vorfall schien sich im Traum der Reisenden ereignet zu haben, was zahlreiche Emotionen im Wanderer ausgelöst haben musste.

Natürlich hätte sie auch dieses Mal ihre Fähigkeit einsetzen können, um an nähere Informationen zu gelangen, aber sie hielt es in diesem Moment für unangebracht, eben weil er nicht Herr über seine Gefühlswelt zu sein schien.
 

"Gewähre mir etwas Bedenkzeit" durchbrach er die Stille mit jener Bitte und senkte seinen Blick, als sie ihm ein verständnisvolles Lächeln schenkte.

"Lass dir soviel Zeit, wie du brauchst. Ich verstehe, dass du keine sofortige Entscheidung treffen kannst" wurde ihm geantwortet, hob seinen Blick wieder und nickte ihr zaghaft zu.

"Ich bleibe in der Nähe, also rufe nach mir, wenn etwas sein sollte" ließ er sie wissen, erhob sich und sah zu ihren Händen hinab, die einander noch immer hielten.

Noch etliche Dinge beschäftigten ihn, unter anderen sehr viele Fragen, auf die nur sie vernünftige Antworten besaß, aber jenes Gespräch, welches er in Erwägung zog, um sich selbst etwas mehr Klarheit zu verschaffen, verschob er auf einen späteren Zeitpunkt, wenn Buer und Paimon wieder verschwunden waren.

"Bis später" verabschiedete er sich, ließ ihre Hand los und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.

Seit zwei Stunden saß der Wanderer bereits im Schatten eines Baumes und hing seinen wirren Gedanken nach.

Zum wiederholten Male rief er sich die Umarmung und die Worte der Reisenden ins Gedächtnis, die so viele, unterschiedliche und vor allem neue Gefühlsregungen in ihm ausgelöst hatten und erhob seine rechte Hand, die er auf seine linke Brusthälfte legte.

Er mochte zwar kein Herz besitzen, aber dennoch erlag er einer äußerst befremdlichen Empfindung, die ihn in den Wahnsinn zu treiben versuchte.

Warum verspürte er bloß dieses starke Verlangen, noch einmal von ihr in die Arme geschlossen zu werden?

Weil er zum ersten Mal umarmt worden war?

Weil er vielleicht noch einmal diese neuartigen Gefühle empfinden wollte, um sie zu analysieren und zu verstehen zu lernen?

Ja, vielleicht waren all das Gründe, aber sicher war er sich nicht und senkte seine rechte Hand wieder.

Seufzend, denn ihm hatten die zwei Stunden überhaupt nichts gebracht, lehnte er sich an den Baumstamm zurück und dachte erneut über ihr Freundschaftsangebot nach.
 

Im selben Moment verließen Nahida und Paimon das Haus, wobei die Augen der niederen Herrin sofort umher schweiften und den Wanderer unter einem Baum sitzen entdeckten.

Lumine hatte ihr lediglich verraten, dass sie erneut von seiner Vergangenheit geträumt und sie ein merkwürdiges Summen gehört hatte, weshalb sie momentan noch nicht einschätzen konnte, was im Traum zwischen ihnen vorgefallen sein könnte.

Ebenso wenig wusste sie, was es mit der Bedenkzeit auf sich hatte und welche Entscheidung der Wanderer letzten Endes treffen würde.

Ging es vielleicht um die Freundschaft, welche Lumine ihm heute Morgen angeboten hatte?

Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie vielleicht zu ihm gehen und ihn vorsichtig fragen sollte, aber als sie beobachtete, wie er sich langsam erhob und sich ihnen bedächtigen Schrittes näherte, entschied sie sich dagegen.

Direkt vor ihnen blieb er zwar kurz stehen und schien mit den Gedanken zu spielen, seine Stimme zu erheben, doch nach reifer Überlegung trat er schließlich ohne ein Wort an ihnen vorbei und betrat das Haus.

Prüfend sah sie zu Paimon auf, die sich aber auch nicht so wirklich erklären konnte, wieso sich Lumine und der Wanderer irgendwie verhalten verhielten und setzte sich mit ihr leise seufzend in Bewegung, um sich nun erst einmal nach dem Befinden der drei Männer zu erkundigen.
 

Warum war er überhaupt aufgestanden und zur Reisenden zurück gekehrt?

Warum hatte er eben die Möglichkeit in Erwägung gezogen, Buer um Rat zu bitten, was er aber letzten Endes doch nicht getan hatte, aus dem einfachen Grund, weil er sein Gesicht nicht vor ihr verlieren wollte?

So wie er vor Lumine seine sonstige Beherrschung verloren hatte.

Woher rührte nur dieses penetrante Verlangen, sich in Bewegung zu setzen, auf das Bett zu steigen und die Blondine, welche nun wieder aufrecht und an der Wand gelehnt auf der Matratze saß, ohne ein Wort der Erklärung in die Arme zu schließen?

Lautlos schluckend wanderten seine blauen Augen über den Holzboden und suchten verzweifelt nach möglichen Antworten, die all die neuartigen Gefühle in ihm erklärten.

"Ich bin so erbärmlich" schimpfte er sich gedanklich, denn er traute sich nicht einmal mehr, seinen Blick zu heben und ihr direkt in die Augen zu sehen.

Stattdessen blieb er an der geschlossenen Tür gelehnt stehen und bedachte abermals ihr unverständliches Freundschaftsangebot.

Nur einmal angenommen, er würde ihre Freundschaft annehmen.

Wer garantierte ihm, dass sie ihn nicht im Stich ließ oder er von ihr bei nächster Gelegenheit verraten wurde?

Was wäre, wenn sie in nur wenigen Wochen oder Monaten starb?

Die Furcht vor einen weiteren Verlust ließ ihn unweigerlich erschaudern, während ihm Niwa und der kleine Junge in den Sinn kamen, die er doch auch nach nur kurzer Zeit verloren hatte.

Jene Furcht übermannte ihn, ließ seine Fassade erneut bröckeln und rutschte schluckend an der Tür hinab.
 

Im jenen Moment, als der Wanderer an der Tür hinab rutschte und sein Gesicht auf seine Knie bettete, biss Lumine ihre Zähne aufeinander und versuchte unter enormen Schmerzen zur Bettkante zu rutschen.

Auf halbem Weg sackte sie zusammen, atmete schwer und verfluchte ihre jetzige Lage.

Dennoch rappelte sie sich wieder auf, kroch regelrecht auf die Bettkante zu und versuchte sich in eine halbwegs aufrechte Position zu bringen, um ihre Beine aus dem Bett zu manövrieren.

Allerdings scheiterte sie bei ihrer Aktion, ehe vor ihren Augen alles verschwamm und sie mit dem Oberkörper aus dem Bett kippte.

Sie rechnete eigentlich schon mit dem harten Aufprall auf den Holzboden, doch als sich zwei schützende Arme um sie legten und sie sicher auf den Boden abgesetzt wurde, öffnete sie ihre Augen wieder, nicht ohne einige Male zu blinzeln, um ihre verschwommene Sicht weitgehend zu schärfen.
 

"Warum? Was versprichst du dir davon, ausgerechnet mit mir befreundet zu sein?" wollte er in Erfahrung bringen, denn er konnte ihre Beweggründe einfach nicht nachvollziehen.

Erneut öffnete er seinen Mund, um sie zu ermahnen, als sie ihren rechten Arm unter Schmerzen erhob, doch als sich im nächsten Moment zarte Finger auf seine linke Wange legten, brachte er kein einziges Wort heraus und biss sich auf die Unterlippe.

Vorsichtig, als er wäre er ein äußerst zerbrechliches Wesen, fuhr ihr Daumen über seine Haut und beseitigte eine einsame Träne, die er nicht hatte aufhalten können.

"Ich verspreche mir nichts" wurde ihm entgegnet und obwohl er ihr eigentlich widersprechen wollte, hielt er sich vorläufig mit Anschuldigungen zurück.

"Ich denke nur, dass jede Person einen Freund besitzen sollte. Ein Freund, der dich tröstend in die Arme schließt, wenn du Kummer hast. Ein Freund, der immer ein offenes Ohr für dich besitzt und versuchen wird, dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Einfach ein Freund, mit dem du wieder Spaß und Freude am Leben haben kannst" lauschte er ihren aufrichtigen Worten, die schon wieder unzählige Gefühle in ihm erweckten, senkte seine Augenlider und bedachte noch einmal ihr Freundschaftsangebot.

Konnte er ohne Wagnis ihre Hand ergreifen, obwohl er etliche Zweifel besaß?

"Kannst du mir denn dein Wort geben, mich niemals ohne berechtigten Grund im Stich zu lassen oder mich bei nächster Gelegenheit zu verraten? Wenn du das kannst, reiche ich dir meine Hand, aber erwarte bloß kein nettes Getue von mir" knüpfte er sein Einverständnis an jene zwei Bedingungen und öffnete seine Augen wieder.
 

"Ja, ich gebe dir mein Wort" versprach sie ihm lächelnd und fuhr abermals mit ihrem Daumen über seine Wange.

Als er jedoch ihre Hand ergriff und seinen Kopf demonstrativ zur Seite drehte, verwandelte sich ihr Lächeln in ein amüsiertes Schmunzeln.

"Anstatt mich zu betatschen, solltest du dir einen Namen für mich einfallen lassen" hörte sie ihn leise murren und verkniff sich vorerst eine passende Antwort auf seine Behauptung.

Ja, sie sollte ihm nun tatsächlich einen Namen geben.

Ihr schwebte auch schon ein Name vor, aber sie befürchtete, dass er ihre Wahl aus vielerei Gründen ablehnen würde.

"Muss ich dir denn wirklich einen neuen Namen geben?" fragte sie und nun erst drehte er seinen Kopf zurück in ihre Richtung, um ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu schenken.
 

"Das war die eigentliche Abmachung, aber wenn du deine Wahl begründest und mich überzeugen kannst, steht dir jeder Name zur Verfügung" kam er ihr ein kleines Stück entgegen und war sich nicht einmal sicher, wieso er ihr die freie Wahl überließ.

Weil er neugierig war?

Weil er auf ihr Wort vertrauen wollte?

Warum fühlte er sich bloß so merkwürdig in ihrer Gegenwart?

"Ich möchte dich Kuni nennen" wurde ihm jener Name offenbart und sagte vorerst nichts zu ihrer Wahl, denn zuerst sollte sie ihre Begründung vortragen.

Ablehnen konnte er immer noch, wenn sie ihre Wahl nicht überzeugend begründen konnte.
 

"Ich weiß, dass du deine Vergangenheit hinter dich lassen willst, aber es ist, wie ich im Traum bereits sagte. Wenn wir vergessen, wer wir einst waren, würden wir doch unsere Persönlichkeit verlieren, oder? Ich meine, du hast es am eigenen Leib erfahren, wie es ist, nicht zu wissen, woher man kommt und wer man eigentlich ist, nicht wahr?" erklärte sie ihm ihre Wahl und holte abermals tief Luft, um noch einen weiteren Grund zu nennen.

"Dieser Name mag dem Anschein nach einfach und sehr simpel erscheinen, aber durch meinen langen Aufenthalt in Inazuma habe ich die Bedeutung zahlreicher Namen zu verstehen gelernt. Kuni bedeutet in erster Linie Land, kann aber auch als Königreich verstanden werden" fuhr sie erklärend fort und war sich nicht sicher, wieso er seinen Blick erneut von ihr abwendete.

"Vielleicht ist es dir eines Tages möglich, dein eigenes Königreich mit fairen Mitteln zu errichten. Ein Zuhause, wo du dich wohl fühlst und von Menschen umgeben bist, die dir vertrauen und denen du dein Vertrauen schenken kannst" fügte sie noch hinzu und keuchte überrascht, als sie von ihm an den Oberkörper und in eine feste Umarmung geschlossen wurde.
 

"Ich akzeptiere" brachte der Wanderer, der fortan den Namen Kuni tragen würde, über die Lippen und atmete hörbar aus.

Er wusste selbst nicht so genau, warum er sie nach ihren letzten Worten in eine derart feste Umarmung geschlossen hatte.

Vielleicht weil sie einem einfachen und sehr simplen Namen eine derart hohe Bedeutung gegeben hatte?

Weil ihre Worte ihn auf eine gewisse Art und Weise bewegten?

Glaubte sie wirklich, dass er sich eines Tages sein eigenes, kleines Reich errichten konnte?

Warum war sie bloß so barmherzig zu ihm?

"Reisende, ich...". "Lumine..." wurde er von ihr unterbrochen und nickte zaghaft, obgleich er glaubte, nicht das Recht zu besitzen, sie bei ihrem Namen nennen zu dürfen.

"Gestatte mir, dich noch eine Weile zu umarmen" äußerte er seinen Wunsch und ignorierte vorerst die vielen Gefühlsregungen, die seinen Körper durchströmten.

Das eines der besagten Gefühlsregungen für seinen geäußerten Wunsch verantwortlich war, ignorierte er gekonnt.
 

"Du musst mich nicht um Erlaubnis bitten" wisperte Lumine und versuchte ihre Arme um seinen Oberkörper zu legen, um die Umarmung zu erwidern und stieß einen verzweifelten Seufzer aus, als sie kläglich scheiterte.

"Ich möchte dich auch umarmen, aber ich besitze nicht die notwendige Kraft, um diese furchtbaren Schmerzen noch ein weiteres Mal zu ertragen. Ins Badezimmer muss ich auch schon seit einer Stunde, aber ich wollte dir genügend Zeit zum Nachdenken geben und... Ich kann dir unmöglich mein Anliegen schildern, weil... Weil du..." sagte sie verzweifelt, weshalb er sich etwas von ihr löste und senkte ihren Kopf, um seiner fragenden Miene zu entgehen.

"Weil ich ein Mann bin?" wurde ihr Satz fragend vervollständigt und nickte lediglich, um ihm zu antworten.

"Es wäre sinnvoll, wenn du zuerst dein Anliegen äußerst, bevor du dich im Grund und Boden schämst" lauschte sie seinen Worten und wusste, dass er eigentlich vollkommen recht hatte und atmete hörbar durch, um sich wieder zur Ruhe zu bewegen.

"Ich würde gern duschen" nuschelte sie leise vor sich her und behielt ihren Blick konstant auf ihren Schoß gesenkt.
 

Eine ungewöhnliche Hitze breitete sich in seinem Gesicht aus und im ersten Moment glaubte er, unter Fieber zu leiden, aber jenen Gedanken verwarf er sofort wieder, weil er bisher noch nie an einer Krankheit gelitten hatte.

Vorerst wollte er sich aber keine weiteren Gedanken über besagte Hitze machen und dachte über ihr Anliegen nach.

Natürlich wäre es kein Problem, sie zum Badezimmer zu tragen, sie zu entkleiden und mit ihr gemeinsam unter die Dusche zu steigen, um sie zu waschen.

Bei dieser Gelegenheit könnte er sich ebenfalls der Körperpflege widmen, auf die er auch schon seit zwei Tagen verzichtete.

"Und du möchtest nicht, dass ich dich nackt sehe" schloss er aus ihrem Verhalten und überlegte, wie er ihr Schamgefühl bekämpfen sollte.

Das war schließlich kein Feind, den er sehen und angreifen konnte.

"Würdest du dich denn sicherer fühlen, wenn ich dir mein Wort gebe, meine Augen zu schließen, bevor ich dich entkleide?" schlug er ihr vor und sah abwartend zu ihr hinab.

Es wäre zumindest eine Möglichkeit, die er ihr anbieten konnte, um einer peinlichen Situation zu entgehen.
 

Erst nach einer gefühlten Minute hob Lumine ihr Gesicht wieder und offenbarte ihm unweigerlich die zarte Röte, die sich auf ihren Wangen ausgebreitet hatte und nickte seinem Vorschlag zögerlich zu.

Vorsichtig wurde sie von ihm auf die Arme gehoben, ehe er langsam sich erhob und mit ihr zum Badezimmer lief, deren Tür einen Spalt breit offen stand.

Abermals schluckend, während ihre Finger leicht zitterten und ihr Puls in die Höhe schnellte, hefteten sich ihre goldenen Augen auf die Duschkabine, in der sie in nur wenigen Minuten mit ihm sein würde.

Der bloße Gedanke, dass er ihren gesamten Körper mit seinen Händen berühren würde, ließ sie erschaudern und japste vor Schreck, als sie vorsichtig auf ihren Füßen abgesetzt wurde.
 

"Entspann dich" versuchte er sie zu beruhigen und half ihr wie beim letzten Mal, ergriff nacheinander ihre Arme, die er um seinen Hals legte und versuchte den Grund ihrer Nervosität zu verstehen.

War sie etwa derart angespannt, weil sie in nur wenigen Minuten mit ihm duschen würde?

Musste er sogar in Betracht ziehen, dass er der erste Mann war, den sie nackt sehen würde, sofern sie überhaupt einen Blick riskierte?

"Wäre es dir zuwider, mich vollkommen entblößt zu sehen?" durchbrach er die Stille mit jener Frage und glitt mit seinen Händen zu ihrem Höschen hinab, ergriff dem Saum und zog das seidige Stück Stoff herunter, welches lautlos auf dem Boden landete.

Anschließend setzte er sie vorsichtig auf der Toilette ab und blieb in der gebeugten Haltung, damit sie genügend Halt besaß.
 

"Nein, du bist mir nicht zuwider" antwortete sie ihm wahrheitsgemäß, denn wenn er ihr wirklich zuwider wäre, hätte sie ihm wohl kaum ihre Freundschaft angeboten.

Verunsicherte sie ihn mit ihrem Verhalten?

Konnte er denn wirklich nicht zwischen den Zeilen lesen und erahnen, was ihr eigentliches Problem war?

Vermutlich nicht, eben weil er sich keine derartigen Gedanken machte.

"Das war nicht meine Frage" hörte sie ihn leise sagen, bevor er amüsiert über ihre Worte lachte.

"Und bevor du fragst. Nein, du bist mir auch nicht zuwider" wurde sie in Kenntnis gesetzt und ihr anfänglicher Ärger über sich selbst verpuffte, ehe sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete.

"Aber bilde dir bloß nicht ein, dass ich dich jetzt mögen könnte. Ich erledige nur meinen Auftrag" lauschte sie seinen Worten, hörte sehr wohl den Schalk aus seiner Stimme heraus und wusste dementsprechend um den Spaß, den er sich mit ihr erlaubte.

"Natürlich" stimmte sie ihm schmunzelnd zu, bevor sie über diese doch sehr abstruse Situation lachen mussten.

Schließlich saß sie noch immer auf der Toilette und er stand direkt vor ihr, in gebeugter Haltung und hielt sie mit seinen Armen fest.

Leise kichernd sah Lumine noch einmal zur Duschkabine und dachte über das Kommende nach.

Vielleicht war ihre Nervosität doch vollkommen unbegründet, denn schließlich hatte er vergangene Nacht seinen Standpunkt sehr deutlich gemacht.

Noch nicht wirklich müde, obwohl es inzwischen schon sehr spät war, lag Lumine auf der rechten Seite im Bett und betrachtete die entspannten Gesichtszüge des Wanderers, der sich erst vor wenigen Minuten bis auf das schwarze Shirt und die ebenso schwarze Boxershorts entkleidet und sich zu ihr gelegt hatte, mit der Begründung, sie in ihre Traumwelt begleiten zu wollen, damit sie gemeinsam in Erfahrung bringen konnten, was es mit diesem leisen Summen auf sich hatte und ob jenes Summen vielleicht sogar der Hauptgrund war, wieso sie immer wieder den gleichen Traum durchlebte.

Lautlos seufzend senkte sie ihre Augenlider und ließ den heutigen Tag noch einmal revue geschehen.

Vor allem ihre gemeinsame Dusche würde ihr wohl noch eine ganze Weile im Gedächtnis bleiben.

Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihr geführtes Gespräch, ausgelöst durch eine einzelne, rhetorische Frage, die sie ihm gestellt hatte und an seine folgende, völlig unerwartete Handlung, auf die sie einfach nur reagiert hatte.

Allerdings hatte sie ihn mit ihrer Reaktion derart überfordert, dass sie sich ihm unweigerlich hatte erklären müssen.
 

~
 

Bereits vollständig entkleidet saß Lumine an den kühlen Fliesen gelehnt in der Duschkabine und wartete auf Kuni, der mit dem Rücken zu ihr stand und sich ohne Scheu langsam entkleidete.

Lautlos schluckend und sich irgendwie wie eine Spannerin fühlend, einfach weil sie ihren Blick nicht von ihm abwenden konnte, verfolgte sie jede seiner Bewegung und starrte auf seinen entblößten Rücken.

Ob ihm jemals ein Kompliment bezüglich seines äußeren Erscheinungsbildes gemacht worden war?

War er sich überhaupt seiner Anziehungskraft bewusst, die ihm im die Wiege gelegt worden war?

Er war so ausgesprochen attraktiv, dass es ihr den Atem raubte und schluckte lautlos, als das letzte Kleidungsstück, seine kurze, schwarze Shorts, auf den Boden fiel und er sich, wie Ei ihn erschaffen hatte, zu ihr herum drehte und errötete um die Nase.

Bei ihrer intensiven Musterung kam sie jedoch nicht umhin, seinen makellosen Körper ein wenig zu beneiden.

Während er keinen einzigen Kratzer oder gar Narben besaß, war ihr Körper von vereinzelten Kämpfen gezeichnet.

Kämpfe, bei denen sie unachtsam gewesen war.

Kämpfe, die deutlich sichtbare Spuren auf ihrer Haut hinterlassen hatten.

Spuren, die er durch seine geschlossenen Augen zum Glück nicht sehen konnte.

Ein leiser Seufzer entfuhr ihren Lippen und versuchte vorerst ihre Gedanken an ihren geschundenen Körper in den Hintergrund zu schieben.
 

"Gibt es ein Problem?" erkundigte sich Kuni, dem ihr Seufzer keineswegs entgangen war und stieg mit geschlossenen Augen zu ihr in die Duschkabine, nicht ohne hinter sich die Glastür zu schließen.

"Nein, es... Darf ich dir vielleicht eine sehr persönliche Frage stellen?" wurde ihm leise geantwortet und hörte sehr wohl die Unsicherheit aus ihrer Stimme heraus.

"Nur zu. Ich höre" gab er sein Einverständnis und versuchte seine erweckte Neugier hinter seiner ausdruckslosen Miene zu verbergen.

"Es ist eine rhetorische Frage. Nur einmal angenommen, dir würde eine Frau begegnen, die dir vom Wesen und Aussehen her gefällt und ihr kommt euch näher..." führte sie besagte, rhetorische Frage an und war sich nicht sicher, worauf sie eigentlich hinaus wollte.

"Das ist zwar äußerst unwahrscheinlich, aber fahre fort" warf er ein und verschränkte seine Arme vor der Brust.

"Ihr kommt euch näher und sie entkleidet sich vor dir. Was würdest du tun, wenn du vereinzelte Narben auf ihrem Körper entdeckst? Würdest du wortlos verschwinden, weil sie nicht deiner persönlichen Erwartung entspricht oder würdest du trotz ihrer Narben bei ihr bleiben?" lauschte er ihrer ausführlichen Frage und stieß einen abfälligen Laut aus.

"Mal davon abgesehen, dass ich noch nie in einer derartigen Situation gewesen bin, entnehme ich deiner Frage, dass du Narben besitzt und von mir indirekt wissen willst, ob ich dich ablehnen würde" murrte er und wusste nicht so genau, was ihn dermaßen wütend stimmte.

Weil sie ihn auf einen Umweg nach seiner persönlichen Meinung gefragt hatte, anstatt ihn einfach direkt zu fragen oder regte er sich eher über die Tatsache auf, dass sie ihm zutraute, sie wegen eventueller Makel stehen zu lassen?

Zu seinem Leidwesen konnte er ihr nicht einmal verübeln, dass sie diese Möglichkeit in Betracht zog, weshalb er sich wieder zu beruhigen versuchte.

Seufzend löste er die Verschränkung seiner Arme wieder und ging neben ihr in die Hocke.

"Warum denkst du überhaupt über solche Sachen nach?" wollte er den genauen Grund erfahren und hielt der Versuchung stand, seine Augen zu öffnen, um selbst einen Blick auf die vermeintlichen Narben zu werfen, für die sie sich offenbar sehr schämte.
 

"Normalerweise besitze ich nicht die Zeit, um mir Gedanken über solche Dinge zu machen. Paimon sorgt stets für Ablenkung" murmelte Lumine und sah an ihrem Körper hinab.

Drei längliche Narben verliefen unterhalb ihrer linken Brust und erinnerten sie an ihre erste Begegnung mit den unliebsamen Garmwölfen, die sie garantiert getötet hätten, wenn sie nur mit Paimon unterwegs gewesen wäre.

Eine weitere, etwas kleinere Narbe besaß sie auf ihrem linken Schulternblatt.

Ein Pfeil hatte sie erwischt, als sie versucht hatte, Paimon vor Banditen zu beschützen.

Ihre letzte, kaum sichtbare Narbe war ihr vor etwa fünf Monaten ungewollt zugefügt worden.

Bei einem Trainingskampf mit Tartaglia hatte er sie mit dem Hydroschwert im Nacken erwischt.

Zum Glück trug sie am Hinterkopf relativ kurzes Haar, sonst hätte er ihr wohl die Haarpracht abgeschnitten.

"Meine Worte bedeuten allerdings nicht, dass du für weniger Ablenkung sorgst. Es ist nur... Kompliziert" fügte sie ihrer vorherigen Aussage noch hinzu und linste zu Kuni, der einen weiteren, tiefen Seufzer ausstieß und ihr ein gequältes Lächeln schenkte.
 

"Ich weiß, was du meinst" gestand er ihr und bedachte die vielen, wirren Gefühle, über die er sich doch auch schon seit Stunden den Kopf zerbrach.

"Aber eine fiktive Situation zu erfinden, in die ich mich nicht hinein versetzen kann, wird dich wohl kaum zur gewünschten Antwort führen" führte er ihr vor Augen und überlegte, ob er folgenden Vorschlag wirklich aussprechen sollte.

Schließlich war es nicht sein Begehr, ihr in irgendeiner Art und Weise zu nahe zu treten.

Für einen kurzen Moment stellte er sich die ernsthafte Frage, wieso er eigentlich derart rücksichtsvoll agierte, denn er hatte im Vorfeld angekündigt, kein nettes Getue an den Tag zu legen, zudem das auch gar nicht seine Art war, aber letzten Endes schob er sein aktuelles Verhalten auf die momentanen Umstände.

"Wenn du wirklich erfahren willst, was ich denken oder tun würde, brauchst du mir nur die Erlaubnis zu erteilen, meine Augen zu öffnen" unterbreitete er ihr seinen Vorschlag, weil das in seinen Augen der einzige Weg war, um ihre Furcht vor einer eventuellen Ablehnung zu beseitigen.
 

"Und du wirst nicht einfach aufstehen und gehen?" fragte Lumine unsicher, obwohl sie sich nicht wirklich vorstellen konnte, dass er sie einfach ohne ein Wort in der Duschkabine sitzen lassen würde.

"Warum sollte ich? Außerdem glaube ich kaum, dass dein Anblick derart abstoßend auf mich wirken könnte" lauschte sie seinen Worten, die sie doch sehr beruhigten und atmete noch einmal tief durch.

"Okay, du... Du darfst deine Augen öffnen" gab sie ihm ihre Erlaubnis und senkte ihren Blick.

Der starke Impuls, ihre Arme zu heben, um zumindest ihren Busen notdürftig zu bedecken, keimte zwar in ihr auf, aber sie wusste, dass jener Impuls mit enormen Schmerzen verbunden war, weshalb sie sich keinen einzigen Zentimeter rührte.

Dennoch linste sie noch einmal aus dem Augenwinkel heraus zu ihm herüber und beoachtete, wie er blinzelnd seine Augen öffnete.
 

Eine Welle aus unterschiedlichen Emotionen überrollte ihn, als er ihren entblößten Körper erblickte und erhob rasch seine rechte Hand, die er an die kühlen Fliesen legte, um sich auf seinen Füßen halten zu können.

Sein Gesicht fühlte sich erneut so verdammt heiß an, während sich ein Kloß in seinem Hals bildete, schluckte mehrere Male lautlos und versuchte sich wieder zur Ruhe zu bewegen.

Wenn er im Vorfeld gewusst hätte, was ihr Anblick in ihm auslösen würde, hätte er ihr wohl kaum diesen Vorschlag unterbreitet und schob seine Reaktion auf die Tatsache, dass er zum ersten Mal eine nackte Frau aus nächster Nähe in Augenschein nehmen durfte.

Das würde vermutlich auch diesen unsinnigen Wunsch, sie ein weiteres Mal in die Arme zu schließen, erklären, den er sich jedoch nicht beugen wollte und schüttelte seinen Kopf, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Dementsprechend wanderten seine blauen Augen zu den drei länglichen Narben, die sie unterhalb ihrer linken Brust besaß, welche vermutlich ein großes Tier oder Monster verursacht haben musste.

Trotz jener Narben, weitere Verletzungen konnte er aus seiner jetzigen Sicht nicht erkennen, wirkte sie durchaus ansprechend, sofern er ein Urteil über ihr Aussehen fällen musste.

Erneut gingen seine Augen auf Wanderschaft, begutachteten ihren festen Busen, der sich in der Hand sicherlich ganz weich anfühlen würde, nahmen ihre feinen Bauchmuskeln zur Kenntnis, die der Beweis für tägliches Training waren und fuhr mit seinen Blick noch ein kleines Stück tiefer.

"Keine Behaarung" stellte er gedanklich fest und als er sich der Tatsache bewusst wurde, wohin er eigentlich starrte, wendete er seinen Blick von ihr ab und schüttelte abermals seinen Kopf, um die vielen Gedanken und absonderlichen Wünsche zu verscheuchen, welche ihn zu absurden Vorstellungen anregen wollten.

Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm.
 

"Es sieht furchtbar aus, nicht wahr?" fragte Lumine, um die unangenehme Stille zu durchbrechen, die sich wie ein düsterer Schleier über sie gelegt hatte und bereute allmählich, ihm gestattet zu haben, sich selbst ein Urteil zu bilden.

"Ich besitze noch zwei weitere Narben, die aber kaum der Rede wert sind, aber..." redete sie einfach weiter, als keine Reaktion auf ihre Frage hin erfolgte und sah abermals an ihrem Körper hinab.

"Seit ich diese großen Narben besitze, habe ich keine heiße Quelle mehr besucht" verriet sie ihm und dachte unweigerlich an Paimon, welche jedes Mal enttäuscht gewesen war, wenn sie eine Einladung von ihren weiblichen Freunden abgelehnt hatte.

"Paimon weiß nicht einmal, wieso ich die vielen Einladungen von unseren Freunden abgelehnt habe" murmelte sie nachdenklich und legte ein trauriges Lächeln auf, als sie sich vorstellte, wie Paimon über ihre momentanen Gedanken den Kopf schütteln würde.

"Es ist..." wollte sie einen weiteren Satz beginnen und verstummte, als ihr Kinn ergriffen und ihr Gesicht in die linke Richtung gedreht wurde.

Noch bevor sie ihn auf die zarte Röte hätte ansprechen können, die auf seinen Wangen ruhte, beugte er sich ohne Vorwarnung zu ihr vor und presste seine Lippen auf ihren leicht geöffneten Mund.
 

"Ich muss verrückt sein" dachte sich Kuni und erlag einem gewaltigen Schauer, der durch seinen gesamten Körper jagte, während er glaubte, dass diese sonderbaren Gefühle in ihm implodierten.

Diese fremdartigen Gefühle, die ihn erst zu dieser Handlung regelrecht genötigt hatten.

Ganz allmählich erreichte ihn die Erkenntnis, wieso sich die Menschen derart oft küssten, denn es fühlte sich wahrlich einzigartig an.

Was er in der gestrigen Nacht noch für eine einfache Banalität gehalten hatte, musste er nun völlig neu bewerten, was ihm jedoch in seiner jetzigen Lage echt schwer fiel.

Vielleicht sollte er jene Bewertung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und sich vorläufig auf die unglaublich weichen Lippen konzentrieren, von denen er insgeheim hoffte, noch etwas mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Zwar geisterten in seinem Kopf irgendwo die Fragen herum, ob er gerade einen gewaltigen Fehler beging und ob er ihr gerade ihren ersten Kuss raubte, aber selbst jenen Fragen wollte er im Augenblick keinerlei Beachtung schenken.

Als die Blondine jedoch plötzlich ihren Mund bewegte, zog er sich überfordert zurück und starrte sie ungläubig an, während sein Gesicht ein weiteres Mal vor lauter Hitze glühte.

Hatte sie eben wirklich den Kuss erwidern wollen?

"Absurd" dachte er und sah demonstrativ in eine unbestimmte Richtung, als sie ihre Augen öffnete.

Oh ja, irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
 

"Soll... Soll ich dir ein kleines Geheimnis verraten? Nicht einmal Paimon weiß davon" fragte Lumine und konnte verstehen, dass er gerade jetzt Zeit brauchte, um das Geschehene zu verarbeiten.

Natürlich stellte auch sie sich die berechtigte Frage, was ihn überhaupt erst zu einem Kuss angeregt haben könnte.

Dementsprechend, weil er sie mit diesen unerwarteten Kuss vollkommen überrascht hatte, wollte sie ihm zumindest erklären, wieso sie besagten Kuss hatte erwidern wollen, obgleich das natürlich bedeutete, eine gewisse Tatsache offen zu legen.

"Musst du wissen" entgegnete er ihr kleinlaut, weshalb sie noch einmal tief durchatmete und wendete ihren Blick von ihm ab.

"Heute Morgen durfte ich dir doch Fragen stellen, erinnerst du dich? Ich hatte dich gefragt, ob du noch keiner Person begegnet bist, die dir auf Anhieb gefallen hat und du hast meinen Worten entnommen, dass ich mich schon einmal in einer derartigen Lage befunden habe" erinnerte sie ihn und senkte ihren Blick auf ihren Schoß.

"Vor etwa eineinhalb Jahren, ich war erst wenige Monate in eurer Welt unterwegs, habe ich in Liyue tatsächlich einen Mann getroffen, der mir auf Anhieb gefallen hat" verriet sie ihm und erlag der minimalen Hoffnung, dass er selbst auf die Idee kam, wen sie meinen könnte.
 

"Und? In Liyue leben viele Typen" murrte er, zuckte unwissend mit der rechten Schulter und überlegte, wo er sich vor etwa eineinhalb Jahren aufgehalten hatte.

"Dieser Mann stammt aber nicht aus Liyue" erhielt er einen weiteren Hinweis auf die Identität des Mannes und obwohl er Ratespiele auf den Tod nicht ausstehen konnte, linste er zu ihr herüber und betrachtete den zarten Rotschimmer auf ihren Wangen, während ihre Augen unruhig, gar nervös durch die Duschkabine huschten.

Abermals überlegte er und erinnerte sich, dass er sich zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls in Liyue aufgehalten hatte.

Ja, Il Dottore hatte ihn einst kontaktiert und ihn mit nur wenigen Informationen nach Liyue gesandt.

Plötzlich kam ihm ein äußerst übler Verdacht in den Sinn, der ihn dazu veranlasste, sein Gesicht angewidert zu verziehen und drehte seinen Kopf in ihre Richtung zurück, um sie mit seiner Vermutung zu konfrontieren.

"Der Gedanke, dass du diesen Bastard magst, widert mich echt an" musste er seine persönliche Abneigung bekunden und schüttelte sich vor lauter Ekel.

Natürlich konnte es ihm vollkommen egal sein, wem sie ihre Aufmerksamkeit schenkte, aber musste es denn ausgerechnet dieser Kerl sein?

Mochte sie ihn etwa, weil er in ihren Augen groß und stark war?

Dieser Kerl war doch ein Angeber und wusste sehr wohl um die Macht der Worte, um seine Mitmenschen zu manipulieren.

War sie wirklich derart naiv?

War sie auf sein charmantes Lächeln herein gefallen?
 

"Was? Von wem sprichst du?" wollte Lumine in Erfahrung bringen, die ihren Kopf leicht angehoben hatte und sah ihn voller Verwunderung in die Augen.

"Von wem wohl? Von diesem Bastard Tartaglia natürlich" äußerte er seinen Verdacht im harschen Tonfall und stieß sogar einen abfälligen Laut aus, um ihr zu signalisieren, wie sehr ihm dieser Gedanke doch widerstrebte.

Zunehmend verwirrt, weil sie nicht wirklich nachvollziehen konnte, wieso er Tartaglia in Betracht zog, den sie persönlich nicht einmal als Freund bezeichnen würde, sondern eher als Sparringspartner, schüttelte sie zaghaft ihren Kopf, um seinen Verdacht zuerst einmal zu verneinen.

"Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wieso du ihn in Betracht ziehst. Wir sind nicht einmal Freunde" klärte sie ihn auf und konnte tatsächlich nur ihren Kopf über seine verworrenen Gedanken schütteln.

"Soll ich dir einen letzten Hinweis geben?" fragte sie ihn schließlich leise und senkte ihren Blick erneut auf ihren Schoß hinab, während sie überlegte, wie sie ihren Hinweis formulieren sollte.
 

"Deine Entscheidung" erwiderte Kuni ebenso leise und kam sich im jenen Moment wie ein Idiot vor.

Er wusste nicht einmal, was ihn dazu veranlasst hatte, derart harsch zu ihr zu sein.

Er wusste eigentlich nur, dass sich eine gewisse Erleichterung in ihm ausbreitete.

Ja, irgendwie war er erleichtert, weil sein Verdacht nicht stimmte und sie sich nicht für diesen Kerl interessierte, der ihre Güte doch nur schamlos ausnutzen würde.

"Ein Auftrag, der ursprünglich in Mondstadt begonnen hatte, führte eine Freundin von mir, Paimon und mich nach Liyue. Es ging um Meteoritensplitter, die Tage zuvor vom Himmel gefallen waren und die Menschen bei direkten Kontakt in einen tiefen Schlaf versetzten. Auf der Suche nach weiteren Hinweisen oder Betroffenen stießen wir auf einen Mann am Wegesrand, der sich um einen schlafende Person kümmerte. Während Paimon und meine Freundin mit ihm sprachen und über die aktuelle Lage aufklärten, konnte ich dem Gespräch nur mit halbem Ohr folgen, weil mich sein äußeres Erscheinungsbild fasziniert hatte. Ich... Ich war einfach..." lauschte er ihrem ausführlichen Hinweis, der ihn schlucken ließ und sah sie voller Unglauben an.

Er hatte ihr auf Anhieb gefallen?

Diese Information überforderte ihn nur noch mehr und senkte vorläufig seinen Blick gen Boden.

Hatte sie etwa deswegen den Kuss erwidern wollen?

"Ich war einfach hin und weg von dir" beendete sie leise ihren Satz und spürte abermals diese unnatürliche Hitze auf seinen Wangen, während in seinem Körper die vielen Gefühle durcheinander wirbelten.

Warum reagierte sein Körper derart heftig auf ihre Worte?
 

"Lassen... Lassen wir das erst einmal so stehen" wurde die Blondine aus ihren momentanen Gedankengängen gerissen und hob ihren Blick, nachdem er sich sehr rasch erhoben und ihr den Rücken gekehrt hatte.

"Der Kuss..." fuhr er fort, noch bevor sie ihm hätte zustimmen können und starrte auf seinen Rücken.

"Mit dem Kuss habe ich dir lediglich sagen wollen, dass ich deine Narben nicht als störend oder abstoßend empfinde" lauschte sie seiner Erklärung und war sich nicht sicher, ob seine Worte auch tatsächlich der Wahrheit entsprachen.

Schließlich hätte er ihr doch auch einfach sagen können, was er von ihren Narben hielt.

"Und wenn du dich wieder eigenständig bewegen kannst, lasse ich mich eventuell dazu herab und besuche mit dir eine heiße Quelle" schlug er ihr noch abschließend vor, auch wenn seine Tonart vor lauter Arroganz trievte.

Dennoch schlich sich im jenen Moment ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen und wollte sich schon bei ihm bedanken, doch als er sich plötzlich mit dem Duschkopf zu ihr herum drehte und das Wasser aufdrehte, keuchte sie erschrocken, als sie von einem eiskalten Wasserstrahl getroffen wurde.

Sein amüsiertes Grinsen verriet ihr allerdings, dass er sich nun wieder etwas sicherer fühlte und versuchte sich vergeblich vor dem viel zu kalten Wasser zu schützen.
 

~
 

Ein leiser Seufzer entfuhr Kuni und bedachte den heutigen Tag, bei dem er so viele, neue Eindrücke gewonnen hatte.

Vor wenigen Tagen hätte es ihn nicht die Bohne interessiert, ob die Reisende an gewissen Körperstellen kitzelig war.

Dennoch hatte er die Chance unter der Dusche genutzt und sie jedes Mal in die Seite gezwickt, wenn ihr die Schamesröte ins Gesicht gestiegen war, nur um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Natürlich hatte sie sich vor ihm geziert, vor allem als er den Versuch unternommen hatte, sie zwischen den Beinen zu waschen, aber es war eben schier unmöglich, eine Person ohne direkten Körperkontakt zu reinigen.

Noch deutlich konnte er sich an ihren peinlich berührten Gesichtsausdruck und ihren ungewöhnlichen Laut erinnern, der ihr über die Lippen gekommen war und wie sie ihn leise um den Gefallen gebeten hatte, ihr nicht zwischen die Beine zu greifen.

Ihrer Bitte war er nach nur kurzer Überlegung gefolgt und hatte ihr stattdessen ihr Haar gewaschen.

Nach der Dusche hatte er sie ohne ein Wort eingekleidet, ihr bei der Zahnreinigung geholfen und sie zurück zum Bett getragen.

In seinen Gedanken vertieft, die sich um den ungewöhnlichen Laut und ihr Geständnis gedreht hatten, hatte er für sie und sich selbst Unagi Chazuke zubereitet.

Ein schwaches Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als er sich erinnerte, wie er sie mit seinem Leibgericht gefüttert und sie ihm erneut die Frage gestellt hatte, ob er wirklich nicht auf Nahrung angewiesen war.

Ja, eigentlich hatten sie sich unmittelbar nach dem Essen über die unterschiedlichsten Dinge unterhalten.

Über ihre Erinnerungen an ihre Heimat, ihre gemeinsame Reise mit Aether durch das Sternenmeer, bishin zu ihrer Begegnung mit der unbekannten, weiblichen Göttin, die sie voneinander getrennt hatte.

Über ihre Ankunft in Teyvat und ihre erste Begegnung mit Paimon, nachdem sie zwei lange Monate vergeblich auf ihren Zwillingsbruder gewartet hatte.

Über die Länder, die sie in den vergangenen zwei Jahren bereist hatte, wobei er ihr sofort den weisen Ratschlag erteilt hatte, in Fontaine vorsichtig zu sein, wenn sie nicht vor Gericht gestellt werden wollte.

Über die Archons, die sie kennen und auch mögen gelernt hatte.

Das er sie nicht sonderlich mochte, hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, denn sie waren in seinen Augen nur Schachfigueren, fast schon Marionetten, die sich den Befehlen der himmlischen Ordnung fügten und es scheinbar genossen, über die Länder zu herrschen.

Über die Fatui, denen sie sich immer wieder in den Weg stellte und zu denen er ihr zu jedem einzelnen Harbinger vereinzelte Informationen verraten hatte.

Über den Orden des Abgrunds, der von ihrem Zwillingsbruder angeführt wurde und der Rache an die himmlische Ordnung für das zerstörte Khaenri'ah nehmen wollte.

Über so viele unterschiedliche Themen hatten sie sich unterhalten, weshalb die Zeit wie im Flug vergangen war.

Es hatte sich geradezu vertraut angefühlt, sich mit ihr über all diese Dinge zu unterhalten.

Ja, irgendwie hatte sich ihr Beisammensein so angefühlt, als wären sie schon seit etlichen Jahren miteinander befreundet.

Wahrlich seltsam und obwohl er natürlich noch immer über all diese neuen Empfindungen nachdachte, fühlte er sich in diesem Augenblick sehr wohl.

Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart.
 

"Kuni?" fragte Lumine leise in die Stille hinein und verzog ihr Gesicht vor Schmerz, als sie den Versuch unternahm, sich aus eigener Kraft zu bewegen.

"Mh?" wurde ihr ebenso leise geantwortet, ehe er seine Augen öffnete und sah ihn voller Pein an.

"Könntest du mich auf die andere Seite drehen? Mein rechter Arm tut schon etwas weh" äußerte sie ihr Anliegen und beobachtete, wie er sich wortlos aufsetzte und seine Hände nach ihr ausstreckte.

Vorsichtig zog er sie zu sich heran, stoppte jedoch für einen kurzen Moment und entfernte die dünne Decke, die ihn augenscheinlich bei seinem Vorhaben störte und Lumine konnte nicht verhindern, seine Umsichtigkeit mit ihr zu belächeln.

Zwar hatte er heute Mittag noch gemeint, dass sie bloß kein nettes Getue von ihm erwarten sollte, aber dennoch gab er sich, ob gewollt oder ungewollt, seit ihrer gemeinsamen Dusche sehr viel Mühe mit ihr.

Schließlich hatte er extra für sie sein Leibgericht zubereitet, mit ihr gemeinsam gegessen und sie hatten sich über die verschiedensten Themen unterhalten.

So viele, neue Eindrücke hatte sie durch ihre Gespräche gewinnen können und genoss die jetzige Zeit mit ihm, denn sie bezweifelte doch sehr, dass sie sich unbeschwert hätten unterhalten können, wenn Paimon bei ihnen gewesen wäre.

Paimon hörte sich eben sehr gern selbst reden.
 

"Habe ich etwas im Gesicht?" wollte er wissen, obgleich er natürlich ahnte, wieso sie ihn derart intensiv musterte.

Allerdings störte ihre intensive Musterung seine Konzentration, die er benötigte, um sein Vorhaben in die Tat umsetzen zu können.

Nachdenklich schob er seine rechte Hand unter ihre Beine, hob sie etwas an und verfrachtete sie zuerst einmal auf ihren Rücken.

"Ich war einfach hin und weg von dir" kamen ihm ihre Worte wieder in den Sinn, die ihn schon den ganzen Tag über verfolgten und bedachte noch einmal die Situation in der Duschkabine.

Ihre Worte, so ehrlich und rein, hatten sich dermaßen auf seinen Körper ausgewirkt und ein Gefühl in ihm erweckt, was ihn erst dazu veranlasst hatte, sich rasch zu erheben und ihr den Rücken zu kehren.

Mit seiner sonstigen Art war es ihm irgendwie gelungen, sein Problem zu überspielen und war so erleichtert gewesen, als besagtes Problem nach nur wenigen Minuten abgeklungen war.

Zum Glück hatte sie nicht zur Kenntnis genommen, was er eigentlich gefühlt hatte, denn er hätte ihr nicht einmal erklären können, warum sein Körper auf diese Art und Weise reagiert hatte.

Fortan würde er äußerste Vorsicht walten lassen, um sich selbst vor einer peinlichen Situation zu bewahren.

Dennoch quälte ihn seither die berechtigte Frage, warum er ausgerechnet diese verfluchte Gefühlsregung, die er sogar beim Namen nennen konnte, bei ihr empfunden hatte.

Diese anfängliche Lust, die er doch nur sehr selten mit der Hand stillte, eben weil er den Menschen in manchen Punkten doch zu ähnlich war, hatte seinen verdammten Körper zu einer mehr als eindeutigen Regung gebracht.
 

Unverzüglich senkte Lumine ihren Blick und nuschelte eine leise Entschuldigung vor sich her.

"Und warum entschuldigst du dich jetzt bei mir?" lauschte sie seiner Frage und öffnete auch schon ihren Mund, um sich zu rechtfertigen, aber letzten Endes sagte sie doch kein Wort und biss sich strafend auf die Unterlippe.

Über so viele Dinge hatten sie sich unterhalten, aber weder sie, noch er hatten noch einmal ein Wort über die Situation im Badezimmer verloren.

"Weißt du, was ich beim besten Willen nicht verstehen kann?" erhob er erneut seine Stimme, weswegen sie ihren Blick wieder hob und entnahm seiner Miene etliche Zweifel.

"Warum findest du nach wie vor Gefallen an mir, obwohl du doch weißt, was ich bin? Als du erfahren hast, dass wir auf unterschiedlichen Seiten stehen und ich lediglich eine Puppe bin, die mit der Zeit gelernt hat, ein eigenständiges Leben zu führen, hättest du keinen weiteren Gedanken mehr an mich verschwenden sollen" hörte sie ihm zu, senkte abermals ihren Blick und erinnerte sich an ihr damaliges Gespräch mit Yae Miko, von der sie erst erfahren hatte, dass Scaramouche von Ei erschaffen worden war.

Sie erinnerte sich noch sehr wohl, wie geschockt sie gewesen war und sie Wochen gebraucht hatte, um diese Tatsache zu verarbeiten und sie hatte sich doch auch vorgenommen, sich ihm aus dem Kopf zu schlagen, eben weil sie einerseits Feinde waren und er, wäre Miko nicht aufgetaucht, sie mit Sicherheit getötet hätte und andererseits, um sich selbst vor etwaigen Enttäuschungen zu bewahren.

Ihr Aufeinandertreffen in Sumeru hatte ihr jedoch bewiesen, dass er ihr noch immer gefiel, obgleich der vielen Probleme, die er ihr und ihren Freunden bereitet hatte.
 

"Hast du denn keine Angst, dass ich deine Schwäche für mich zu meinen eigenen Vorteil ausnutzen könnte?" hinterfragte er ihr Geständnis, was keineswegs bedeutete, dass er diese Möglichkeit in Betracht zog.

Das war nämlich überhaupt nicht sein Stil.

Es wäre ihm sogar zu lästig, ihr schöne Augen zu machen, sie mit irgendwelchen unsinnigen Komplimenten zu überhäufen oder sie sogar um ein Date zu bitten.

Nein, er kannte schnellere Wege und Mittel, um eine Person zu brechen.

Dieses Vorgehen würde wohl eher Tartaglia wählen, um sich Informationen zu beschaffen und eine Frau auf emotionaler Ebene von sich abhängig zu machen.

"Wenn... Wenn du wirklich meine Schwäche für dich ausnutzen wollen würdest, wäre es wohl kaum bei einem Kuss geblieben, oder?" antwortete sie ihm mit einer berechtigten Gegenfrage, der er nicht einmal widersprechen konnte.

"Guter Punkt" sagte er lediglich, obwohl es ihm doch ein wenig Unbehagen bereitete, wie gut sie ihn offenbar einschätzen konnte.

"Wo wir gerade beim Thema sind" merkte er an und lenkte sein Augenmerk zum offenen Fenster.

"War... War das dein erster Kuss?" fragte er schließlich und schluckte, als er abermals ihren Blick auf sich ruhen spürte.

Die Laterne am Wegesrand spendete zwar nur spärlich Licht, aber es reichte aus, um seine momentanen Gesichtszüge zu erkennen.
 

"Ja..." murmelte Lumine und konnte ihm sehr wohl von der Miene ablesen, wie unangenehm es ihm doch eigentlich war, über diesen Kuss zu sprechen.

"Es... Es war auch dein erster Kuss, nehme ich an?" fragte sie ihn vorsichtig, obwohl sie die Antwort bereits zu kennen glaubte und erhielt die Bestätigung mit einem seichten Kopfnicken.

"Ich kann nachvollziehen, dass du mich nicht verstehst. In manchen Nächten habe ich selbst an meinen gesunden Verstand gezweifelt und mich gefragt, warum ich Gefallen an einen meiner Feinde finde, der nicht einmal ein Mensch ist" setzte sie erneut zum Sprechen an und stieß einen leisen Seufzer aus.

"Aber im Laufe der vergangenen Monate hat es irgendwann keine Rolle mehr gespielt, wer oder was du bist. Vor allem, nachdem du mich geküsst hast, war mir deine Herkunft vollkommen egal" ließ sie ihn wissen, um ihm irgendwie ihre jetzige Sicht verständlich zu machen und legte ein zaghaftes Lächeln auf, als seine Augen erneut den Blickkontakt zu ihr suchten.

"Außerdem sind wir sind jetzt Freunde und ich nehme dich als Person wahr. Eine Person, die eigenständig denkt, handelt und fühlt" fügte sie noch hinzu und konnte in seinen Augen etwas mehr Verständnis erkennen.
 

"Warum berühren mich ihre Worte nur so sehr?" fragte sich Kuni gedanklich und kämpfte gegen das starke Verlangen an, sie an seinen Körper zu ziehen und noch einmal diese weichen Lippen in Besitz zu nehmen.

Ungewollt leckte er sich über seine Oberlippe und errötete augenblicklich, als er sich vorstellte, einen richtigen Kuss mit ihr zu teilen.

Das hatte er auch schon oft bei den sogannten Liebespaaren beobachten können, die sich gegenseitig ihre Zungen in den Hals geschoben hatten und hatte sich jedes Mal bei diesen Anblick geekelt.

Wie sich das wohl anfühlen mochte?

Vermutlich merkwürdig, aber bevor ihn seine Vorstellung noch zu einer weiteren Handlung nötigen konnte und er sie tatsächlich noch derart intim küsste, drehte er sie vorsichtig auf die linke Seite, deckte sie wieder zu und legte sich ebenfalls wieder hin.

"Versuche jetzt zu schlafen" wies er sie an und als ihm eine gute Nacht gewünscht wurde, drehte er sich auf die rechte Seite und kehrte ihr somit den Rücken zu.

"Warum stelle ich mir solche Sachen mit ihr vor? Was stimmt denn bloß nicht mit mir?" fragte er sich gedanklich, senkte seine Augenlider und bedachte noch einmal diese seltsamen Gefühle, die ihn in den Wahnsinn trieben.

~
 

Mit gesenkten Augenlidern stand Lumine nahe der geschlossenen Haustür und konzentrierte sich auf das summende Geräusch, welches ihr im letzten Traum wesentlich leiser erschienen war.

"Aber ich kann trotzdem nicht genau bestimmen, aus welcher Richtung dieses Geräusch kommt" dachte sie und zuckte kaum merklich zusammen, als ihre linke Hand ergriffen wurde.

"Entspann dich und überlasse alles Weitere mir" ertönte die Stimme von Kuni direkt neben ihr und obwohl sie zaghaft nickte, während sie eisern versuchte, sich wieder weitgehend zu entspannen und ihre Konzentration aufrecht zu erhalten, konnte sie sich nicht dem wohligen Schauer erwehren, der durch den Klang seiner ruhigen Stimme und seine gewählten Worte durch ihre Glieder fuhr.

Eine dunkle Röte erschien auf ihren Wangen und schüttelte mehrere Male ihren Kopf, um die durchaus erotischen Vorstellungen zu vertreiben und versuchte sich wieder zur Ruhe zu bewegen.

Jetzt war wahrlich der falsche Zeitpunkt, um ihren geheimsten Wünschen zu unterliegen.
 

Wie im vorherigen Traum nahm Kuni ihre Gefühle wahr, die ihn lautlos schlucken ließen und spürte eine unangenehme Hitze in seinem Gesicht.

"Ich darf mich jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen" ermahnte er sich gedanklich, atmete einmal tief durch und versuchte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, obwohl in seinem Kopf etliche Fragen umher schwirrten.

Hatte sie eben tatsächlich das intensive Gefühl der Lust empfunden?

Was hatte sie bloß zu dieser eindeutigen Gefühlsregung bewogen?

Etwa weil er ohne Vorwarnung ihre Hand ergriffen hatte?

Hatte sie derart intensiv auf diese doch sehr einfache Berührung reagiert?

Ohne es eigentlich zu wollen, denn er konnte sich einfach nicht auf ihr Vorhaben konzentrieren, ließ er ihre insgeheimen Gefühle auf sich wirken, die ihm unweigerlich ihre tiefe Begierde verrieten.

Eine derartige Begierde, die ihn auf eine seltsame Art und Weise faszinierte und nahm sich für den morgigen Tag vor, sich eingehend mit diversen Themen zu befassen.

Er hätte sich vermutlich selbst belächelt, weil er in der vorherigen Nacht noch eine völlig andere Einstellung vertreten hatte, aber als ein summendes Geräusch in einiger Entfernung ertönte, setzte er sich mit geschlossenen Augen in Bewegung und zog sie unweigerlich mit sich.
 

Mit vorsichtigen Schritten folgte sie Kuni, der sie nach wie vor bei der Hand hielt und stieß an seine rechte Schulter, als er abrupt stoppte.

"Dieses Geräusch scheint aus dem Untergrund zu kommen" lauschte sie seiner Vermutung, öffnete ihre Augen und blinzelte überrascht, als sie direkt vor ihren Füßen eine Falltür erspähte, die sehr wahrscheinlich zum besagten Untergrund führte.

"In diesem Haus existierte in meiner Erinnerung keine Falltür" wurde sie über diese Tatsache informiert und beobachtete, wie er vor der Falltür in die Hocke ging.

"Könnte es sein, dass..." überlegte er laut, brach seinen Satz jedoch ab und noch bevor sie ihn hätte fragen können, was er gerade vermutete, streckte er seine freie Hand aus, öffnete die Falltür und richtete sich wieder auf.

Wieso war es ihm möglich, die Falltür zu öffnen, obwohl sie zuvor nichts in diesem Haus hatte berühren können?

"Lass unter gar keinen Umständen meine Hand los" äußerte er seine Bitte, die sich in ihren Ohren jedoch wie ein klarer Befehl anhörte und nickte ihm lediglich zu.

"Gut, gehen wir" folgte seine nächste Anweisung und trat nach ihm die Stufen hinab.

Sicherlich würde er ihr zu einem späteren Zeitpunkt seinen Verdacht schildern und ihr erklären, wieso er die Fähigkeit besaß, Gegenstände aus diesem Traum zu berühren.
 

Mit jeden weiteren Schritt in den Untergrund wurde dieses summende Geräusch lauter und sein insgeheimer Verdacht schien sich zu bewahrheiten, als er ein vertrautes Gefühl wahrnehmen konnte und blieb ohne Vorwarnung stehen, weshalb Lumine erneut seine rechte Schulter streifte.

"Ich spüre Abyss Magie" setzte er sie in Kenntnis und ließ ihre Hand los.

Unter den gegebenen Umständen durfte sie ihn nicht noch tiefer in den Untergrund begleiten, denn die Gefahr, dass sie erneuten Schaden nehmen und sich ihr aktueller Zustand sogar noch verschlechterte, konnte und würde er nicht in Kauf nehmen.

"Geh zurück und warte oben auf mich" änderte er ihren ursprünglichen Plan und wollte schon seinen Weg fortsetzen, doch als er bei der rechten Schulter ergriffen wurde, hielt er inne.

Prüfend sah er über seine rechte Schulter, begegnete ihren goldenen Augen, die ernsthafte Besorgnis ausstrahlten und konzentrierte sich abermals auf ihre Gefühle.
 

Lumine spielte zwar mit dem Gedanken, ihm zu sagen, dass sie ein äußerst ungutes Gefühl bei dieser Angelegenheit verspürte und sie sich berechtigte Sorgen um ihn machte, aber ebenso wusste sie, dass er ihre Sorge möglicherweise vollkommen falsch auffassen könnte, wenn er sich nicht sogar in den Glauben verstrickte, dass sie ihn für einen Schwächling hielt, was er keineswegs war und zog ihre Hand wieder zurück.

Lautlos seufzend drehte sie sich herum, um die Stufen wieder hinauf zu steigen und riss überrascht ihre Augen auf, als er seine Stimme erhob.

"Ich weiß deine Sorge zu schätzen" hallten jene Worte in ihren Gedanken nach und sah noch einmal über ihre rechte Schulter, nur um zu erkennen, dass er bereits verschwunden war.

Noch eine Weile blieb sie auf der untersten Stufe stehen und starrte auf die Stelle, an der Kuni noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte und dachte an ihren Zwillingsbruder, der vielleicht im Untergrund lauerte.

Mit jener Sorge machte sie sich auf den Rückweg und konnte insgeheim nur hoffen, dass Kuni unversehrt zu ihr zurückkehrte und sie diesen Albtraum wieder verlassen konnten.
 

Während die Blondine die vielen Stufen wieder hinauf stieg, erreichte Kuni das Ende der vielen Treppen und trat auf eine große Eisentür zu, die sich wie von Geisterhand öffnete und ihm somit Zutritt gewährte.

Eine Art Podest, auf dem etwas sehr Kleines schwebte, erhaschte sofort seine Aufmerksamkeit und trat gemächlichen Schrittes in die Mitte des großen Raumes.

"Das ist doch..." dachte er und stieß auf unsichtbaren Widerstand, der ihn davon abhielt, sich dem Podest gänzlich zu nähern.

"Eine Barriere" murmelte er und behielt seine Augen auf das kleine Ding gerichtet, welches das Aussehen einer kleinen, schwarzen Schachfigur besaß, hoch konzentrierte Abyss Magie verströmte und immer wieder pulsierte, wodurch das summende Geräusch erzeugt wurde.

Eine Schachfigur in Form eines Königs.

Nachdenklich erhob er seine linke Hand, die er an sein Kinn legte und rief sich sämtliche Informationen ins Gedächtnis, die er in den vergangenen Jahren hatte sammeln können.

Il Dottore war es zwar durch langer Forschung und mit der Hilfe von Pierro gelungen, teuflische Augen, die ursprünglich aus Khaenri'ah stammten, zu duplizieren, aber reichte dessen Verständnis über Abyss Magie inzwischen aus, um selbst ein göttliches Herz zu erschaffen?

Musste er sogar in Betracht ziehen, dass der Orden des Abgrunds und die Fatui, die der Zarin unterstellt waren, einen gemeinsamen Plan verfolgten?

Er wusste es nicht mit Sicherheit und rief sich seinen vorherigen Verdacht ins Gedächtnis.

Inzwischen war er sich eigentlich absolut sicher, dass Aether diesen Traum unter seiner Kontrolle gebracht hatte.

Unklar blieb, wieso Lumine ausgerechnet seine Erinnerung durchleben musste und ob dieses göttliche Herz aus reiner Abyss Magie eine Gefahr für ihr Leben darstellte.
 

"Es war absehbar, dass du diesen Ort früher oder später finden würdest" wurde Kuni aus seinen Gedankengängen gerissen, ehe hinter dem Podest jener Mann auftauchte, der für diese gefährliche Angelegenheit verantwortlich war.

Eine unglaubliche Wut kroch in ihm empor, die ihn unweigerlich mit den Zähnen knirschen ließ und ermahnte sich gedanklich um seine Fassung, die er unter den gegebenen Umständen nicht verlieren durfte.

Er musste einen kühlen Kopf bewahren und dem Blonden brauchbare Informationen entlocken.

"Ist das etwa ein weiterer Testlauf?" äußerte er jene Frage, deren Antwort ihn doch brennend interessierte und folgte Aether mit seinen Augen, der gemächlichen Schrittes durch den großen Raum stolzierte.

"Nein..." wurde ihm leise geantwortet, bevor sich der Blonde zu ihm herum drehte und ihm ein Lächeln schenkte.

"Ich habe lediglich meinen Plan in die Tat umgesetzt" offenbarte der Kerl, dessen scheinheiliges Lächeln ihn rasend vor Wut machte.

Dennoch besann er sich eines Besseren, verschränkte seine Arme vor der Brust und dachte über seine momentanen Möglichkeiten nach.

Er könnte natürlich den Versuch unternehmen, die Barriere zu durchbrechen und das göttliche Herz zu zerstören, aber er wusste weder, wie sich sein Vorhaben auf Lumine auswirkte, noch ob er Sumeru, wenn nicht sogar die umliegenden Länder, einer tödlichen Gefahr aussetzte.

Im Prinzip konnte er nur Buer über diesen Fund unterrichten und auf ihr weitreichendes Wissen vertrauen.
 

"Ich hätte dir ohnehin von der Zerstörung abgeraten" lächelte Aether, was ihn, Kuni, unweigerlich zu der Annahme führte, dass dieser Dreckskerl seine Gedanken lesen konnte.

Unverzüglich versuchte er in seinem Kopf eine Mauer zu errichten, um seine Gedankenwelt vor dem Blonden zu schützen, dessen Lächeln sich in ein amüsiertes Grinsen verwandelte.

"Vergebliche Liebesmüh. Ich kenne bereits all deine Gedankengänge" verriet der Typ, der sich wieder in Bewegung setzte und an ihm vorbei trat.

"Und ich weiß um die Gefühle, die du meiner geliebten Zwillingsschwester entgegen bringst" fuhr der Blonde fort, lief weitere Schritte und umkreiste ihn.

"Du möchtest doch nicht, dass die Person, in die du dich Hals über Kopf verliebt hast, durch deine Hand stirbt, nicht wahr? Du...". "Halt dein dämliches Maul" unterbrach er Aether brüllend und biss sich strafend auf die Unterlippe.

Warum war er bloß auf diese offensichtliche Provokation angesprungen?

"Verdammt..." fluchte er innerlich, löste die Verschränkung seiner Arme wieder und wendete seinen Blick von diesen Bastard ab.

Verzweifelt versuchte er seine wirren Gedanken, die er nicht länger hinter der sicheren Mauer verbergen konnte, zu ordnen und atmete einige Male tief durch, um sich weitgehend zu beruhigen.

Hatte der Kerl etwa dieses göttliche Herz an das Leben der Reisenden geknüpft?

Das Gefühl der Angst kroch unweigerlich in ihm hoch, versuchte ihn zu übermannen und schüttelte mehrere Male seinen Kopf, weil er bei klarem Verstand bleiben musste.

Ja, er musste sich unbedingt beruhigen und sich weitere Informationen beschaffen.

Bevor er jedoch seinen Blick wieder heben und eine weitere Frage stellen konnte, ertönte eine weibliche Stimme in der Ferne, die nach ihm rief und sah prüfend über seine linke Schulter.

Als er Lumine nirgendwo erkennen konnte, deren Stimme ein weiteres Mal ertönte, sah er noch einmal zu Aether, der den kurzen Augenblick seiner Unachtsamkeit genutzt hatte, um sich aus dem Staub zu machen.

Ein letztes Mal wanderten seine blauen Augen zum göttlichen Herz, welches er wohl vorerst unangetastet zurück lassen musste und machte auf den Absatz kehrt.
 

"Kuni?" rief Lumine zum wiederholten Male und spielte bereits mit dem Gedanken, ihm doch in den Untergrund zu folgen, obgleich sich die Abyss Magie auf ihre körperliche Verfassung auswirken würde.

Als jedoch leise Schritte in der Ferne ertönten und nur wenige Sekunden später Kuni in ihr Sichtfeld trat, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus.

"Ich weiß, ich sollte oben auf dich warten, aber..." wollte sie sich rechtfertigen und brach ihren Satz ab, als er seinen Kopf senkte und auf einen unsichtbaren Punkt am Boden starrte.

"Du... Du bist Aether begegnet, oder?" fragte sie ihn vorsichtig und war sich nicht sicher, ob sie die wenigen Stufen, die sie voneinander trennten, zu ihm hinab steigen sollte.

Im jenen Moment, als sich ihre Blicke gekreuzt hatten, hatte sie die Unsicherheit und eine enorme Furcht in seinen Augen erkennen können, die er vor ihr zu verbergen versuchte.

Was war bloß im Untergrund vorgefallen?

Was hatte ihn dazu veranlasst, derart lautstark zu brüllen?
 

"Ja..." antwortete er ihr knapp und bedauerte die Tatsache, seinen Hut nicht zu tragen, mit dem er sein Gesicht hätte verstecken können.

"Du möchtest doch nicht, dass die Person, in die du dich Hals über Kopf verliebt hast, durch deine Hand stirbt, nicht wahr?" hallten jene Worte in seinen Gedanken wieder, die gemischte Gefühle in ihm auslösten und erhob seine rechte Hand, um zumindest halbwegs verbergen zu können, wie aufgewühlt er doch eigentlich war.

Warum konnte ihm diese absonderliche Behauptung nicht einfach egal sein?

Weil seine Gefühle im Augenblick vollkommen verrückt spielten?

Unsicher biss er sich auf die Unterlippe und versuchte seine Gedanken auf das Wesentliche zu lenken, denn er sollte ihr von seiner Entdeckung im Untergrund berichten und sie aufwecken, damit sie im Anschluss Buer informieren konnten, aber er scheiterte beim bloßen Versuch und begann sich stattdessen berechtigte Fragen zu stellen.

War es überhaupt möglich, dass sich Menschen innerhalb kürzester Zeit ineinander verliebten?

Nein, vermutlich nicht und schüttelte innerlich seinen Kopf, um sich selbst zu tadeln.

Er war doch gar kein Mensch.

Er war eine Puppe, die zum ersten Mal mit diversen Gefühlsregungen konfrontiert wurde.

Äußerst intensive Gefühlsregungen, die sich mit Logik überhaupt nicht erklären ließen.

Eben jene Gefühle hatten ihn am gestrigen Tag bereits zu einer untypischen Handlung bewogen.

Zu einen harmlosen, unschuldigen Kuss, den Lumine sogar hatte erwidern wollen.

Wusste ihr Zwillingsbruder etwa, dass sie ihn mochte?

Möglicherweise, aber bevor er sich noch weitere Gedanken machen konnte, entfleuchte ihm ein erschrockener Laut, als er bei der linken Schulter ergriffen wurde und schlug im Affekt ihre Hand zur Seite.
 

Noch bevor Lumine etwas hätte sagen können, denn scheinbar hatte er sich durch die Berührung ihrer Hand gewaltig erschrocken, kehrte er ihr seinen Rücken zu und nuschelte unverständliche Worte vor sich her.

"Entschuldige" drang jenes Wort an ihr Ohr, legte ein zaghaftes Lächeln auf und trat auf leisen Sohlen an seine linke Seite.

"Starr gefälligst nicht her" beschwerte er sich bei ihr, drehte seinen Kopf demonstrativ weg und nuschelte weitere, äußerst unverständliche Worte in sich hinein.

"Und hör endlich auf, dir Sorgen um mich zu machen. Das nervt" wurde ihr leise vorgeworfen und hörte sehr wohl die minimale Unsicherheit aus seiner Stimme heraus.

"Was erwartest du denn eigentlich von mir? Willst du etwa mit mir ins Bett?" lauschte sie seinen Fragen und riss erschrocken ihre Augen auf, drehte sich ruckartig von ihm weg und schluckte lautlos, während sich ihre Wangen rötlich verfärbten.

Mit derart direkten Fragen hätte sie nie im Leben gerechnet und sie war sich nicht einmal sicher, ob er eine ernsthafte Antwort von ihr erwartete.
 

Ebenso erschrocken über seine eigenen Fragen, die ihm mehr oder weniger ungewollt über die Lippen gekommen waren, starrte Kuni auf einen unsichtbaren Punkt an der steinernen Wand.

"Dieser verdammte Bastard. Nur seinetwegen bin ich völlig durch den Wind" verfluchte er ihren Zwillingsbruder, der ihn erst in seine jetzige Lage gebracht hatte, tastete zögerlich nach ihrer Hand und spürte augenblicklich ihre Gefühle.

Ihre Gefühle, die ihm verrieten, wie nervös er sie mit seinen Fragen gemacht hatte, auf die sie doch gar nicht antworten musste.

Er erwartete zumindest keine Antwort und atmete hörbar aus, ehe er leichten Druck um ihre leicht zittrige Hand ausübte.

"Erwache..." wisperte er in die Stille hinein und senkte seine Augenlider.
 

~
 

Blinzelnd öffnete Lumine ihre goldenen Augen und wurde direkt von der aufgehenden Sonne begrüßt, deren Strahlen durch das offene Fenster ins Zimmer fielen.

Testend versuchte sie ihren rechten Arm in die Höhe zu heben und war überrascht, weil der Schmerz ein wenig abgeklungen war.

Jetzt, wenn sie den Schmerz beschreiben müsste, fühlte es sich wie sehr starker Muskelkater an.

Ihr Zwillingsbruder hatte also tatsächlich die Wahrheit gesagt.

Erleichtert atmete sie aus, senkte ihren Arm wieder und legte ein zaghaftes Lächeln auf, denn vielleicht konnte sie sich in den kommenden Tagen wieder eigenständig bewegen und sich auch wieder selbst versorgen.

"Du scheinst dich auf dem Weg der Besserung zu befinden" wurde sie aus ihren Überlegungen gerissen und bemerkte nun erst, dass Kuni direkt hinter ihr lag und sah an sich hinab, nur um seinen rechten Arm zu erkennen, den er um ihre Taille geschlungen hatte.

"Ähm... Ja, scheint wohl so" antwortete sie ihm verunsichert und schluckte, als er seinen Arm erhob und ein minimales Stück von ihr weg rutschte.

Anschließend setzte er sich auf, stieg über sie herüber und verließ das Bett.
 

"Dein Zwillingsbruder..." kam Kuni direkt zum Punkt, denn er wollte nicht unbedingt über die Fragen reden, die er ihr im Traum gestellt hatte, zog sich langsam an und behielt seine Augen auf das offene Fenster gerichtet.

"Er hat ein göttliches Herz aus Abyss Magie erschaffen. Vermutlich nutzt er deinen Traum als sicheres Versteck" erzählte er ihr von seinem Fund im Untergrund und ballte seine rechte Hand zur Faust.

"Und um zu verhindern, dass ich das göttliche Herz zerstöre, hat er es wahrscheinlich an dein Leben geknüpft" äußerte er seine grausame Vermutung und drehte sich zu ihr herum.

Lautlos schluckend, als er die Traurigkeit in ihren Augen erkennen konnte und nur wenige Sekunden später etliche Tränen über ihre Wangen liefen, setzte er sich in Bewegung und ließ sich neben ihr auf der Bettkante nieder.

"Ich weiß, wie du dich gerade fühlst" ließ er sie wissen, streckte seine Arme nach ihr aus und brachte sie in eine aufrechte Sitzposition, nur um sie in eine Umarmung zu schließen.

Mehr konnte er im Augenblick nicht tun.

Er konnte ihr lediglich seelischen Beistand leisten und darauf vertrauen, dass diese Umarmung ihr ein wenig Linderung verschaffte.

In ihren Gedanken fasste Nahida noch einmal all die Informationen zusammen, die sie in den vergangenen Tagen gesammelt hatten und fügte die neuesten Erkenntnisse hinzu.

Ein Testlauf.

Ein sich ständig wiederholender Traum.

Kontrolle und Manipulation des Traumes.

Die Erschaffung eines göttlichen Herzen.

"Das Polaritätsgesetz" sagte sie und hüpfte vom Stuhl, auf dem sie sich zuvor gesetzt hatte und trat auf das Bett zu, auf dem der Wanderer neben Lumine saß, deren Kopf auf dessen linken Oberschenkel ruhte.

Ein äußerst ungewöhnliches Bild, vor allem weil er vor wenigen Minuten damit begonnen hatte, ihr fast schon liebevoll durchs Haar zu streicheln.

Die Frage, ob der Wanderer ihre Freundschaft vielleicht angenommen haben könnte, schob sie jedoch vorläufig in den Hintergrund und sah zu Paimon auf, die neben ihr schwebte und sie mit fragender Miene bedachte.
 

"Alles besitzt ein Paar von Gegensätzen. Gleich und Ungleich sind im Prinzip dasselbe" erklärte Kuni und sah zu Lumine hinab, welche sich inzwischen beruhigt hatte und fuhr abermals mit den Fingern seiner linken Hand durch ihr Haar.

Nach seiner Berichterstattung hatte Buer gemeint, dass sie der Reisenden im Augenblick nicht helfen könne und dass das göttliche Herz vorerst in ihrem Traum verbleiben müsse.

Auf seine anschließende Frage hin, ob er seine momentane Macht dazu einsetzen dürfe, um ihren Zwillingsbruder die Kontrolle über den Traum zu entreißen und weiteren Zugang zu versperren, hatte sie ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sein Einschreiten fatale Folgen nach sich ziehen könne.

Ja, er wusste, dass sich die Barriere um das göttliche Herz auflösen und die Abyss Magie entweichen könnte.

Er wusste, was auf dem Spiel stand und dennoch machte es ihn rasend vor Wut, rein gar nichts tun zu dürfen.

Er fühlte sich einfach vollkommen machtlos.
 

Lumine öffnete ihre goldenen Augen und sah zu Kuni auf, dessen Finger leicht zitterten und entnahm seiner Miene, wie erneute Wut in ihm entflammte und erhob ihre linke Hand, die sie auf seinen Oberschenkel legte.

Jene Wut war aber nicht die einzige Gefühlsregung, die sie ihm ansehen konnte.

Deutliche Sorge und Angst strahlten seine blauen Augen aus und vermutlich nutzte er seine Wut, um eben jene Gefühle zu überspielen.

Durch die Berührung ihrer Hand entspannte er sich jedoch wieder weitgehend, nickte ihr kaum merklich zu und stieß einen lautlosen Seufzer aus, ehe er seinen Blick wieder hob.

"Licht und Schatten, Tag und Nacht, Gut und Böse. Solche Gegensätze fallen unter das Polaritätsgesetz" lauschte sie seinen Beispielen, um es Paimon verständlicher zu machen und senkte ihre Augenlider wieder, als seine Finger abermals durch ihr Haar fuhren.
 

"Ah, Paimon versteht, aber was willst du uns mit diesem Polar... Polardings sagen, Nahida?" fragte Paimon interessiert, weshalb die niedere Herrin tief Luft holte, um ihre persönliche Schlussfolgerung zu erläutern.

"Bevor ich auf das Polaritätsgesetz zu sprechen komme, solltet ihr euch den ersten Traum ins Gedächtnis rufen. Der erste Traum, mit dem alles begonnen hat" bat Nahida und sah dem Wanderer in die Augen, der ihr schließlich Bericht erstattet hatte.

"Was glaubt ihr, wollte Aether mit dem Testlauf erreichen?" fragte sie, wendete sich vom Wanderer ab und lief einige Schritte durch den Raum.

"Denkt ihr nicht, dass er seine Drohung nur ausgesprochen hat, um seine wahren Absichten zu verschleiern?" fügte sie noch eine weitere Frage hinzu und sah aus dem Fenster.
 

"Möglicherweise wollte er in Erfahrung bringen, wie seine Schwester auf hoch konzentrierte Abyss Magie reagiert" äußerte Kuni seine Vermutung und erinnerte sich, wie der Kerl zur Blondine gemeint hatte, dass sie sich in einigen Tagen wieder besser fühlen würde.

Hatte er wirklich nur eine leere Drohung ausgesprochen?

Hatte er vielleicht doch nicht das göttliche Herz an ihr Leben geknüpft?

Hatte er ihm, Kuni, nur einen Schrecken einjagen wollen, damit er es nicht wagte, die Barriere zu durchbrechen und das göttliche Herz zu zerstören?

"Nicht ganz. Wie sie auf Abyss Magie reagiert, wusste er vermutlich aus eigener Erfahrung. Wahrscheinlicher ist, dass der Testlauf die letzte Vorbereitung war, die er treffen musste, um seinem Ziel von unvorstellbarer Macht einen bedeutsamen Schritt näher zu kommen" lauschte er jener Theorie, die durchaus Sinn machte und sah erneut zu Lumine hinab.

Er, ihr Zwillingsbruder, missbrauchte sie auf eine hässliche Art und Weise.

Diese Tatsache stand außer Frage.
 

"Meine Worte bedeuten jedoch nicht, dass wir seine Drohungen außer Acht lassen dürfen. Dementsprechend rate ich dir noch einmal von waghalsigen Aktionen ab, Wanderer" erklärte Nahida, drehte sich wieder herum und trat erneut an das Bett heran.

Als er widerwillig nickte, richtete sie ihre Augen auf Lumine, welche bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte und mit dem Rücken zu ihr lag.

"Der sich ständig wiederholende Traum hat dich sicherlich an das Sabzeruz Fest vor drei Monaten erinnert, nicht wahr, Lumine?" fragte sie die Reisende und würde nun den nächsten Punkt auf ihrer gedanklichen Liste ansprechen.

"Inzwischen bin ich der festen Überzeugung, dass ihm die Vorkommnisse in Sumeru als eine Art Vorlage dienen. Resultierend aus all den Ereignissen und seinen Beobachtungen entwickelte er schließlich seinen Plan" fuhr sie fort und sah wieder zum Wanderer auf.

"Halten wir also fest, dass er sich entsprechende Fähigkeiten angeeignete, sich unbemerkten Zugang zu ihrer Traumwelt verschaffte und im Vorfeld einen Traum vorbereitete, in den er seine Schwester hinein stieß. In besagten Traum will er sie augenscheinlich gefangen halten und sehr wahrscheinlich hat er zu Beginn nicht damit gerechnet, dass du auftauchen wirst, um Lumine aus dem vorgesehenen Traum zu reißen, weshalb er Vorkehrungen traf und eine Barriere errichtete, damit sie nicht aus dem Haus entkommen kann" erklärte Nahida ausführlich und beobachtete, wie der Wanderer Lumine beim Aufsetzen half und sie in eine angenehme Sitzposition brachte.
 

"Aber warum beinhaltet dieser Traum ausgerechnet meine Erinnerung?" fragte Kuni, noch bevor Lumine ihren Mund hätte öffnen können, um eben jene Frage selbst zu stellen und stimmte Nahida in ihren bisherigen Schlussfolgerungen zu.

"Auf diese Frage kann ich euch keine Antwort geben. Es wäre natürlich denkbar, dass er bestens über deine Vergangenheit informiert ist. Vielleicht hat er sogar deinen Werdegang bei seiner damaligen Reise durch Teyvat verfolgt, aber seinen genauen Beweggrund erschließt sich mir im Augenblick noch nicht" hörte Lumine der niederen Herrin zu und nickte zaghaft, wobei sie selbst eine vage Vermutung besaß.

Möglicherweise wusste ihr Zwillingsbruder von all ihren Erlebnissen, hatte sie vielleicht sogar im Auge behalten und wusste um ihre insgeheimen Gefühle für Kuni.

"Kommen wir nun zu dem göttlichen Herz" sprach Nahida den nächsten Punkt an und obwohl die Blondine noch mit dieser neuen Erkenntnis zu kämpfen hatte, bemühte sie sich um erneute Aufmerksamkeit.

"Vor einer Stunde hätte ich diese Möglichkeit noch für schier unmöglich gehalten, aber in Anbetracht dessen, dass Il Dottore teuflische Augen duplizieren konnte, müssen wir davon ausgehen, dass das göttliche Herz auf eine ähnliche Art und Weise erschaffen wurde" lauschte sie jener Annahme und erinnerte sich unweigerlich an die Menschen, die teuflische Augen genutzt und letzten Endes gestorben waren.

Teppei war nur ein Beispiel, der sehr schnell gealtert und immer schwächer geworden war, bis seine Organe ihren Dienst versagt hatten.
 

"Glaubt Ihr, dass der Orden des Abgrunds und die Fatui gemeinsam agieren?" fragte Kuni und rief sich seinen eigenen Verdacht ins Gedächtnis.

Ja, wenn er bedachte, dass sich Aether mit der himmlischen Ordnung anlegen wollte und der damaligen Zerstörung von Khaenri'ah hatte beiwohnen müssen, würde es durchaus Sinn ergeben, die Hilfe der Zarin zu erbitten, welche ebenso mit Celestia abrechnen wollte.

"Diese Möglichkeit besteht durchaus, aber ebenso könnte er die Fatui infiltriert haben, um an geheime Forschungsdaten heran zu kommen. Behalten wir diese Möglichkeit vorerst im Hinterkopf, bis wir nähere Informationen besitzen" wurde ihm erwidert und linste kurz zur Reisenden herüber, welche zu seiner rechten Seite an der Wand gelehnt saß.

Es beunruhigte ihn doch sehr, dass sie bisher noch kein einziges Wort über die Lippen gebracht hatte.

Ob sie vielleicht eine Pause benötigte?

Wenn das der Fall war, sollte sie ihr Schweigen brechen und sich ihnen mitteilen.

Lautlos seufzend stieß er sie mit dem rechten Ellenbogen in die Seite, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten und sah ihr auffordernd in die Augen.
 

"Ich... Es ist alles in bester Ordnung" murmelte Lumine und keuchte, als er ihr etwas härter in die Seite stieß und seinen Blick von ihr wieder abwendete.

"Lüg mich gefälligst nicht an" murrte er sehr leise vor sich her, nickte ihm zaghaft zu und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln.

"Danke..." wisperte sie, atmete einmal tief durch und drehte ihren Kopf zurück zu Nahida, auf deren Lippen ein auffälliges Lächeln erschien.

Allerdings sagte sie kein einziges Wort, räusperte sich stattdessen gekünstelt und sah zu Paimon auf, deren Miene verriet, wie überrascht sie doch eigentlich war.

"Paimon, möchtest du immer noch wissen, wieso ich vorhin das Polaritätsgesetz erwähnt habe?" fragte die niedere Herrin, noch bevor Paimon hätte Fragen stellen können und war erleichtert, als ihre Freundin heftig nickte.

Zum Glück ließ sich Paimon sehr leicht ablenken, weshalb sie vorläufig vor Fragen, die vor allem Kuni nicht beantworten würde, verschont blieben.
 

"Ein göttliches Herz aus reiner Abyss Magie zu erschaffen ist nicht möglich. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er doch wohl kaum all die Vorbereitungen getroffen, nicht wahr?" äußerte Nahida ihre Vermutung und holte erneut tief Luft, um es Paimon verständlicher zu erklären.

"Stellen wir uns Abyss Magie als schwarzen Farbton vor. Schwarz wird immer schwarz bleiben, vollkommen egal, welche Farbe wir hinzufügen. Nur der Gegenpol, der weiße Farbton, ist dazu in der Lage, den schwarzen Farbton zu verändern" erklärte sie und sah zu Lumine, welche zu verstehen schien, worauf sie eigentlich hinaus wollte.

"Mit anderen Worten, er benötigt die reine Energie, über die du verfügst, Lumine. Deswegen der erschaffene Traum, aus dem du aus eigener Kraft nicht aufwachen kannst. Deswegen der Testlauf, mit dem er sehr wahrscheinlich eure Kräfte miteinander verbunden hat. Deswegen wirst du auch in Zukunft diesen Traum durchleben, bis sein Werk vollendet ist. Vermutlich entzieht er dir jedes Mal einen kleinen Teil deiner Energie, wenn du diesen Traum betrittst" brachte sie es auf dem Punkt und hob erstaunt ihre linke Augenbraue, als der Wanderer zur Bettkante rutschte, sich erhob und anschließend ohne ein Wort in seine Schuhe schlüpfte.
 

"Einfacher ausgedrückt, er benutzt sie als Gefäß und züchtet in ihrem Traum dieses göttliche Herz heran" murmelte Kuni und bedachte ihre momentanen Möglichkeiten.

Er könnte natürlich versuchen, Lumine wach zu halten, denn wenn sie nicht schlief und nicht träumte, würde Aether ihr auch keine weitere Energie entziehen können.

Nein, schlechte Idee.

Wenn er sie zu lange wach hielt, würde sie früher oder später in einen tiefen Schlaf verfallen, weil ihr Körper diese Erholungsphase benötigte.

Außerdem wusste er nicht, ob der Kerl tatsächlich tätig werden würde, wenn er irgendeinen Versuch in die Tat umsetzte.

Das war doch vollkommen verrückt.

Der Kerl war doch ihr Zwillingsbruder.

Warum nutzte er seine Schwester derart schamlos aus?

Wenn sich Aether so unbedingt an die himmlische Ordnung rächen wollte, sollte er das aus eigener Kraft tun.

"Buer, es muss doch eine Möglichkeit existieren, mit der wir ihr helfen können" richtete er sein Wort an die kleine Göttin und knirschte ungehalten mit den Zähnen, als sie ihren Kopf schüttelte.

"Wanderer, ich kann verstehen...". "Nein, Ihr versteht überhaupt nichts" fiel er ihr lautstark ins Wort, setzte sich schleunigst in Bewegung und riss die Tür auf.

"Sollte die Reisende wegen Eurer Tatenlosigkeit ihr Leben lassen, werdet Ihr meinen Zorn zu spüren bekommen" drohte er ihr noch weitreichende Konsequenzen an, ohne überhaupt zu wissen, welche Wirkung seine Drohung erzeugte und verließ das Haus.
 

Während Paimon überhaupt nicht verstehen konnte, was dem Wanderer zu einer solchen Drohung veranlasste, erahnten Nahida und Lumine, wieso er eigentlich nach seinen Worten die Flucht ergriffen hatte.

"Lumine, ihr steht euch seit dem gestrigen Morgen etwas näher, oder? Sein Verhalten gestern Morgen und die Situation eben lassen eigentlich nur einen einzigen Schluss zu. Du bist ihm wichtig, auch wenn er das niemals offen zugeben würde" wollte die niedere Herrin in Erfahrung bringen und obwohl die Blondine ihr eine Antwort schuldig blieb, vermutlich wollte sie dem Wanderer nicht in den Rücken fallen, verrieten ihre goldenen Augen, was unausgesprochen blieb.

"Stimmt das? Paimon will nicht glauben, dass du diesen arroganten Typ magst" fragte Paimon neben ihr, doch auch diese Frage blieb unbeantwortet, was wahrscheinlich auch daran liegen könnte, dass Paimon den Wanderer nicht sonderlich mochte.
 

"Paimon, ich denke, dass Lumine vorerst etwas Ruhe benötigt" sagte Nahida nach einer Weile der Stille und beobachtete, wie Lumine ihren Kopf schüttelte, als Paimon ihr die Frage stellte, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt haben könnte.

"Wir bleiben in der Nähe, bis der Wanderer zurück ist" fuhr sie fort, machte auf den Absatz kehrt und lief auf die offen gelassene Tür zu.

"Würdest du ihm eine Botschaft von mir übermitteln?" wurde Lumine gefragt und starrte auf den Rücken der niederen Herrin, die im Türrahmen stehen geblieben war.

"Sag ihm, dass ich ihm seine Androhung vergebe. Ich kann durchaus nachvollziehen, mit welchen Ängsten er zu kämpfen hat und das er unbedingt etwas tun will, aber jeder falsche Schritt, den wir wagen, könnte deinen Zwillingsbruder erzürnen" lauschte sie jenen Worten, die sie Kuni zu einem späteren Zeitpunkt überbringen würde und beobachtete, wie Nahida die Tür ins Schloss zog, nachdem Paimon an ihr vorbei geflogen war.

Ein leiser Seufzer entwich ihren Lippen und lenkte ihr Augenmerk auf den Hut, den Kuni auf dem runden Tisch hatte liegen lassen.

Eigentlich konnte sie nur hoffen, dass er keinen Unsinn anstellte.

Unsinn, weil er sich von seiner Wut und seinen Ängsten beherrschen ließ, die die neuesten Erkenntnisse in ihm ausgelöst hatten.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mit ausdrucksloser Miene saß Kuni auf einen der Stege unterhalb der Stadt, ließ seine Beine hinab baumeln und beobachtete die kleinen Schiffe, die an den Hafen anlegten, um ihre Fracht zu entladen.

Schon seit Stunden starrte er in die Ferne und war sich natürlich der Tatsache bewusst, dass Buer ihn früher oder später aufsuchen würde, um zu erfahren, warum er seinen Posten verlassen hatte und seinen eigentlichen Auftrag vernachlässigte.

"Warum empfinde ich diesen dumpfen Schmerz in mir?" fragte er sich gedanklich und schluckte lautlos.

Ihm war so elend zumute, obwohl er der festen Überzeugung war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, es zu beenden, bevor es überhaupt erst hätte beginnen können.

Unter gar keinen Umständen hätte er sie küssen dürfen.

Er hätte einfach standhaft und gegen diese dämlichen Gefühle ankämpfen müssen, die ihn so sehr berauscht und seinen gesunden Verstand benebelt hatten.

"Ich bin Abschaum" murmelte er und sah zu seinen Händen hinab, mit denen er schon zahlreiche Menschenleben genommen hatte.

Eben jene Tatsache hatte ihn stoppen lassen, denn der Gedanke, dass er ihre Reinheit mit seinen dreckigen Händen befleckte, war unerträglich gewesen und hatte ihn unweigerlich zu seinen harschen Worten getrieben, mit denen er nicht nur ihr, sondern vor allem sich selbst geschadet hatte.

So viele Gedanken waren ihm nach seiner Flucht noch durch den Kopf gegangen, die etliche Ängste in ihm erweckt hatten.

Die Angst, seine neue Freundin, an die er sich viel zu schnell gewöhnt hatte, wieder zu verlieren.

Die Angst, überhaupt nicht das Recht zu besitzen, sich an ihrer Seite zu sehen.

Die Angst vor dem Ende ihrer Reise.

"Was hast du nur mit mir angestellt?" fragte er sie in seinen Gedanken, denn die bloße Vorstellung, dass sie ihn in Zukunft mit Missachtung strafte, löste diesen ziehenden Schmerz in ihm aus.

Dabei hatte er doch dieses Ende gewollt.
 

Weitere Gedanken über sein körperliches Befinden und all seine unerklärlichen Ängste konnte er sich jedoch nicht machen, drehte seinen Kopf demonstrativ weg, als sich eine kleine, zierliche Gestalt zu seiner linken Seite setzte und atmete einmal tief durch.

"Ich wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass du das Haus und die Umgebung verlassen hast. Als ich vor zwei Stunden mit Paimon bei Lumine eintraf, um nähere Informationen zu erhalten, waren wir schockiert, als sie auf wackeligen Beinen ihr Hab und Gut zusammen packte. Offenbar wollte sie ohne ein Wort verschwinden und selbst Paimon zurück lassen" hörte er der niederen Herrin zu und zuckte bei der Information, dass Lumine hatte verschwinden wollen, bedeutsam zusammen und verkrallte seine Finger in der schwarzen Hose, während sich in ihm alles zusammen zog.

Hart biss er sich auf die Unterlippe und kniff seine Augenlider fest aufeinander, weil der ziehende Schmerz in ihm unerträglich war.

Warum tat der bloße Gedanke daran nur so unheimlich weh, dass sie ohne ein letztes Wort aus seinem Leben verschwand?

Was hatte er denn auch erwartet?

Das sie tatsächlich vergaß, wie nahe sie sich vor wenigen Stunden noch gewesen waren?

"Ich will dieses abscheuliche Gefühl nicht empfinden" dachte er und konnte nicht länger das Gefühl der Sehnsucht ignorieren, welche ihn auch schon seit Stunden belästigte und ihn zur Umkehr nötigen wollte.

Ja, er wollte zu ihr zurück, noch einmal mit ihr reden, sie wieder in die Arme schließen und noch ein weiteres Mal von ihren sündhaft weichen Lippen kosten.

Warum waren seine Gefühle nur so verdammt verwirrend?

Seine Gefühle ergaben in seinen Augen überhaupt keinen Sinn.
 

"Paimon und ich konnten sie zwar davon überzeugen, in der Stadt zu bleiben, aber sie wollte uns nicht sagen, wieso sie überhaupt verschwinden wollte. Erst als ich sie fragte, ob ihr euch gestritten habt und du deswegen das Weite gesucht hast, ist sie nach nur wenigen Sekunden in Tränen ausgebrochen. Sie... Sie hat so verbittert geweint" berichtete Nahida und war überrascht, als die Schultern des Wanderers kaum merklich bebten und er sich scheinbar sehr darum bemühte, nicht in ihrem Beisein seine sonstige Fassung zu verlieren.

"Möchtest du mir nicht erzählen, was zwischen euch vorgefallen ist?" horchte sie nach und erinnerte sich an den heutigen Morgen.

Liebevoll hatte er Lumine mehrere Male über den Kopf gestreichelt, mehr als nur einmal stumm nach ihrem Befinden gefragt und schließlich mit seiner Androhung ungewollt offen gelegt, dass er sich um sie sorgte.

Offensichtlich hatte er ihr Freundschaftsangebot angenommen, was natürlich diese Vertrautheit zwischen ihnen erklären würde.
 

"Ich... Ich weiß selbst nicht, wo mir der Kopf steht. Ihre Gefühle... Meine Gefühle..." brach er stockend sein Schweigen und atmete einmal tief durch, um sich weitgehend zur Ruhe zu zwingen.

Mit einer wirschen Handbewegung wischte er sich eine einsame Träne aus dem rechten Augenwinkel und holte abermals tief Luft, ehe er ihr leise von den vielen Ereignissen der vergangenen Tage berichtete.

Die erste Umarmung, bei der er Unverständnis empfunden hatte.

Ihre Worte, die in ihm immer wieder wohlige Gefühle ausgelöst hatten.

Ihrem unverständlichen Freundschaftsangebot, welches er nach nur kurzer Bedenkzeit angenommen hatte.

Den ersten Kuss, den er ihr aufgedrückt hatte und ihr folgendes Geständnis.

Seine mehr als merkwürdigen Gefühlsregungen, die er in ihrer Gegenwart verspürte und noch immer nicht wirklich deuten konnte.

Seine Recherche heute Morgen, um sich selbst etwas mehr Klarheit zu verschaffen, obwohl er inzwischen stark bezweifelte, dass er sich nur rein körperlich zu ihr hingezogen fühlte.

Binnen weniger Tage hatte sie nicht nur sein Denken, sondern vor allem seine Gefühlswelt völlig auf den Kopf gestellt und rief sich ihre ausgetauschten Küsse ins Gedächtnis.

Es hatte sich so aufregend und total atemberaubend angefühlt.

Er wäre ein verdammter Lügner, wenn er behaupten müsste, wie sehr es ihm doch eigentlich gefallen hatte.

Wenn ihn seine eigenen Gedanken nicht gestoppt hätten, hätte er ihr vermutlich jeden Wunsch erfüllt und noch ganze andere Dinge mit ihr angestellt.
 

"Ich verstehe..." erwiderte Nahida, nachdem sie sämtliche Informationen verarbeitet hatte und konnte durchaus nachvollziehen, dass er mit den vielen, neuen Erfahrungen überfordert war und nicht recht einschätzen konnte, was er für Lumine fühlte.

"Und was ist heute Morgen nach deiner eiligen Rückkehr geschehen?" wollte sie in Erfahrung bringen und neigte ihren Kopf fragend zur Seite, als er auffällig errötete und sein Gesicht erneut weg drehte.

"Ich... Ich habe sie gefragt, ob sie in mich verknallt ist, mehr nicht" hörte sie ihn leise sagen und obwohl sie glaubte, dass er etwas zu verheimlichen versuchte, bohrte sie nicht weiter nach und richtete ihre Augen auf die Ferne, während sie ihre Beine hin und her schwenkte, die am Steg hinab baumelten.

"War ihre Antwort der Grund deiner Flucht?" hinterfragte sie und ihr Kopf ruckte sofort in seine Richtung zurück, als er ihre Frage leise verneinte.
 

"Nein, ich habe..." setzte er zum Sprechen an und schluckte lautlos.

Garantiert würde er ihr nicht erzählen, dass er hart geworden war und das er sich vor Lumine befriedigt hatte.

"Ich habe sie ein weiteres Mal geküsst" verriet er ihr äußerst leise und atmete hörbar aus.

"Anschließend, als ich wieder Herr meiner Sinne war, habe ich zu ihr gesagt, dass das ein Fehler war und sie diese Angelegenheit einfach vergessen soll" fügte er noch hinzu und schluckte abermals, weil er sich nun wieder schlecht fühlte.

Total schlecht, weil er die einzige Person verletzt hatte, welche scheinbar kein grausames Monster in ihm sah.

Erneut keimte in ihm der Wunsch auf, zu ihr zurück zu gehen, sich bei ihr für seine harsche Art zu entschuldigen und ihr einfach zu sagen, was sein verdammtes Problem war.

Unweigerlich wanderten seine blauen Augen erneut zu seinen Händen hinab, mit denen er ihre Reinheit beschmutzen würde und zuckte kaum merklich zusammen, als er bei der linken Schulter berührt wurde und sah Buer verunsichert in die Augen.
 

"Hat sich denn dieser Kuss wie ein Fehler angefühlt?" fragte sie ihn und stieß einen leisen Seufzer aus, als er sein Augenmerk auf einen unsichtbaren Punkt in die Ferne lenkte und zog ihre Hand wieder zurück.

"Nein, aber..." erhob er seine Stimme und Nahida konnte seiner Miene entnehmen, wie unglücklich er mit der entstandenen Situation war.

Zwar versuchte er gewaltsam seine ausdruckslose Miene aufrecht zu erhalten, aber in seinen blauen Augen konnte sie durchaus erkennen, wie furchtbar er sich fühlte und mit welchen Zweifeln er im Augenblick zu kämpfen hatte.

Als er seine rechte Hand erhob und sich Zähne knirschend an die Stirn fasste, wurde es nur noch ersichtlicher, wie nahe ihm die jetzige Situation doch eigentlich ging.

"Ich... Ich gestatte Euch, meine momentanen Gedanken zu lesen" sagte er schließlich leise, war überrascht über seine Worte, doch als er sich hart auf die Unterlippe biss und verzweifelt versuchte, sein Gesicht mit seiner Hand zu verbergen, begann sie zu verstehen und drang unverzüglich in seine Gedankenwelt ein, um zu erfahren, was er im Moment nicht über die Lippen bringen konnte.
 

Erst nach einigen Minuten gelang es Kuni, sich wieder zur sonstigen Ruhe zu zwingen, senkte seine rechte Hand wieder und starrte abermals in die Ferne.

Er fühlte sich total erbärmlich.

Erbärmlich, weil ihn all diese Gefühle und all seine Ängste immer wieder übermannten.

Diese Freundschaft, die doch erst seit einem verdammten Tag existierte, wollte er nicht verlieren und nur aus diesem einfachen Grund war er bereit, dieses eine Mal die Hilfe eines Archons, denen er sonst mit genügend Misstrauen begegnete, in Anspruch zu nehmen.

Was sollte er denn tun, wenn Lumine nichts mehr von ihm wissen wollte?

Was sollte er denn tun, wenn sie ihre Augen von ihm abwendete und einem anderen Mann ihre Aufmerksamkeit schenkte?

Jener Gedanke entfachte eine unbeschreibliche Wut in ihm.

Wieso würde es ihn überhaupt so dermaßen stören?

Schließlich waren sie nur Freunde und Lumine konnte tun und lassen, was auch immer sie wollte.

Dennoch gefiel ihm der Gedanke absolut nicht, dass sie einen anderen Mann auf dieselbe Art und Weise küssen würde, wie sie ihn vor wenigen Stunden noch geküsst hatte.

Der Gedanke, dass ein anderer Mann gar Hand an sie legte, erweckte eine unbeschreibliche Mordlust in ihm.
 

"Dieses Gefühl nennt sich Eifersucht" erklärte sie ihm seine wirren Gedanken, die sich regelrecht in seinen Kopf überschlugen und fing seinen unsicheren Blick auf.

"Wanderer, ich kann dir nur den weisen Ratschlag geben, mit Lumine über all deine Gedanken, Ängste und Gefühle zu sprechen" riet sie ihm und überging die Tatsache, wie er in Wirklichkeit über die Sieben dachte, was aber bei seiner Vergangenheit nicht sonderlich verwunderlich war, erhob sich allmählich und drehte sich zum Gehen herum.

"Der Rest wird sich sicherlich von selbst ergeben. Wichtig ist, dass ihr euch auf Augenhöhe begegnet, aufrichtig zueinander seid und einander vertraut" sagte sie noch abschließend und wollte sich gerade in Bewegung setzen, doch als ihr linkes Handgelenk ergriffen wurde, hielt sie inne.

"Habt Ihr von ihren Gefühlen gewusst?" lauschte sie seiner Frage und schüttelte verneinend ihren Kopf.
 

"Nein, aber ich wusste, dass sie Sympathie für dich empfindet" wurde ihm offenbart, ließ ihr Handgelenk wieder los und war sich nicht sicher, ob sie nicht doch wesentlich mehr gewusst haben könnte.

Der Gedanke, dass er vielleicht mit voller Absicht den Auftrag erhalten hatte, sich um die Reisende zu kümmern, nur um mit derartigen Gefühlen in Berührung zu kommen, beherrschte ihn für einen kurzen Moment, den er jedoch nach nur wenigen Sekunden wieder verwarf, einfach weil er die wahren Hintergründe seines Auftrages kannte.

Er war eben die einzige Person neben, die der Abyss Magie widerstehen konnte und die Bewusstseinskontrolle beherrschte.

Außerdem wäre er vermutlich nie mit diversen Gefühlen in Kontakt gekommen, wenn Lumine ihn nicht umarmt und ihm nicht gestanden hätte, wie sehr er ihr doch eigentlich gefiel.

"Als wir vor einigen Wochen durch deine Erinnerungen gewandert sind, hat sie sich sehr um ihre Fassung bemüht. Es waren immer nur flüchtige Momente, in denen sie blankes Entsetzen, Verständnis und Mitgefühl offenbarte und als du wieder du selbst warst, wirkte sie für einen winzigen Moment erleichtert und gleichermaßen erstaunt, weil du vor sie getreten bist, um sie vor den vermeintlich, tödlichen Angriff zu beschützen. Unmittelbar nach eurer Rückkehr wirkte sie wieder vollkommen gefasst. Selbst als Paimon sagte, dass Lumine dir einen Namen geben solle, verbarg sie ihre Sympathie, denn wenn sie sich nur einen einzigen Fehler erlaubt hätte, hättest du unweigerlich zur Kenntnis genommen, dass sie dich im Grunde ihres Herzens eigentlich mag" wurde ihm ausführlich von ihren damaligen Beobachtungen berichtet und senkte seinen Blick, weil er nicht wusste, was er sagen sollte.

Wenn Lumine ihm damals eröffnet hätte, dass sie ihn doch eigentlich mochte, hätte er sie vermutlich sofort davon gejagt.
 

"Was deine düsteren Gedanken über dich selbst betrifft..." erhob Nahida erneut ihre Stimme und überlegte, wie sie folgenden Satz formulieren sollte, bis sich ein verheißungsvolles Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete.

"Du bist in der Tat unrein, sehr arrogant, skrupellos, unnahbar und nicht sonderlich freundlich" zählte sie seine wohl schlechtesten Charakterzüge auf und erhob ihren linken Zeigefinger, als er bereits seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen.

"Aber eben weil du bist, wie du bist, konnte sie vermutlich nicht aufhören, an dich zu denken" fuhr sie fort und linste zu ihm hinab, nur um zu erkennen, dass er sie mit einem ungläubigen Blick bedachte.

"Denkst du nicht, dass du eine faszinierende und interessante Wirkung auf Lumine ausübst?" fragte sie ihn nun direkt und obwohl sie nicht wusste, wieso sich eine beachtliche Röte auf seinen Wangen bildete, kicherte sie leise in ihre linke Handinnenfläche hinein.

"Ich gebe dir noch einen weiteren, weisen Ratschlag. Lies das Buch 'Sex für Anfänger' mit äußerster Sorgfalt durch, bevor du dich zu weiteren Handlungen hinreißen lässt. Des Weiteren solltest du in Zukunft diverse Lektüren vor neugierigen Augen verstecken, wenn du einer peinlichen Situation aus dem Weg gehen möchtest" teilte sie ihm noch mit und beobachtete, wie er sich eilig erhob und sich mit zügigen Schritten von ihr entfernte.

Schmunzelnd, denn sie hatte ihn wohl mit ihrer letzten Äußerung zur Flucht getrieben, informierte sie Paimon via Telepathie, welche bei Lumine geblieben war.

Hoffentlich konnte sich der Wanderer zu einem offenen und ehrlichen Gespräch durchringen.
 

"Verhält es sich bei uns wie beim Polaritätsgesetz?" fragte sich Kuni und versuchte nicht an das Buch zu denken, welches er in seiner Hast auf dem Tisch hatte liegen lassen.

"Gehe ich ihr so sehr unter die Haut, nur weil ich nicht wie die anderen Männer bin?" überlegte er und bedachte die Worte, die Buer zu ihm gesagt hatte.

Übte er denn wirklich eine derart starke Anziehungskraft auf Lumine aus?

War er in ihren Augen vielleicht sogar voller Geheimnisse, die sie so unbedingt ergründen wollte?

Augenscheinlich schon, obwohl er gar nicht so geheimnisvoll war, wie sie sich ihn vermutlich vorstellte.

Seufzend schüttelte er seinen Kopf und erlag einem wohliger Schauer, als er sich ihre zärtlichen Finger ins Gedächtnis rief, die über seinen Rücken gewandert waren, während sie ihren ersten Zungenkuss miteinander geteilt hatten.

"Verdammt..." fluchte er leise und schob jene Erinnerung sofort in den Hintergrund, als sich in seiner Hose etwas regte.

Es war unfassbar, wie sensibel sein Körper auf diese bloße Erinnerung reagierte.

Hatte sie ihm vielleicht doch den Kopf verdreht?

Energisch schüttelte er sein Haupt, um auch diese Frage zu verscheuchen und versuchte sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Hoffentlich konnte sie ihm sein Verhalten vergeben.

Hoffentlich schenkte sie ihm ihr Gehör, damit er erklären konnte, was seine eigentliche Intention gewesen war.

Hoffentlich konnte er sich selbst dazu durchringen, ihr von all seinen Gedanken, Ängsten und seine merkwürdigen Gefühlen zu erzählen, damit sie seine Sicht verstehen konnte.

Es dämmerte bereits und die untergehende Sonne tauchte das Zimmer in ein warmes, durchaus angenehmes Orange, doch jene Wärme nahm Lumine im Moment überhaupt nicht wahr, welche auf dem Bett saß, mit dem Rücken zur Wand und in die Leere starrte.

Inzwischen waren ihre Tränen verschwunden und nur noch die geröteten Augen ließen vermuten, dass sie vor geraumer Zeit noch geweint hatte.

Nach wie vor verspürte sie das dringende Bedürfnis, ihre Sachen zu nehmen und zu verschwinden, nur um Kuni aus dem Weg zu gehen, der sich laut Paimon, die vor wenigen Minuten durchs Fenster heraus verschwunden war, auf den Rückweg gemacht hatte und in den kommenden Minuten das Haus betreten würde.

"Es war ein Fehler" hörte sie ein weiteres Mal seine harsche Stimme in ihrem Kopf und biss sich auf ihre Unterlippe, während sie sich zum wiederholten Male die berechtigte Frage stellte, wieso er eigentlich dieser Ansicht war.

Er hatte sie doch geküsst.

Er hatte sich doch vor ihren Augen befriedigt.

Er hatte ihr doch das Höschen ausgezogen und sie im Anschluss zum Bett getragen.

Sie weigerte sich zu glauben, dass er nur seine ersten Erfahrungen hatte machen wollen.

Ebenso weigerte sie sich zu glauben, dass er sie nur aus Lust hatte ausnutzen wollen.

So schätzte sie ihn einfach nicht ein.

Kaum merklich zuckte sie zusammen und lenkte ihr Augenmerk zur Haustür, an der es leise geklopft hatte und war sich nicht sicher, wie sie ihm begegnen sollte.

Würde er tatsächlich so tun, als wäre vor wenigen Stunden nichts gewesen?
 

Ein weiteres Mal klopfte Kuni an das massive Holz der Tür, als er keine Antwort erhielt und übte sich abermals in Geduld.

Natürlich könnte er einfach das Haus betreten, aber wenn sie ihn wirklich nicht sehen und momentan keine Aussprache mit ihm wollte, respektierte er ihren Wunsch.

Zumindest wollte er sich ihr nicht aufdrängen, denn er war es gewesen, der sie unsagbar verletzt hatte.

Noch ein letztes Mal klopfte er an die Tür, um somit die Erlaubnis zum Eintreten zu bitten und lehnte seine Stirn gegen das Holz, während er seine Augenlider senkte.

"Es tut mir leid, Lumine" sprach er seine Entschuldigung, gepaart mit ihren Namen, vor der geschlossenen Tür aus, öffnete seine Augen wieder und übte sich eine weitere Minute in Geduld.

Es fühlte sich merkwürdig an, ihren Namen in den Mund zu nehmen.

Sie hatte ihm zwar angeboten, sie beim Namen zu nennen, aber dennoch scheute er sich davor zurück.

Allerdings wollte er ihr zumindest auf diesem Wege zeigen, dass er seine Entschuldigung aufrichtig und vor allem ernst meinte.

Nach besagter Minute löste er sich schließlich von der Tür, denn er wusste, wann er nicht erwünscht war und drehte sich zum Gehen herum.

Noch bevor er seinen ersten Schritt hätte tun können, um es sich unter irgendeinen Baum gemütlich zu machen und das Haus aus sicherer Entfernung im Auge zu behalten, hielt er inne, als er zuerst unsichere Schritte und anschließend ein leises, knarrendes Geräusch hinter sich hörte und stieß einen überraschten Laut aus, als sich ein zierlicher Körper an seinen Rücken schmiegte und sich Arme um seine Taille schlangen.
 

"Ich sollte dich hassen" murmelte Lumine und atmete mehrere Male tief durch, um sich vom vorherigen Kraftakt zu erholen.

"Ich sollte dich davon jagen, aber... Aber..." fuhr sie fort und senkte ihre Stirn auf seine rechte Schulter, um die erneuten Tränen zu verbergen, die sie einfach nicht unterdrücken konnte.

"Aber ich mag diesen impulsiven Mistkerl einfach zu sehr, der oft genug Dinge sagt, die unglaublich verletzend sind" ließ sie ihn wissen und hob ihr Gesicht wieder, als er einen tiefen Seufzer ausstieß, seinen Kopf ein wenig in den Nacken legte und nachdenklich in den rötlich verfärbten Himmel starrte.

Nach nur wenigen Sekunden suchte er den Blickkontakt zu ihr und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.

Ein entschuldigendes Lächeln, welches die Macht besaß, ihren Tränenfluss zu stoppen.
 

Vorsichtig drehte er sich in ihren Armen und erhob seine rechte Hand, um mit dem Daumen die letzten Tränen von ihren Wangen zu streichen.

Sein Lächeln erstarb jedoch augenblicklich, als er das ganze Ausmaß erkennen konnte, wofür er die alleinige Verantwortung trug.

Ihre Augen waren vom vielen Weinen völlig gerötet und er konnte ihr deutlich ansehen, wie müde und erschöpft sie doch eigentlich war.

Dennoch war sie schon wieder seinetwegen aufgestanden, obwohl sie sich doch eigentlich schonen sollte.

"Dieser impulsive Mistkerl bittet dich noch einmal um Vergebung" bat er sie und fuhr mit seinen Fingerkuppen über ihre linke Wange.

Langsam schlossen sich ihre Augenlider, lehnte sich seiner wohltuenden Hand entgegen und schien die zarten Berührungen seiner Finger zu genießen.

"Ich vergebe ihm, wenn er sich mir erklärt" lauschte er ihrer leisen Forderung, mit der er natürlich einverstanden war und legte seine Arme um sie, hob sie mit einem Ruck in die Höhe und trug sie ins Haus zurück.

Während er mit dem linken Fuß die Tür ins Schloss beförderte, linste er zum runden Tisch herüber und errötete um die Nase, weil das Buch aufgeschlagen worden war.

Ob Lumine durch Buer oder gar dem kleinen Quälgeist erfahren hatte, welch pikantes Buch er sich ausgeliehen hatte?

Jene Frage schüttelte er jedoch vorerst ab, lief mit der Blondine auf das Bett zu und setzte sie vorsichtig auf die Bettkante ab, ehe er demonstrativ zur Seite sah, als sie ihre Arme zurück zog und zu ihm aufblickte.

Ziellos wanderten seine blauen Augen im Raum umher und blieben schließlich bei der Tasche hängen, welche sie vor wenigen Stunden gepackt hatte und nun vor einer kleinen Kommode stand.

"Meine Worte... Vergiss, was ich gesagt habe" durchbrach er die Stille, atmete einmal tief durch und linste aus dem Augenwinkel heraus zu ihr hinab.

"Hättest du mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen oder wärst du wirklich ohne ein letztes Wort verschwunden?" wollte er in Erfahrung bringen, richtete sich nun erst wieder vollständig auf und entledigte sich seiner Schuhe.

Anschließend setzte er sich zu ihrer rechten Seite auf die Bettkante, stützte sich mit beiden Händen auf der Matratze ab und linste erneut zu ihr herüber.
 

"Ich weiß es nicht" antwortete Lumine ihm nach nur kurzer Bedenkzeit und verkrallte ihre Finger im Saum ihres weißen Nachthemdes.

"Ich wollte einfach nur weg, verstehst du? Ich habe weder darüber nachgedacht, ob mir vielleicht etwas zustoßen könnte, noch ob ich in diesem schrecklichen Albtraum gefangen bleibe" verriet sie ihm und erinnerte sich unweigerlich, wie wütend und enttäuscht Paimon auf ihr Vorhaben reagiert hatte.

Etliche Fragen hatte sie über sich ergehen lassen müssen, bis Nahida ihr die Frage gestellt hatte, ob sie sich mit Kuni gestritten hatte und er deswegen abgehauen war.

Sie hatte sich darum bemüht, stark zu bleiben und hatte verzweifelt versucht, ihre Fassung zu bewahren, doch letzten Endes hatte der furchtbare Schmerz in ihr gesiegt und war einem weiteren Heulkrampf erlegen gewesen.
 

"Ich verstehe dich" erwiderte Kuni und bedachte, wie oft er schon in den vergangenen Tagen davon gelaufen war, nur um sich einer Situation zu entziehen.

"Aber wenn du einfach verschwunden und dir in meiner Abwesenheit etwas zugestoßen wäre, hätte ich mir niemals vergeben können" ließ er sie wissen und drehte seinen Kopf weg, als er ihren Blick auf sich ruhen spürte.

"Heute Mittag..." erhob er abermals seine Stimme und suchte nach den passenden Worten, um ihr seine Gedanken zu erläutern.

Diverse Gespräche waren wahrlich nicht sein Ding.

"Mir gingen so viele Gedanken und auch Ängste durch den Kopf, die mich von meinen eigentlichen Vorhaben abhielten. Ich dachte, dass ich Abschaum bin und ich es nicht wagen sollte, deine Reinheit mit meinen dreckigen Händen zu beschmutzen. Ich dachte, dass das ein Fehler ist, weil wir gerade erst Freunde geworden sind, die solche Sachen nicht miteinander tun sollten. Ich dachte, dass ich doch weder das Recht besitze, deinen Namen in den Mund zu nehmen, noch dass ich es wert bin, an deiner Seite zu sein. Ich dachte an das unvermeidliche Ende deiner Reise. All diese Gedanken rieten mir zur Vorsicht und trieben mich zu meinen harschen Worten" erklärte er ihr all seine Gedankengänge und starrte auf einen unsichtbaren Punkt auf der dünnen Decke.
 

"Kuni, du bist kein Abschaum. Wenn du wirklich Abschaum wärst, würdest du dir doch wohl kaum so viele Gedanken machen, oder nicht? Außerdem habe ich dir doch aus freien Stücken angeboten, mich bei meinen Namen zu nennen, eben weil wir Freunde geworden sind. Das Freunde natürlich nicht solche Sachen miteinander tun, ist mir durchaus bekannt und gerade deswegen habe ich offen gelegt, dass ich tiefgründigere Gefühle für dich besitze, nachdem du mich geküsst hast. Was das Ende meiner Reise betrifft... Denkst du nicht, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten? Die Zukunft ist schließlich noch ein unbeschriebenes Blatt" stellte sie seine eigene Meinung über sich selbst in Frage, antwortete ihm auf all seine Gedanken und Ängste, die ihn offenbar sehr belasteten und schenkte ihm ein warmes Lächeln, als er zögerlich seinen Kopf in ihre Richtung zurück drehte und ihr wieder in die Augen sah.

"In meinen Augen bist du ein äußerst attraktiver Mann, von dem ich mich sehr gern beschmutzen lassen würde" fuhr sie leise fort und kam nicht umhin, seine Röte zu belächeln, die er nun mit der linken Hand zu verbergen versuchte.

"Und gerade jetzt finde ich dich unglaublich süß" fügte sie noch hinzu und kicherte amüsiert, als er sich ruckartig erhob und sich einige Schritte von ihr entfernte.

Mitten im Raum und mit dem Rücken zu ihr blieb er stehen, atmete hörbar aus und fuhr sich mit der linken Hand durch sein Haar.

Hatte sie ihn etwa mit ihren ehrlichen Worten in Verlegenheit gebracht oder war er nur mit der jetzigen Situation überfordert?
 

Kuni wusste im Moment nicht, welcher Gefühlsregung er mehr Beachtung schenken sollte und senkte seine Augenlider.

Mit nur wenigen Worten hatte sie all seine Gedanken und Ängste zerstreut und ihm noch einmal zu verstehen gegeben, dass er sie beim Namen nennen durfte.

Mit nur wenigen Worten hatte sie ihm noch einmal versichert, dass sie Freunde waren, obgleich sie weitaus tiefere Gefühle für ihn besaß.

Mit nur wenigen Worten hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass er sich noch keinerlei Gedanken über die ungewisse Zukunft zu machen brauchte.

Mit nur wenigen Worten hatte sie seine Gefühlswelt einmal mehr auf den Kopf gestellt.

Noch einmal atmete Kuni tief durch, um sich weitgehend zu beruhigen und fuhr sich abermals mit der Hand durch sein Haar.

"Vielleicht... Vielleicht beschmutze ich dich das nächste Mal, sofern du mich wieder in Stimmung bringst" setzte er sie äußerst leise in Kenntnis und atmete erneut tief durch.

Das er bereits jetzt in Stimmung war und sich seine Hose verdammt eng anfühlte, behielt er vorläufig für sich, denn dieses Gespräch war noch längst nicht vorbei.

Dennoch war es unglaublich, was für heftige Gefühlsregungen sie mit ihren aufreizenden Worten in ihm auslösen konnte und welch erotische Vorstellungen ihm unweigerlich in den Sinn gekommen waren.

Leise räusperte er sich schließlich und noch bevor sie sich in irgendeiner Weise zu seinen Worten hätte äußern können, holte er erneut tief Luft, um seine Stimme zu erheben.
 

"Seit unserer ersten Umarmung im dritten Traum fühle ich mich äußerst merkwürdig in deiner Gegenwart" lauschte Lumine seinen leisen Worten und erinnerte sich unweigerlich, wie sie ihn tröstend in die Arme geschlossen und ihn mit Worten zu beruhigen versucht hatte.

Seither fühlte er sich merkwürdig in ihrer Gegenwart?

"Du bringst mich mit deinen Worten aus meiner sonstigen Fassung und du erweckst Gefühle und Wünsche in mir, die ich weder einordnen, noch verstehen kann" fuhr er ebenso leise fort und sie konnte sehr wohl nachvollziehen, dass er sich überfordert fühlte.

Schließlich war er noch nie mit solchen Gefühlsregungen in Berührung gekommen und hatte noch vor wenigen Tagen eine vollkommen andere Einstellung besessen.

"Und du bist die erste Person, der ich mich auf diese Art und Weise angenähert habe" wurde sie an diese Tatsache erinnert und als er sich zu ihr herum drehte, nickte sie ihm wissend zu.

"Als du mich auf die Wange geküsst hast, um mir auf meine Frage zu antworten, erlag ich vielen Gefühlsregungen und konnte meinen eigenen Wünschen nicht länger Einhalt gebieten" hörte sie ihm zu und bedachte noch einmal die vergangenen Tage.

War der gestrige Kuss vielleicht auch aus unterschiedlichen Emotionen heraus entstanden?

Ja, vermutlich schon und mit seiner arroganten Art hatte er wahrscheinlich nur versucht, seine wirren Gefühle zu überspielen.

Selbst jetzt versuchte er arrogant zu wirken.

Sie wollte nicht wissen, wie viel Überwindung es ihm eigentlich kostete, derart aufrichtig zu ihr zu sein.

Mit jener Aufrichtigkeit führte er ihr jedoch unweigerlich vor Augen, dass er sie nicht hatte verletzen wollen.
 

Überfordert und vor allem unsicher ertrug Kuni die Stille, die sich nun über sie gelegt hatte und überlegte, wie er sich fortan verhalten sollte.

Die Sehnsucht in ihm wollte, dass er zu ihr ging, seine Arme um sie legte und sie ein weiteres Mal in einen Zungenkuss verwickelte.

Nachdenklich erhob er seine linke Hand und fuhr mit seinen Zeigefinger über seine Unterlippe, während seine blauen Augen durch den Raum wanderten und schließlich beim Buch hängen blieben.

Er musste es bei nächster Gelegenheit unbedingt lesen.

Er musste sich unbedingt vorbereiten, bevor sie ihn erneut in eine Lage brachte, in der er wissen sollte, was zu tun war.

"Wo bist du gerade mit deinen Gedanken?" wurde er aus seinen Überlegungen gerissen und errötete augenblicklich um die Nase.

"Ich... Das... Das sage ich dir nicht" brachte er stockend hervor, denn er wollte ihr nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er gerade an unartige Dinge mit ihr dachte.

Das seine Gesichtszüge ihn ohnehin verrieten, ignorierte er gekonnt und verschränkte seine Arme vor der Brust.
 

"Besitzt du etwa gerade lüsterne Gedanken?" versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken und kicherte leise in ihre rechte Handinnenfläche hinein, als sich die Röte auf seinen Wangen auffällig verdunkelte.

"Das hättest du wohl gern" wurde ihr geantwortet, ehe er hörbar durchatmete, die Verschränkung seiner Arme wieder löste und seine linke Hand in die Hüfte stemmte.

"Versuchst du nicht gerade deine eigenen, lüsternen Gedanken mit mir zu verschleiern?" fragte er sehr selbstsicher und sie war überrascht, als er ihr nun direkt in die Augen sah und ihr ein selbstgefälliges Lächeln schenkte.

Offenbar war er wieder ganz der Alte und wollte Spielchen mit ihr treiben.

"Mein Anblick heute Mittag hat dir doch sehr gefallen, nicht wahr?" erinnerte er sie unweigerlich an seine grenzenlose Schamlosigkeit.

Trotz der Scham, die von ihr Besitz ergriff und der zarten Röte auf ihren Wangen, hielt sie seinem Blick stand und legte nun ihrerseits ein selbstgefälliges Lächeln auf.
 

Noch bevor sie zu einer Antwort hätte ansetzen können, um ihm vermutlich Kontra zu bieten, durchbrach ein lautes Magenknurren die Stille und er konnte in diesem Moment einfach nicht an sich halten, brach in schallendes Gelächter aus und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf sie.

"Worauf hast du wohl mehr Hunger? Auf mich oder auf richtige Nahrung?" stellte er schmunzelnd in Frage, nachdem er sich von seinen Lachanfall erholt hatte und sah ihr deutlich an, wie sehr sie vor lauter Scham im Boden versank.

Als sie nach einer gefühlten Minute noch immer kein einziges Wort über die Lippen brachte, setzte er sich in Bewegung und trat zu ihr heran.

Zögerlich erhob er seine rechte Hand, die er auf ihren Kopf legte und fuhr mit seinen Fingerkuppen durch ihr weiches Haar.

Anschließend beugte er sich zu ihr hinab, legte seine Lippen für einen kurzen Moment auf ihre Stirn und richtete sich wieder auf.

"Eines Tages treibe ich dir dein Schamgefühl aus" kündigte er an, zog seine Hand wieder zurück und setzte sich abermals in Bewegung, um für sie den Kochlöffel zu schwingen.

Dementsprechend bemerkte er nicht, wie Lumine ihre rechte Hand erhob und ihre linke Brust befühlte, in der ihr Herz wahre Freudensprünge machte.

Er bemerkte nicht den sehnsüchtigen Blick, dem sie ihm schenkte.

Und er bemerkte nicht das glückliche Lächeln, welches auf ihren Lippen erschien.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

"Paimon kann das wirklich nicht verstehen. Er ist... War doch die ganze Zeit unser Feind und er hat doch nicht nur einmal versucht, dich zu töten. Er ist auch nicht wie Mr. Geldsack, der dich als Kamerad bezeichnet. Eigentlich, wenn Paimon das anmerken darf, ist der Wanderer doch nur eine Puppe" äußerte Paimon ihr Unverständnis und obwohl Nahida glaubte, dass es Paimon an sich nur gut mit ihrer langjährigen Reisegefährtin meinte, waren es eben jene Worte, die Lumine sehr zusetzten.

"Paimon denkt, dass Master Diluc oder Thoma wesentlich besser zu dir passen. Sie hatten Interesse an dir und Paimon kann sie auch gut leiden" lauschte Nahida den weiteren Worten von Paimon und schüttelte innerlich ihren Kopf.

"Außerdem kannst du ihnen ohne Bedenken vertrauen und Paimon muss sich weniger Sorgen um dich machen" fügte sie noch hinzu, weswegen Nahida ihr Augenmerk nun auf Lumine lenkte, deren Finger sich ins weiße Handtuch gruben.

Allmählich konnte auch sie nachvollziehen, wieso Lumine eineinhalb Jahre verschwiegen hatte, dass sie sich zum Wanderer, ihren damaligen Feind, hingezogen fühlte.

Sie wollte gar nicht wissen, wie oft sich die Reisende selbst getadelt hatte.

Wie oft musste sie sich wohl gefragt haben, was mit ihr nicht stimmte.

Es hatte ihr vermutlich sogar auch immer sehr viel Kraft abverlangt, eben jene Gefühle vor ihm zu verbergen, wenn sie ihm begegnet war.
 

"Ja, ich weiß, dass er eine Puppe ist. Willst du ernsthaft wissen, wie oft ich an meinen Verstand gezweifelt habe? Wie viele Nächte ich wach lag und meine Gefühle für ihn verflucht habe? Wie schwer es mir immer fiel, diese verdammten Gefühle vor ihm zu verheimlichen? Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn du eine Person magst, mit der du verfeindet bist. Manchmal kam mir sogar der Gedanke, mich von ihm umbringen zu lassen, damit ich diese Gefühle nicht länger empfinden muss" brüllte Lumine und es war ihr im Augenblick vollkommen egal, ob Kuni ihre Worte hören konnte, der sich nach wie vor im Badezimmer aufhielt.

Sie glaubte sowieso, dass er das gesamte Gespräch belauschte und er nur im Bad verschwunden war, um sich eben nicht für die Knutschflecke rechtfertigen zu müssen.

"Oft genug wollte ich ihn mir aus dem Kopf schlagen, aber jedes Mal, wenn wir ihm begegnet sind oder wir Gerüchte über ihn gehört haben, spürte ich diese Gefühle wieder sehr deutlich in mir. Soll ich dir erzählen, wie ich mich gefühlt habe, als wir ihm in Inazuma begegnet sind? Ich war so unfassbar wütend, weil Teppei und viele andere Männer wegen der teuflischen Augen gestorben sind, aber als er uns mit seiner arroganten und überheblichen Art begegnete, reagierte ich vollkommen anfällig auf sein Auftreten und richtete meine vorherige Wut, die ich auf ihn besaß, auf mich selbst. Die Vorstellung, einfach zu ihm zu stürmen, ihn gewaltsam auf den Boden zu befördern und ihn ohne Vorwarnung zu küssen, machte mich unbeschreiblich wütend, denn ich war doch eigentlich auf Rache aus und war meinen verdammten Gefühlen völlig unterlegen" erzählte sie Paimon, eben weil sie wusste, dass sich ihre Freundin an jene Begegnung überhaupt nicht mehr erinnern konnte und behielt ihre goldenen Augen konstant auf den Boden gerichtet.
 

"Lumine..." wisperte Kuni, der inzwischen vollständig eingekleidet war und mit dem Rücken gegen die geschlossene Badezimmertür lehnte.

Selbstverständlich verfolgte er dieses Gespräch.

Schließlich ging es in diesem Gespräch hauptsächlich um ihn.

"Manchmal kam mir sogar der Gedanke, mich von ihm umbringen zu lassen, damit ich diese Gefühle nicht länger empfinden muss" hallten jene Worte in seinen Gedanken wieder, die ihn hatten schlucken lassen und bedachte ihre ehrlichen und reinen Gefühle, unter denen sie eineinhalb Jahre gelitten hatte.

"Wenn ich dich nicht geküsst hätte, hättest du dich mit einer einfachen Freundschaft zufrieden gegeben und deine Gefühle mit ins Grab genommen, oder?" fragte er sie gedanklich und schluckte abermals.

Sie wäre einfach mit diesen belastenden Gefühlen an seiner Seite geblieben und hätte vermutlich nie irgendwelche Forderungen gestellt.

Sie hätte ihm einfach immer wieder ein warmes Lächeln geschenkt, obwohl sie innerlich an ihren reinen Gefühlen zu zerbrechen drohte.
 

"Ich weiß, dass sich Diluc und Thoma mehr mit mir vorstellen konnten, aber ich fühlte eben nicht auf dieselbe Art und Weise. Ich mag sie sehr und sie sind wertvolle Freunde, deren Wohlergehen mir am Herzen liegt, aber weder Diluc, noch Thoma konnten mich in blanke Faszination versetzen" versuchte Lumine ihre persönliche Sicht zu verdeutlichen und hob ihren Blick, um ihrer langjährigen Freundin in die Augen zu sehen.

"Und es geht nicht darum, wen du gut leiden oder vertrauen kannst. Ich verstehe, dass du dir Sorgen um mich machst, aber mit wem ich Zeit verbringe und wem ich Gefühle entgegen bringe, ist und bleibt meine alleinige Entscheidung" führte sie ihr vor Augen und obwohl Paimon den Mund öffnete, um etwas zu sagen, brachte sie dennoch kein einziges Wort mehr heraus.
 

Noch bevor Nahida das Wort hätte ergreifen können, um Paimon zu erklären, dass diverse Gefühle sehr komplex und nicht immer der Logik entsprachen, öffnete sich die Badezimmertür und der Wanderer betrat den Raum.

Sofort huschten ihre Augen zu Lumine zurück, welche abermals ihren Kopf senkte, um die zarte Röte auf ihren Wangen zu verbergen.

"Paimon, wir sollten jetzt gehen. Lumine wird sich noch erkälten, wenn sie sich nicht allmählich anzieht" erhob sie ihre Stimme und hüpfte vom Stuhl, den sie zuvor vor das Bett gestellt hatte.

Dankbar nickte sie dem Wanderer zu, der besagten Stuhl schließlich ohne ein Wort ergriff und an den ursprünglichen Platz zurück stellte und wartete darauf, dass sich Paimon von Lumine verabschiedete.

Allerdings schien Paimon nicht wirklich zu wissen, was sie denken oder fühlen sollte und sah zum Wanderer herüber, dem sie nach wie vor nicht über den Weg traute, ehe sie schließlich ohne ein letztes Wort aus dem offenen Fenster flog.

"Gib ihr ein wenig Zeit. Ich werde später noch einmal in aller Ruhe mit ihr sprechen" versprach Nahida der Reisenden, welche lediglich zaghaft nickte und verabschiedete sich von ihnen.
 

Wortlos, nachdem die Tür ins Schloss gezogen worden war, trat Kuni zur Blondine heran, legte ihr Nachthemd, ein frisches Höschen und die Haarbürste neben ihr auf der Matratze ab, ging vor ihr ein klein wenig in die Hocke und schob das Handtuch von ihren Schultern.

"Ich stimme Buer zu. Der Quälgeist wird sich schon wieder beruhigen" teilte er seine persönliche Meinung mit, zog ihr das weiße Nachthemd über und half ihr anschließend in das Höschen hinein.

"Und es war die richtige Entscheidung, ihr zu erzählen, wie du dich die ganze Zeit über gefühlt hast" fuhr er fort, erhob sich wieder und setzte sich zu ihrer rechten Seite auf das Bett, nicht ohne zur Haarbürste zu greifen.

Ganz vorsichtig ließ er die Borsten der Bürste durch ihr blondes Haar gleiten und stellte seine Tätigkeit schließlich ein, als sie ihren Kopf gegen seine linke Schulter lehnte und sie mit einem leisen Seufzer ihre Augenlider senkte.
 

"Du hast das gesamte Gespräch gehört, nicht wahr?" hakte Lumine kleinlaut nach und öffnete ihre Augen wieder, als er sich leicht nach vorn beugte und die Bürste auf den Nachttisch ablegte, ehe er seinen linken Arm um sie legte und seine Schläfe gegen ihren Haarschopf lehnte.

"Selbst wenn ich keine mechanischen Ohren besäße, hätte ich jedes einzelte Wort verstanden. Ihr habt euch nicht gerade leise unterhalten" wurde ihr entgegnet und errötete ein weiteres Mal um die Nase.

"Die Vorstellung, einfach zu ihm zu stürmen, ihn gewaltsam auf den Boden zu befördern und ihn ohne Vorwarnung zu küssen, machte mich unbeschreiblich wütend, denn ich war doch eigentlich auf Rache aus und war meinen verdammten Gefühlen völlig unterlegen" erinnerte sie sich an ihre eigenen Worte, die ihr mehr oder weniger ungewollt in ihrer Wut über die Lippen gehuscht waren und zuckte kaum merklich zusammen, als ihr Kinn umfasst und in die rechte Richtung gedreht wurde.
 

Verwundert über die Schamesröte auf ihren Wangen hielt Kuni inne und rief sich das gesamte Gespräch noch einmal ins Gedächtnis.

Sie hatte oft genug an ihren Verstand gezweifelt und ihre Gefühle für ihn verflucht.

Sie hatte mit viel Mühe und Not ihre Gefühle vor ihm verbergen können.

Sie hatte einige Male den Gedanken besessen, sich von ihm umbringen zu lassen.

Sie hatte sich ihm eigentlich aus dem Kopf schlagen wollen.

"Inazuma... Rache... Ihre Wut auf sich selbst, weil sie..." rief er sich auch jene Informationen ins Gedächtnis, denen er im ersten Moment keine weitere Beachtung geschenkt hatte, weil er mit seinen Gedanken noch bei ihrer vorherigen Aussage gewesen war.

"Zum damaligen Zeitpunkt hättest du mich mit einer solchen Aktion sicherlich überrumpelt. Sehr wahrscheinlich hätte ich dich sofort von mir herunter gestoßen, mir angewidert mit der Hand über den Mund gewischt und dich schreiend gefragt, was zur Hölle du dir eigentlich mit mir erlaubst" mutmaßte er und schmunzelte, als sich die Röte auf ihren Wangen noch ein klein wenig verdunkelte.

"Zum heutigen Zeitpunkt würde ich..." wollte er noch sagen und verstummte augenblicklich, als sie sich leicht wankend erhob und sich mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß setzte, ehe er von ihr auf die Matratze nieder gedrückt wurde.

Noch bevor er ihr den Ratschlag hätte erteilen können, sich nicht zu übernehmen, folgte sie ihm, doch der erwartete Kuss blieb aus.

Stattdessen spürte er ihre Lippen an seinem Hals und stieß einen wohligen Laut aus, als sie an seiner Haut zu saugen begann.
 

Unaufhörlich zitterten ihre Arme, mit denen sie sich auf der Matratze abstützte und keuchte überrascht, als er seine Hände an ihre Taille legte, sich anschließend ruckartig mit ihr drehte und sie im nächsten Moment unter ihm lag.

"Vorausgabe dich nicht" wurde sie von ihm abermals ermahnt und stieß einen unzufriedenen Seufzer aus.

Sie wollte endlich wieder bei Kräften sein, wieder tägliche Aufträge annehmen und Sumeru einmal mehr erkunden.

Vor allem wollte sie aus diesem Haus raus, in dem sie seit Tagen mehr oder weniger eingesperrt war.

Es würde ihr schon genügen, irgendwo in der Stadt auf einer Parkbank zu sitzen und die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut zu spüren.

Jene Gedanken ließen sie ihr eigentliches Vorhaben vergessen und sank mit ihrem Kopf zurück auf die Matratze zurück, nicht ohne ihre Augen wieder zu öffnen und sah zu ihm auf.
 

"Ich hätte dir vielleicht im Vorfeld sagen sollen, dass du mir derartige Verletzungen nicht zufügen kannst" offenbarte er ihr, weil sie enttäuscht zu sein schien und erklärte ihr, dass seine Selbstheilungskräfte kleinere Wunden binnen weniger Minuten heilen konnten.

Verstehend nickte sie ihm zwar zu, aber der Ausdruck in ihren Augen blieb dennoch bestehen.

Frustrierte es sie etwa so sehr, dass sie ihren Besitzanspruch auf ihn nicht offen geltend machen konnte?

"Du kannst auch in mündlicher Form deinen Besitzanspruch auf mich erheben" unterbreitete er ihr diesen Vorschlag und war sich nicht sicher, wie er ihren jetzigen Gesichtsausdruck verstehen durfte.

Wieso wirkte sie nun so verwundert und erstaunt?

Hatte er sich etwa missverständlich ausgedrückt?

Nein, eigentlich sollte sie verstanden haben, was er ihr angeboten hatte und dennoch fühlte er sich ein klein wenig verunsichert.

Verunsichert, weil er nicht recht wusste, ob er eine gewaltige Grenze übertreten hatte und verspürte den Anflug von Furcht in sich aufsteigen.

Er wollte schon von ihr herunter steigen, doch als sie ihre Hände langsam erhob und sein Gesicht umrahmte, stoppte er in seiner Bewegung.

"Das kann und werde ich nicht tun" wisperte sie ihm zu und sah sie voller Unverständnis an.

"Ich möchte nicht, dass du dich mir gegenüber verpflichtet fühlst, nur weil ich ernsthafte Gefühle für dich besitze. Ich würde dich niemals deiner Freiheit berauben oder dich aus purem Egoismus an mich binden" lauschte er ihren ehrlichen Worten und obwohl sein Verstand begriff, was sie ihm eigentlich zu sagen versuchte, breitete sich im selben Moment ein unerträglicher Schmerz in ihm aus, der ihn unweigerlich schlucken ließ.

Noch einmal wanderten seine blauen Augen zu ihrem Hals und betrachtete die zwei dunkelroten Flecke, mit denen er seinen persönlichen Besitzanspruch auf sie geltend gemacht hatte.

Natürlich war er nicht wirklich bei klarem Verstand gewesen, denn er hatte sich einfach von seinen Gefühlen leiten lassen, aber dennoch hatte er sie gegen ihren Willen markiert.

Das hätte er nicht tun dürfen.

Er hätte sie zumindest um Erlaubnis bitten müssen.
 

"Ich... Ich wollte nicht...". "Kuni, es ist alles in bester Ordnung" fiel sie ihm ins Wort und schüttelte entschieden ihren Kopf, als er erneut zum Sprechen ansetzte.

Aus irgendeinen Grund wirkte er verzweifelt, war im selben Moment jedoch ebenso wütend und schien sich nicht wirklich sicher zu sein, wie er sich nun verhalten sollte.

"Sei nicht immer so nachsichtig mit mir" wurde sie von ihm getadelt und runzelte ihre Stirn.

"Im Gegensatz zu dir bin ich furchtbar egoistisch und verdammt besitzergreifend" fuhr er leise fort und augenblicklich begann sie zu begreifen, was sein momentanes Problem war.

Fühlte er sich etwa schuldig, weil er sich im Rausch seiner Gefühle auf ihrer Haut verewigt hatte?

"Mir missfällt der Gedanke, dass du dich hinter meinen Rücken mit irgendwelchen Typen triffst. Die bloße Vorstellung, dass sie dich anrühren könnten, macht mich total krank" teilte er ihr seine momentanen Gedanken mit und fuhr mit ihren Daumen über seine Wangen, in der Hoffnung, ihn ein wenig beruhigen zu können.

Warum malte er sich denn nur solche Gedanken aus?

Sie würde ihn doch niemals auf diese grausame Art und Weise hintergehen und es existierte auch kein berechtigter Grund zur Eifersucht.
 

"Meine Worte bedeuten nicht, dass ich dir misstraue. Es ist nur... Ich weiß doch auch nicht, wieso mir solche Gedanken in den Sinn kommen. Diese verdammten Gefühle machen mich wahnsinnig" versuchte er sich zu rechtfertigen, denn er wurde sich allmählich der Tatsache bewusst, wie sehr er sich gerade um Kopf und Kragen redete.

Er sollte sich nicht rechtfertigen, sondern eine Entschuldigung aussprechen.

"Das du egoistisch sein kannst und durchaus besitzergreifend bist, wusste ich von Anfang an" ergriff sie noch vor ihm das Wort und betrachtete das aufmunternde Lächeln, welches auf ihren Lippen erschien.

"Und ich gehe auch nicht davon aus, dass du mir misstraust" fuhr sie fort, ehe er sein Gesicht in ihrer linken Halsbeuge vergrub.

Kaum merklich zuckte er unter der Berührung ihrer linken Hand zusammen, die sich auf seinen Kopf legte und genoss das Gefühl ihrer Finger, welche hauchzart über sein Haar fuhren.

"Vergib mir" wisperte er schließlich und stieß einen lautlosen Seufzer aus, als sie ihren Kopf zaghaft schüttelte.

Ja, sie war einfach viel zu nachsichtig mit ihm.
 

"Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen" versicherte sie ihm, um seine düsteren Gedanken zu verscheuchen und spürte, wie er sich mehr und mehr unter der liebevollen Streicheleinheit entspannte.

"Willst du wissen, warum ich dir eigentlich einen Knutschfleck machen wollte?" fragte sie ihn und als sie spürte, wie er bejahend nickte, holte sie erneut tief Luft.

"Ich wollte mich lediglich an dir rächen. Verschwindest einfach ins Badezimmer, während ich wissende Blicke und Fragen über mich ergehen lassen muss" warf sie ihm schmollend vor und seufzte unzufrieden, als er leise lachte und ihr anschließend neckisch in den Hals biss.

"Hey..." beschwerte sie sich nur halbherzig und senkte ihre Augenlider, als er sich an ihrem Hals hinauf küsste, bis er schließlich ihr linkes Ohr erreichte.
 

"Eigentlich sollte ich allmählich dein Frühstück zubereiten..." setzte er wispernd zum Sprechen an und biss ihr zärtlich ins Ohrläppchen.

"Aber ich will mich gerade nicht erheben" beendete er seinen Satz und begann zu schmunzeln, als sich ihre Finger in sein Haar gruben und ihre freie Hand über seine linke Wange entlang wanderte.

In seinem Nacken kam ihre Hand zum Ruhen, ehe ihre Finger ihn kraulten und stieß einen wohligen Laut aus.

"Und du willst wohl auch nicht, dass ich mich jetzt erhebe" stellte er mehr oder weniger für sich selbst fest und erhob sich ein minimales Stück, während er sich mit den Armen neben ihren Kopf abstützte.

Er wollte sich gerade zu ihr hinab beugen, um ihre Münder zu einem Kuss zu vereinen, doch ein auffälliges Geräusch und ein anschließendes, leises Räuspern, welches vom offenen Fenster her ertönte, jagte nicht nur ihm, sondern ebenso Lumine einen gehörigen Schrecken ein und stieg eilig von ihr herunter.

"Verdammter Quälgeist, kannst du nicht an die Haustür klopfen und warten, bis du zum Eintreten aufgefordert wirst?" warf er dem Eindringling vor und sah demonstrativ zur rechten Seite.

"Privatsphäre scheint ein Fremdwort für dich zu sein" fügte er noch ergänzend hinzu und spürte eine minimale Regung neben sich.

Was sollte er nun tun?

Bleiben und dem folgenden Gespräch beiwohnen oder einmal mehr das Weite suchen?

Als jedoch seine linke Hand ergriffen wurde, wurde ihm diese Entscheidung abgenommen, weshalb er einen lautlosen Seufzer ausstieß und neben der Reisenden sitzen blieb.
 

"Woher hätte Paimon wissen sollen, dass ihr solche Sachen am hellichten Tag macht?" murrte Paimon und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

"Und Paimon weiß sehr wohl, was Privatsphäre ist" fügte sie noch wütend hinzu und drehte beleidigt ihren Kopf zur Seite, als der Wanderer in ihre Richtung sah.

"Sicher weißt du das. Deswegen bist du auch unaufgefordert ins Badezimmer eingedrungen" wurde ihr ein weiterer Vorwurf gemacht, löste die Verschränkung ihrer Arme wieder und ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, während sie im schwebenden Zustand wütend auf den imaginären Boden aufstampfte.

"Paimon hat sich doch nur Sorgen um Lumine gemacht. Ist das etwa ein Verbrechen?" brüllte sie den Wanderer an, der scheinbar all ihre Sorgen überhaupt nicht nachvollziehen konnte.

Dieser arrogante Kerl trieb sie immer wieder zur Weißglut.

Sie konnte wirklich nicht verstehen, warum ihre Freundin diesen unausstehlichen Typ, der stets glaubte, etwas Besseres zu sein, so sehr mochte.
 

"Nein, es ist selbstverständlich kein Verbrechen, sich Sorgen zu machen, aber wenn sich deine Freundin zu Wort meldet, existiert meiner persönlichen Ansicht nach kein berechtigter Grund, um unaufgefordert das Badezimmer zu betreten" half Kuni ihrem Gedächtnis im sachlichen Ton auf die Sprünge und verdrehte genervt die Augen, als Paimon erneut tief Luft holte.

Konnte oder wollte dieser Quälgeist das Kernproblem einfach nicht verstehen?

"Aber... Aber Paimon hat ganz genau gehört, wie unsicher sie geantwortet hat. Bestimmt hast du Lumine in Bedrängnis gebracht und sie sagt bloß nichts, weil du... Weil du sie in der Hand hast" erfolgte eine weitere Anschuldigung und wollte schon zur Antwort ansetzen, doch als leichter Druck um seine linke Hand ausgeübt wurde, linste er zu Lumine, deren Mund sich nun öffnete.
 

"Nimm deine Worte auf der Stelle zurück, Paimon" sprach Lumine relativ ruhig, aber dennoch mit genügend Nachdruck in der Stimme und sah ihre Freundin auffordernd in die Augen.

Wozu war Paimon überhaupt zurück gekommen?

Nur um Kuni mit weiteren Anschuldigungen zu strafen, die doch überhaupt nicht der Wahrheit entsprachen?

"Ich warte..." sagte sie bedrohlich leise und biss ihre Zähne aufeinander, als Paimon ihr Augenmerk erneut auf den Wanderer richtete, anstatt ihr eine Antwort zu geben.

"Jetzt versteht Paimon. Du hetzt Lumine gegen Paimon auf, um uns zu entzweien. Vielleicht hast du sogar ihrem Zwillingsbruder geholfen, um..." äußerte Paimon einen weiteren Verdacht, den sie jedoch nicht ganz aussprechen konnte, weil der Wanderer die Augen verengte und sich erheben wollte.

Lumine bekam jedoch rechtzeitig seinen linken Arm zu fassen und schüttelte mehrere Male ihren Kopf, während er einen abfälligen Laut ausstieß.

"Paimon, verschwinde jetzt" forderte Lumine ihre Freundin wütend auf, denn mit ihrer letzten Behauptung hatte sie das Fass offenbar zum Überlaufen gebracht und stieß einen lautlosen Seufzer aus, als Paimon ihrer Aufforderung tatsächlich folgte und durch das Fenster hinaus schwebte.
 

Eine ganze Weile herrschte eisige Stille zwischen ihnen, in der sich Kuni darum bemühte, seine innere Wut weitgehend zu zügeln und atmete immer wieder tief ein und aus.

Wenn Lumine nicht seinen linken Arm ergriffen und ihn stumm zur Ruhe gebeten hätte, wäre er auf jeden Fall aufgestanden und hätte Paimon mit roher Gewalt aus dem Haus geworfen.

Traute sie ihm wirklich zu, dass er gemeinsame Sache mit Aether machte?

Etwa wegen dem göttlichen Herz?

Ja, vermutlich und er konnte ihr nicht einmal verdenken, dass sie sich in diesen Glauben verstrickte.

Mit sanfter Gewalt versuchte er seinen linken Arm aus ihrer Umklammerung zu befreien, doch als ihre leise Stimme an sein Ohr drang und sie sich im Namen des Quälgeistes bei ihm entschuldigte, stieß er einen weiteren, leisen Seufzer aus und blieb auch weiterhin neben ihr sitzen.
 

"Ich würde gern nach draußen gehen" durchbrach Lumine nach einer gefühlten Ewigkeit die Stille und behielt ihre goldenen Augen auf das offene Fenster gerichtet.

"Wir könnten im Kaffeehaus frühstücken" unterbreitete sie ihm diesen Vorschlag und stellte sich vor, wie sie draußen an einen der Tische sitzen würden.

Mit Kaffee, mehreren belegten Brötchen und anderen Leckereien, die das Kaffeehaus zu bieten hatte.

Ihr lief unweigerlich das Wasser im Mund zusammen, als sie sich an die süßen Geschmäcker der Honigdatteln und Rosenmus erinnerte.

"Ich besitze nicht die Befugnis, um derartige Entscheidungen zu treffen" wurde sie von ihm in Kenntnis gesetzt und nickte ihm zaghaft zu.

"Aber wenn du Buer um Erlaubnis bittest und sie einverstanden ist, bin ich durchaus bereit, dich Huckepack zu nehmen und mit dir zum Kaffeehaus zu gehen" ließ er sie wissen und Lumine konnte im jenen Moment nicht anders, legte ihre Lippen auf seine linke Wange und schenkte ihm anschließend ein glückliches Lächeln.

"Bist du bereit?" fragte Kuni, nachdem er ihr in den linken Stiefel hinein geholfen hatte und sah zu Lumine auf.

Irgendwie erschien es ihm ungewohnt, sie nach den vergangenen Tagen, in denen sie immer nur ein schlichtes, weißes Nachthemd getragen hatte, in ihrer alltäglichen Kleidung zu sehen.

Unweigerlich erinnerte er sich an ihre erste Begegnung in Liyue und die vielen Fragen, die er sich einst über die Frau aus der fernen Welt gestellt hatte.

War sie adeliger Herkunft?

Aus welchem Material waren ihr Kleid, ihre langen Armstulpen, ihr Schal und ihre Stiefel angefertigt worden?

Stammten die zwei weißen Blumen in ihrem Haar, die augenscheinlich konserviert worden waren, damit sie nicht welkten, aus ihrer Heimat?

Wie war diese fremde Welt, in der sie ursprünglich mit ihrem Zwillingsbruder gelebt hatte und die laut ihrer Aussage zerstört worden war?

War sie möglicherweise ein höheres Lebewesen, welches über Kräfte verfügte, die jenseits seiner Vorstellungskraft lagen?

Das sie kein gewöhnlicher Mensch sein konnte, wusste er schon seit mehreren Monaten, auch wenn sie den Menschen von der Anatomie her sehr ähnelte und wie sie Nahrung, Wasser und Schlaf benötigte, um bei Kräften zu bleiben.

Kein einziger Mensch konnte mehrere Elemente beherrschen, zumindest nicht ohne göttliches oder teuflisches Auge und rief sich die vielen Informationen ins Gedächtnis, die er vor wenigen Wochen von Buer erhalten hatte.

Lumine war ein Ankömmling.

Der vierte Ankömmling, der ihre Welt, Teyvat, betreten hatte, weshalb auch keinerlei Aufzeichnungen über sie in Irminsul existierten.

Über ihren Zwillingsbruder existierten jedoch Aufzeichnungen, was Buer zu der Vermutung geführt hatte, dass er aus Teyvat stammte.

Ob jene Informationen, die Buer von Il Dottore im Austausch ihres göttlichen Herzen erhalten hatte, der Wahrheit entsprachen, würden sie schon noch in Erfahrung bringen.

Ihre Stimme holte ihn schließlich aus seinen Überlegungen in die Realität zurück, nickte ihr verstehend zu und kehrte ihr in gehockter Haltung seinen Rücken zu.

Nach nur wenigen Sekunden schlangen sich ihre Arme um seinen Hals, ehe sie sich an seinen Rücken schmiegte und griff ihr mit beiden Händen unter ihre Kniekehlen, um sich mit ihr zu erheben.
 

Im jenen Moment, als Kuni mit ihr ins Freie trat, füllte Lumine ihre Lungen mit der frischen Luft und nahm die vielen Gerüche um sich herum wesentlich intensiver wahr, während die warmen Strahlen der Sonne, die noch nicht sehr hoch stand, auf ihr Gesicht fielen.

Abermals bedankte sie sich in ihren Gedanken bei Nahida, welche Verständnis aufgebracht und ihnen nach nur wenigen Minuten die Erlaubnis gegeben hatte, ihre Unterkunft zu verlassen.

"Ich habe die Inhaberin kontaktiert und veranlasst, dass das Kaffeehaus für die nächsten zwei Stunden geschlossen wird" rief sie sich die Worte der niederen Herrin ins Gedächtnis, die diese Vorsichtsmaßnahme zum Schutz der Bewohner in die Wege geleitet hatte.

Eine reine Vorsichtsmaßnahme, die Lumine nachvollziehen konnte, denn sie hatte keineswegs vergessen, in welch gefährliche Lage sie sich noch immer befand.

Lautlos seufzend richtete sie ihre goldenen Augen auf die wenigen Menschen, die ihren Weg kreuzten und nahm sehr wohl ihre besorgten, gar verängstigten Gesichtszüge zur Kenntnis.

Was hatte sie denn auch erwartet?

Das sie wie üblich freudig begrüßt wurde?

Nein, natürlich nicht, denn es ging nach wie vor eine gewisse Gefahr von ihr aus.
 

"Schenke ihnen keinerlei Beachtung" erhob Kuni seine Stimme, als er spürte, wie sich ihr Körper leicht anspannte und beschleunigte sein Schritttempo.

"Niedere Insekten, die sich vor wenigen Tagen noch bei dir eingeschleimt haben, um deine Gunst zu erhaschen und dich nun durch einen Vorfall, den du nicht einmal selbst verschuldet hast, mit derartigen Blicken strafen, verdienen es meiner Meinung nach nicht, von dir beachtet zu werden" äußerte er seinen Unmut laut genug, damit auch jeder verdammte Mensch in ihrer unmittelbaren Umgebung seine Worte hörte.

"Kuni, es ist doch nur natürlich...". "Wage es nicht, sie in Schutz zu nehmen. Ich spreche schließlich nur Tatsachen aus" fiel er Lumine ins Wort und blieb für einen kurzen Moment mit ihr stehen.

"Die Menschen sollen sich ins Gedächtnis rufen, welche Gefahren du auf dich genommen hast, um ihre jämmerlichen Leben zu beschützen" erinnerte er die Menschen um sie herum an jene Tatsache und warf einen prüfenden Blick über seine linke Schulter.

Die unzähligen Augen, die zuvor noch auf ihnen geruht hatten, waren nun beschämt und voller Schuldgefühle auf den Boden gerichtet.

Zufrieden mit jener Reaktion, denn er hatte ihnen nur ihr unangebrachtes Verhalten vor Augen führen und Lumine im gleichen Atemzug vor weitreichenden Schaden bewahren wollen, wendete er seinen Blick wieder von den Menschen ab, die es sich bloß nicht wagen sollten, ihm zu widersprechen und setzte seinen Weg zum Kaffeehaus fort.

"Ich hasse Heuchler" presste er noch wütend hervor und obwohl er wusste, dass seine Worte möglicherweise noch ein Nachspiel haben würden, nahm er diesen Umstand in Kauf.
 

Nach nur fünf Minuten, in denen Lumine kein weiteres Wort über die Lippen gebracht hatte, erreichten sie schließlich das Kaffeehaus und wurde von Kuni zum hintersten Tisch neben dem Gebäude getragen, direkt unter einen Sonnenschirm und nickte ihm dankbar zu, als er sie langsam von seinen Rücken gleiten ließ, damit sie sich auf einen der beiden Stühle setzen konnte.

Wortlos setzte sich Kuni ihr gegenüber, wobei seine Mimik verriet, dass er inzwischen zu seiner sonstigen Ruhe zurück gefunden hatte und beobachtete, wie er die Speisekarte zur Hand nahm.

Hin und wieder verzog er sein Gesicht, schien angewidert von den vielen Süßspeisen zu sein, die in der Speisekarte angeboten wurden und lenkte ihre goldenen Augen auf einen jungen, braunhaarigen Mann, der einen schwarzen Mantel trug, dessen Blick, verborgen hinter einer bronzenden Maske, immer wieder verstohlen zu ihr herüber wanderte.

Jener Mann, den sie einst in Mondstadt kennen gelernt hatte und auf den Namen Viktor hörte, hob kaum merklich die rechte Hand, um sie zu grüßen und nickte ihm mit einem zaghaften Lächeln zu.

Scheinbar verspürte Viktor keinerlei Furcht vor ihr, obgleich er sicherlich ebenfalls vom Vorfall vor vier Tagen gehört haben musste.

Die Frage, ob er inzwischen eine Antwort von Lily erhalten hatte, beherrschte kurz ihren Geist, doch ein leises Räuspern holte sie in die Realität zurück und bemerkte nun erst die Inhaberin, welche offenbar höchstpersönlich ihre Bestellung aufnehmen würde.
 

Während sich die Reisende eine Tasse Kaffee mit Milch und Zucker, drei belegte Brötchen, Honigdatteln und Rosenmus bestellte, warf Kuni einen flüchtigen Blick über die linke Schulter, nur um zu erfahren, wen sie zuvor gegrüßt hatte und erspähte Viktor, den er nur von seinem Rundgang durch die Stadt her kannte.

Die Frage, ob Lumine ihn näher kannte, schließlich gehörte er doch zu den Fatui, schob er vorläufig in den Hintergrund und rief sich stattdessen sämtliche Informationen ins Gedächtnis, die er über Viktor besaß.

Er wusste, dass Viktor vor einigen Monaten noch in Mondstadt stationiert gewesen war, um die dortige Lage im Auge zu behalten.

Warum er nach Sumeru versetzt worden war, wusste er zwar nicht, aber er wusste, dass er Vsevolod unterstellt war, der widerum der direkte Untergebene von Pulcinella war.

"Dieser alte Sack" dachte er sich insgeheim und überlegte, ob er Viktor zu seinem eigenen Vorteil nutzen konnte, um an Informationen zu gelangen.

Er musste einfach in Erfahrung bringen, ob der Orden des Abgrunds und die Fatui gemeinsam operierten und ob der blonde Mistkerl erst durch Il Dottore oder aber von Pierro persönlich erfahren hatte, was notwendig war, um ein göttliches Herz zu erschaffen.

"Was darf ich Ihnen bringen?" wurde er angesprochen und warf einen weiteren Blick in die Speisekarte.

"Einen Kaffee, schwarz" äußerte er nach nur kurzer Überlegung diesen schlichten Wunsch, der von der Inhaberin notiert wurde, ehe sie sich von ihren Tisch entfernte und zurück ins Kaffeehaus trat.
 

Erneute Stille breitete sich zwischen ihnen aus und obwohl Lumine die Frage auf der Zunge lag, wieso er sich nur einen Kaffee bestellt hatte, sagte sie kein einziges Wort und starrte nachdenklich auf die Tischplatte.

Fieberhaft suchte sie in ihren Gedanken nach einem Gesprächsthema, worüber sie sich mit ihm unterhalten könnte und stieß einen erschrockenen Laut aus, als eine kleine Tasse in ihr Sichtfeld gestellt wurde und nuschelte ein leises Danke zu der Angestellten herauf, nicht ohne um die Nase herum zu erröten.

Rasch warf sie einen flüchtigen Blick zu Kuni, dessen verwunderter Gesichtsausdruck ihr verriet, dass er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, was sie eigentlich hatte und lenkte ihr Augenmerk wieder auf ihre Tasse hinab, die sie nun mit beiden Händen umfasste.

Warum fühlte sich diese Zweisamkeit nur so merkwürdig an?

Sie frühstückte schließlich nicht zum ersten Mal mit ihm.
 

Überfragt durch ihr merkwürdiges Verhalten und die Röte auf ihren Wangen, die er sich tatsächlich nicht erklären konnte, führte Kuni seine Tasse an die Lippen, nahm einen großzügigen Schluck Kaffee zu sich und überlegte, was sie derart nervös machte.

"Entspann dich" bat er sie leise, nachdem er seine Tasse wieder abgestellt hatte, doch anstatt seiner Bitte zu folgen, zuckte sie erneut erschrocken zusammen.

Lautlos seufzend erhob er sich, ergriff die Lehne vom Stuhl und lief um den Tisch herum.

Zu ihrer linken Seite stellte er den Stuhl wieder ab, auf den er sich anschließend nieder ließ und streckte seine rechte Hand zur Tasse aus, die er ein weiteres Mal an seine Lippen führte.

Im Augenwinkel konnte er sehr wohl erkennen, wie sich die Röte auf ihren Wangen noch ein klein wenig verdunkelte, was ihn unweigerlich zu der Annahme führte, dass er der Grund ihrer anhaltenden Nervosität war.
 

"Kuni, wir haben kein..." erhob Lumine ihre Stimme und verstummte abrupt, als die Inhaberin und die Angestellte ins Freie traten.

Lautlos schluckte sie, nahm einen vorsichtigen Schluck von ihrem Kaffee zu sich und wartete geduldig, bis all die Köstlichkeiten, die sie vorhin bestellt hatte, auf dem runden Tisch standen.

"Einen guten Appetit wünschen wir Ihnen" wurde ihnen gewünscht und nickte der Inhaberin kaum merklich zu, ehe sich die beiden Damen wieder entfernten.

"Fahre fort" bat Kuni, weswegen sie abermals schluckte und stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch.

"Wir haben gerade kein Date, oder?" fragte sie unsicher und behielt ihre goldenen Augen auf den Inhalt ihrer Tasse gerichtet.

Ja, selbst wenn es sich für sie wie ein Date anfühlen mochte, war es für ihn sicherlich nur ein weiteres, belangloses Frühstück.
 

Unverzüglich stellte Kuni seine Tasse zurück auf den Tisch, aus welche er einen weiteren Schluck Kaffee hatte nehmen wollen und drehte seinen Kopf in die linke Richtung, um die Hitze auf seinen Wangen zu verbergen.

"Woher soll ich das wissen?" entgegnete er ebenso fragend und begann allmählich zu verstehen, wieso sie eigentlich so verflucht nervös war.

Was wurde denn jetzt von ihm erwartet?

Rasch kramte er in seinem Gedächtnis herum und prompt verstärkte sich die Hitze in seinem Gesicht, als er sich an seinen Aufenthalt in Fontaine vor einigen Jahren erinnerte.

Fontaine mochte zwar die Stadt der Gerechtigkeit sein, aber sie war vor allem unter den Einheimischen als die Stadt der Liebe und Romantik bekannt, ähnlich wie in Mondstadt.

"Dieses unsinnige Getue" dachte er und erinnerte sich, wie oft er die viel zu förmlich bekleideten Liebespaare beobachtet hatte, die offenkundig gezeigt hatten, wie sehr sie einander liebten.

Wie oft hatte er beobachtet, wie die Männer, die in seinen Augen vollkommen verrückt waren, den Damen zuerst einen Strauß Blumen geschenkt hatten, nur um sie anschließend mit charmanten Worten zu umgarnen?

"Das mache ich auf gar keinen Fall" war sein nächster Gedankengang und rief sich eine weitere Erinnerung ins Gedächtnis.

Er hatte einen Kerl dabei beobachtet, wie er seine Angebetene unter ihrem Balkon ein Ständchen gehalten hatte.

Nur wenige Tage später hatte er besagten Mann in Begleitung der Dame, die sich offenbar vom Ständchen hatte erobern lassen, im nobelsten Restaurant der Stadt entdeckt.

Bei einem Dinner bei Kerzenschein, begleitet von romantischer Musik im Hintergrund und mit Ausblick auf den Fluss.

Mit dem wohl erlesesten Wein des Hauses hatten sie schließlich auf ihr gemeinsames Glück angestoßen, während er, Kuni, nicht hatte verstehen können, wieso dieser Kerl derart viel Geld für eine Frau aus dem Fenster warf.

Eigentlich war er einfach nur erleichtert gewesen, als er einen neuen Auftrag erhalten hatte und er Fontaine den Rücken hatte kehren dürfen.

Dieses ganze Liebesgetue war ihm einfach nur auf die Nerven gegangen.
 

"War eine dumme Frage. Entschuldige..." murmelte Lumine nach einer Weile und streckte ihre rechte Hand aus, um eines der belegten Brötchen zu ergreifen.

"Ich weiß selbst nicht so genau, warum...". "Könntest du damit aufhören, dich für jede Kleinigkeit bei mir zu entschuldigen?" wurde sie im harschen Ton unterbrochen und legte vorerst ihr Brötchen auf den Teller vor sich ab.

War er nun wütend auf sie, weil sie ihn mit ihrer Frage in eine unangenehme Lage gebracht hatte, mit der er nicht umgehen konnte oder störte es ihn tatsächlich, dass sie sich zu rechtfertigen versuchte?

"Wie stellst du dir denn ein Date mit mir vor?" fügte er nun wesentlich leiser jene Frage hinzu und hörte sehr wohl die Unsicherheit aus seiner Stimme heraus.

Wie sie sich ein Date mit ihm vorstellte?

Eigentlich besaß sie keine speziellen Erwartungen.

An sich genügte es ihr schon, mit ihm an diesen Tisch zu sitzen und Zeit mit ihm zu verbringen.
 

"Ich besitze keine bestimmte Vorstellung" wurde ihm offenbart, drehte unverzüglich seinen Kopf in ihre Richtung zurück und bedachte sie mit prüfender Miene.

"Mir genügt es vollkommen, mit dir an diesen Tisch zu sitzen und diesen Augenblick mit dir zu genießen" verriet sie ihm mit einem glücklichen Lächeln und jene Worte waren es, die ihn beruhigten und ihm einen erleichterten Seufzer entlockten.

"Außerdem würde ich mir ernsthafte Sorgen um dich machen, wenn du mir auf einmal Blumen schenken und mir Komplimente machen würdest. Vermutlich würde ich mir die berechtigte Frage stellen, ob du etwas Böses angestellt hast" eröffnete sie ihm, weshalb er unverständliche Worte vor sich her murrte und ergriff seine Tasse.

"Sei still und iss dein verdammtes Brötchen, sonst war es das erste und letzte Mal, dass ich mich zu einem Date überreden ließ" murrte er und nahm einen weiteren Schluck Kaffee zu sich, während Lumine leise lachte und folgsam ihr Brötchen ergriff.

~
 

Schwerfällig hob Lumine ihre Augenlider und blinzelte einige Male, um ihre verschwommene Sicht weitgehend zu schärfen und richtete sich mit einem erschrockenen Laut vom Boden auf, nicht ohne ihren Blick durch das Haus schweifen zu lassen, welches ihr inzwischen sehr vertraut war.

"Aber ich saß doch eben noch mit Kuni..." überlegte sie und brach ihren Gedankengang vorerst ab, um sich ihre letzten Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen.

Sie hatte ihr belegtes Brötchen gegessen, hin und wieder von ihrem Kaffee getrunken und schließlich damit begonnen, den köstlichen Rosenmus zu essen.

Nur wenige Löffel hatte sie zu sich genommen, bis sie den Löffel neben der Glasschale auf dem Tisch abgelegt hatte.

"Ich erinnere mich. Ich fühlte mich auf einmal benommen und unglaublich müde" überlegte sie und fasste sich mit der rechten Hand an die Stirn.

Sie glaubte, dass sie Kuni noch über ihr merkwürdiges Befinden informiert hatte und sie meinte sich ebenso daran zu erinnern, dass er etwas zu ihr gesagt hatte, aber eben jene Erinnerung wirkte völlig verschwommen, weshalb sie nicht so recht sagen konnte, ob und wie seine Reaktion ausgefallen war.

Sie konnte eigentlich nur mit absoluter Sicherheit sagen, dass sie wohl am Tisch eingeschlafen sein musste und deswegen erneut in diesem Albtraum gefangen war.
 

~
 

Während sich die Blondine in Geduld übte und auf die baldige Ankunft des Wanderers wartete, versuchte sich Kuni zum wiederholten Male Zugang zu ihrer Traumwelt zu verschaffen.

Als Lumine ihm vor wenigen Minuten gesagt hatte, dass sie sich irgendwie merkwürdig fühlte, hatte er sofort ihre linke Schulter ergriffen und ihre bereits sehr müden Gesichtszüge in Augenschein genommen.

Diese plötzliche Müdigkeit hatte ihn unverzüglich in Alarmbereitschaft versetzt und obwohl er unzählige Male auf sie eingeredet hatte, war sie letzten Endes doch eingeschlafen und hing nun kraftlos in seinen Armen.

Etliche Fragen schwirrten durch seinen Kopf, die er sich beim besten Willen nicht beantworten konnte.

War es ein Fehler gewesen, mit ihr zum Kaffeehaus zu gehen?

Warum war sie auf einmal derart müde geworden, obwohl sie zuvor noch einen vollkommen munteren Eindruck auf ihn gemacht hatte?

War ihr möglicherweise ein Schlafserum verabreicht worden?

Wieso war es ihm verdammt noch mal nicht möglich, sich Zugang zu ihrer Traumwelt zu verschaffen?

Wurde ihm etwa der Zugang versperrt?

"Verdammt..." fluchte er leise, hob Lumine auf seine Arme und setzte sich zügig in Bewegung, nicht ohne Buer in seinen Gedanken zu informieren.
 

~
 

Nach wie vor übte sich Lumine in Geduld und versuchte Kunikuzushi, der um den kleinen Jungen trauerte, weitgehend zu ignorieren und wanderte im Haus umher.

Bei der Falltür, die in den Untergrund führte, blieb sie stehen, ging in die Hocke und streckte ihre rechte Hand nach dem Griff aus.

"Bewusstseinskontrolle oder das simple Eindringen in deine Traumwelt lässt sich nicht mit einfachen Worten erklären. Normalerweise solltest du die einzige Person sein, die die Kontrolle über deine Gedanken, deine Träume oder dein Bewusstsein besitzt, aber dein Zwillingsbruder hat diesen Traum erschaffen. Folglich ist er es, der diesen Traum kontrolliert, aber das bedeutet natürlich nicht, dass ich ihm nicht in die Quere kommen kann. Jedes Mal, wenn ich mir Zugang zu deiner Traumwelt verschaffe, entreiße ich ihm einen kleinen Teil seiner Kontrolle. Durch diese Kontrolle ist es mir möglich, all die Gegenstände im Haus zu berühren oder gar eine einfache Falltüre zu öffnen" hatte Kuni ihr vergangene Nacht auf ihre Frage hin erklärt und wie bereits erwartet glitt ihre Hand durch den Griff hindurch.

Seufzend erhob sie sich wieder und stellte sich allmählich die berechtigte Frage, wo Kuni eigentlich blieb.

In den vergangenen Träumen war er immer nach nur wenigen Augenblicken neben ihr erschienen.
 

~
 

Im selben Moment legte Kuni die Reisende auf das Bett ab, zog ihr lediglich die Stiefel aus und überlegte fieberhaft, was er im Augenblick überhaupt tun konnte.

Wenn es ihm nun nicht einmal mehr möglich war, ihre Traumwelt zu betreten, konnte er sie auch nicht mehr aus dem Schlaf reißen.

Ungehindert würde Aether seiner Schwester die Energie entziehen, die er zur Fertigstellung des göttlichen Herzen benötigte.

Panik breitete sich in ihm aus, die ihn dazu veranlasste, sich zu ihr auf die Bettkante zu setzen und ergriff ihre linke Hand, nicht ohne seine Augenlider zu senken.

Erneut unternahm er einen verzweifelten Versuch, sich Zugang zu ihrer Traumwelt zu verschaffen und biss sich hart auf die Unterlippe, als er die notwendige Verbindung zu ihr einfach nicht herstellen konnte.

"Du verdammter Bastard" brachte er teils wütend, teils verzweifelt über die Lippen und riss die Augen auf, als die Haustür geöffnet wurde.

"Helft ihr" wisperte er fast tonlos, nachdem er seinen Kopf zur Seite gedreht hatte und die niedere Herrin an seine Seite getreten war, dicht gefolgt von Paimon, welche ihm vorhin noch mit ihren Anschuldigungen auf die Nerven gegangen war.

"Ihr sollt ihr helfen" befahl er Buer brüllend und konnte nicht länger verbergen, wie sehr ihn die jetzige Situation doch eigentlich belastete.

Einmal mehr verlor er seine sonstige Fassung, ließ sich von seinen Gefühlen und Ängsten übermannen, die seinen Verstand verklärten und knirschte ungehalten mit den Zähnen.

"Beruhige dich, ergreife meine Hand und schließe deine Augen. Du auch, Paimon" wurde er von Buer angewiesen, streckte seine rechte Hand nach ihr aus und senkte seine Augenlider wieder.

Wie sollte er sich denn unter den gegebenen Umständen beruhigen?

Konnte sie denn nicht nachvollziehen, wie hilflos und machtlos er sich fühlte?

Lumine war schließlich sein erster Freund seit vierhundert Jahren.

Nein, eigentlich sah er weitaus mehr als einen gewöhnlichen Freund in ihr.

Sie war die erste Person, die wohlige Gefühle in ihm erwecken konnte.

Die erste Person, zu der er sich hingezogen fühlte.

Die erste und wohl auch einzige Person, von der er immer wieder geküsst und um den Finger gewickelt werden wollte.

Eben jene Person wollte er unter gar keinen Umständen verlieren.
 

~
 

Ganz allmählich breitete sich leichte Panik in Lumine aus, die sie schlucken ließ und schüttelte mehrere Male ihren Kopf, um die Worte ihrer kleinen Freundin zu verscheuchen, welche Zweifel in ihr erwecken wollten.

Nein, sicherlich existierte ein triftiger Grund, wieso Kuni noch nicht erschienen war.

Sie wollte und musste ihm einfach vertrauen.

Wenn sie ihm nicht vertrauen konnte, durfte sie sich nicht länger als sein Freund bezeichnen.

In den vergangenen Tagen hatte er sich stets um ihr Wohlbefinden bemüht.

In den vergangenen Tagen hatte er sie immer wieder aus dem Schlaf gerissen.

In den vergangenen Tagen waren sie sich Stück für Stück näher gekommen.

Wenn er tatsächlich an das göttliche Herz interessiert wäre, wie Paimon wahrscheinlich vermutete, hätte er doch wohl kaum diesen Auftrag angenommen, oder?

Ja, wenn er tatsächlich diesen Plan verfolgen würde, hätte er den Auftrag von Nahida garantiert abgelehnt und sich einfach nur in Geduld geübt.
 

"Paimon stellt sich gerade sehr viele Fragen" erhob Paimon ihre Stimme und linste zum Wanderer herüber, der, seit sie in das Bewusstsein ihrer Freundin eingedrungen und auf der Suche nach dem erschaffenen Traum waren, kein weiteres Wort mehr über die Lippen gebracht hatte.

Äußerlich mochte er zwar wieder vollkommen ruhig und gelassen wirken, aber seine blauen Augen verrieten umso mehr, wie aufgewühlt er noch immer war.

"Fragst du dich etwa, wieso ich die Inhaberin gebeten habe, die Kaffetasse und die Glasschale, die Lumine benutzt hat, zur Klinik zu bringen?" erwiderte die niedere Herrin und behielt ihre Augen auf die verzweigten Wege gerichtet, die zu verschiedenen Erinnerungen der Reisenden führten.

"Ich teile den Verdacht, den der Wanderer geäußert hat. Es ist denkbar, dass Lumine eine Art Schlafserum verabreicht wurde und deswegen habe ich veranlasst, dass das Geschirr von den Ärzten schnellstmöglich untersucht wird" erklärte Nahida ihre vorherige Veranlassung, weswegen Paimon verstehend nickte und lenkte ihr Augenmerk erneut zum Wanderer, der nun wütend mit den Zähnen knirschte.

Machte er sich etwa gerade Vorwürfe?
 

Wütend auf sich selbst, weil er keine einzige Sekunde lang darüber nachgedacht hatte, ob Aether derartige Maßnahmen ergreifen würde, nur um dessen Schwester zurück in diesen verdammten Traum zu zwingen, behielt Kuni die Augen auf die vielen Wege gerichtet.

Bei einer etwas größeren Zweigung mit fünf unterschiedlichen Pfaden blieb er neben Buer stehen, deren Hand er hielt, um nicht augenblicklich aus dem Bewusstsein der Blondine gesperrt zu werden und stieß einen ungehaltenen Knurrlaut aus.

"Buer...". "Bewahre einen kühlen Kopf" wurde er unverzüglich zum Schweigen gebracht und obwohl er sich kaum noch in Geduld üben konnte, versuchte er sich weitgehend zur Ruhe zu zwingen.

"Ich habe Lumine lokalisiert" offenbarte die niedere Herrin nach einer schweigsamen Minute und betrat den mittleren Pfad mit ihnen.

Nach nur wenigen Schritten veränderte sich die Umgebung um sie herum und erreichten jenen Ort aus seiner Erinnerung.

Aus dem Haus, in welches er sich einst mit dem kleinen Jungen nieder gelassen hatte, drangen bereits vereinzelte Rauchschwaden, wodurch er nicht länger an sich halten konnte und setzte sich eiligen Schrittes in Bewegung, obgleich er Buer und Paimon gewaltsam hinter sich her zerrte.

Mit der linken Hand befühlte er die Barriere im Türrahmen, die sie überwinden mussten, um ins Innere des Hauses zu gelangen und sah auffordernd zu Buer hinab.
 

Instinktiv wusste Nahida, wozu er sie stumm aufforderte und schüttelte ihren Kopf.

"Bedauerlicherweise reicht meine Macht nicht aus, um einen Pfad durch die Barriere zu öffnen" verriet sie ihm und bedachte ihre momentanen Möglichkeiten.

"Und wenn wir gewaltsam die Barriere zerstören, bringen wir möglicherweise all die Menschen, die in Sumeru leben, in Gefahr" fügte sie noch erklärend hinzu und senkte ihren Blick, als sich sein Blick verfinsterte.

"Glaubt Ihr ernsthaft, dass ich Rücksicht auf die Leben dieser verdammten Menschen nehmen werde?" stellte er in Frage und hob ihr Gesicht wieder.

Trotz der Arroganz, mit der er seine Frage gestellt hatte, konnte sie ihm ansehen, wie verzweifelt er doch eigentlich war.

"Quälgeist, deine Meinung. Deine Freundin oder die Leben zahlreicher Menschen?" richtete er seine folgende Frage an Paimon, welche schwer schluckte und nicht wirklich zu wissen schien, was sie eigentlich antworten sollte.
 

"Und ihr bezeichnet euch als ihre Freunde? Lächerlich" verhöhnte er ihre Tatenlosigkeit, als er nach einer gefühlten Minute noch immer auf eine Antwort wartete und sammelte ausreichend Anemoenergie in der linken Handinnenfläche.

"Im Gegensatz zu euch kenne ich keine Skrupel und bin bereit, über Leichen zu gehen, um einen Freund zu beschützen" fügte er noch hinzu und umklammerte die kleine Hand der niederen Herrin fester, bevor sie mit dem Gedanken spielen konnte, die Verbindung ihrer Hände zu lösen und schleuderte die wirbelnde Kugel gegen die Barriere.

Bis auf eine minimale Erschütterung nahm die Barriere jedoch keinen Schaden, weshalb er ein weiteres Mal genügend Anemoenergie in der Hand bündelte.
 

"Was war das?" fragte sich Lumine gedanklich, als sie eine minimale Erschütterung spürte und versuchte durch den bereits entwickelten Rauch den Ursprung besagter Erschütterung ausfindig zu machen.

Bei der offenen Tür blieben ihre goldenen Augen hängen und blinzelte einige Male überrascht, als sie nicht nur Kuni erblickte, der Anemoenergie in der linken Hand bündelte, um vermutlich die Barriere zu zerstören, sondern ebenso Nahida und Paimon, die sich bei den Händen hielten.

Die vorherige, leichte Panik, die sich in ihr ausgebreitet hatte, löste sich allmählich in Luft auf, sprang sofort auf ihre Füße und eilte auf die Türschwelle zu.

Für einen kurzen Augenblick stoppte Kuni seinen nächsten Angriff, als er sie erblickte und wirkte wahrlich erleichtert, sie gesund und munter zu sehen, doch die Verzweifelung, die ihn wohl erst zu seiner jetzigen Handlung trieb, konnte sie sehr wohl in seinen blauen Augen erkennen.

"Beruhige dich, Kuni" rief sie, als er den Angriff vollführte und erhob ihre Hände, um ihm Zeichen zu geben, weil er sie scheinbar durch die Barriere nicht hören konnte.
 

Entschieden schüttelte Kuni sein Haupt, der zum Glück der Lippenlesekunst mächtig war und hielt erneut inne, als sie ihren Mund ein weiteres Mal öffnete und konzentrierte sich auf ihre Lippenbewegungen.

Warum er sich gerade von all seinen Gefühlen beherrschen ließ, anstatt einen kühlen Kopf zu bewahren, um vernünftige Entscheidungen zu treffen?

"Dämliche Frage" herrschte er sie an, wohl wissend, dass sie seine Stimme überhaupt nicht hören konnte und ließ die gebündelte Energie aus seiner Handinnenfläche verschwinden.

"Was soll ich denn sonst tun?" stellte er tonlos jene Frage und hoffte inständig, dass sie zumindest einzelne Worte von seinen Lippen ablesen konnte und legte seine linke Hand an die Barriere.

Anstatt einer Antwort erhob Lumine ihre rechte Hand, die sie nun ebenfalls an die Barriere legte, ehe auf ihren Lippen ein aufmunterndes Lächeln erschien.

Jene Geste wühlte ihn jedoch nur noch mehr auf und biss sich auf die Unterlippe.
 

Im jenen Moment wurde sich Paimon der Tatsache bewusst, dass sie sich in dem Wanderer augenscheinlich vollkommen geirrt hatte.

Es erschreckte sie zwar sehr, dass er zahlreiche Menschenleben opfern würde, nur um einen einzelnen Freund zu retten, aber im gleichen Moment waren seine getätigten Aussagen der eindeutige Beweis, dass Lumine ihm sehr viel bedeutete und er kein falsches Spiel mit ihr trieb.

"Wanderer, Paimon tun all ihre Anschuldigungen leid" erhob sie ihre Stimme und sah unverzüglich zu Nahida hinab, deren leises Räuspern ihre Aufmerksamkeit verlangte.

"Ihr könnt euch zu einem späteren Zeitpunkt in aller Ruhe aussprechen" wurde ihr erklärt und nickte der niederen Herrin bejahend zu.
 

"Wanderer, ich werde dir vorübergehend all meine Macht zur Verfügung stellen" setzte Nahida ihn nach reifer Überlegung in Kenntnis und senkte ihre Augenlider, um mit der Übertragung ihrer Macht zu beginnen.

"Warum solltet Ihr...". "Trotz deiner ständigen Drohungen setze ich all mein Vertrauen in dich und lege das Schicksal meines Landes in deine Hände" fuhr sie unterbrechend fort, öffnete ihre Augen wieder und sah zu ihm auf.

Sehr wohl konnte sie in seinen Augen erkennen, dass er ihre Beweggründe überhaupt nicht nachvollziehen konnte.

"Du wirst wissen, wann und wie du meine Macht einsetzen musst" fügte sie noch hinzu, ließ schließlich seine Hand los und löste sich binnen weniger Sekunden mit Paimon in Luft auf.
 

Fassungslos starrte Kuni auf die Stelle, an der Buer eben noch gestanden hatte und war sich nicht sicher, wie er mit diesem Vertrauensbeweis umgehen sollte.

Hatte sie denn gar keine Angst, dass er ihre Macht, diese Leihgabe, die nun seinen gesamten Körper durchströmte, für seine eigenen Zwecke missbrauchte?

Was hatte sie mit ihren letzten Worten überhaupt andeuten wollen?

Hatte sie etwa etwas in Erfahrung gebracht, was ihm durch seinen vernebelten Verstand entgangen war?

Er wusste es nicht und sah auf seine Hände hinab, bewegte seine Finger einige Male und hob entschlossen seinen Blick.

"Tritt zur Seite" bat er Lumine telepathisch, welche zwar im ersten Moment überrascht wirkte, aber dennoch seiner Anweisung unverzüglich folgte und erhob seine rechte Hand.

Mit der jetzigen Macht, die ihm innewohnte, würde er sich einen sicheren Pfad durch die Barriere schaffen.
 

"Was hast du vor?" fragte Lumine ihn in ihren Gedanken, war noch immer zu überrascht über seine telepathische Anweisung, ehe sich ihre goldenen Augen voller Unglauben weiteten, als er einen grünen, durchsichtigen Würfel erschuf, den er direkt auf der Türschwelle platzierte.

Durch jenen Würfel, der mit vereinzelten Blüten und Ranken verziert war, trat er hindurch und gelangte mit Leichtigkeit ins Innere des Hauses, ohne die Barriere in irgendeiner Form zu beschädigen.

Hatte Nahida ihm etwa noch mehr Macht verliehen?

"Knie nieder vor deinen neuen Gott und schwöre mir deine ewige Treue" erhob er seine Stimme mit einem überheblichen Lächeln auf den Lippen, während seine blauen Augen vor lauter Arroganz strotzten, blieb direkt vor ihr stehen und brachte sie mit jenen Worten für einen kurzen Moment vollkommen aus dem Konzept.

"War nur ein Scherz" amüsierte er sich offensichtlich über ihren verwunderten Gesichtsausdruck, ehe das überhebliche Lächeln von seinen Lippen verschwand und er erneut zum Sprechen ansetzte, um ihr zu erklären, wieso er ihr nicht unverzüglich in die Traumwelt gefolgt war, berichtete ihr von seinem Verdacht bezüglich ihrer plötzlichen Müdigkeit und das Buer ihm eben all ihre Macht übertragen hatte, wodurch es ihm erst möglich gewesen war, die Barriere zu überwinden.
 

Lautlos seufzend trat Kuni schließlich gänzlich zu ihr heran, ergriff ihre rechte Hand und spürte augenblicklich das Gefühl ihrer jetzigen Erleichterung, die er ihr ebenso von ihrem Gesicht ablesen konnte.

"Gehen wir" durchbrach er die eingetretene Stille, setzte sich mit ihr in Bewegung und trat gemächlichen Schrittes auf die Falltür zu, vor welche er in die Hocke ging.

"Aber was ist mit der Abyss Magie?" wurde ihm mit einer durchaus berechtigten Gegenfrage geantwortet und legte seine rechte Hand um den Griff, um besagte Falltür zu öffnen, ehe er sich wieder aufrichtete und stieg mit ihr ohne ein erklärendes Wort die Stufen hinab.

"Vertrau mir" sagte er lediglich, noch bevor sie eine weitere Frage hätte stellen können und erhob seine rechte Hand, schnippte einmal mit seinen Fingern und erschuf eine grünlich schimmernde Barriere um die Reisende herum, um sie entsprechend vor der Abyss Magie zu schützen.

"Vertrau mir und lasse unter gar keinen Umständen meine Hand los" fügte er noch hinzu und schüttelte seinen Kopf, als sie sich leise bei ihm bedankte.

"Du wirst wissen, wann und wie du meine Macht einsetzen musst" rief er sich die Worte der niederen Herrin ins Gedächtnis und begann allmählich zu verstehen, wieso sie ihm all ihre Macht übertragen und mit Paimon den Rückzug angetreten hatte.

Ihre Macht war durch den Verlust ihres göttlichen Herzen begrenzt und es hatte ihr ohnehin schon sehr viel Kraft abverlangt, den Quälgeist und ihn sicher durch das Bewusstsein der Blondine zu führen.

Folglich war es ihr überhaupt nicht möglich gewesen, etwas gegen die Barriere zu unternehmen, als er sie stumm zur Handlung aufgefordert hatte.

"Ich werde Euch nicht enttäuschen, Buer" versprach er ihr insgeheim und ballte seine rechte Hand zur Faust.

Ja, er würde ihre Macht weise nutzen und sich die nötigen Informationen beschaffen, um entsprechend zu handeln.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend folgte Lumine dem Wanderer die vielen Stufen in den Untergrund hinab und konnte nichts gegen die anfängliche Furcht, die sich allmählich in ihrem Körper ausbreitete, tun.

Was erwartete sie im Untergrund?

Wurden sie vielleicht sogar schon von Aether erwartet?

Arbeitete er tatsächlich mit den Fatui zusammen?

Wie sollte sie sich ihm gegenüber verhalten, sofern sich dieser Verdacht bewahrheiten sollte?

Könnte sie ihm vergeben und sogar Verständnis für ihn aufbringen, wenn er ihr von seiner damaligen Reise durch Teyvat erzählte und ihr somit die ganze Wahrheit offenbarte?

Was war denn überhaupt die Wahrheit?

Sie wusste es nicht, stieg mit Kuni die restlichen Stufen hinab und folgte ihm zu einer großen Eisentür, die sich schließlich wie durch Geisterhand öffnete und einen recht großen Raum offenbarte, in dessen Zentrum eine Art Podest zu erkennen war, über dem etwas kleines Ding schwebte.
 

"Wie erwartet" kommentierte Kuni die Abwesenheit des Blonden, setzte seinen Weg mit Lumine fort und blieb mit ihr vor dem Podest stehen.

Vermutlich hatte sich Aether in dem Moment aus dem Staub gemacht, als er mit Buer und Paimon in das Bewusstsein der Reisenden eingedrungen war.

Ob er ebenso wusste, über welche Macht er, Kuni, im Augenblick verfügte?

Ja, vermutlich schon und mit eben jener Macht, die Buer ihm übertragen hatte, würde er nun entsprechend handeln.

"Ich nehme eine Analyse vor. Welchen Plan dein Zwillingsbruder mit dem göttlichen Herz verfolgt oder mit wem er möglicherweise zusammen arbeitet, ist im Augenblick irrelevant" informierte er Lumine aus reiner Vorsicht via Telepathie, weil er nicht ausschließen konnte, ob Aether ihre Gespräche aus der Ferne verfolgen konnte, erhob seine rechte Hand und berührte die unsichtbare Barriere.

"Relevant ist im Moment nur die Information, ob er tatsächlich das göttliche Herz an dein Leben geknüpft hat" erklärte er ihr und als er im Augenwinkel ihr zaghaftes Kopfnicken erkennen konnte, ließ er einen grünlichen Würfel um das göttliche Herz erscheinen, um mit der angekündigten Analyse zu beginnen.
 

Während Kuni die Augenlider senkte und sich vollends auf die Analyse konzentrierte, behielt die Blondine ihre Augen auf das göttliche Herz gerichtet.

Selbst wenn Kuni die Wahrheit in Erfahrung bringen konnte, änderte es nichts an der Tatsache, dass Aether sie für seine Machenschaften missbrauchte.

Für seinen Racheplan an die himmlische Ordnung.

Lautlos seufzend linste sie zu Kuni, der vor einigen Jahrhunderten ebenso den Weg der Rache eingeschlagen hatte.

Allerdings hatte er jene Rache aus eigener Kraft errungen.

Er hatte keinen Freund oder nahen Verwandten in eine vergleichbare Situation befördert, nur um an Stärke zu gewinnen.

Nachdenklich senkte Lumine ihr Augenmerk gen Boden und ballte ihre linke Hand zur Faust.

"Warum?" hauchte sie fragend und schüttelte mehrere Male ihren Kopf, um den Gedanken, den sie stets zu verdrängen versuchte, zu verscheuchen.

Wenn sie sich jenen Gedanken gestattete, stellte sie nicht nur ihre Erinnerungen in Frage.

Nein, sie würde unweigerlich sich selbst und ihre bisherige Reise in Frage stellen müssen.
 

"Analyse abgeschlossen" überging er vorerst ihre Gefühle, die ihm reine Verzweifelung übermittelten, öffnete seine Augen wieder und bedachte seine eingeschränkten Möglichkeiten.

Entgegen seiner insgeheimen Hoffnung, an die er sich geklammert hatte, hatte der Kerl tatsächlich die Wahrheit gesagt.

Die Wahrheit, die ihm unwillkürlich offenbarte, dass dem Blonden vermutlich nichts an der Frau an seiner Seite lag.

Eben jene Vermutung ließ ihn mit den Zähnen knirschen und bewegte seinen Zeigefinger, wodurch sich der grünliche Würfel samt göttliches Herz in seine Richtung bewegte.

"Vertrau mir" bat er Lumine einmal mehr in seinen Gedanken, ergriff das göttliche Herz mit der rechten Hand und hob unverzüglich seinen Blick, als Aether neben dem Podest erschien, die Arme vor der Brust verschränkt haltend und mit einem selbstsicheren Gesichtsausdruck.

Diese Gunst der Stunde nutzte er und versuchte sich Zugang zu dessen Gedankenwelt zu verschaffen, um weitere Informationen zu sammeln und stieß einen abfälligen Laut aus, als auf den Lippen des Blonden ein amüsiertes Lächeln erschien.

Innerlich zwang er sich zur Ruhe, obgleich er den starken Wunsch verspürte, Aether dieses dämliche Lächeln aus dem Gesicht zu schlagen und unternahm einen weiteren Versuch.

Als er erneut kläglich scheiterte, atmete er einmal tief durch und warf einen flüchtigen Blick zum göttlichen Herz hinab.

Was sollte er tun?

Sollte er das göttliche Herz vorerst mit einem Siegel versehen und in seinem eigenen Körper aufbewahren?

Nein, schlechte Idee.

Er wusste nicht, wie sich das Entfernen des göttlichen Herzen auf Lumine auswirkte.

Sollte er den Blonden vielleicht doch aus diesem Traum aussperren?

Irgendwie musste er ihnen doch genügend Zeit verschaffen können.

Sie brauchten kostbare Zeit, um in Erfahrung zu bringen, wie sie das göttliche Herz zerstören konnten, ohne das Leben der Frau zu gefährden, die ihm innerhalb weniger Tage so verdammt wichtig geworden war.
 

"Bisher verläuft alles wie geplant" offenbarte Aether und warf einen prüfenden Blick zu Lumine, deren Gedanken er lesen konnte und erfuhr unweigerlich von den vielen Fragen, die sie sich seit geraumer Zeit zu stellen schien.

Allerdings war er nicht gewillt, ihr jene Fragen zu beantworten, um ihr ihre insgeheime Furcht zu nehmen.

Die ganze Wahrheit würde sie eines Tages zum rechten Zeitpunkt erfahren.

Die Wahrheit, die sie unwillkürlich dazu zwingen würde, sich für eine Seite zu entscheiden.

"Die Frage, wieso du immer wieder seine Erinnerung durchleben musst, solltest du dir doch selbst beantworten können, oder nicht?" sprach er Lumine direkt an und belächelte den Wanderer, der nun vor sie trat, um ihn, Aether, daran zu hindern, weitere Blicke in ihre Gedankenwelt zu werfen.

"Von Anfang an war es meine Absicht, dich für meine Zwecke zu benutzen, Wanderer. Eine einfache Freundschaft hätte in meinen Augen schon vollkommen ausgereicht, aber das du ihr innerhalb weniger Tage mit Haut und Haar verfällst...". "Halt dein Maul" wurde er lautstark in seiner Ausführung unterbrochen und genoss es sichtlich, seinen Gegenüber aus der sonstigen Fassung zu bringen.

"Sei einfach eine artige Puppe und lege das göttliche Herz zurück. Du willst doch nicht die Verantwortung für etwaige Todesopfer übernehmen, oder?" befahl er und obwohl der Wanderer innerlich vor lauter Wut zu brodeln schien, folgte er seinem Befehl, nicht ohne ihn mit seinen stechenden Blick einmal mehr zu töten.

"Richtet der niederen Herrin Kusanali folgende Nachricht von mir aus" sagte Aether, löste die Verschränkung seiner Arme und legte einen ernsten Gesichtsausdruck auf.

"Sie sollte die vielen Aufzeichnungen in Irminsul mit Vorsicht genießen. Das jüngste Ereignis vor einigen Wochen sollte ihr schließlich vor Augen geführt haben, wie der Ursprung einer Geschichte beeinflusst werden kann, wenn die Aufzeichnung einer einzelnen Person gelöscht wird. Was ist die Wahrheit und was entspricht einer reinen Lüge? Auf diese Frage werdet ihr früher oder später die richtige Antwort finden" setzte er Lumine und den Wanderer in Kenntnis und warf einen letzten Blick zur Blondine, welche überhaupt nicht mehr zu wissen schien, was sie eigentlich noch glauben durfte und löste sich in Luft auf.
 

"Was ist die Wahrheit und was entspricht einer reinen Lüge?" hallte jene Frage in den Gedanken der Reisenden wieder, schluckte lautlos und erhob ihre linke Hand, um sich an die Stirn zu fassen.

Ein weiteres Mal kamen ihr die Worte der niederen Herrin in den Sinn, die sie stets zu verdrängen versuchte und blinzelte einige Male, als ihr vereinzelte Tränen in die Augen traten.

Sie wollte und konnte der Information einfach nicht glauben, dass Aether angeblich aus Teyvat stammen sollte, nur weil Aufzeichnungen von ihm in Irminsul existierten.

Außerdem besaß sie doch Erinnerungen mit ihm und ihrer vorherigen, gemeinsamen Reise durch ferne Welten.

Diese Erinnerungen konnten doch unmöglich eine Lüge sein.

"Vertraut euren eigenen Augen. Was ihr seht, ist real, was ihr nicht seht, ist eine Illusion" erinnerte sie sich an jene Worte, die diese unbekannte, weibliche Stimme geäußert hatte und schüttelte ihren Kopf.

Wie sollte sie denn künftig die Wahrheit von einer Lüge unterscheiden?

Die Berührung zarter Finger rissen sie aus ihren verworrenen Gedankengängen und bemerkte nun erst, dass sich Kuni zu ihr herum gedreht hatte und senkte ihre linke Hand wieder.

Das Gefühl der Schuld kroch in ihr empor, weil er ihretwegen von Aether erpresst wurde und öffnete bereits ihren Mund, um sich bei ihm zu entschuldigen, doch als er vereinzelte Tränen von ihren Wangen strich und schließlich gänzlich zu ihr heran trat, nur um sie in eine tröstende Umarmung zu schließen, entwich ihr lediglich ein leiser Schluchzlaut.
 

"Ich... Ich werde Nahida um den Gefallen bitten, dich von deinen jetzigen Auftrag zu entbinden" lauschte er ihrer brüchigen Stimme und stieß einen tiefen Seufzer aus.

"Selbst wenn Buer deine Bitte akzeptieren und mir den Auftrag entziehen würde, bedeutet das nicht, dass ich dir von der Seite weichen werde" erwiderte er ihr und löste sich ein minimales Stück von ihr, nur um ihr in die Augen zu blicken.

"Ich verstehe, dass du dich meinetwegen schuldig fühlst und du verhindern willst, dass er mich für seine Zwecke missbraucht, aber..." fuhr er wispernd fort und schüttelte seinen Kopf, als sie erneut ihren Mund öffnete.

"Du bist mir wichtig, Lumine. Ich kann nicht einfach in mein ursprüngliches Leben zurückkehren und die vergangenen Tage aus meinem Gedächtnis löschen" offenbarte er ihr telepathisch und beugte sich zu ihr vor, bis sich ihre Nasenspitzen berührten.

"Du... Du bist mir auch wichtig. Sehr wichtig sogar" wurde ihm geantwortet und fuhr mit seinem rechten Daumen über ihre linke Wange.

"Ich weiß" murmelte er, senkte seine Augenlider und überbrückte die letzten Zentimeter, um ihre Münder zu vereinen.
 

~
 

Nachdenklich starrte Nahida aus dem offenen Fenster und bedachte die Information, die sie vor wenigen Minuten von einer Ärztin erhalten hatte.

Wie vom Wanderer vermutet, hatte das Untersuchungsteam verdächtige Spuren am Grund der Kaffeetasse gefunden, die darauf hindeuteten, dass der Reisenden tatsächlich eine Art Schlafserum verabreicht worden war.

Jene Spuren wurden noch genauer untersucht und obwohl sie noch keinen endgültigen Bericht erhalten hatte, war sie bereits tätig geworden.

Sie hatte die Sicherheit innerhalb der Stadt erhöhen lassen und Mahamatra Cyno über diesen Anschlag in Kenntnis gesetzt.

In Zusammenarbeit mit Tighnari, der sich seit dem heutigen Morgen ebenfalls in der Stadt aufhielt, sollten sie sich in den Regenwald begeben und Ausschau nach einen verdächtigen Schatzräuber halten, der vor etwa einer halben Stunde Sumeru vollkommen überstürzt verlassen hatte.

Weit konnte der Verdächtige, der sich offenbar unbemerkt durch den Hintereingang ins Kaffeehaus geschlichen hatte, noch nicht gekommen sein.

Ob der Schatzräuber im Endeffekt tatsächlich in dieser Angelegenheit involviert war, würde sich durch eine genaue Befragung zeigen.

Sie und Paimon, welche sich zunehmend Sorgen um Lumine machte, konnten nur abwarten und hoffen, dass der Wanderer noch weitere Informationen erhielt.
 

"Lumine..." rief Paimon erleichtert, als ihre Freundin müde blinzelnd die Augen öffnete und flog unverzüglich zu ihr heran, nur um ihren Kopf mit ihren kurzen Armen zu umschließen.

"Keine... Keine Luft, Paimon" wurde ihr leise nuschelnd entgegnet, weshalb sie von ihrer Freundin abließ und sich mit weinerlicher Stimme bei der Blondine entschuldigte.

"Und Paimon tut es furchtbar leid, dass sie so viele, böse Dinge über den Wanderer gesagt hat" fügte sie ihrer Entschuldigung noch hinzu und schniefte leise.

"Nicht bei mir musst du dich entschuldigen" murmelte Lumine, nickte ihr verstehend zu und richtete ihr Augenmerk auf den Wanderer, der ihren Blick mit ausdruckloser Miene erwiderte.

"Ich benötige keine Entschuldigung" ergriff er einfach das Wort, noch bevor Paimon ihren Mund hätte öffnen können und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

"Anstatt einer unsinnigen Entschuldigung solltest du an deinen Manieren arbeiten, bevor du wie heute Morgen handelst" wurde sie abermals an die peinliche Situation heute Morgen erinnert und verdrehte ihre Augen.

"Wie kannst du nur so nachtragend sein? Paimon hat doch..." hielt sie ihm beleidigt vor und verstummte, als sich die niedere Herrin hörbar räusperte, welche inzwischen zu ihnen an das Bett heran getreten war und ihre linke Hand erhoben hatte, die offenbar der Wanderer ergreifen sollte.
 

Während sich Lumine vorsichtig aufsetzte und immer wieder blinzelte, um wahrscheinlich die anhaltende Müdigkeit zu vertreiben, sah Nahida abwartend zum Wanderer auf, der schließlich ihrer stummen Aufforderung folgte, ihre Hand ergriff und die Augenlider senkte, um mit der Übertragung der Macht zu beginnen, nicht ohne ihr von den Vorkommnissen im Traum und der Vorkehrung zu berichten, die er vor dem Verlassen des Traumes getroffen hatte, um sich künftig wieder Zugang zur Traumwelt der Reisenden zu verschaffen.

"Ich verstehe..." erwiderte Nahida nachdenklich, zog ihre linke Hand wieder zurück und bedachte die neuen Erkenntnisse.

"Jetzt kennen wir zumindest den Grund, wieso Lumine immer wieder deine Erinnerung durchlebt und besitzen Gewissheit bezüglich des göttlichen Herzen, dessen Zerstörung ihren Tod bedeuten würde" fasste sie die wohl wichtigsten Informationen zusammen, die sie in ihren Handlungsspielraum einschränkten und bedachte die Nachricht des Blonden.

Bevor sie ihn jedoch auf die Nachricht hätte ansprechen können, lenkte sie ihr Augenmerk auf Lumine, deren Gesichtszüge von Schmerz zeugten.
 

"Mein Kopf tut weh" dachte Lumine, fasste sich mit ihrer rechten Hand an die Stirn und zwang sich regelrecht dazu, ihre schweren Augenlider offen zu halten.

"Ich hole dir ein Glas Wasser" hörte sie Kuni leise sagen, der nach wie vor ihre linke Hand hielt und blinzelte weitere Male, um ihre leicht verschwommene Sicht ein wenig zu schärfen.

"Nein..." hielt sie ihn auf, übte leichten Druck um seine Hand aus und zwang sich, ihm direkt in die Augen zu sehen.

"Bleib einfach bei mir sitzen" bat sie ihn, rutschte ein minimales Stück zu ihm heran und bettete ihren Kopf auf seine linke Schulter.

"Bitte..." wisperte sie, vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge, als ihr vereinzelte Tränen in die Augen traten und nahm nur noch am Rande wahr, wie er leise Worte vor sich her murmelte und schließlich zögerlich seinen rechten Arm um sie legte.
 

Trotz der mehr als peinlichen Lage, in die Lumine ihn hinein manövriert hatte, machte er keinerlei Anstalten, sie auf die Matratze zurück zu legen und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Was war bloß aus ihm geworden?

Ein verweichlichter Vollidiot, der sich von seinen Gefühlen leiten ließ.

Wieso verspürte er keinen Ärger über diese unbestreitliche Tatsache?

Weil sie Schutz bei ihm suchte?

Weil er es selbst kaum ertragen konnte, sie in dieser Verfassung zu sehen?

Seine telepathischen Worte, die er im Traum an sie gerichtet hatte, hatte er vollkommen ernst gemeint.

Sie war ihm wirklich sehr wichtig geworden.

Vielleicht sogar wichtiger als sein eigenes Leben.

"Habe ich mich vielleicht doch in sie verliebt?" fragte er sich insgeheim und schreckte aus seinen Gedankengängen, als sich Buer zum wiederholtem Male räusperte und er von ihr die Informationen erhielt, dass sich in der Kaffeetasse der Reisenden verdächtige Spuren befunden hatten, die noch genauer analysiert wurden und sie bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen hatte, um die Sicherheit in der Stadt zu erhöhen.

Ebenso wurde ihm berichtet, dass sie bereits einem Verdächtigen auf der Spur waren und sie sich vorerst noch etwas in Geduld üben mussten.
 

"Und was die Nachricht betrifft... Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass vereinzelte Aufzeichnungen durch die Existenzlöschung weiterer Personen verändert oder gar verfälscht wurden" setzte sie den Wanderer in Kenntnis und richtete ihre Augen erneut auf die nun wieder schlafende Lumine, die sie vor geraumer Zeit mit Informationen versorgt hatte, welche möglicherweise nicht der Wahrheit entsprachen.

"Dementsprechend muss ich in Betracht ziehen, dass meine Vermutungen, die ich gegenüber Lumine und Paimon vor geraumer Zeit geäußert habe, nicht ganz der Wahrheit entsprechen. Was jedoch die Wahrheit ist und was einer reinen Lüge entspricht, kann ich dir zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht sagen" erläuterte sie ihm und legte nachdenklich ihre rechte Hand an ihr Kinn.

Diesbezüglich würde sie noch einige Nachforschungen anstellen müssen, denn wenn es tatsächlich weitere, solcher Fälle in der Vergangenheit gegeben hatte, war vermutlich auch wertvolles Wissen verloren gegangen.

Wertvolles Wissen, über welches die Fatui und der Orden des Abgrunds jedoch verfügten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen gemeinsamen Plan verfolgten, nahm immer weiter zu.

Mit dieser Wahrscheinlichkeit im Hinterkopf verabschiedete sie sich vorerst vom Wanderer, dessen Gesichtszüge ihr verrieten, dass er in seinen eigenen Überlegungen vertieft zu sein schien und warf einen letzten Blick zu Lumine, ehe sie auf den Absatz kehrte und mit Paimon das Haus verließ.
 

"Was ist die Wahrheit und was entspricht einer reinen Lüge?" wisperte Kuni nachdenklich vor sich her und richtete seine blauen Augen auf das offene Fenster, nur um in den wolkenlosen Himmel zu blicken.

"Die Sterne, der Himmel... Es ist alles ein riesiger Schwindel. Eine Lüge" erinnerte er sich an seine eigenen Worte, die er vor eineinhalb Jahren zur Reisenden, dieser Astrologin und dem kleinen Quälgeist gesagt hatte.

Offenbar wusste Aether ebenfalls um diese Lüge.

Wenn er, Kuni, in Erfahrung bringen konnte, was es mit diesem falschen Himmel auf sich hatte, würde sicherlich das gesamte Lügenkonstrukt in sich zusammen fallen und die unverfälschte Wahrheit ans Tageslicht kommen.

Bevor er jedoch die Suche nach jener Wahrheit in Angriff nehmen konnte, musste er eine Möglichkeit finden, um Lumine aus ihrer momentanen, sehr gefährlichen Lage zu befreien.

"Du wirst mich nicht töten, oder? Ich habe dir und deinem Kumpel doch schon alles gesagt, was ich weiß" lauschte Cyno der ängstlichen Stimme des Schatzräubers, den Tighnari und er noch vor der Abenddämmerung aufgespürt und schließlich nach einem kurzen Gefecht überwältigt hatten.

Nachdem sie ihn gefesselt und sich einen geeigneten Platz für ihr Nachtlager gesucht hatten, hatte der Mann, wohlwissend, dass er nicht mehr fliehen konnte, sein Schweigen gebrochen und ihnen mehr oder weniger von seiner präkeren Lage berichtet.

"Der Schuldeneintreiber sagte, dass er mir all meine Schulden erlässt, wenn ich im Gegenzug einen Auftrag für ihn erledige. Ich weiß zwar nicht, woher er die Information besaß, wo sich die Reisende mit ihrem Begleiter aufhält, aber er sagte, dass ich nicht zu viele Fragen stellen solle. Er wollte mir nicht einmal sagen, was sich in der kleinen Phiole befindet. 'Drei Tropfen in jede Kaffeetasse sollten ausreichen', hat er mich angewiesen. War das etwa Gift? Ich habe noch beobachtet, wie die Reisende in sich zusammen gesackt ist, bevor ich abgehauen bin, aber der Kerl, der bei ihr war... Wieso hat ihm diese Substanz nichts ausgemacht?" rief sich Cyno die gestrige Aussage des Schatzräubers ins Gedächtnis, den er im Anschluss gründlich durchsucht hatte, bis er besagte Phiole gefunden hatte.

Jene Phiole, welche eine durchsichtige Substanz beinhaltete, hatte er anschließend Tighnari übergeben, der direkt erste Untersuchungen angestellt hatte.

"Interessant... Normalerweise besitzen derartige Mittel einen äußerst unangenehmen Geruch, aber..." hatte Tighnari gemeint, ehe er einen einzigen Tropfen zu sich genommen hatte, nur um ihm zu berichten, dass jenes Mittel keinen Geschmack besaß.

Während der Schatzräuber vollkommen schockiert über die Untersuchungsweise über seines besten Freundes reagiert und ihn sogar als lebensmüden Spinner bezeichnet hatte, war Cyno die Ruhe in Person geblieben.

Als Tighnari schließlich die ersten Erkenntnisse notiert und einen Neutralisierungstrank zu sich genommen hatte, um die Wirkung der vorher eingenommenen Substanz weitgehend abschwächen zu können, hatten sie sich noch eine ganze Weile leise beraten.

Schließlich hatten sie die gemeinsame Entscheidung getroffen, dass sich Tighnari für ein paar Stunden ausruhen und noch vor Sonnenaufgang nach Sumeru aufbrechen sollte, um die Phiole schnellstmöglich den Ärzten zu übergeben und die niedere Herrin mit den neuesten Informationen zu versorgen.

Er, Cyno, hatte dementsprechend die ganze Nacht lang Wache gehalten und war vor drei Stunden, nachdem die Sonne aufgegangen war, mit seinen Gefangenen aufgebrochen, den er dem Regiment der Dreißig übergeben würde.

Ob Tighnari inzwischen weitere Informationen besaß?

Wusste er bereits, wieso der Mann mit dem großen Hut, den sie nur vom Sehen her kannten, dieser Substanz hatte widerstehen können?
 

Im selben Moment saß Tighnari auf einem Bett in der Klinik, nahm dankbar ein kühles Glas Wasser entgegen und versuchte die leichten Kopfschmerzen, die ihn schon seit Stunden plagten, weitgehend zu ignorieren und lauschte den Worten der Ärztin.

"Es muss sich um eine völlig neuartige Substanz handeln. Wir haben bereits mehrfach versucht, die genauen Inhaltsstoffe zu bestimmen, aber bisher keine brauchbaren Ergebnisse erzielt. Wir können nicht einmal sagen, wie genau diese Substanz hergestellt wurde" nahm Tighnari jene Informationen in sich auf und bedachte, was Cyno gestern Abend zu ihm gesagt hatte.

"Vor einigen Jahren, als wir selbst noch Studenten an der Akademie waren, wurde eine Weile an die künstliche Herstellung von Tränken und allgemeine Medizin geforscht. Ich selbst war zwar nicht Teil der damaligen Forschungsgruppe, aber ich besaß einen redseligen Studienkollegen, der mich regelmäßig auf den neuesten Stand brachte. Als ich jedoch hörte, dass sie ihre künstlichen Präperate an Menschen testen wollen, um schnellstmöglich Testergebnisse zu erzielen, habe ich meine werten Kollegen gemeldet. Im Anschluss wurde die gesamte Forschungsgruppe entlassen" hatte Cyno erzählt und er, Tighnari, konnte sehr wohl nachvollziehen, wieso sein bester Freund die Forschungsgruppe gemeldet hatte.

Es war strikt untersagt, neuartige Tränke oder gar künstlich erzeugte Mittel nach nur wenigen Wochen an Probanden zu testen.

Bis ein Trank oder ähnliche Substanzen ohne Risiken zugelassen werden konnte, musste es mehrere Verfahren durchlaufen, um die allgemeine Sicherheit zu gewährleisten.

Besaßen die Fatui etwa Kenntnis über diesen Vorfall, der doch schon einige Jahre lang zurück lag?

Ob er gleich, wenn er mit der niederen Herrin gesprochen hatte, welche er über seine Ankunft hatte informieren lassen, einmal nach Lumine sehen sollte?

"Mein Kopf..." klagte er seufzend, führte das Glas an seine Lippen und nahm mehrere Schlücke Wasser zu sich.
 

Nur etwa fünfzig Meter von der Klinik entfernt drehte sich Lumine auf den Rücken und erhob ihre rechte Hand, nur um ihren dröhnenden Kopf zu befühlen.

Als Kuni sie gestern Nachmittag geweckt hatte, war zwar die anhaltende Müdigkeit restlos verschwunden, aber diese starken Kopfschmerzen waren geblieben.

In manchen Momenten fühlte es sich sogar so an, als würde ihr Kopf jeden Augenblick zerspringen.

Am Abend war Kuni schließlich zur Klinik gegangen, hatte die Ärztin über ihre anhaltenden Kopfschmerzen informiert und hatte sie um ein einfaches Schmerzmittel gebeten.

"Reisende, unter den gegebenen Umständen darf ich Ihnen kein Schmerzmittel verabreichen. Aktuell wissen wir noch zu wenig über die Substanz und deren Wechselwirkung mit Tränken oder anderen Präperaten. Vorerst müssen wir abwarten, bis diese Substanz aus Ihrem Blutkreislauf verschwunden ist" hatte die Ärztin ihnen erklärt und obwohl sie versucht hatte, Kuni mögliche Risiken vor Augen zu führen, hatte er sie letzten Endes mit der klaren Aufforderung, sich mit dem dämlichen Untersuchungsverfahren zu beeilen, vor die Tür gesetzt.

Nur wenige Minuten hatte es erneut an der Tür geklopft, welche Kuni mit entsprechend schlechter Laune geöffnet hatte und hatte den Entschuldigungen der Inhaberin des Kaffeehauses und der Kellnerin, von welche sie bedient worden waren, gelauscht, die sie, Lumine, letzten Endes angenommen hatte.

Ihnen traf schließlich keine wirkliche Schuld.

Seufzend senkte sie ihre rechte Hand wieder, öffnete ihre schweren Augenlider, weil sie in der gesamten Nacht aus vielerlei Gründen keinen Schlaf gefunden hatte und drehte ihren Kopf zur linken Seite, nur um einen prüfenden Blick auf Kuni zu werfen, der schon eine ganze Weile vor dem Fenster stand und immer wieder unverständliche Worte vor sich her wisperte.

Seit gestern Nachmittag schien etwas Schwerwiegendes zu beschäftigen, was sich auf seine allgemeine Laune auswirkte.

Auf ihre Frage hin, was ihn beschäftigte, hatte er lediglich gemeint, dass sie sich keine Sorgen um ihn zu machen brauchte.
 

Noch bevor Kuni, dessen Geduld bereits am seidenen Faden hing und zu reißen drohte, einen abfälligen Laut hätte ausstoßen können, erblickte er Buer in Begleitung des Quälgeistes, welche, ohne ihn eines einzigen Blickes zu würdigen, an der Unterkunft vorbei wanderten und offenbar auf dem Weg zur Klinik waren.

"Was habt Ihr vor, Buer?" fragte er sich insgeheim, denn die Tatsache, dass dieser Waldhüter, den er einst mit einem Blitz außer Gefecht gesetzt hatte, vor einer halben Stunde ebenfalls zur Klinik geeilt war, konnte unmöglich ein Zufall sein.

War der Kerl etwa involviert worden?

Verärgert darüber, dass er nicht informiert wurde, knirschte er mit den Zähnen und machte auf den Absatz kehrt, nur um rasch in seine Schuhe zu schlüpfen.

"Ich gehe zur Klinik" informierte er Lumine über sein Vorhaben, trat schließlich auf die Tür zu, die er ohne weitere Umschweife öffnete und blieb im Türrahmen noch einmal stehen.

"Und wenn ich wieder zurück bin, solltest du eine Kleinigkeit essen. Dein Körper benötigt Nahrung" fügte er noch hinzu, weil sie seit dem gestrigen Morgen nichts mehr gegessen hatte.

"Okay..." wurde ihm leise entgegnet, drehte seinen Kopf ein minimales Stück und warf einen letzten, prüfenden Blick zu Lumine, deren Gesichtsausdruck ihm verriet, dass sie noch immer unter sehr starken Kopfschmerzen litt.

"Bis später" verabschiedete er sich von ihr, trat schließlich ins Freie, ohne auf ihre Verabschiedung zu warten und zog die Tür ins Schloss.

Anschließend machte er sich zügigen Schrittes auf dem Weg zur Klinik, die vielen Blicke der Menschen ignorierend, welche einen weiten Bogen um ihn machten.
 

"Der Schatzräuber wurde von einem Schuldeneintreiber beauftragt. Cyno vermutet, dass die Fatui ihr weitreichendes Netzwerk genutzt haben, um ihn mit den notwendigen Informationen zu versorgen. Wozu diese Aktion dienen sollte, konnte er uns allerdings nicht sagen. Laut seiner Aussage war der Schuldeneintreiber nicht sonderlich gesprächig und hat ihm lediglich ihren genauen Aufenthaltsort und die Dosis, die er in die Kaffeetassen träufeln sollte, verraten" berichtete Tighnari, nahm einen weiteren Schluck Wasser zu sich und stieß einen klagenden Seufzer aus.

"Die Ärztin berichtete mir eben, dass Lumine seit dem gestrigen Tag unter starken Kopfschmerzen leidet. Wahrscheinlich eine Nebenwirkung von dieser Substanz" fuhr er fort und überreichte der niederen Herrin seine Notizen, nicht ohne ihr von der Vermutung seines besten Freundes zu berichten, was die eventuelle Herstellungsweise betraf.

"Wenn Ihr genaue Informationen benötigt, solltet Ihr ihn selbst fragen. Er dürfte ohnehin in Kürze mit dem Schatzräuber eintreffen" fügte er noch ergänzend hinzu und senkte für einen kurzen Moment seine Augenlider.

Als er jedoch ein verdächtiges Geräusch vom gekippten Fenster her hörte, öffnete er seine Augen wieder und erhob sich vom Bett.

Zügig trat er zum Fenster heran, spähte durch die Glasscheibe und suchte die Umgebung vor der Klinik mit seinen Augen ab.

"War wohl nur eine Einbildung" dachte er, kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und drehte sich wieder zur niederen Herrin herum.

"Niedere Herrin Kusanali, wieso ist dieser Mann, der Lumine zum Kaffeehaus begleitet hat, von der Wirkung dieser Substanz verschont geblieben?" stellte er jene Frage, die nicht nur ihn, sondern auch Cyno seit dem gestrigen Abend beschäftigte und sah die kleine Göttin und Paimon abwartend an.
 

"Sag schon. Welche Strafe erwartet mich? Ihr werdet mich doch nicht etwa hinrichten?" rief der Schatzräuber dem Mahamatra zu und sah die beiden Männer, an die er soeben übergeben worden war und offensichtlich dem Regiment der Dreißig angehörten, nacheinander an.

"Gute Frage" erwiderte Cyno nüchtern und verschränkte seine Arme vor der Brust.

"Unbefugtes Eindringen ins Kaffeehaus und zweifache Körperverletzung, die dir sogar als Mordversuche ausgelegt werden könnten. Schließlich wusstest du nicht, was die Substanz in der Phiole bewirkt. Folglich hast du ihren möglichen Tod missbilligend in Kauf genommen" dachte er laut über die Sünden nach, die sein Gegenüber begangen hatte, löste die Verschränkung seiner Arme wieder und setzte sich in Bewegung.

Direkt neben dem Schatzräuber blieb er noch einmal stehen, dessen Angstschweiß er förmlich riechen konnte und beugte sich zu dessen linken Ohr vor.

"Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass ein gerechtes Urteil über dich gefällt wird" wisperte er ihm noch zu, entlockte ihm einen erschrockenen Laut und setzte, ohne auf eine Antwort zu warten, seinen Weg fort.

Der Schatzräuber mochte zwar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich fallen, aber gemeinsam mit Tighnari würde er schon dafür Sorge tragen, dass er eine lange Haftstrafe erhielt.

Mit jenem Entschluss trat er an der Abenteuergilde vorbei, grüßte Kathryne nickend und blieb wie angewurzelt vor dem Antiquitätenhändler stehen, als verzweifelte Hilferufe an seine Ohren drangen.

Sofort ruckte sein Kopf in die rechte Richtung und erblickte den Mann, der am gestrigen Morgen schon für Aufsehen gesorgt hatte und augenscheinlich gerade seinen Rachedurst stillte.
 

Blind vor Wut hielt Kuni den Kerl, der auf den Namen Viktor hörte, mit der rechten Hand in die Höhe, schnürrte ihm die Luft zum Atmen ab und knirschte ungehalten mit den Zähnen.

"Wenn du mir nicht allmählich auf meine Fragen antwortest, blase ich dir die Lichter aus" zischte Kuni bedrohlich, lockerte seinen Griff um dessen Hals, wodurch Viktor röchelnd auf die Knie hinab fiel und einige Male hustete, während er verzweifelt nach Luft schnappte.

Zum ersten Mal seit Wochen bedauerte er es, seine Existenz aus Irminsul gelöscht zu haben.

Er, der einstige sechste Harbinger, welcher den Titel Scaramouche getragen hatte, war für seine grausame Art bekannt gewesen.

Er, der unmenschliche Foltermethoden bevorzugt hatte, um Personen zum Reden zu zwingen.

Er, der selbst vor seinen eigenen Untergebenen keinerlei Skrupel verspürt hatte, wenn sie es sich gewagt hatten, ihn mit dämlichen Fragen zu behelligen oder ihm gar zu widersprechen.

Eine alte Erinnerung tauchte vor seinem geistigen Auge auf, in der er einem seiner damaligen Untergebenen Finger um Finger gebrochen hatte, denn er hatte es sich tatsächlich gewagt, ihn als kleinen Wicht zu bezeichnen.

Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass er auf seine Körpergröße reduziert worden war.

"Mach endlich dein verdammtes Maul auf, sonst..." forderte er Viktor erneut zum Reden auf und unterbrach sich, als er eine flinke Bewegung im linken Augenwinkel bemerkte und wich mit einem gewaltigen Satz zurück, um der Klinge des goldenen Sperres, welche sicherlich seine Wange gestreift hätte, zu entgehen.
 

Noch bevor Cyno seine Stimme hätte erheben können, nutzte Viktor die Gunst der Stunde, kämpfte sich überhastet auf die Beine und ergriff die Flucht.

Viktor war jedoch im Augenblick das geringste Problem, der sich zu einem späteren Zeitpunkt einer ausführlichen Befragung unterziehen würde müssen, wie auch die übrigen Fatui, die sich momentan in der Stadt aufhielten.

Das größere Problem waren die zahlreichen Menschen, die durch die vorherigen Hilferufe angelockt worden waren und die gesamte Situation beobachtet hatten.

In seinen Gedanken ging er bereits verschiedene Möglichkeiten durch, um die eingetretene Situation weitgehend zu entschärfen, doch als plötzlich eine rothaarige Frau mit blauen Augen aus der Menschenmenge heraus tat und ihnen applaudierte, entspante er sich und senkte seinen Speer gen Boden.

"Eine exzellente Darbietung" rief die Rothaarige begeistert lächelnd, welche den Namen Nilou trug und animierte die Menschen um sich herum dazu, ihrem Beispiel zu folgen.
 

Während Cyno den folgenden Worten der Tänzerin lauschte, welche sich im Namen des Theaters Zubayr für den gestrigen Vorfall und die jetzige Situation bei den anwesenden Menschen entschuldigte, bemühte sich Kuni allmählich zur Ruhe und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Als diese Nilou, die sich hoher Beliebtheit in Sumeru erfreute, schließlich verkündete, dass das Theater momentan an einem neuen Theaterstück arbeitete, bei dem er, Kuni, die Hauptrolle spielen würde, verfinsterten sich seine Gesichtszüge.

"Die niedere Herrin hat uns den Wanderer wärmstens empfohlen" fügte sie noch hinzu, faselte etwas von seinen herausragenden Talenten und von einer angeblich improvisierten Darbietung, um die Menschen von besagten Talenten zu überzeugen.

"Als wir allerdings von den vielen Beschwerden hörten, die die niedere Herrin im Laufe des gestrigen Tages erhalten hat, beschlossen wir..." versuchte die Rothaarige zu erklären und brach ihren Satz im jenen Moment ab, als er einen abfälligen Laut ausstieß, die Verschränkung seiner Arme wieder löste und sich ohne jeglichen Kommentar zu dieser dämlichen Geschichte in Bewegung setzte.

"Warte..." drang die Stimme des Mahamatra an seine Ohren und schlug dessen Hand, die seine linke Schulter hatte ergreifen wollen, harsch zur Seite.

"Fass mich nicht an" ermahnte er ihn, denn er hatte gerade verdammt schlechte Laune und drängte sich anschließend durch die Menschenmenge.
 

"Vorsichtshalber werde ich ihm folgen" richtete Cyno seine Worte an Nilou, bedankte sich nickend bei ihr, obgleich er sich selbstverständlich fragte, was sie dazu bewogen hatte, den Wanderer, wie sie den Mann zuvor betitelt hatte, aus dieser Misere zu helfen und setzte sich zügigen Schrittes in Bewegung.

Nach nur einer Minute hatte er den Mann, der offenbar ein leises Gespräch mit sich selbst führte und immer wieder abfällige Laute ausstieß, nur um seiner momentanen Wut genügend Ausdruck zu verleihen, bereits eingeholt und folgte ihm mit gewissen Abstand.

Konnte er dem Wanderer überhaupt Vorwürfe machen?

Wie weit wäre er mit Viktor gegangen, wenn er, Cyno, ihn nicht aufgehalten hätte?

Wäre es zwischen ihnen möglicherweise sogar zum Kampf gekommen, wenn Nilou nicht zum rechten Zeitpunkt erschienen wäre und diese mehr als offensichtliche Notlüge erzählt hätte, um Schlimmeres zu verhindern?

"Die niedere Herrin hat uns den Wanderer wärmstens empfohlen" erinnerte er sich an die Worte der Tänzerin, was ihn zu der Vermutung führte, dass die niedere Herrin diese Notlüge veranlasst hatte, um den Wanderer vor weitreichenden Konsequenzen zu bewahren.

"Sie wusste offenbar, dass er in Aktion treten wird" mutmaßte er gedanklich und blieb abrupt stehen, als sich der Mann vor ihm herum drehte und ihn mit tödlichen Blicken durchbohrte.

Nach nur wenigen Sekunden, in denen er den Blickkontakt hielt, wanderten die blauen Augen jedoch gen Boden und offenbarten ihm eine schier endlos erscheinende Verzweifelung.
 

"Ich habe versagt" murmelte Kuni und bedachte die Tatsache, dass sich in seinem Kaffee ebenfalls diese Substanz befunden hatte.

Nichts hatte er bemerkt.

Er hatte weder etwas Ungewöhnliches aus dem Kaffee heraus geschmeckt, noch hatte sein Körper in irgendeiner Art und Weise reagiert.

Nicht einmal Kopfschmerzen besaß er.

Wie sollte er Lumine in Zukunft vor weiteren, möglichen Anschlägen schützen?

War er, eben weil er eine Puppe war, nicht denkbar ungeeignet, um ihren Schutz zu gewährleisten?

Diese und ähnliche Fragen, die ihn einfach nur aufwühlten und enorme Selbstzweifel in ihm erweckten, brachten ihn beinahe um den gesunden Verstand und erhob seine linke Hand, um sich an die Stirn zu fassen.

Seine Emotionen waren momentan ein einziges Chaos.
 

"Als Mahamatra unterliege ich der Pflicht, derartige Verbrechen zu vereiteln und zu verfolgen, aber als Freund der Reisenden besitzt du mein vollstes Verständnis" durchbrach Cyno die Stille, trat schließlich zum Wanderer heran und verschränkte seine Arme vor der Brust.

"Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass es auch mich manchmal sehr viel Kraft kostet, mich in Selbstbeherrschung zu üben. Vor allem wenn ich Aufträge erhalte, in denen Frauen und Kinder als Geisel genommen werden, fällt es mir sehr schwer, die Täter nach dem vorgegebenen Regelwerk zu behandeln" fuhr er fort, um dem Wanderer vor Augen zu führen, dass er dessen jetzige Lage durchaus verstehen konnte.

"Versuche dich zu sammeln und denke darüber nach, was im Augenblick in deiner persönlichen Macht steht und überlasse die Befragung der Fatui dem Regiment der Dreißig, der niederen Herrin und mir. Die Fatui werden ihre gerechte Strafe erhalten, du hast mein Wort" fügte er noch hinzu und löste die Verschränkung seiner Arme wieder.

Anschließend erhob er seine rechte Hand und hielt sie dem Wanderer hin, um sein Versprechen mit einem simplen Handschlag zu besiegeln.

Hörbar atmete der junge Mann vor ihm aus, fuhr sich anschließend mit der linken Hand durch sein Haar und sah ihm für einen kurzen Moment in die Augen, ehe er ihm den Rücken kehrte und setzte ohne ein weiteres Wort seinen Weg fort.

"Ich brauche kein Mitleid" murrte er lediglich, weshalb Cyno einen lautlosen Seufzer ausstieß und senkte seine Hand wieder.

Er verspürte zwar das Bedürfnis, ihm zu widersprechen, aber letzten Endes beließ er es bei dessen Meinung und folgte ihm schweigend.
 

Mit unzufriedener Miene, weil ihm im Moment so viele Sachen gegen den Strich gingen, näherte sich Kuni der Unterkunft und warf nur einen flüchtigen Blick zur Klinik.

Wenn Buer glaubte, dass er sich ihrem Willen beugte und bei einem Theaterstück mitwirkte, irrte sie sich gewaltig.

Auf gar keinen Fall würde er sich zum Affen machen, nur weil er ihrer Meinung nach mit vielen Talenten gesegnet war.

Mit einem weiteren, abfälligen Laut trat er auf die Tür zu, betätigte die Klinke und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, als er diesen Waldhüter erblickte, der neben Lumine auf der Bettkante saß und gerade irgendeine grünliche Substanz auf ihre Stirn schmierte.

"Hey..." wurde er von Lumine begrüßt, die ihn aus seinen unzähligen Gedanken riss und wich ihren goldenen Augen aus vielerlei Gründen aus.

Ob sie bereits wusste, dass er Viktor zur Rechenschaft hatte ziehen wollen?

Würde sie ihm Vorwürfe machen, weil er seinen Gefühlen keinen Einhalt hatte bieten können?

Letzten Endes war er doch nur ihretwegen in Aktion getreten.

Ja, um irgendwie Wiedergutmachung zu leisten, weil er versagt hatte.

Seinetwegen war sie erst in die jetzige Lage gekommen.

Seinetwegen war sie ihrem Zwillingsbruder begegnet, dessen Worte etliche Zweifel in ihr ausgelöst hatten.

Seinetwegen hatte sie in der vergangenen Nacht überhaupt nicht geschlafen, war immer wieder ihren Tränen erlegen gewesen und hatte sich selbst Vorwürfe eingeredet, nur weil sie kein einziges Mal ihre Stimme gegenüber Aether erhoben hatte.

Nicht einmal ausreichend Trost hatte er ihr spenden können.
 

Tighnari erhob sich, obgleich er noch immer viele Fragen besaß und stellte die Schale mit der Minzpaste auf den Nachtschrank ab, die er zuvor für Lumine hergestellt hatte, um zumindest ein wenig ihre anhaltenden Kopfschmerzen zu lindern und sah noch einmal zur Blondine hinab.

Weder hatte er nähere Informationen zu dem Mann erfahren, der zuvor tatsächlich beim gekippten Fenster gelauscht haben musste, noch wusste er, von wem die Knutschflecke an ihrem Hals stammten.

Die vage Ahnung, dass der Kerl, welcher nach wie vor im Türrahmen stand und es nicht wagte, der Reisenden in die Augen zu sehen, für jene Knutschflecke verantwortlich war, beschlich ihn und stieß einen lautlosen Seufzer aus.

"Wie wir mit der niederen Herrin besprochen haben, werden Cyno und ich der Befragung der Fatui beiwohnen, die heute Mittag stattfinden wird" setzte er Lumine in Kenntnis, wünschte ihr noch eine gute Besserung und verabschiedete sich im Anschluss von ihr.

"Danke, Tighnari. Ich weiß eure Hilfe wirklich zu schätzen" wurde ihm leise entgegnet, nickte ihr noch einmal lächelnd zu und trat an den jungen Mann vorbei, der sich augenscheinlich äußerst unwohl in der Haut zu fühlen schien.

Als er jedoch Cyno mitten auf dem Weg erblickte, vergaß er vorerst all seine Fragen und trat auf ihn zu.
 

"Du wirkst unzufrieden" stellte Cyno mehr oder weniger für sich selbst fest und verschränkte seine Arme vor der Brust.

"Ich besitze allen Grund, um unzufrieden zu sein. Letzten Endes habe ich nicht erfahren, warum er von der Wirkung dieser Substanz verschont geblieben ist, weil wir von der Ärztin unterbrochen und neue Informationen erhielten. Stimmt es, dass er Viktor in die Mangel genommen hat?" erwiderte sein Kollege, nickte ihm verstehend zu und bejahte dessen letzte Frage.

"In die Mangel genommen ist weit untertrieben" merkte Cyno an, löste die Verschränkung seiner Arme wieder und berichtete Tighnari von jener Lage, die ein weiteres Mal für Aufsehen gesorgt hatte, ehe Nilou aus der Menschenmenge heraus getreten war und diese unglaubliche Geschichte erzählt hatte.

"Mit deiner Erzählung bestätigst du meinen insgeheimen Verdacht" murmelte Tighnari und haderte mit sich selbst.

"Welchen Verdacht?" hinterfragte Cyno und sah seinem Kollegen eine gewisse Unsicherheit an.

"Lumine..." begann Tighnari und holte einmal tief Luft, um sich scheinbar folgende Worte noch einmal zu überlegen.

"Lumine besitzt zwei Knutschflecke am Hals" wurde ihm schließlich offenbart und starrte Tighnari mit ausdrucksloser Miene an.

"Verstehe..." wisperte er, senkte seinen Blick gen Boden und versuchte seine Emotionen mit aller Kraft unter Verschluss zu halten.

"Wir sollten aufbrechen" wechselte er das Thema und noch bevor er sich hätte in Bewegung setzen können, ergriff sein bester Freund seine rechte Schulter und hielt ihn vor einer möglichen Flucht ab.
 

"Seit zwei Monaten spiele ich schon den stillen Beobachter" warf Tighnari ihm vor, zog seine Hand wieder zurück und fasste sich an die Stirn.

"Deine heimlichen Blicke und deine nicht gerade lustigen Witze, mit denen du sie zum Lachen bringen wolltest, sind mir keineswegs entgangen, als wir mit ihr essen waren" hielt er ihm sein Verhalten vor, senkte seine Hand wieder und stieß einen verzweifelten Seufzer aus.

"Cyno, ich bin dein bester Freund. Hast du wirklich geglaubt, dass du deine Gefühle vor mir verbergen kannst?" wollte er in Erfahrung bringen und nun war es sein bester Freund, der einen tiefen Seufzer ausstieß und sein Augenmerk gen Himmel richtete.

"Was hätte ein Liebesgeständnis verändert?" wurde ihm entgegnet und obwohl Tighnari sehr wohl wusste, worauf Cyno hinaus wollte, teilte er seine Meinung nicht.

"Vielleicht nicht viel, aber...". "Lumine ist nur auf der Durchreise. Eines Tages wird sie Sumeru verlassen" führte sein bester Freund ihm unterbrechend vor Augen und auch wenn er sich dieser Tatsache völlig bewusst war, hielt er dessen Schweigen für den vollkommen falschen Weg.

"Mach dir keine Sorgen um mich, Tighnari. Wir sollten uns jetzt voll und ganz auf die Befragung konzentrieren" sagte Cyno noch abschließend, ehe er sich in Bewegung setzte und ihn, Tighnari, mit gemischten Gefühlen zurück ließ.

"Idiot" schimpfte er ihn wispernd, warf einen letzten Blick zur nun geschlossenen Tür der Unterkunft und dachte an die verpasste Chancen seines besten Freundes, der seiner Meinung nach zumindest einen einzigen Versuch hätte wagen sollen.

Stattdessen zog er es augenscheinlich vor, sich nun in die Arbeit zu stürzen, um vermutlich dem quählenden Gefühl der unerwiderten Liebe zu entkommen.
 

"Deswegen besaß er Verständnis" dachte sich Kuni, schluckte schwer und verfluchte im jenen Moment seine mechanischen Ohren, mit denen er ungewollt dieses aufschlussreiche Gespräch hatte belauschen können.

Mit diesen neuen Informationen, die ihn noch zusätzlich belasteten, stieß er sich von der Tür ab und bedachte noch einmal den heutigen Morgen.

Er hatte sich selbst, eben weil er mit seinen Nerven am Ende war, in gehörige Schwierigkeiten gebracht.

Wenn der Mahamatra und diese Nilou ihn nicht aufgehalten hätten, hätte er Viktor sämtliche Knochen gebrochen.

Vor den Augen zahlreicher Menschen, deren Anwesenheit ihm vollkommen egal gewesen war.

Hätte dieser Cyno ihn in Haft genommen, wenn er nicht das notwendige Verständnis für ihn aufgebracht hätte?

"Verdammt" fluchte er gedanklich, trat auf die kleine Anrichte zu und versuchte sich vorerst auf das Frühstück zu konzentrieren.

Er musste sich unbedingt ablenken und seine wirren Gefühle sortieren, die ihn erst in Schwierigkeiten gebracht hatten.

Als sich Lumine jedoch in eine aufrechte Sitzposition quälte und nur wenige Sekunden später aus dem Bett stieg, hielt er mit dem Messer inne, mit dem er Dämmerfrüchte in kleine Häppchen schnitt und riskierte nun doch einen Blick in ihre Richtung.

Eine ganze Weile sah er ihr forschend in die Augen und konnte sehr wohl erkennen, wie müde sie doch eigentlich war und dennoch trat sie schließlich langsamen Schrittes auf ihn zu und bettete ihren Kopf auf seine linke Schulter.
 

"Tighnari, Paimon und Nahida haben mir vorhin Bericht erstattet" durchbrach Lumine die anhaltende Stille und konnte ihm vom Gesicht ablesen, dass er das folgende Gespräch mit ihr fürchtete.

"Glücklicherweise hat Nahida im Vorfeld vereinzelte Maßnahmen getroffen, um dich vor weitreichenden Konsequenzen zu bewahren und um die Menschen, die du gestern Morgen mit deinen Äußerungen verärgert hast, zu beruhigen" fuhr sie fort und schmunzelte, als er einen abfälligen Laut ausstieß.

"Ich spiele in keinem Theaterstück mit" murrte er, nahm seine vorherige Tätigkeit wieder auf und machte einen äußerst unzufriedenen Eindruck auf sie.

"Wie schade" erwiderte sie ihm neckend, nicht ohne ihm zu verraten, dass sie ihn sehr gern bei einem exotischen Tanz beobachtet hätte.

"Sei still und iss" wurde sie von ihm auf seine übliche Art ermahnt, ehe er das Messer ablegte und eines der Fruchtstücke ergriff, welches er ihr auffordernd vor ihren Mund hielt.

"Nur wenn du mir versprichst..." entgegnete sie ihm und verstummte durch das Fruchtstück, welches er ihr einfach in den Mund schob, nur um sie zum Schweigen zu bringen.

Bevor er seine Hand jedoch wieder zurück ziehen hätte können, ergriff sie sein Handgelenk und senkte ihre Augenlider, während sie ihre Zungenspitze genießerisch über seine Fingerkuppen gleiten ließ, um sie vom köstlichen Fruchtsaft zu befreien.
 

Obgleich der trübsinnigen Gedanken und der Selbstzweifel, die ihn seit dem gestrigen Tag belasteten, konnte er sich den Gefühlen, die sie immer wieder in ihm entfachte, nicht erwehren, drehte sich zu ihr herum und zog seine Hand mit sanfter Gewalt zurück, nur um seine Lippen auf ihren leicht geöffneten Mund zu pressen.

Selbst wenn er denkbar ungeeignet für diesen Auftrag sein mochte, würde er besagten Auftrag keiner anderen Person überlassen.

Er wollte es sein, der sie beschützte.

Er wollte es sein, der sie tröstend in die Arme schloss, wenn sie Kummer hatte.

Er wollte es verdammt noch mal sein, der ihr ein glückliches Lächeln auf die Lippen zauberte.

"Ich..." setzte er zwischen ihren Küssen zum Sprechen an und versuchte nicht an den Mahamatra zu denken, der Lumine tiefgründigere Gefühle entgegen brachte.

Obwohl der Kerl augenscheinlich beschlossen hatte, jene Gefühle vor ihr zu verheimlichen, stufte er ihn dennoch als gefährlichen Konkurrenten ein.

"Ich will..." erhob er abermals seine Stimme und versuchte verzweifelt das abscheuliche Gefühl in ihm zu ignorieren.

Dieses verdammte Gefühl, welches Buer als Eifersucht betitelt hatte.

Mit jenem Gefühl löste er sich von ihren sündhaft weichen Lippen und senkte seine Stirn auf ihre linke Schulter hinab.
 

"Möchtest du mir nicht endlich sagen, was dich seit gestern Nachmittag beschäftigt?" murmelte Lumine fragend und fuhr mit den Fingern ihrer rechten Hand durch sein Haar.

"Habe ich etwas gesagt oder getan, womit du nicht umgehen kannst?" stellte sie eine weitere Frage und dachte an die vergangene Nacht zurück, in der sie mehr als nur einmal in Tränen ausgebrochen war.

Sie hatte sich etliche Vorwürfe gemacht.

Vorwürfe, weil sie sich von ihrer Furcht hatte lähmen lassen, anstatt ihren Zwillingsbruder zur Rede zu stellen.

Sie hatte sich einfach vor der Wahrheit gefürchtet, von der Aether gesprochen hatte.

"Nein, hast du nicht" wurde sie von seiner leisen Stimme aus ihren Erinnerungen gerissen, ehe er sich wieder aufrichtete und seine rechte Hand auf ihre linke Wange legte.

"Gestern Mittag, als du geschlafen hast, wollte ich eigentlich in aller Ruhe lesen, aber meine Gedanken störten immer wieder meine Konzentration" brach er endlich sein Schweigen und senkte seinen Blick gen Boden.

"Wenn ich achtsamer gewesen wäre, hätte ich diesen Schatzräuber bemerkt, aber...". "Dich trifft keine Schuld, falls du das tatsächlich denkst" widersprach sie ihm unterbrechend und hob überrascht ihre Augenbrauen, als ihm ein bitteres Lachen entwich.

"Ach ja? Warum habe ich dann versagt? Weil ich von unserem Date abgelenkt war? Weil ich eine Puppe bin, deren Körper immun gegen derartige Substanzen ist? Weil ich..." brachen all seine unsinnigen Gedanken aus ihm heraus und beugte sich ruckartig zu ihm vor, um ihn mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen und um zu verhindern, dass er sich in Rage redete und etwas Unsensibles sagte.
 

"Lumine, ich...". "Sei endlich still, du dämlicher Idiot" wurde er harsch unterbrochen und ließ sie schließlich gewähren, öffnete bereitwillig seinen Mund und empfing ihre Zunge.

Ja, er war ein dämlicher Idiot.

Ein dämlicher Idiot, der kompliziert war, zu zerstörerischen Wutausbrüchen neigte und etliche Ängste besaß.

Ein dämlicher Idiot, der seit Tagen immer wieder Höhen und Tiefen durchlebte.

Ein dämlicher Idiot, der sich gerade einfach nur von seinen eigenen, wirren Gefühlen beherrschen ließ und sich wünschte, eben jene Gefühle einordnen zu können.

"Warte..." bat er sie, löste sich ein minimales Stück von ihr und öffnete seine blauen Augen einen minimalen Spalt breit.

"Du bist doch nicht nur verknallt in mich, oder?" fragte er sehr leise nach, obwohl er sich ihre Antwort bereits denken konnte.

"Ist das nicht mehr als offensichtlich?" antwortete sie ihm mit einer berechtigten Gegenfrage, nickte ihr wissend zu und drehte seinen Kopf nachdenklich zur Seite.

"Doch, aber..." murmelte er und verstummte durch die Berührung ihrer Hände, die sich um sein Gesicht legten und seinen Kopf in ihre Richtung zurück drehten.
 

"Kuni, ich sehe dir doch an, dass du mir diese Frage nicht ohne berechtigten Grund gestellt hast. Belasten dich etwa meine Gefühle?" versuchte sie in Erfahrung zu bringen und konnte in seinen blauen Augen eine Mischung aus Unsicherheit und Furcht erkennen.

"Nein..." entgegnete er ihr zögerlich, ergriff ihre Hände und stieß einen verzweifelten Seufzer aus.

"Vorhin haben sich der Waldhüter und der Mahamatra noch eine Weile vor dem Haus unterhalten. Durch meine mechanischen Ohren konnte ich das gesamte Gespräch verfolgen" wurde ihr schließlich offenbart und merkte seiner Miene an, dass er ihr den genauen Inhalt dieses Gespräches ungern verraten wollte.

"Und ich habe etwas erfahren, womit ich nicht umgehen kann" fuhr er erklärend fort und ergriff ihre Hände, welche nach wie vor sein Gesicht umrahmten und löste sich weitgehend von ihr.

Für einen kurzen Moment schien er mit sich selbst zu hadern und dachte augenscheinlich angestrengt, ehe er seinen Kopf schüttelte und einen leisen Seufzer ausstieß.

"Hast du noch Kopfschmerzen?" wechselte er schließlich dieses offenbar für ihn sehr unangenehme Thema, nickte ihm zaghaft zu und lauschte seiner leisen Anweisung, sich zurück ins Bett zu legen.

Was hatte er bloß aus dem ungewollt belauschten Gespräch erfahren?

Womit konnte er nicht wirklich umgehen?

Sie hatte absolut keine Ahnung, bedachte Kuni noch mit einen letzten, prüfenden Blick und kehrte schließlich grübelnd zu ihrem Bett zurück.

Schon seit einer Stunde verfolgte Tighnari die angeordnete Befragung aus dem Hintergrund und begann sich allmählich die berechtigte Frage zu stellen, ob sie möglicherweise an der Nase herum geführt wurden.

Obwohl die niedere Herrin im Vorfeld mit dem Schatzräuber gesprochen und eine Wissenskonserve mit dessen Erinnerung angefertigt hatte, welche als Beweis diente, wies Vsevolod sämtliche Vorwürfe zurück.

Er hatte sogar die Behauptung in den Raum geworfen, dass sie ihm und seinen Untergebenen diesen Anschlag auf die Reisende anhängen wollten.

Entweder war Vsevolod ein sehr guter Schauspieler, der sich aus der Affäre zu ziehen versuchte oder er sagte tatsächlich die Wahrheit.

Glücklicherweise musste er nicht beurteilen, ob die Fatui schuldig oder unschuldig waren.

Diese Aufgabe überließ er Cyno, der ein wesentlich besseres Urteilsvermögen besaß und der niederen Herrin, welche die Befragung erst beenden würde, wenn sie die ganze Wahrheit in Erfahrung gebracht hatten.
 

"Hey, Tighnari" wurde er leise gerufen, drehte sich überrascht herum und entdeckte Kaveh, der sich halb hinter dem Torbogen zu verstecken versuchte.

Warum er augenscheinlich nicht gesehen werden wollte, konnte sich Tighnari zwar beim besten Willen nicht erklären, aber vielleicht durfte er diesem sonderbaren Verhalten auch keinerlei Bedeutung zumessen.

Schließlich versuchte Kaveh bis zum heutigen Tag zu verheimlichen, dass er schon seit mehreren Monaten bei Alhaitham wohnte.

Lautlos seufzend setzte er sich in Bewegung, bis er den Blonden erreichte und wollte schon seine Stimme erheben, doch seine Frage blieb ihm im Halse stecken, als sein linkes Handgelenk ergriffen und er vom Befragungsort weg gezerrt wurde.

Jenes Verhalten löste blanke Irritation in ihm aus, vor allem weil sich Kaveh immer wieder zu allen Seiten umblickte, ehe sie einen abgeschiedenen Ort erreichten und sein Handgelenk aus den festen Griff entlassen wurde.
 

"Wurden du und Cyno ebenfalls um absolutes Stillschweigen gebeten?" durchbrach Kaveh die Stille und bedachte die vergangenen Tage, in denen er sich kaum auf seine Arbeit hatte konzentrieren können.

Wie sollte er sich denn auch auf seinen Entwurf konzentrieren, den er für seinen aktuellen Auftrag überarbeiten musste, wenn er mit seinen Gedanken immer wieder abschweifte und sich berechtigte Fragen stellte?

Ungewollt war er zum Mitwisser geworden.

Ein Mitwisser, der zwar seinen Mitbewohner nach ihrem ungewöhnlichen Besuch vor fünf Tagen unverzüglich zur Rede gestellt hatte, aber letzten Endes von ihm aufgefordert worden war, sich um seine eigenen Belange zu kümmern.
 

"Wieso ebenfalls? Weder Cyno, noch ich wurden um absolutes Stillschweigen gebeten. Wenn es um den gestrigen Anschlag auf Lumine gehen sollte, kann ich dir aktuell noch nichts Genaues sagen. Die Befragung ist noch im vollen Gange" erwiderte Tighnari und war sich nicht sicher, wie er den verzweifelten Gesichtsausdruck des Blonden verstehen durfte.

"Nein, es geht nicht um den gestrigen Anschlag auf Lumine, der mich selbstverständlich auch beschäftigt, aber in erster Linie geht es um den Vorfall vor fünf Tagen" wurde er in Kenntnis gesetzt und konnte nicht verbergen, wie überrascht er über diese neue Information war.

Vor fünf Tagen hatte sich bereits ein Vorfall ereignet?

Wieso waren Cyno und er nicht ins Vertrauen gezogen worden?

Hing besagter Vorfall etwa mit dem gestrigen Anschlag zusammen?

"Ein Vorfall vor fünf Tagen? Hat die niedere Herrin dich etwa um absolutes Stillschweigen gebeten?" wollte er in Erfahrung bringen, denn möglicherweise hatte Kaveh etwas beobachtet, worüber er nicht sprechen sollte.
 

"Nein, mich persönlich nicht, aber Alhaitham" seufzte Kaveh und überlegte sich seine folgenden Worte, um nicht offenbaren zu müssen, dass er bei Alhaitham wohnte.

"Vor fünf Tagen, es war schon recht spät am Abend, war ich bei Alhaitham, weil er... Er...". "Entspann dich, Kaveh. Cyno und ich wissen schon länger, dass du bei Alhaitham wohnst" wurde er bei seiner Ausführung unterbrochen und schluckte entsetzt.

Anschließend lachte er mehrere Male gekünstelt, um seine Unsicherheit zu überspielen, doch als Tighnari einen tiefen Seufzer ausstieß und verständnislos den Kopf schüttelte, wurde er sich allmählich der Tatsache bewusst, dass eine weitere Ausrede keinen Sinn ergeben würde.

"Ich... Ich wohne nur vorübergehend bei ihm" versuchte er sich dennoch irgendwie zu rechtfertigen, nicht ohne Tighnari zu bitten, seine aktuellen Lebensumstände nicht an die große Glocke zu hängen.

"Werde ich nicht" wurde ihm zugesagt, weshalb er sich gänzlich entspannte und suchte abermals nach den passenden Worten.
 

"Ich saß in meinem Zimmer am Schreibtisch und habe meinen Entwurf überarbeitet. Mein neuer Auftraggeber, der in Ormos lebt, hatte mich um vereinzelte Änderungen gebeten" begann Kaveh, nicht ohne zu erwähnen, dass er vor fünf Tagen am frühen Morgen die Stadt verlassen hatte, um sich mit einigen Händlern zu treffen und erst am späten Abend zurück gewesen war.

"Plötzlich hörte ich Klopfgeräusche aus dem Wohnzimmer und war sichtlich verwirrt. Ich meine, Alhaitham und Besuch? Ich wohne schon seit einigen Monaten bei ihm und kann an einer Hand abzählen, wie oft er besucht wurde" fuhr der Blonde ausschweifend fort und obwohl Tighnari für einen kurzen Moment der Versuchung erlegen war, Kaveh zu unterbrechen und ihn zu bitten, endlich zum Punkt zu kommen, hielt er vorerst seinen Mund und übte sich in Geduld.
 

"Als ich die Stimme der niederen Herrin hörte, bin ich sofort aufgestanden und zur Zimmertür heran geschlichen. Zuerst wollte sie wissen, ob ich zu Hause bin oder ob er bereits mit mir gesprochen hätte und als er ihre Fragen einfach verneinte, war ich mir nicht sicher, ob es eine weise Entscheidung von ihm war, ihr direkt ins Gesicht zu lügen. Sie ist schließlich die Göttin der Weisheit" schilderte Kaveh die damalige Lage, in die er mehr oder weniger von Alhaitham hinein gezwungen worden war.

Er hatte zwar mehrmals überlegt, ob er nicht einfach die Zimmertür öffnen sollte, um sich zu erkennen zu geben, aber der Gedanke, Alhaitham als Lügner zu entlarven, hatte ihn letzten Endes zur Tatenlosigkeit genötigt.

"Folgendes..." erhob er abermals seine Stimme und berichtete Tighnari vom Vorfall am frühen Morgen, den Alhaitham beim morgendlichen Spaziergang scheinbar aus der Ferne beobachtet hatte.

"Bevor sie ihn um absolutes Stillschweigen bitten konnte, hat Alhaitham natürlich einige Fragen zu diesen arroganten Schnösel gestellt, der sich schon des Öfteren als Besserwisser aufgespielt hat. Sie meinte aber, dass sie ihm keine Auskünfte über ihn geben dürfe und er sich keine weiteren Gedanken um Lumine machen müsse" endete vorläufig seine Erzählung, nicht ohne zu erwähnen, dass eben jener arrogante Schnösel von ihr beauftragt worden war, sich um die Reisende zu kümmern und regte sich anschließend über Alhaitham auf, der ihm im Vorfeld überhaupt nichts erzählt hatte.
 

"Das ist..." setzte Tighnari zum Sprechen an und brach seinen Satz ab, als sich die Augen des Blonden weiteten und drehte sich ruckartig herum, nur um zu beobachten, wie die Fatui entlassen wurden und wie sein bester Freund noch vereinzelte Worte mit der niederen Herrin wechselte, ehe sie sich nickend von ihm verabschiedete.

Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Cyno über diesen Vorfall in Kenntnis gesetzt worden war.

Wenn er Kenntnis besessen hätte, hätte er ihn, Tighnari, mit Sicherheit ins Vertrauen gezogen.

"Bist du dir sicher, dass Cyno nichts über diesen Vorfall weiß?" lauschte er der Frage von Kaveh und nickte bejahend.

"Absolut sicher. Er unterliegt zwar oft der Schweigepflicht, aber in diesem Fall hätte er zumindest mich ins Vertrauen gezogen" erwiderte er und stieß einen leisen Seufzer aus.

"Außerdem hat er mir von einem etwas längeren Auftrag erzählt. Er war bis vorgestern Nachmittag nicht in der Stadt, weil er und seine Kollegen den Auftrag besaßen, zwei Forscher zu verfolgen, die Forschungsgelder für ihre privaten Zwecke missbraucht hatten" verriet er dem Blonden und schluckte lautlos, als Cyno sie schließlich zwischen den Büschen entdeckte und sich langsamen Schrittes in ihre Richtung bewegte.
 

"Die Fatui scheinen tatsächlich nichts mit dem gestrigen Anschlag auf Lumine und den Wanderer zutun zu haben. Dementsprechend werden wir unsere Suche auf die umliegenden Camps ausweiten" berichtete Cyno, nicht ohne Kaveh zu erklären, wen er mit der Betitelung Wanderer meinte und bedachte den weiten Vorsprung, den dieser Schuldeneintreiber inzwischen besitzen dürfte.

Hoffentlich hatte er noch nicht das Land verlassen, sonst würden sie die Quixing in Liyue um ihre Mithilfe bitten müssen.

"Wenigstens konnten wir mit Viktor eine Einigung erzielen, was bedeutet, dass der Wanderer keine Strafe zu erwarten hat. Wir sollen lediglich dafür Sorge tragen, dass er künftig keine weiteren Alleingänge unternimmt" fügte er noch eine gute Nachricht hinzu und lenkte sein Augenmerk auf Kaveh, den er bei nächster Gelegenheit ohnehin hatte aufsuchen wollen.

"Wieso hat sich Alhaitham kurzfristig Urlaub genommen? Als ich vorgestern Abend eine Kopie von meinen Bericht einreichen wollte, erfuhr ich von seiner Vertretung, dass er sich im Urlaub befindet. Äußerst untypisch für seine Verhältnisse" wollte er in Erfahrung bringen und verschränkte seine Arme vor der Brust.
 

Noch bevor Kaveh in Erklärungsnot geraten konnte, räusperte sich Tighnari leise und zog die Aufmerksamkeit des Mahamatra auf sich.

"Über mögliche Gründe können wir heute Abend spekulieren. Zuerst solltest du nach Hause gehen und dir eine Mütze voll Schlaf gönnen" merkte er an, um ihnen etwas Zeit zu verschaffen und obwohl Cyno mit seiner Anmerkung nicht wirklich zufrieden zu sein schien, löste er die Verschränkung seiner Arme wieder und stieß einen lautlosen Seufzer aus.

"Heute Abend um zwanzig Uhr bei Lambad" schlug sein bester Freund vor, nickte ihm nach kurzer Überlegung einverstanden zu und sah zu Kaveh auf, der abermals den verzweifelten Versuch unternahm, seine Unsicherheit hinter einem Lächeln zu verbergen.

"Gut, bis später" verabschiedete sich Cyno schließlich von ihnen, obgleich seine Gesichtszüge eine gewisse Skepsis verrieten und machte auf den Absatz kehrt.
 

"Alhaitham hat sich Urlaub genommen, um nach Informationen zu suchen, oder?" lauschte Kaveh der Frage von Tighnari, nachdem Cyno aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und nickte bejahend, ehe er sich stöhnend ins Haar griff.

"Am nächsten Morgen wollte ich Lumine besuchen, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Die Männer vom Regiment der Dreißig teilten mir allerdings mit, dass sie vorerst keinen Besuch empfangen darf, also bin ich zur Akademie aufgebrochen, um noch einmal mit Alhaitham zu reden. Von seiner Vertretung erfuhr ich, dass er sich Urlaub genommen hat" klärte er den Waldhüter auf, nicht ohne zu erwähnen, dass Alhaitham vermutlich sogar die Stadt verlassen hatte, um nach Informationen zu suchen.

"Was sollen wir jetzt tun?" wollte er wissen, fuhr sich mit seinen Händen durch sein Haar und dachte angestrengt über ihre Möglichkeiten nach.

"Wir können Cyno doch unmöglich die ganze Wahrheit sagen. Er würde unweigerlich erfahren, dass sich dieser arrogante Schnösel schon seit fünf Tagen bei Lumine aufhält" fügte er noch ergänzend hinzu und sah Tighnari abwartend an.
 

"Dir sind seine Gefühle also ebenfalls aufgefallen" stellte Tighnari mehr oder weniger für sich selbst fest und erhob seine rechte Hand, um sich an die Stirn zu fassen.

All die neuen Informationen verschlimmerten seine leichten Kopfschmerzen.

"Ein Blinder mit Krückstock hätte gesehen, was er für Lumine empfindet" merkte der Blonde neben ihm leise an, nickte ihm wissend zu und senkte seine rechte Hand wieder, ehe er einmal tief durchatmete und die leichten Kopfschmerzen erneut zu ignorieren versuchte.

"Wenn wir ihn nicht einweihen und er bemerken sollte, dass wir ihm wichtige Informationen vorenthalten, würde er selbst tätig werden" führte er Kaveh vor Augen, obgleich er befürchtete, dass es Cyno dieses Mal vermutlich nicht gelingen würde, Berufliches vom Privatem zu trennen.

"Vorerst sollten wir Nilou aufsuchen und mit ihr sprechen. Cyno erzählte mir vorhin, dass sie den Wanderer mit einer Notlüge in Schutz genommen hat, um ihn vor weitreichenden Konsequenzen zu bewahren. Demnach nehme ich an, dass sie ebenfalls involviert wurde" offenbarte er dem Blonden, nicht ohne den Verdacht zu äußern, dass Nilou vielleicht ebenso um absolutes Stillschweigen gebeten worden war.

So viele Fragen schwirrten ihm im Augenblick durch den Kopf, auf die er dringend Antworten benötigte.

Warum war Alhaitham überhaupt um absolutes Stillschweigen gebeten worden?

Etwa weil der Wanderer offenbar immun gegen Abyss Magie war?

Wieso besaß er eine derartige Fähigkeit?

War er überhaupt ein normaler Mensch?

Mit jenen Fragen, die ihm wahrlich Kopfzerbrechen bereiteten, setzte er sich mit Kaveh, der mit seinen Vorschlag einverstanden zu sein schien, in Bewegung und machte sich mit ihm auf dem Weg zum großen Bazar.
 

Derweil setzte Nahida den Wanderer und Lumine über die beendete Befragung in Kenntnis, nicht ohne zu erwähnen, dass sie Paimon um den Gefallen gebeten hatte, im Heiligtum auf sie zu warten und erklärte ihnen ihr weiteres Vorgehen bezüglich der Suche nach dem Schuldeneintreiber.

"Und wir konnten uns mit Viktor einigen. Das bedeutet, dass du für deinen Alleingang keine Strafe zu erwarten hast" richtete sie ihre folgenden Worte an den Wanderer, der auf einen der Stühle beim runden Tisch saß und versuchte ihm verständlich zu machen, dass er sich keinen weiteren Fehltritt erlauben durfte.

"Seid Ihr fertig mit Eurer Belehrung?" entgegnete er ihr lediglich, behielt seine Augen auf das ausgeliehene Buch gerichtet und schien an einer weiteren Unterhaltung keinerlei Interesse zu besitzen.

"Warum benimmst du dich gerade wie ein trotziges Kind? Kannst du wirklich nicht nachvollziehen, in welche Schwierigkeiten du...". "Als ob das mein Verschulden war. Wenn Ihr mich unverzüglich verständigt hättet, hätte ich erst gar nicht Euer Gespräch belauschen müssen" wurde sie lautstark unterbrochen und hob überrascht ihre Augenbrauen, als er das Buch auf den Tisch knallte, sich wütend erhob und sich zügigen Schrittes auf den Weg zur Tür machte, die er schwungvoll öffnete.

"Und wenn Ihr an meiner Kompetenz zweifelt, solltet Ihr Euch nach einer anderen Person umsehen. Der Mahamatra würde sicherlich sofort meinen Auftrag übernehmen" wurde ihr noch vorgeworfen, ehe er ins Freie trat und die Haustür lautstark ins Schloss zog.
 

"Nimm ihm sein Verhalten nicht übel" versuchte Lumine ihn in Schutz zu nehmen, obgleich seine letzte Äußerung sie ein wenig verwunderte und bedachte sein Verhalten der vergangenen, drei Stunden, in denen sie nur wenige Worte miteinander gewechselt hatten.

Nach ihrem Frühstück hatte sie noch einen weiteren Versuch unternommen und ihn nach dem genauen Inhalt des Gespräches zwischen Tighnari und Cyno gefragt, welches er ungewollt belauscht hatte und ihm offenbar sehr viel Kopfzerbrechen bereitete.

"Das ist unwichtig" war er diesem Thema jedoch sofort ausgewichen, hatte anschließend das ausgeliehene Buch aus dem Schrank geholt und sich ohne ein weiteres Wort an den runden Tisch gesetzt.

Das dieses Thema allerdings gar nicht so unwichtig sein konnte, hatte sie ihm mehr als nur einmal von seinen Gesichtszügen ablesen können.

Dennoch hatte sie in den folgenden Stunden keine weiteren Fragen mehr gestellt und ihn vorerst in Ruhe gelassen.
 

Während Nahida lediglich ihren Kopf schüttelte und ein verständnisvolles Lächeln auflegte, lehnte Kuni an einem breiten Baumstamm in der Nähe der Unterkunft und versuchte allmählich zur Ruhe zu kommen.

Er wusste, dass er vollkommen überreagiert und sich wie ein trotziges Kind aufgeführt hatte.

Er wusste, dass er sich künftig in Selbstbeherrschung üben musste.

Er wusste, dass Buer ihn bei erneutem Fehlverhalten nicht beschützen würde können.

Und er wusste, dass sie überhaupt nicht an seiner Kompetenz zweifelte.

Nein, wegen seiner Selbstzweifel, welche er sich nach wie vor einredete, war ihm letzten Endes der letzte Satz ungewollt über die Lippen gekommen.

Weil er absolut nicht mit der Tatsache umgehen konnte, dass der Mahamatra romantische Gefühle für Lumine besaß.

Dieses Wissen machte ihn verrückt.

Seine Gedanken und Gefühle machten ihn verrückt.

Diese verdammte Eifersucht, über die er nicht unbedingt mit Lumine sprechen mochte, machte ihn verrückt.

Schließlich hatte sie ihm gestern Morgen mehrmals versichert, dass er sich keine Sorgen wegen eines anderen Mannes zu machen brauchte.

"Hast du einen kurzen Augenblick?" wurde er in seinen Überlegungen gestört und drehte seinen Kopf abrupt in die linke Richtung, ehe er den Mahamatra erblickte und schluckte lautlos.

Augenblicklich verstärkte sich das unruhige Gefühl in seiner Magengegend, nickte ihm aber dennoch zaghaft zu und lenkte sein Augenmerk wieder gen Boden.
 

Mit gemischten Gefühlen trat Cyno auf den Wanderer zu, ließ sich zu dessen linker Seite auf den Boden nieder und lehnte sich rücklings gegen den breiten Baumstamm.

Eigentlich hatte er tatsächlich nach Hause gehen wollen, aber er wusste, dass er nicht schlafen würde können.

Zu viele Fragen schwirrten ihm noch immer im Kopf herum, auf die er keine plausiblen Antworten finden konnte.

Er wollte wissen, wie es dem Schuldeneintreiber ohne Verbindungsmann möglich gewesen war, den genauen Aufenthaltsort der Reisenden und dem Wanderer in Erfahrung zu bringen.

Er wollte wissen, wozu der gestrige Anschlag eigentlich gedient hatte.

Er wollte wissen, warum der Wanderer keinerlei Reaktion auf diese neuartige Substanz gezeigt hatte.

Er wollte wissen, wieso die niedere Herrin seinen berechtigten Fragen nach der Befragung ausgewichen war.

Er wollte wissen, weshalb Kaveh seinen besten Freund aufgesucht und vorhin derart nervös gelächelt hatte.

"Wurdest du bereits über das Ergebnis der Befragung unterrichtet?" durchbrach er die eingetretene Stille und nickte verstehend, als seine Frage leise bejaht wurde.

Ob der Wanderer nähere Informationen besaß?

Prüfend sah er zu ihm auf, versuchte in dessen Gesichtszügen zu lesen und runzelte die Stirn, als der Wanderer die Arme vor der Brust verschränkte und unverständliche Worte vor sich her murmelte.

Irgendwie wirkte er unsicher und eben jenen Umstand versuchte er scheinbar mit der abwehrenden Haltung zu verbergen.
 

Obgleich sich Kuni tatsächlich unbehaglich in seiner Haut fühlte und nicht so wirklich wusste, wie er sich in seiner jetzigen Lage verhalten sollte, blieb er an dem Baumstamm gelehnt stehen und lenkte seine blauen Augen zur Unterkunft.

"Ich beneide dich" wisperte er vor sich her, löste die Verschränkung seiner Arme wieder und versuchte sich einigermaßen zur Ruhe zu bewegen.

"Im Gegensatz zu mir bewahrst du offenbar immer einen kühlen Kopf, während ich mich von meinen Gefühlen beherrschen lasse" fuhr er erklärend fort und sah prüfend zum Mahamatra hinab, welcher zwar im ersten Moment überrascht über seine Worte zu sein schien, sich aber ebenso schnell wieder fing und verneinend den Kopf schüttelte.

"Und im Gegensatz zu mir weißt du, wie es um deine Gefühle bestellt ist" fügte er noch leise hinzu, noch bevor Cyno ihm hätte widersprechen können und setzte ihn darüber in Kenntnis, dass er ihr Gespräch vor wenigen Stunden gehört hatte.
 

"Du besitzt scheinbar ein ebenso gutes Gehör wie Tighnari" stellte Cyno nach einer Weile mehr oder weniger für sich selbst fest und starrte zum blauen Himmel auf.

"Nur weil ich mich stets in Selbstbeherrschung übe, bedeutet das nicht, dass mir diese Situation überhaupt nichts ausmacht. Um ehrlich zu sein war ich, als Tighnari mir von den vermeintlichen Knutschflecken an ihrem Hals berichtete, entsetzt, wütend und verdammt eifersüchtig" erklärte er im sachlichen Ton und erhob seine rechte Hand, die er auf seine linke Brusthälfte legte.

"Aber im nächsten Moment dachte ich, dass ich überhaupt keinen Grund besitze, um entsetzt, wütend und eifersüchtig zu sein. Schließlich war es meine Entscheidung, ihr nichts von meinen Gefühlen zu erzählen" fuhr er fort, senkte seine rechte Hand wieder und sah prüfend zum Wanderer auf, in dessen blauen Augen er vereinzelte Emotionen zu lesen versuchte.

"Und vielleicht kannst du im Augenblick noch nicht in Worte fassen, wie es um deine Gefühle bestellt ist, aber in Anbetracht der Tatsache, dass du Viktor auf deine Art und Weise zur Rechenschaft ziehen wolltest, lässt erahnen, wie wichtig dir Lumine ist" teilte er seine persönliche Meinung mit und legte ein zaghaftes Lächeln auf, als der Wanderer augenblicklich errötete und den Kopf zur rechten Seite drehte.
 

Eine ganze Weile herrschte absolute Stille zwischen Kuni und dem Mahamatra, wobei sich Ersterer in gewisser Weise ertappt fühlte und nicht so recht wusste, wie er sich nun verhalten sollte.

Mit nachdenklicher Miene starrte er in die Ferne und bedachte die jetzige Situation, in die er sich mehr oder weniger selbst hinein befördert hatte und atmete einmal tief durch, um sich weitgehend zur Ruhe zu bewegen und drehte seinen Kopf zurück zum Mahamatra, dessen linkes, rotes Auge nun auf die Unterkunft gerichtet war.

"Wie weit wurden du und dein Kumpel über den aktuellen Sachverhalt aufgeklärt?" erhob Kuni seine Stimme mit jener Frage und ließ sich neben dem Mahamatra auf den Boden nieder, nicht ohne sein rechtes Bein an seinen Körper zu ziehen, um seinen Arm auf sein Knie zu stützen.

"Wir sind lediglich über den gestrigen Anschlag aufgeklärt worden" wurde ihm leise entgegnet und noch bevor Kuni hätte etwas sagen können, drehte Cyno den Kopf in seine Richtung und stellte ihm etliche Fragen.

Die berechtigte Frage, wieso er, Kuni, nicht auf diese Substanz reagiert hatte.

Die berechtigte Frage, wozu der gestrige Anschlag überhaupt gedient hatte.

Die berechtigte Frage, warum die niedere Herrin ihn, den Mahamatra, nicht ausreichend aufklärte, obgleich er sicherlich würde helfen können.

"Und mich beschäftigen noch weitere, durchaus relevante Fragen. Woher kannte der Schuldeneintreiber euren genauen Aufenthaltsort? Viktor war schließlich nicht sein Verbindungsmann, was unweigerlich bedeutet, dass wir andere Möglichkeiten in Betracht ziehen müssen. Ist eventuell noch eine weitere, bislang unbekannte Person involviert oder ist es im Bereich des Möglichen, dass eure Gespräche abgehört werden? Wurde die Unterkunft dahingehend untersucht?" wollte der Mahamatra von ihm wissen, aber auf jene Fragen wusste Kuni einfach keine plausiblen Antworten.

Nein, eigentlich hatte er über diverse Möglichkeiten überhaupt noch nicht nachgedacht, weil er in den vergangenen Stunden viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war.
 

Nach gefühlten fünf Minuten, in denen Cyno vergeblich auf die erhofften Antworten wartete, erhob er sich seufzend und klopfte sich den Schmutz von seiner Hose, ehe er sich zum Gehen wendete.

Was hatte er denn auch erwartet?

Das der Wanderer seinen insgeheimen Verdacht bestätigte und ihn mit sämtlichen Informationen versorgte?

Nein, denn sie kannten sich im Grunde überhaupt nicht und vermutlich war der Wanderer sogar von der niederen Herrin selbst gebeten worden, sämtliche Informationen zu verschweigen.

Mit jener Vermutung setzte er sich in Bewegung und blieb abrupt wieder stehen, als er bei seinem Titel gerufen wurde und drehte seinen Kopf, um über seine linke Schulter zu blicken.

"Ich werde dir sämtliche Fragen beantworten, aber dafür erwarte ich deine Mithilfe und Diskretion bezüglich meiner Person" wurde ihm ein Handel vorgeschlagen und hörte sehr wohl die Unsicherheit aus der Stimme des Wanderers heraus.

"Einverstanden" entgegnete Cyno, machte auf den Absatz kehrt und trat langsamen Schrittes auf den Wanderer zu.

"Ich sichere dir meine Hilfe zu und werde sämtliche Informationen vertraulich behandeln" versicherte er dem jungen Mann, blieb direkt neben ihm stehen und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Als der Wanderer nach reifer Überlegung zögerlich nickte und schließlich die Stimme erhob, um sein Schweigen zu brechen, lauschte er den folgenden Informationen.

Weder er, noch der Wanderer bemerkten das neugierige, grüne Augenpaar, welches ihnen ausreichend Aufmerksamkeit schenkte und ihr Gespräch aus sicherer Entfernung beobachtete.



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