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Wolfsherz

In den Augen des Tigers
von

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Der Wolf spielt mit dem Feuer

Erschöpft ließ ich mich auf den Waldboden fallen, hörte das Gelächter der Anderen. Das Zelt stand mehr schlecht als recht und der Aufbau hatte mich gefühlt zehn Jahre meines Lebens gekostet. Seua bot mir seine Hand an, die ich gerne entgegennahm, um aufzustehen. Aktuell waren wir in unserem kleinen Zeltlager für zwei Tage, bei dem uns Kameras die ganze Zeit begleiteten. Für meinen Plan war das gar nicht schlecht, da ich nachher immer noch behaupten könnte, dass es für die Fans war. P’Star wollte neben ein paar kleineren Szenen auch Content für die Fans produzieren, wir sollten kleinere Live-Events und Interviews machen. Sie sollten uns besser kennenlernen und auch wir sollten natürlich wie immer Zeit miteinander verbringen. Für die Events war auch ein Kernteam bei uns, inklusive Noah und Ray. Sie waren allerdings in einem Hotel in der Nähe untergebracht, würden aus der Ferne zuschauen. Zumindest Ray. Noah würde genug Arbeit haben. Mit dem Ton oder mit etwas anderem. Nachdem wir heute Morgen angekommen waren, habe ich gesehen, wie er hinter Ray stand und die Hände bei ihm in den Sakkotaschen hatte. Also wenn das nicht verdächtig ist, weiß ich auch nicht.
 

Während wir das Zeltlager aufbauten, bemühte ich mich so gut wie möglich, Seua nicht von der Seite zu weichen. Immer wenn etwas anstand, was er tun sollte, ging ich mit. Ich war mir bewusst, dass das ziemlich offensichtlich war, aber schließlich war das auch für Dice. Es machte Spaß seine neidischen Blicke zu sehen. Wir kamen gerade aus dem Wald zurück, ließen das Holz in die Mitte der Feuerstelle fallen. Pravat war mit Dice für das Kochen zuständig, ich spürte ihre Blicke auf mir, während sie die Zutaten vorbereiteten. Der Eine hatte mich gewarnt, der Andere auch. Und ich würde auf Beide nicht hören. Vor allem Dice sollte sich alles ganz genau anschauen, der wird sich noch wundern. Als nächstes begannen Seua und ich die Sachen aus den Vans zu holen. Schlafsäcke, Ladekabel, Kochutensilien und ganz wichtig, meine, eigens dafür angeschaffte, akkubetriebene Lampe. Wir nahmen so viel wir konnten und brachten es zum Lager. Sun und Moon hatten schon die Stühle um die Feuerstelle aufgebaut. Auch sie halfen mit die Sachen ins Lager zu bringen. Während die Kameras weiterhin auf das Lager gerichtet waren, packte Moon mich am Arm und zog mich zur Seite, hinter einen der Vans.

»Moon?«, fragte ich verwirrt, doch bevor sie anfing zu sprechen, sah sie sich sorgfältig um.

»Cai? Das mit P’Seua machst du absichtlich, oder? Ist das alles nur für die Kameras oder ist das echt?«, wollte sie wissen.

»Ja, das mache ich absichtlich. Ob das echt ist oder nicht, kann ich dir nicht sagen«, druckste ich herum. Komischerweise fiel es mir überhaupt nicht schwer, mit ihr darüber zu sprechen. Es erinnerte mich an die Serie und neben Seua und Dice, die mental sehr viel von mir abverlangten, waren die Mädels wie ein Ruhepol, zu dem man sich jederzeit retten konnte.

»Verstehe. Aber falls doch, scheint es so, als hättest du Konkurrenz«, das war vermutlich die weibliche Intuition. Wenn sie das sah, dann höchstwahrscheinlich auch die Fans.

Ich seufzte, sagte unbewusst: »Ich weiß. Daher der Plan.«

Lachend zog Moon beide Augenbrauen hoch: »Ach, einen Plan hast du auch schon, sehr gut. Ich wollte dir eigentlich sagen, dass alles, was wir P’Wolf gesagt haben, auch für dich gilt. Da Sun und ich P’Seua am wenigsten kennen, sind wir wohl die Neutralsten in dieser Angelegenheit. Sun ist zwar ein Fan, aber sie shippt ihn ohnehin mit Typen, von daher bist du sicher. Wie dem auch sei, du kannst immer mit uns reden. In den nächsten Tagen wohl eher nicht, aber danach immer gerne.«

»Danke, Moon. P’Wolf war vielleicht schon bereit dafür mit euch zu reden, ich bin es noch nicht. Aber irgendwann bestimmt.«
 

Zusammen gingen wir zum Lager zurück, wo Seua Dice mit den Zutaten half. Ich durfte den wirklich keine Sekunde aus den Augen lassen.

»Ach, da bist du ja, Cai. Was hast du denn hinter den Kulissen mit Moon gemacht?«, rief Dice mir entgegen.

»Ich habe mit ihr geredet«, gab ich genervt zurück. Aber ich wollte Dice keine Chance geben, mir jetzt irgendwelche Fake-Szenarien mit Moon anzudichten.

Er konnte Seua nah sein, ohne mit der Wimper zu zucken und genau da musste ich auch hinkommen.

»Kümmer‘ dich lieber ums Essen«, es klang harscher als beabsichtigt, aber Dice konnte sich das ruhig mal von mir anhören. Entschlossen ging ich auf Seua zu, nahm seine Hand und zog ihn mit mir. Überrascht fragte er: »Cai?«

»Das ist nicht deine Aufgabe, P’Seua. P’Star hat gesagt wir sollen uns um die Kommentare des Livestreams kümmern«, ich war unheimlich erleichtert, dass mir das in letzter Sekunde eingefallen war. Wir riefen noch Sun und Moon dazu, setzten uns dann vor eine Kamera und bekamen einen Bildschirm hingestellt, auf dem der Chat eingeblendet wurde.

Durch die Szenen, die wir bisher gedreht hatten, konnten die Fans auch endlich einen richtigen Trailer sehen. Sobald wir das Okay vom Kameramann bekommen hatten, stellten wir uns vor. Nervös beobachtete ich Seua, seine Hand lag locker auf seinem Bein, das war meine Chance. Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine. Dann begannen wir, die Kommentare zu lesen.
 

Ihr seht alle so gut aus! <3
 

Ich freue mich total auf die Serie ~ #WolfNok
 

OMG, hi Leute! Ich liebe dieses Event..es war schon ultra witzig, als Cai das Zelt aufgebaut hat. Das habe ich direkt auf Twitter hochgeladen XD
 

Wenn man das so sieht, will man direkt mitmachen!
 

Ich mag die Gruppe. Ihr seid alle süß zusammen! Aber ist bei Cai und Dice alles okay? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die so einen rauen Ton untereinander haben…und diese Blicke…
 

Ja, du hast Recht! Ich glaube es liegt an #Eifersucht…
 

Jup…
 

Leute! Viel wichtiger..habt ihr mal Cais Hand gesehen? Ich ahne da etwas…#CaiSeua
 

Ich wollte meine Hand wegnehmen, doch Seua ließ mich nicht und der Chat füllte sich direkt mit Herzen. Sollte ich die Konsequenzen in Kauf nehmen? Ich beschloss dabei zu bleiben, um Dice zu ärgern und drückte seine Hand. Sowas wollen die Leute sehen, dann bekamen sie es auch. Wir bedankten uns für die lieben Kommentare und gingen auf einzelne Fragen ein, erzählten ein wenig aus unserem Drehalltag. Seua und ich standen im Fokus, daher ließen wir die Mädels nach einer Weile auch mal zu Wort kommen. Sie waren ein wichtiger Teil der Serie, auch wenn dies von den Fans nicht angemessen wertgeschätzt wurde. Man sah ihnen an, dass sie Spaß hatten etwas über sich zu erzählen und auch die Fans ließen sich darauf ein. Nach einer Weile stand Seua auf, zog mich mit. Ich verstand, dass er den Beiden auch mal alleine die Bühne überlassen wollte.
 

Wir gingen zum Lager zurück, Dice und Pravat saßen vor ihrem Zelt und unterhielten sich leise. Seua hatte die ganze Zeit über nicht einmal meine Hand losgelassen, was ich für mich als persönlichen Triumph wertete. Dice war das natürlich nicht entgangen, doch er wandte seinen Blick sofort ab. Wir setzten uns vor unser eigenes Zelt. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter, suchte eine Reaktion in seinen Augen. Doch er ließ sich absolut nichts anmerken, starrte ausdruckslos in die Ferne. Naja gut, dann haben wenigstens die Fans etwas davon. Ich konnte währenddessen beobachten, wie das Team neben dem Lager ein kleines Studio aufbaute, dort sollten Seua und ich eine Art eigene kleine Sendung machen, wie eine Quizshow. Es waren noch knapp zwei Stunden bis dahin. Kleinere Live-Sachen, wie das mit den Kommentaren, waren für mich überhaupt kein Problem, aber eine Show, ohne vorher geprobt zu haben? Doch P’Star wollte das so. In unserem Plan für das Camp stand explizit, dass für diese Show keine Proben erlaubt waren. Es sollte spontan und authentisch sein. Nach der Show hatten wir den Rest des Tages frei, morgen stand noch einiges an. Ein Fotoshooting im Wald, Interviews und natürlich die zusätzliche Szene. Die Show gleich machte mir am allermeisten Sorgen, den Rest würden wir schon über die Bühne bringen. Seua war natürlich wie immer die Ruhe selbst. Da half nur eins. Ich schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte mich auf die Umgebungsgeräusche: Die leisen Stimmen von Pravat und Dice, die sich auf Thai unterhielten, das Team, was sich gegenseitig Anweisungen gab, Schritte auf dem Waldboden und Seuas Atem. Seine Schulter war ein bisschen ungemütlich, aber das störte mich nicht. Ich genoss die geschäftige und trotzdem ruhige Atmosphäre.
 

Nach einer Zeit spürte ich, wie mir jemand mit der Hand über den Kopf fuhr.

»Cai?«, drang eine Stimme an mein Ohr. Langsam öffnete ich die Augen, sah Seua vor mir, der mich anlächelte.

»Aufwachen. Wir müssen gleich auf Standby.«

Ich sprang auf, sah mich um. Pravat und Dice waren verschwunden, das improvisierte Studio, wo unsere Show stattfinden sollte, aufgebaut. Seua rieb sich den Arm. Ich und mein dämliches Hobby überall zu schlafen!

Peinlich berührt fuhr ich mir durch die Haare: »Sorry, P‘. Ich hatte nicht vor, einzuschlafen.«

Seua winkte ab: »Keine Sorge. Für mich war es ganz angenehm, weil mich dann alle in Ruhe gelassen haben.«

»Okay.«

Ich sah auf die Uhr, es war noch eine halbe Stunde bis zu unserem Auftritt. Seua verabschiedete sich in die Maske, ich ging noch kurz zu Ray. Der saß in einem kleinen Wohnwagen in der Nähe. Ich öffnete die Tür, dort saß er, allein und sah unserem Stream auf seinem Tablet. Er drehte sich schon zu mir um, da er im Stream gesehen hatte, wie ich auf den Wohnwagen zugegangen war. Als ich die Tür schloss, blieb die Kamera draußen.

»Na Cai, schläft es sich gut in den Armen des Tigers?«

Wenn du wüsstest…

»Offensichtlich, Ray«, konterte ich.

Er schmunzelte: »Die Fans fanden das total süß. Ich glaube, es war das erste Mal, dass dir mehrere tausend Leute beim Schlafen zugesehen haben.«

Ich ließ ihn seinen Spaß haben, meine Zeit mich bei ihm zu rächen, würde noch früh genug kommen. Außerdem hatte ich so kurz vor der Show ganz andere Sorgen.

»Naja, wenn sie es mögen.«

»Sie haben auch gefeiert, dass Seua dich vor allen abgeschirmt hat, selbst den Kameramann hat er gezwungen, soweit wegzugehen, dass der den Zoom benutzen musste«, erklärte Ray. Deswegen waren Pravat und Dice also gegangen. Ich wusste, dass der Sender nach dem Stream das Videomaterial hochladen würde und beschloss, es mir dann anzusehen.

»Dann hatte es immerhin für alle was Gutes. Gibt’s sonst etwas?«, mit einem Bein stand ich schon wieder fast draußen. Ich musste mich schließlich auch noch umziehen und in die Maske, da blieb mir nicht mehr allzu viel Zeit.

»Eigentlich nicht. Aber tu‘ mir einen Gefallen und übertreibs‘ nicht, okay?«

»Klar, Chef.«
 

Ich verließ den Wohnwagen, zog mich schnell um und ging in die Maske. Da wir mitten im Wald auf einer Lichtung waren, hatten sie ein großes, offenes Zelt als improvisierte Maske aufgebaut, wo ich schon erwartet wurde. In diesem Moment überkam mich das komische Gefühl, als sei ich mitten in der Nacht in einem See ausgesetzt worden und mir blieb nichts anderes übrig, als zu ertrinken. Alles andere hatten wir vorher, zumindest bis zu einem gewissen Grad, proben können. Doch wenn ich jetzt irgendetwas Komisches sagen würde, könnte man das nicht mehr rausschneiden. Sogar in diesem panischen Moment, sah ich die Kamera im Spiegel hinter mir. Okay, es war Zeit, sich zusammenzureißen. Ansonsten würde ich niemals ein Profi werden. Als das Make-Up fertig war, atmete ich noch einmal tief aus.

Seua sah mich an: »Gehen wir?«

»Ja.«
 

»Liebe Fans! Herzlich Willkommen zu unserer Show »Wolf gegen Tiger!« Mein Name ist Time, ich habe heute für euch die Hauptdarsteller aus »Wolfsherz« mitgebracht. Begrüßt mit mir, Cai und Seua!«

Wir betraten das Studio, stellten uns rechts und links von P’Time, der für uns die Sendung moderierte. Er ist im Team eigentlich für das Licht verantwortlich.

»In drei Spielen werden Sie gegeneinander antreten. Der Clou der Sache: Der Gewinner darf drei Stunden lang mit dem Verlierer alles machen, was er will!«

Mhm, das war gar nicht so schlecht für meinen Plan, wenn ich gewinnen würde. P’Time bat uns auf die hohen Stühle, dort standen auch Tische mit Whiteboards und Stiften. Er trat neben mich: »Auf der einen Seite haben wir Cai, den Wolf. Bisher konnten wir ihn schon ein bisschen kennenlernen, doch ich bin mir sicher, er wird noch einige Mysterien für uns bereithalten.«

Fast musste ich mich zusammenreißen, nicht zu lachen bei dieserVorstellung. Mysterien hatte ich sicher keine, war mir eher selbst eins. Für die Fans winkte ich lächelnd in die Kamera und sah aus dem Augenwinkel die Herzen, die in den Chat strömten. Das war ein schönes Gefühl und tat meinem Ego sehr gut. P’Time trat neben Seua: »Und auf der rechten Seite, Seua, den Tiger. Viele von euch kennen und lieben ihn. Aber wird er gegen den Wolf bestehen können?«

Natürlich kam auch er bei den Fans extrem gut an, der Chat wurde von Nachrichten geflutet. P’Time erklärte: »Willkommen zum ersten Spiel: »Klischee-ABC.« Die guten alten Klischees, die wir aus unseren geliebten Dramen kennen, manchmal lieben wir sie, manchmal hassen wir sie. In diesem Spiel werde ich den Beiden fünf Orte nennen und sie müssen innerhalb von 30 Sekunden ein Klischee aufschreiben, welches sie am wahrscheinlichsten für diesen Ort halten. Hierbei gibt es kein richtig oder falsch, sondern ihr, die Fans, werdet darüber abstimmen, welches ihr besser findet.«

Konzentriert hatte ich zugehört und fand sogar, dass sich dieses Spiel ganz interessant anhörte. Wir nahmen die Whiteboards in die Hand, warteten auf P’Times Kommando.

»Also bereit?«

»Ja.«

»Da wir hier sind, ist das erste Setting für euch: Der Wald!«

Für ein paar Sekunden sah ich fasziniert dem Timer zwischen Seua und mir zu, den sie im Studio aufgebaut hatten. Dann begann ich zu schreiben, das war einfach. Wir waren beide eher fertig als der Timer und zeigten unsere Ergebnisse in die Kamera.

»Also Leute, für die erste Runde haben wir bei Cai: Zwei Charaktere verirren sich im Wald und müssen in einer Hütte übernachten. Nicht schlecht für den Start! Schauen wir mal was Seua geschrieben hat. Einer verirrt sich im Wald, verstaucht sich den Fuß und muss zurückgetragen werden. Sehr schön, das haben wir schon sehr oft gesehen. Und natürlich den Regen nicht vergessen! Die Kollegen der Technik haben eure Antworten für die Fans in eine Umfrage umgewandelt. Gleich werden wir sehen, wer die erste Runde gewonnen hat!« Gespannt sahen wir auf den Monitor, wie die Balken sich bewegten, doch Seua gewann knapp.

»Herzlichen Glückwunsch, die erste Runde geht an den Tiger!«

Ich sah weiteren Leuten vom Staff dabei zu, wie sie ein Schild mit einer Nummer an den Plüschtiger legten. Auf meiner Seite war ein Wolf.

»Weiter zu Runde 2!«

Meine Nervosität war meinem Kampfgeist gewichen, dieses Duell unbedingt gewinnen zu wollen.

»Euer Ort ist: Im Hotel.«

Wieder lief der Timer. Wenn man sich regelmäßig solche Serien ansah, war es nicht schwer, ein Klischee zu finden. Ich musste nur die Fans davon überzeugen, dass meine Antwort besser war. Eifrig schrieben wir, dann war auch schon die Zeit um.

»Also Cai, deine Antwort bitte.«

Diesmal las ich sie selbst vor: »Vorne an der Rezeption wird ihnen gesagt, es sei nur noch ein Zimmer frei, welches sie sich teilen müssen.«

P’Time nickte anerkennend: »Das haben wir sicher schon häufiger gesehen, sorgt immer wieder für lustige Szenen. Seua, bitte.«

Er sah auf sein Whiteboard: »Charakter A kommt betrunken ins Hotel, verwechselt das Zimmer und schläft bei Charakter B.«

Oh Mist, das war ziemlich gut und könnte direkt wieder aus Caidens alltäglichen Abenteuer stammen.

»Auch ein sehr witziges Klischee. Lassen wir die Fans entscheiden!«

Leider ging auch diese Runde an ihn und für dieses Spiel müsste ich also mindestens noch zwei Runden gewinnen, um noch eine Chance zu haben. Er grinste mich triumphierend an, was ich genauso erwiderte. Er sollte sich nicht zu sicher fühlen, noch war nichts entschieden. An den Kommentaren sah ich auch, dass die Fans sich gleichmäßig auf unsere Seiten schlugen.

»Seua führt mit zwei Punkten, Cai muss sich also ranhalten. Aber noch kann er gewinnen! Das nächste Setting ist der Flughafen. Viel Glück!«

Bei diesem Ort brauchte ich nicht lange zu überlegen, war diesmal sogar eher fertig als Seua.

P’Time las vor: »Seua schreibt: Emotionale Abschiedsszene, wo am Ende noch das Flugzeug gezeigt wird.«

Diesmal hatte ich eine Chance, dessen war ich mir sicher. Ich zeigte P’Time meine Antwort: »Charakter A denkt, dass Charakter B schon weg ist und wird traurig, aber dann taucht Charakter B plötzlich vor ihm auf. Eine sehr schöne Szene, Cai.«

Während wir auf das Voting warteten, überkam mich ein komisches Gefühl. Ich war schon einige Zeit hier und es machte extrem Spaß, doch ich hatte immer den Gedanken im Hinterkopf, dass es nicht für immer war. In ein paar Monaten würde auch ich abreisen, was mir überhaupt nicht gefiel. Hoffentlich blieb mir diese Szene erspart. Eigentlich wollte ich länger bleiben, also musste ich mir dringend etwas einfallen lassen, wie ich das umsetzen konnte. So berühmt werden, dass ich direkt das nächste Angebot bekomme? Dann würde auch mein Arbeitsvisum verlängert werden. Vielleicht sollte ich Noah fragen, was ich am besten machen könnte.

»…und damit geht der erste Punkt an den Wolf. Glückwunsch, Cai!«, holte P’Time mich mit seiner Aussage ins Hier und Jetzt zurück. Ich löste mich aus den trüben Gedanken, um meinen ersten Sieg zu feiern.

»Jetzt wird es noch einmal spannend! Wenn Cai den nächsten Punkt bekommt, gleicht er aus und kann noch gewinnen. Sollte aber Seua diese Runde gewinnen, ist es entschieden. Der nächste Ort ist: das Krankenhaus!«

Seua drehte sein Schild als erstes um, aber davon ließ ich mich nicht verunsichern. Denn ich war mir sicher, dass diese Runde noch nicht entschieden sein würde.

»Die Zeit ist um! Als erstes die Antwort von Seua bitte.«

Wortlos drehte er sein Schild um, wo nur das Wort »Amnesie« stand.

»Hätten wir Live-Publikum, würden wir vermutlich ein kollektives Seufzen hören. Unsere gute alte Amnesie, niemand vermisst oder braucht sie, trotzdem taucht sie immer wieder auf.«

Das war schon eine sehr gute Antwort, sozusagen das Nonplusultra der Klischees. Aber da die Amnesie ziemlich verhasst war, hatte ich vermutlich eine Chance.

»Was hat Cai geschrieben? Charaktere werden bei irgendetwas z.B küssen, umarmen von einer Krankenschwester unterbrochen und finden es peinlich. Auch sehr gut, Cai! Sehe ich persönlich auch viel lieber als Amnesie, nichts gegen dich, Seua. Also, los Fans!«

Gespannt beobachteten wir, wie die Balken langsam größer wurden. 100 Leute hatten abgestimmt, dann 500, dann 1000. Am Ende war es wieder knapp, doch ich konnte die Leute überzeugen. Unentschieden. Jetzt nur noch die letzte Runde gewinnen, dann hätte ich das erste Spiel in der Tasche. P’Time schien begeistert zu sein, dass es noch einmal spannend wurde: »Auch diese Runde kann Cai für sich entscheiden! Die nächste Runde wird also unseren Sieger bestimmen. Euer Thema ist der Aufzug.«

Diesmal wurde es mit der Zeit sogar recht knapp, aber wir schafften beide rechtzeitig, etwas aufzuschreiben. Fast gleichzeitig drehten wir die Boards um, lasen was wir geschrieben haben.

»Also, liebe Fans. Schauen wir mal, wer diese Runde gewinnt. Seua hat geschrieben: Charaktere, die bei etwas im Aufzug erwischt werden. Ja, das ist heute schon unser zweites Klischee, was sich direkt an die Amnesie anreihen kann. Schauen wir uns an, was Cai geschrieben hat. Charaktere, die sich nicht mögen, bleiben im Aufzug stecken und müssen zusammenarbeiten. Auch das werden wir schon oft gesehen haben, mir fallen direkt Beispiele ein! Lassen wir euch also abstimmen!«

Lange ließen sie uns zittern, die Balken immer wieder unterschiedlich ausschlagen, bis es endlich feststand.

»Das Spiel »Klischee-ABC wurde gewonnen von Cai!«

P’Time nahm meinen Arm und ich trat mit ihm vor die Kamera: »Herzlichen Glückwunsch!«

Die wenigen Leute im Studio begannen zu applaudieren und zeigte die Herzgeste in die Kamera. Ich war meinem Ziel einen Schritt nähergekommen.
 

Beim zweiten Spiel ging es um Allgemeinwissen über Wölfe und Tiger. Mit meinem grottigen Halbwissen über Tiere konnte ich in dieser Runde nicht punkten und lernte außerdem schon wieder, dass ich das genaue Gegenteil eines Wolfes bin. Denn die konnten sehr gut im Dunkeln sehen und hatten auch keine Feinde. Ich war nachts blind und hatte bestimmt eine Person, die mir gerne an die Gurgel springen wollte. Vielleicht auch zwei. Wie nicht anders zu erwarten, gewann P’Seua diese Runde ohne Probleme. P’Time war begeistert, denn das letzte Spiel würde alles entscheiden.

»Liebe Fans, wir haben einen Gleichstand! Je nachdem, wer das letzte Spiel gewinnt, wird als Sieger aus dieser Show herausgehen. Dabei müssen unsere Kandidaten bei diesem Spiel zusammenarbeiten. Das Spiel heißt: »Wir«. Ich werde euch Fragen stellen und ihr müsst erraten, was der Andere antworten würde. Natürlich solltet ihr fair sein und ehrlich sagen, ob die Antwort stimmen würde, oder nicht.«

Das zu gewinnen würde schwierig werden, denn außer den offensichtlichen Sachen, wusste ich echt wenig über Seua. Nur ein ganz kleiner Teil aus seiner Kindheit und das, was ich in den paar Wochen über ihn gelernt hatte. Aber stimmte das überhaupt alles? Ich betete nur, dass die Fragen nicht zu offensichtlich waren, denn meine Schwachstellen kannte er schon alle.

»Achso, bei diesem Spiel gibt es keine Zeitbeschränkung. Ihr legt bitte selbst fest, wann ihr fertig seid.«

Ich sah Seua noch einmal an, vielleicht würde er gnädig mit mir sein. Doch er grinste mich nur an und das hieß, dass er eben genau das nicht sein würde.

»Also gut: Die erste Frage: Was glaubt ihr, findet der Andere an euch attraktiv?«

Skeptisch sah ich an mir herunter. Was sollte man an mir attraktiv finden? Der Chat wurde wieder mit Herzen geflutet, alle warteten gespannt auf unsere Antworten. So war das also, wenn man »geshippt« wurde. Ich schrieb etwas auf, hoffte einfach darauf, dass das irgendwie stimmte. Fast gleichzeitig drehten Seua und ich unsere Whiteboards um, ich hatte »Haare« geschrieben, er »Augen«. Da kannte er mich wirklich zu gut, denn das konnte ich nicht abstreiten. Konnte ich das noch gewinnen?

»Fragen wir also unsere Kandidaten. Cai, stimmt das?«

Zwingen die mich ernsthaft, das vor der Kamera zuzugeben? Okay, ich hatte keine Wahl, das Spiel sollte schließlich fair sein.

»Ja«, gab ich leise zu. Die wussten genau, was die Fans sehen wollten, aber vielleicht sollten sie dabei auch ein bisschen an meine Gesundheit denken. Dass ich an einem Herzinfarkt sterbe, wollten die bestimmt nicht.

»Super, damit bekommt Seua einen Punkt. Wie sieht es bei dir aus, Seua?«

Merkwürdigerweise stimmte auch er meiner Antwort zu, doch ich hinterfragte es nicht weiter, sondern nahm den Punkt gerne entgegen.

»Die Jungs machen es extra spannend für uns heute. Kommen wir also zur nächsten Frage!«

Ich versuchte eine Reaktion zur vorherigen Frage in Seuas Blick zu finden, doch er war komplett in seinem Profi-Modus, lächelte für die Fans und ließ sich nichts anmerken.

»Die nächste Frage: Was ist das Lieblingstier des Anderen?«

Gut, die Frage war schonmal harmlos, aber das hieß nicht, dass ich die Antwort wusste. Darüber hatten wir noch nie gesprochen. Mochte er überhaupt Tiere? Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich jemals irgendetwas gesehen oder gehört hatte, was damit zu tun hatte. Sein Name war zwar »Tiger«, aber den hatte er sich nicht selbst gegeben, oder? Egal, das war meine einzige Möglichkeit. Ich schrieb also »Tiger«, er schrieb »Wolf«.

Einfach aus Höflichkeit und weil es zur Show passte, stimmte ich zu und Seua tat es mir gleich. Das war extrem suspekt.

»Das nenne ich mal Einklang. Der Wolf und der Tiger kennen sich wohl schon ziemlich gut. Hoffentlich kann die letzte Frage endlich den Gewinner der Show festlegen! Ich erinnere euch noch einmal daran: Der Gewinner darf 3 Stunden alles mit dem Verlierer machen, was er will. Natürlich werden wir die Beiden in dieser Zeit auch mit der Kamera begleiten. Die letzte Frage: Was ist die größte Angst des Anderen?«

Fuck. Das war mein Untergang. Seua kannte gefühlt jede meiner Schwachstellen, meine Nervosität, meine Nachtblindheit, weil ich die auch mehr als offensichtlich zur Schau gestellt hatte. Und was wusste ich? Wovor sollte der perfekte Star schon Angst haben? Irgendetwas musste ich schreiben. Schnell kritzelte ich etwas hin, als wir kurz davor waren, unsere Antworten aufzudecken, schloss ich kurz die Augen. Dieses eine Wort wird mich den Sieg kosten, dessen war ich mir sicher. Doch als ich meine Augen wieder öffnete, stand dort etwas ganz anderes.

»Seua hat geschrieben, »Schlangen«, seien Cais größte Angst«, erläuterte P’Time. Mit großen Augen sah ich ihn an: »Das stimmt nicht!«

Es war offensichtlich falsch. Wollte er mich etwa gewinnen lassen? Wusste er von meinem Plan? Meine Gedanken rasten, P’Time redete zwar weiter, aber ich kam überhaupt nicht mit. Diese Antwort hatte mich komplett aus dem Konzept gebracht. Warum?

»Cai hat geschrieben, dass deine größte Angst sei, die Uni nicht zu schaffen. Stimmt das, Seua?«

Er nickte nur. P’Time strahlte: »Sehr gut! Damit haben wir einen Gewinner der Show. Der Wolf hat ganz knapp den Tiger besiegt! Herzlichen Glückwunsch, Cai!«

Zusammen mit P‘Time trat ich vor die Kamera, ließ mich von den Fans im Chat feiern. Seua stand auf der anderen Seite, sah mich erwartungsvoll an.

»Cai, was muss Seua machen?«

Ich wechselte die Seite, nahm Seuas Hand und sagte: »Ich möchte, dass er mir überallhin folgt und wir alles zusammen machen.«

Das war eine gute Möglichkeit, meinen Plan weiter durchzuführen, außerdem konnte ich ihn damit von Dice fernhalten.

»Nach einer kurzen Pause werden wir uns das ansehen. Wie ihr seht, meint der Wolf es ernst!«, schloss P’Time. Wir hörten jemanden hinter uns sagen: »Macht die Kamera aus. Die Jungs brauchen eine kurze Pause.«

»Alles klar. Kamera 3 und 4 sind aus, Fokus Kamera 1 und 2 auf das Camp.«

Ich ließ Seuas Hand los, wandte mich an P’Time: »Du bist eigentlich Lichttechniker, oder?«

Freundlich sah er mich an: »Ja, warum?«

»Ich meine, du hast das richtig professionell gemacht, als würdest du nie was anderes machen.«

Es war einfach schwer, sich vorzustellen, dass er keine Erfahrung im Showbiz haben sollte. Wenn ich eins bewunderte, dann war es Professionalität. Vermutlich, weil ich die selbst noch lange nicht erreicht hatte. Er winkte ab: »Du schmeichelst mir, N’Cai. Ich habe schon öfter solche Shows gesehen und es nachgemacht.«

»Dafür war es wirklich gut! Hat dir das Team gesagt, dass du das machen sollst?«

Energisch schüttelte P’Time den Kopf: »Ursprünglich solltet ihr das allein machen, aber das Team wollte dann doch lieber einen Moderator. Sie haben gefragt, ob es jemand von uns machen würde und da mir sowas Spaß macht, habe ich mich gemeldet.«

Lächelnd legte ich ihm eine Hand auf die Schulter: »Vielleicht solltest du über eine Karriere als Moderator nachdenken! Ich war am Anfang total nervös, aber wegen dir konnte ich das komplett ausblenden.«

P’Time erwiderte mein Lächeln: »Ich bin froh, dass ich das geschafft habe, N’Cai. Fürs Erste arbeite ich ja quasi im Showbiz, das reicht mir.«

Langsam wuchsen mir auch die Leute aus dem Team ans Herz. P’Joe, P’Time, P’Amy, Noah waren Profis, die alles dafür taten, dass ich gut aussah. Auch wenn es hier Leute gab, dir mir nicht alles gönnten, fühlte ich mich wohl. Ich konnte das Gespräch nicht weiterführen, da Seua meine Hand nahm und mich mit sich zog.

»Hey! Ich habe doch gerade mit P’Time geredet!«, beschwerte ich mich.

»Das kannst du immer noch«, knurrte er. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und verstärkte den Griff. Hand in Hand gingen wir zurück zum Camp und ich grinste Dice an, der gerade Steine um das Lagerfeuer legte. Höhnisch grinste er zurück. Na, wer ist jetzt der Gewinner von uns beiden? Ich hoffte einfach, dass er sich die Show komplett angesehen hatte. Ich zog Seua mit, das Team hatte schon dafür gesorgt, dass uns ein Kameramann folgte.

»Cai?«, fragte Seua, als wir in den Wald gingen. Ich hatte nicht wirklich ein Ziel, mir würde schon etwas einfallen, was ich mit ihm machen wollte. Zumindest konnte er mich nicht mehr loslassen.

»Mhm?«

»Findest du nicht, du solltest nicht P’Time, sondern dich selbst loben?«, fragte er.

»Wieso?«, gab ich skeptisch zurück.

»Du hast das zum ersten Mal gemacht, warst extrem nervös, aber das hat man dir kaum angesehen. Du denkst vielleicht, dass du nicht professionell genug bist, aber ich glaube, du bist auf einem verdammt guten Weg dahin, wirklich. Ich bin echt froh, dass sie dich für diese Rolle ausgewählt haben, weil es wirklich Spaß macht, mit dir zu arbeiten«, wie er das sagte, klang es für mich wie die Stimme eines Engels. Ein Lob vom Profi? Es gab nichts, was mich glücklicher machen würde. Außerdem hatte er gesagt, dass er gern mit mir arbeitete. Ich wusste nicht, ob er das absichtlich machte, aber Seua wusste genau, was er sagen musste, um mein Herz höher schlagen zu lassen.

»Danke, P‘«, brachte ich gerade so hervor. »Mir macht es auch Spaß, mit dir zu arbeiten.«
 

Eine Weile gingen wir durch den Wald, alles lief nach Plan. Ich konnte schon unseren Hashtag #CaiSeua vor mir sehen, gegen den #DiceSeua keine Chance hatte. In der Ferne sah ich einen Fluss, in dem große Steine lagen, mit deren Hilfe man ihn überqueren konnte. Wenn das nicht mal eine Challenge war. Aufgeregt zeigte ich in die Richtung des Flusses:

»Lass‘ uns da rüber, aber du darfst mich nicht loslassen.«

Seua sah nicht begeistert aus, aber er musste nun mal tun, was ich wollte. Wir trugen immer noch die Klamotten aus der Show, Hemd mit Sakko und Jeans, inklusive Schuhen, die nicht wirklich für solche Ausflüge geeignet waren. Ich wusste, dass es eine absolut dämliche Idee war, aber irgendwie mochte ich den Gedanken, etwas zu riskieren. Außerdem war die Strömung zwar stark, aber das Wasser war seicht, da konnte schon nicht viel passieren. Außerdem habe ich gehört, dass Tiger sehr gut schwimmen können. Seua ging vor, schaffte es das Gleichgewicht auf den rutschigen Steinen zu halten, auch wenn er dafür nur einen Arm benutzen konnte. Ich folgte vorsichtig. Sogar der Kameramann war lieber am Ufer stehen geblieben. Ein Schritt nach dem Anderen, bloß nicht auf die Kanten treten. Nicht auf die…Plötzlich rutschte ich aus, kippte zur Seite und da Seua mich festhalten wollte, stürzte er hinterher. In der nächsten Sekunde lagen wir im Wasser. Es war ziemlich kalt und vermutlich hatten wir uns auch den ein oder anderen blauen Fleck eingehandelt. Das Wasser ging mir bis zur Hüfte, aber durch die Strömung war es ziemlich unangenehm. Ich sah Seua an, der neben mir saß: »Hast du dich verletzt?«

Wütend sah er mich an: »Was glaubst du denn?«

»P‘, es tut mir leid«, ich wolle gerade schmollen, da spritzte er mich nass und lachte.

»Du bist so ein verdammter Idiot, Cai. Wunder‘ dich bitte nicht, wenn P’Star dir die Klamotten in Rechnung stellt.«

Ich stimmte in das Lachen mit ein: »Sorry. Es hätte ja klappen können.«

Für eine Weile saßen wir nur da und lachten, bis die Leute aus dem Team kamen. Sie zogen uns aus dem Wasser und gaben uns Handtücher. Seua legte mir das Handtuch über den Kopf, trat neben mich und flüsterte: »Wolltest du etwa vor dem Kameramann fliehen?«

Zum Glück konnte er unter dem Handtuch nicht sehen, wie ich rot wurde. Aber da ich die Kontrolle über alles hatte, war ich auch mutiger.

»Vielleicht«, flüsterte ich zurück.

Ich nahm mir das Handtuch vom Kopf, sah dass der Kameramann immer noch wie angewurzelt am Ufer stand und seine Kamera immer nur dorthin drehte, wo gerade etwas passierte. Weil die Fans sich Sorgen machten, signalisierten wir ihnen kurz, dass es uns gut ging.
 

Während ich mich im Wohnwagen umzog, dachte ich darüber nach, was ich als Nächstes mit Seua machen wollte. Schließlich hatte ich noch zwei Stunden Zeit. Wann hatte man schon mal die Gelegenheit, den Tiger zu befehligen? Wir hatten vom Kostümteam angemessenere Klamotten für den Wald bekommen, nämlich T-Shirt und Wanderhose und geländetaugliche Schuhe. In diesem Outfit trat ich aus dem Wohnwagen, Seua trug die gleichen Klamotten, stand schon direkt bereit. Hinter ihm stand eine diesmal eine Kamerafrau. Eure Devise ist es auch, bloß keine Sekunde zu verpassen, oder? Seuas Haare waren leicht zerzaust, auch er trug das Make-Up der Show nicht mehr. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, gut auszusehen. Wie er das immer schaffte, war mir ein Rätsel. Vermutlich lag es an seinem Job. Er hielt mir seine Hand hin, die ich sofort ergriff. Ich hatte schon eine Idee, wie ich meine Zeit mit ihm sinnvoll nutzen konnte. Wieder gingen wir in Richtung Wald. Die Idee, die Kamera abzuschütteln, war gar nicht so schlecht. Außerdem würden die Fans dann ihre eigenen Theorien aufstellen. Ich sah es als Challenge an, auch um zu schauen, ob Seua sicher in unebenem Terrain war. Es musste einfach etwas geben, was er nicht konnte oder wovor er Angst hatte. Schon bei unserer Ankunft hatte ich gesehen, dass der Wald auf einen Berg führte. Zielstrebig ging ich darauf zu, die Kamerafrau hielt Schritt. Gemeinsam stiegen wir den Berg hinauf, dort wurde der Wald dichter. Teilweise war der Weg so steil, dass wir uns an den Bäumen und Ästen festhalten mussten. Immer wieder sah ich hinter mich, da rutschte die Kamerafrau plötzlich ab. Ich schaffte es noch, ihre Hand zu greifen, ohne Seua dabei loszulassen. Er stand ganz oben, ich wurde von ihm und die Kamerafrau von mir festgehalten. Auch sie hatte wegen der Kamera nur eine Hand frei. Seua schlang seinen freien Arm um einen Baum, womit es ihm gelang mich und auch sie wieder hochzuziehen. Kurze Zeit später standen wir auf einem Absatz.

»Danke, Seua, danke, Cai«, bevor sie an sich selbst heruntersah, sah sie nach, ob ihre Kamera in Ordnung war.

»Habt ihr euch verletzt?«, fragte Seua und es klang fast schon genervt. Vermutlich dachte er, dass ich plane, ihn umzubringen. Wir schüttelten beide den Kopf. Sie sagte uns noch, dass sie Fay heißt. Ihre kurzen braunen Haare hatte sie sich oben auf dem Kopf zu einem Zopf gebunden. Sie trug eine Brille, hielt die Kamera fest, als ginge es um ihr Leben. Doch als wir weitergingen, achtete ich auf sie, damit nichts passierte und dabei stellte ich fest, dass sie zwischendurch grinste. Meine Pläne waren anscheinend zu leicht zu durchschauen. Ich beschloss, diesen Plan aufzugeben, da Fay schließlich auch nur ihre Arbeit machte und ich auch wollte, dass eine gute Atmosphäre im Team herrschte. Ich hatte noch genug andere Pläne, also war das okay. Langsam wurde der Wald lichter und auch der Weg war nicht mehr steil. Als wir an einer Lichtung ankamen, war ich es der vorlief. Der Berg bildete eine Art Aussichtsplattform und ich wollte unbedingt zum Rand, um die Aussicht zu sehen. Doch Seua lief nur widerwillig mit, es war schwer, ihn von der Stelle zu bekommen. Ich konnte es jedoch nicht mehr abwarten und ließ daher zum ersten Mal seine Hand los und stellte mich an den Rand. Diese Aussicht war es wert. Das Gelände, auf dem wir uns befanden, war viel weitläufiger als ich dachte. Außer der kleinen Freifläche, auf der die Wohnwagen standen, war rundherum nur Wald. Es war so dicht, dass man von hieraus nicht einmal das Camp sehen konnte. Ich beobachtete die Leute, die an den Wohnwagen vorbeihuschten. Nicht nur war die Aussicht fantastisch, hier oben fühlte es sich an, als wäre man allein auf der Welt. Hier gab es nichts außer Wiese, Blumen und diesen Berg. Hier könnte man bestimmt gut drehen und für ein Fotoshooting würde dieser Ort sich auch eignen. Ich sah mir die weitere Umgebung an, erinnerte mich daran, dass wir ziemlich lang hergefahren waren. Es war eine ländliche Gegend mit einzelnen, kleinen Siedlungen, der Wald stand für sich allein. Ich vermutete, dass die Scouts diesen Ort unter anderem ausgesucht hatten, weil er schwierig zu finden war, falls verrückte Fans Seua oder jemand von den Anderen verfolgen wollten. Seua stand immer noch am Anfang des Berges, hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

»Willst du das hier gar nicht sehen?«, rief ich ihm zu, doch er schüttelte den Kopf. Stattdessen trat Fay neben mich, ließ ihre Kamera schweifen. Ich trat noch einen Schritt vor, wollte mir das alles genauer ansehen. Im nächsten Moment wurde ich am Arm nach hinten gezogen.

»Das ist gefährlich, Cai!«, völlig verängstigt sah Seua mich an. Lange hielt er meinen Arm nicht fest, sackte auf die Knie. Sofort bat ich Fay, die Kamera auszuschalten. Er hockte dort, hielt sich eine Hand an die Brust und es sah aus, als hätte er Schmerzen. Ich kniete mich vor ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Seua, was ist los?«

Wir waren ziemlich nah an der Kante, daher musste ich aufpassen, dass er nicht umkippte. Er sah mich Tränen in den Augen an. Tränen? Seua? Seine Reaktion erschütterte mich völlig, ich konnte überhaupt nicht einordnen, woher das plötzlich kam. Was konnte ihn dermaßen aus der Fassung bringen? Es dauerte eine Weile, bis er antwortete:

»Cai…ich…habe Höhenangst. Und es nicht nur, dass ich einfach nicht nach unten gucken kann, wie es bei den meisten ist, bei mir ist es ziemlich extrem, wie du siehst.«

Es klang, als müsste er sich für jedes Wort anstrengen. Vielleicht war es doch besser, wenn ich mich von der Klippe stürzte. Dann wäre Seua sein Problem sofort los.

»Tut mir leid, P‘! Hätte ich das gewusst, wäre ich niemals den Berg mit dir raufgegangen. Warum hast du denn nichts gesagt?«, auch mir standen die Tränen in den Augen. Es tat verdammt weh, ihn in diesem Zustand zu sehen und zu wissen, dass man selbst daran schuld war. Ich kam mir unglaublich bescheuert vor. Natürlich wollte ich seine Schwachstelle herausfinden, aber doch nicht so!

»Das war doch der Deal«, flüsterte er krächzend. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Er hätte mit Leichtigkeit die Show gewinnen können, was mich davon abgehalten hätte, auf dumme Ideen zu kommen. Trotzdem hatte er mich gewinnen lassen. Warum?

»Es ist egal, was der Deal war! Ich weiß, dass du ein Profi bist, aber du…«, der Kloß in meinem Hals ließ mich nicht weitersprechen. Vorhin hatte er noch gesagt, dass es Spaß machte, mit mir zu arbeiten, das sah er vermutlich nicht mehr so. Je länger er in meiner Nähe ist, desto gefährlicher ist es für ihn. Vor allem hatte ich auch noch seine Hand losgelassen, als es für ihn am schwierigsten war.

»Egal was du jetzt denkst, Cai, vergiss‘ es bitte ganz schnell wieder«, sagte er, doch ich schüttelte nur den Kopf.

»Kannst du mir dein Funkgerät geben, Fay?«, fragte ich. Schon als wir noch unten waren, war mir aufgefallen, dass sie ein Funkgerät am Gürtel trug, um mit dem Team in Verbindung zu bleiben.

»Klar. Ich wollte schon fragen«, sie nahm es von ihrem Gürtel und gab es mir in die Hand.

»Halt diesen Knopf gedrückt, dann hören dich alle.«

Ich tat, was sie erklärt hatte und sagte: »Hey, Leute, ich bin’s, Cai. Wie ihr vielleicht gesehen habt, sind wir hier oben auf dem Berg. Ich habe Fay gebeten, die Kamera auszumachen, weil wir hier ein kleines Problem haben. Es wäre gut, wenn jemand vom Team kommen könnte, damit wir Seua zusammen runterbringen können. Es geht ihm nicht gut. Ach, und ich wollte mich entschuldigen, dass ich ein unsensibler Idiot bin.«

Erst war es still am anderen Ende, doch dann hörte ich: »Ähm, okay. Geht es dir und Fay gut?«

»Ja.«

»Alles klar. Wir schicken euch jemanden, du kümmerst dich am besten so lange um Seua. Danke für die Meldung, wir haben uns schon Sorgen gemacht.«

Ich gab Fay das Funkgerät zurück, musste erst einmal Seua von diesem Abgrund wegbekommen. Mit beiden Händen hielt ich ihn an den Schultern.

»Mach‘ die Augen zu, Seua. Ich verspreche dir, dass nichts passieren wird, okay?«, ich sah ihn an, musste sichergehen, dass er mir vertraute.

»Okay«, flüsterte er.

Er schloss die Augen, ich hielt seine Schultern fest und zusammen richteten wir uns auf. Ich legte ihm einen Arm um die Schulter, ging langsam in Richtung Wald. Schritt für Schritt. Wir mussten weit genug in den Wald reingehen, sodass er den Abgrund nicht mehr sehen konnte. Ich spürte, wie er zitterte. Er war bereit seine größte Angst zu überwinden, nur um einen Trottel wie mich zu retten. Ich konnte es kaum glauben. Für diesen Moment versuchte ich diese Gedanken loszuwerden, mich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor mir lag. Nachdem wir ein Stück in den Wald gegangen waren, sagte ich: »Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

Langsam öffnete er die Augen, ich beobachtete ihn, doch es schien, als hätte er sich schon ein bisschen beruhigt. Trotzdem zitterte er noch. Vorsichtig nahm ich ihn den Arm, wusste nicht, wie ich ihn sonst beruhigen konnte. Ich erinnerte mich daran, dass es bei mir gewirkt hatte. Seua erwiderte die Umarmung sofort, klammerte sich an mich. Zumindest mich beruhigte es, weil er mich scheinbar noch nicht komplett hasste. Sein Kopf lag auf meiner Schulter und ich merkte, wie seine Atmung ruhiger wurde. Erst als wir die Leute aus dem Team hörten, löste er sich von mir. Sie hatten jemanden geschickt, den ich nicht kannte und eine Sanitäterin. Ich trat zurück, damit sie sich um Seua kümmern konnten. Der Mann aus dem Team sah mich an:

»Ihr schafft es allein runter, oder?«

»Ja klar.«

Ich sah, wie sie Seua stützten und dann mit ihm im Wald verschwanden. Fay und ich folgten wortlos. Unten konnte man schon von weitem die Leute vom Team sehen, die sich versammelt hatten, um uns in Empfang zu nehmen. Seua wurde sofort zu einem der Wohnwagen gebracht. Ich blieb daneben stehen, wo Ray schon auf mich wartete. Wie immer trug er sein Tablet bei sich. Besorgt sah er mich an:

»Cai, was ist da oben passiert?«

»Ich bin mit Seua auf den Berg gegangen, ohne zu wissen, dass er extreme Höhenangst hat«, flüsterte ich ihm zu. Fay war zwar mittlerweile verschwunden, aber man wusste nie, ob nicht doch jemand etwas aufnahm. Auch der Cast hatte sich um den Wohnwagen versammelt, Ray tat mir den Gefallen, auch sie darüber zu informieren. Ich rechnete damit, jede Sekunde von Dice überfallen zu werden. Zum Glück bot sich ihm die Gelegenheit nicht, da wir zu einer Versammlung zusammengerufen wurden. Im Kreis stellten wir uns um den Typen, der vorhin auch Seua vom Berg geholt hatte.

»Es gab einen kleinen Zwischenfall oben auf dem Berg, daher geht es Seua nicht gut. Er wird sich im Wohnwagen ausruhen. Wir werden daher für heute sämtliche Kameras ausgeschaltet lassen, die Fans sind bereits informiert. Das heißt, ihr könnt euch den Rest des Tages ausruhen. Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass Cai keine Schuld daran hat. Morgen geht es dann wie gewohnt mit dem Programm weiter.«

Die Menge löste sich schnell auf und ich ging mit Ray zurück zum Wohnwagen. Auch wenn er gesagt hatte, dass es nicht meine Schuld war, sah ich das anders. Ich war schuld, dass niemand arbeiten konnte. Schon wieder. Ich könnte verstehen, wenn die Fans enttäuscht sein würden. Ray legte mir eine Hand auf die Schulter: »Cai, versuch‘ doch bitte nicht traurig zu sein. Wenn Seua nichts gesagt hast, was solltest du denn machen?«

Natürlich hatte Ray Recht, aber er hatte ihn nicht in diesem Zustand gesehen.

»Ich weiß«, sagte ich leise.

»Die Fans sind auch nicht sauer. Der Sender hat eine Erklärung veröffentlich, dass es Seua nicht gut geht. Aber niemand gibt dir die Schuld dafür. Im Gegenteil! Sie fanden es toll, wie lieb du dich um ihn gekümmert hast.«

»Was? Aber die Kamera war doch aus, oder nicht?«, ich konnte nicht glauben, was er mir erzählte. Und solange Ray keine Drohne war, konnte er das nicht gesehen haben. Er rief den Livestream auf seinem Tablet auf und spulte zurück.

»Für eine Weile war die Kamera aus, ja. Aber die Umarmung wollte ich Fay wohl nicht entgehen lassen.«

Er drehte das Tablet in meine Richtung, zeigte mir den kleinen Ausschnitt, der zeigte wie ich Seua umarmte. Fay hat also doch die Kamera wieder angemacht. Bei Gelegenheit würde ich sie darauf ansprechen, doch zunächst war ich einfach erleichtert, dass sie nicht seinen Zusammenbruch gefilmt hatte. Ich schob Ray das Tablet wieder hin.

»Natürlich geben mir die Fans nicht die Schuld, sie wissen auch nicht, was passiert ist. Hätten sie das gesehen, wäre es das gewesen für mich. Ich fühle mich wie der letzte Idiot, Ray.«

Auch er ließ die Schultern sinken, wusste, dass er bei mir auf Granit biss. Trotzdem versuchte er zu lächeln: »Das kannst du nicht mehr ändern, aber ich bin sicher, dass Seua sich schnell erholen wird. Ihr werdet morgen normal weitermachen können. Er wird schon nicht sauer sein.«

Er wollte mich aufmuntern, doch es bewirkte eher das Gegenteil.

»Sorry, Ray. Ich muss jetzt für einen Moment allein sein«, sagte ich und ging in Richtung Wald. Ich musste erst einmal kurz hier weg. Meine Gedanken überschlugen sich schon wieder. Konnte ich denn nicht einmal was richtig machen? Irgendwann ließ ich mich auf den Waldboden fallen, sah mir die Baumkronen an. In der beginnenden Dämmerung sahen die Äste aus wie dünne Arme, die sich bewegte. Unheimlich. Ich hatte auch nicht vor, mir den Knöchel zu verstauchen und im Wald verloren zu gehen. Es war sowieso unrealistisch, dass diese Leute einfach gefunden wurden. Vor allem von der Person, von der sie gefunden werden wollten. Die Kälte des Bodens und die unheimliche Stille beruhigten mich ein bisschen. Erst hatte ich ihn in den Fluss gestürzt, dann hatte ich ihn seiner größten Angst ausgesetzt. Es war einfach nur ironisch. In der Show hatten wir gelernt, dass Tiger gute Schimmer, aber keine guten Kletterer waren und das passte genau zu ihm. Gefühlt war es ewig her, dass ich wirklich allein war. Während der Arbeit an dieser Serie, war immer jemand um mich, meistens Seua. Irgendwie hatte ich mich schon daran gewöhnt, dass er einfach immer da war. Derart viel Zeit mit jemandem zu verbringen war neu für mich, aber ich mochte es auch. Es gab keine bessere Art, sich kennenzulernen. Wobei…War ich, was Seua betraf, schon ein hoffnungsloser Fall? Ich stand auf, klopfte mir die Blätter von den Beinen und ging ins Camp zurück. Auch wenn ich gerne länger geblieben wäre, wenn ich schon nicht arbeiten konnte, wollte ich wenigstens dort anwesend sein. Außerdem würden mich diese Gedanken auch nicht weiterbringen. Kaum war ich wieder da, kam mir jemand vom Team entgegen: »N’Cai, Seua möchte dich sprechen.«
 

Ohne zu zögern betrat ich den Wohnwagen, in dem es dunkel genug war, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ich hörte nur ein Klicken, dann Schritte. Ängstlich stolperte ich nach hinten und fand mich auf etwas weichem wieder, vermutlich ein Bett. Das Licht ging an und ich sah Seua über mir, er griff meine beiden Handgelenke, hielt mich fest. Völlig überfordert stotterte ich:

»P’Seua?«

Grinsend sah er mich an: »Na, was planst du jetzt, Cai? Du kennst meine Schwachstelle. Was machst du damit, hm?«

Ich versuchte mich zu befreien, doch gegen ihn hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Er kam mir immer näher.

»Ich habe nichts damit vor, P‘. Vielleicht wollte ich deine Schwachstelle herausfinden, das gebe ich zu. Aber, ich wollte nie, dass es dir deswegen schlecht geht«, entschuldigend sah ich ihn an. Sei bitte nicht sauer. Verzeih‘ mir, wollte ich sagen, doch ich brachte es nicht über die Lippen. Er war mir mittlerweile so nah, dass ich seinen Atem spürte. Sollte das etwa seine Rache sein?

»Das weiß ich, Cai. Ich bin selbst schuld, dass es auf diese Art enden musste.«

Ganz kurz ließ er mein Handgelenk los, um mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Eine Sekunde lang vergaß ich zu atmen.

»Abgesehen davon interessiert mich dein anderer Plan viel mehr«, flüsterte er.

»W-was für ein anderer Plan?«

Dieser entschlossene Blick sagte mir, dass er mich nicht einfach gehen lassen würde.

»Wenn du nicht willst, dass ich mitkriege, was du planst, musst du das schon subtiler angehen, Cai. Ich kenne Dice und euer Kleinkrieg ist mir nicht entgangen. Außerdem bist du plötzlich darauf bedacht, jede Sekunde mit mir zu verbringen, wo du mich doch für gefährlich hältst. Also?«, er hob die Augenbrauen.

Warum hatte ich immer noch nicht gelernt, dass man den Tiger nicht verarschen kann? Wie kam ich da wieder raus?

»Es freut mich, dass du dich offensichtlich wieder erholt hast, P‘. Du bist wieder ganz der Alte.«

Zu meinem Plan äußerte ich mich nicht. Auch wenn Seua das Offensichtliche erkannt hatte, gab es ein wichtiges Detail, welches er nicht wusste und auch nicht wissen sollte.

»Das stimmt. Beantwortet aber nicht meine Frage«, flüsterte er mit einem bedrohlichen Unterton. Ich drehte mein Gesicht weg, um ein bisschen atmen zu können. Ich wollte diese Frage nicht beantworten. Meine Lügen würden er ohnehin durchschauen, da schwieg ich lieber.

»Du sagst nichts? Dann finde ich das schon selbst raus.«

Nein. Das durfte er auf gar keinen Fall. Wenn er das erfuhr, war ich geliefert. Meine geschockte Reaktion war ihm nicht entgangen.

»Wen könnte ich fragen? Dice? Ray? Oder…«

»Bitte nicht, P’Seua!«, flehte ich, sah ihn von der Seite an, zum Glück wurde sein Blick sanfter.

»Also dann, werde ich darauf warten, bis ich selbst draufkomme. Aber du musst mir eine Sache versprechen, Cai.«

Seua ließ mich los, stand auf und lehnte sich in dem schmalen Flur an den Schrank. Ich setzte mich auf.

»Was denn?«

»Du musst den Plan weiter durchziehen. Solange, bis du deine Antwort gefunden hast«, erklärte er. Obwohl ich mich noch nicht davon erholt hatte, wollte ich ihm dieses Versprechen natürlich nicht abschlagen. Ich stand auf, musste mich kurz fangen, da meine Beine fast nachgaben. Ich wollte den Moment nutzen, ihm zu zeigen, dass er nicht komplett gewonnen hatte. Ich näherte mich ihm, bis sich unsere Nasen fast berührten und sah ihm in die Augen:

»Darauf kannst du dich verlassen.«
 

Irgendwie überlebte ich es, aus dem Wohnwagen zu entkommen und dann auch noch eine Nacht im Zelt mit ihm zu verbringen. Schnell war die Nacht um, Seua schlief noch. Trotz meiner Akku-Lampe, hatte ich die letzte Nacht kaum ein Auge zugemacht. Gestern ist viel passiert und ich konnte überhaupt nicht aufhören zu denken. Ich sah auf mein Handy. 6:35 Uhr. Leise schlich ich mich aus dem Zelt, es wurde schon langsam hell, trotzdem brauchte ich die Taschenlampe noch. Die morgendliche Luft im Wald war sehr angenehm, ließ mich gleich ein bisschen wach werden. Bisher sah es nicht aus, als wäre schon jemand anderes wach. Heute wollten wir ohnehin erst um neun Uhr anfangen. Ich bewegte mich vom Camp weg, um niemanden zu wecken. Mein kleiner Spaziergang führte mich ein bisschen durch den Wald, aber nicht zu weit. Als ich Schritte hörte, drehte mich um und leuchtete der Person mit meinem Handy direkt in die Augen. Er hielt sich die Hand vor das Gesicht:

»Hab‘ ich dich, Cai.«

Vom Gesicht her konnte ich nicht viel erkennen, aber diese Stimme hatte sich in mein Gehirn eingebrannt. Dice. Ich konnte den genervten Seufzer nicht unterdrücken.

»Vergiss‘ es, okay? Es ist noch nicht mal sieben Uhr, außerdem weiß ich genau, was du sagen willst«, schickte ich präventiv voraus, in der Hoffnung ihn loszuwerden.

»Schön, aber so läuft das nicht bei mir, Cai. Du weißt schon, dass dein Verhalten gestern, absolut idiotisch war, oder?«

Ich senkte mein Handy, ging einfach weiter, wieder zurück in Richtung Camp. Dice lief mir hinterher: »Erst hast du gesagt, dass ihr nur Freunde seid. Und dann musst du mir die ganze Zeit unter die Nase reiben, wie gut ihr euch versteht? Leg‘ dich endlich fest. Willst du was von ihm oder nicht?«

Ich beschleunigte meine Schritte. Ständig diese Fragen. Eigentlich wollte ich einen ruhigen Morgen genießen, doch nicht mal das war mir gegönnt.

»Dice, ich wollte nur ein bisschen spazieren. Könnten wir das bitte wann anders besprechen?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

»Können wir nicht. Was ist deine Antwort?«

Ich lief rückwärts, um ihn ansehen zu können: »Ich bin niemandem, außer mir und Seua, eine Antwort schuldig.«

Doch auch damit gab er sich nicht zufrieden: »Glaub‘ bloß nicht, dass ich aufgeben werde!«

Einfach weiterlaufen. Irgendwann lief ich in jemanden hinein, der sofort die Arme um mich schlang. Dice Augen wurden groß, er blieb stehen: »Seua?«

»Darf man fragen, was ihr am frühen Morgen hier veranstaltet?«

Ich ließ Dice darauf antworten: »Keine Sorgen. Ich muss Cai nur seine Grenzen aufzeigen.«

»Und ich wollte nur eine Sekunde meine Ruhe«, grätschte ich dazwischen. Den Schwachsinn, der er erzählte, wollte ich nicht kommentieren.

»Du hast ihn gehört, Dice. Wir kennen uns schon ziemlich lange. Was du hier machst, wird auch nichts ändern«, erklärte Seua. Ändern? Woran? Ich war schon verwirrt genug, das machte es nicht besser. Trotzdem war es mal wieder ein Sieg für mich. Ich konnte spüren, wie Dice im Innern brodelte.

»Das werden wir sehen! Warum bist du auf Cais Seite? Stehst du auf ihn?«

Und schon wieder waren wir bei dieser Frage. Der Unterschied war nur, diesmal interessierte mich die Antwort. Außerdem, ich bin auch noch da, Dice.

Seua seufzte: »Bist du dir sicher, dass du das wirklich wissen willst?«

Hieß das etwa, er würde es ihm hier und jetzt sagen? Kann mich bitte jemand wecken? Irgendwie kommt mir das alles zu surreal vor.

»Ja.«

Seua verstärkte seinen Griff um mich: »Gut, dann werde ich das für dich herausfinden.«

Als ich das hörte, musste ich aufpassen, nicht direkt in Ohnmacht zu fallen.

»So meinte ich das nicht!«, versuchte Dice ein letztes Mal einzulenken, doch Seua hatte mich schon losgelassen und lief schulterzuckend davon. Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen. Hieß das etwa, dass wir den gleichen Plan hatten?

»Bilde dir bloß nichts ein, Cai. Das hat er nur gesagt, um mich zu ärgern!«, sagte Dice noch, während er wütend an mir vorbeistapfte. Wow, was für eine Szene. Diesmal war es echt schade, dass keine Kameras da waren. Ich schüttelte nur den Kopf und kam endlich dazu, die morgendliche Ruhe zu genießen.
 

Später absolvierten wir unser Fotoshooting mit dem kompletten Cast. Jeder der Charaktere wurde einmal mit einem der anderen Charaktere fotografiert, bis alle Kombinationen fertig waren. Am leichtesten fiel mir das Shooting mit Dice, denn die Genervtheit, die ich gegenüber ihm empfand, kam mir direkt wieder hoch. Mit den Mädels machte es am meisten Spaß, gegenüber ihnen hatte ich nur positive Gefühle. Immer wenn ich sie sah, ging es mir direkt besser. Danach stand unser kleiner Extra-Dreh an, der auch für die Fans besonders war, weil man die Szene und das Behind-the-Scenes gleichzeitig sehen konnte. Ein Film im Film. Wir bekamen nur eine Decke und einen Picknickkorb, aber kein Drehbuch. Die Dialoge sollten wir improvisieren.
 

Wolfsherz – Extra –
 

Die ganze Zeit über hielt sich Nok an meinem Ärmel fest, als wir durch den Wald liefen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Ich habe Angst, dich aus den Augen zu verlieren und mich dann zu verlaufen.«

Ich löste ihn von meinem Ärmel, nahm stattdessen seine Hand in meine.

»Das ist besser, oder?«

»Ja«, sagte er leise, mit gesenktem Blick. Diesmal waren wir mir mit der ganzen Gruppe unterwegs. Die Mädels, der Typ, den ich nicht leiden konnte, sein Kumpel Cha, Nok und ich. Ich wollte mit Nok allein gehen, doch sie hatten es mitbekommen und kamen mit. Na gut. Mit mehreren Leuten wurde es bestimmt lustig. Ich plante damit, Nok mal wieder aus seinem Zimmer und von seinen Hausaufgaben wegzubekommen. Zusammen würden wir ein Picknick im Wald machen. Offenbar war Nok das noch nicht bewusst, denn er fragte:

»Was machen wir hier, P’Wolf?«

»Das, Nok, nennt man Ausflug mit Freunden. Wir machen unser Picknick, hängen ein bisschen hier rum, plaudern und genießen die Natur.«

Wie auf das Stichwort traten die anderen vor und nahmen uns in ihre Mitte.

»Letztens waren wir doch auch zusammen beim Karaoke. Das hat Spaß gemacht, oder nicht?«, fragte Ying. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, er wusste gar nicht, wen er zuerst anschauen sollte. Dann lächelte er:

»Ja, das hat Spaß gemacht. Danke, dass ihr meine Freunde seid.«

In diesem Moment konnte auch ich für einen Moment meine Genervtheit gegenüber Krai vergessen. Nicht nur Nok war froh darüber, auch mir gefiel es, wie ich aufgenommen wurde.

»Gerne«, sagten wir alle synchron. Cha stellte den Korb ab, Krai breitete die Decke aus. Im Kreis setzten wir uns darauf, links neben mir Cha, rechts Nok. Schon vorher hatten wir zusammen alles vorbereitet, die Sandwiches, das Obst und die Getränke. Wir verteilten das Essen in Mitte und versuchten dabei abwechselnd Nok Geschichten aus dem Alltag zu entlocken, die nichts mit der Uni zu tun hatten, aber daran scheiterten wir. Es war eine entspannte Runde, wir lachten viel. Nach dem Essen spielten wir UNO, wobei Nok wieder in seinen konzentrierten Modus wechselten. Wir verbündeten uns gegen ihn, sodass er einige verlorene Runden in Kauf nehmen musste.

»UNO, letzte Karte!«, rief er, doch im nächsten Zug musste er schon wieder vier Karten ziehen. Nok nahm es gelassen und schaffte es am Ende doch, die Runde zu gewinnen. Dabei unterhielten wir uns. Da wir uns noch nicht allzu lange kannten, hatten wir uns alle viel zu erzählen. Ying und Yang erzählten uns, warum sie die Uni ausgesucht hatten, Krai erzählte von seinem Auslandsaufenthalt, Cha von seinem Traumjob und ich von meinem Leben außerhalb Thailands. Nok blieb still und als nach einer Weile sein Kopf an meine Schulter sank, wussten wir auch warum. Er war einfach eingeschlafen.

»Ich glaube, auch heute hatte Nok viel Spaß, oder?«, fragte Krai. Alle nickten.

»Auf jeden Fall. Ab jetzt machen wir sowas hoffentlich öfter und natürlich immer mit Nok!«, schlug ich vor und sie lachten leise. Yang sah mich an: »Solange du dabei bist, müssen wir das wohl, P’Wolf! Ihr seid doch schon ein Duo!«

Da hatte sie Recht. Sobald die Gruppe ihre Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge gerichtet hatte, legte ich Nok einen Arm um die Schulter.

»Wir sind ein gutes Duo, oder?«, flüsterte ich.
 

Wolfsherz – Extra – Ende
 

Als die Szene beendet war, interviewten sie jeden von uns noch einmal einzeln, bevor wir nach Hause fuhren. Das Camp hatte mich physisch und mental komplett fertig gemacht, aber ich hatte auch Spaß und hab einiges dazugelernt. Wir schleppten die Koffer in Seuas Wohnung und ich freute mich einfach nur darauf, mich auszuruhen. Doch sobald die Koffer im Flur standen und die Tür ins Schloss gefallen war, drängte Seua mich an die Wand, stützte sich mit der Hand neben meinem Gesicht ab.

»Darf ich dich küssen, Cai?«



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Luiako
2023-01-08T11:13:56+00:00 08.01.2023 12:13
So guten Mittag erst Mal ❤️

Ich habe gleich dein Kapitel verschlungen als ich sah das du endlich wieder ein Kapitel online gestellt hattest. Denn ich warte immer sehnsüchtig auf deine Kapitel, und beim letzen Kapitel hatte ich leider keine Zeit und ich war auch noch mit einer fetten Erkältung im Bett 🤧😷🤕🤒 🤗 Aber das neue habe ich sofort gelesen und es hat mir den morgen versüßt... Das dazu...

So nun zu deinem Kapitel...
Wie konntest du nur an dieser Stelle cuten 😱😱😱😱
Oh Gott du folterst mich damit, das ist dir hoffentlich klar 🙈🤣
Ich liebe die beiden und ich hoffe das Cai es zulässt das Seua in küssen darf. 🙈 Oh mein Gott ich hoffe es sehr...

Aber ich liebe deine Schreibweise und ich bin jedes Mal gefesselt wenn ich ein Kapitel lese.

Aber der Kleinkrieg zwischen Dice und Cai ❤️❤️❤️ ich liebe es. Das ist so spannend und dann noch die Sache mit dem ich finde es für dich heraus 😍😍😍 herrlich. Das hat mir den ein oder anderen Lacher beschert...

So nun warte ich wieder gespannt auf dein nächstes Kapitel

Ganz liebe Grüße Lu ^,~
Antwort von:  HalcyTheWolf
08.01.2023 16:56
Lu guten Abend <3

Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe, über deinen Kommentar.
Zu wissen, dass jemand auf meine Kapitel wartet ist einfach toll, das kenne ich gar nicht <3
Tut mir leid, dass es diesmal solange gedauert hat, ich war auch krank T.T

Am allermeisten freut mich natürlich, dass du die beiden magst^^ Hehe, ich habe das Kapiel extra so aufgebaut, dass es genau dort endet..ich weiß das ist fies...aber ich versuche mit dem nächsten nicht allzu lange zu brauchen <3

Ehrlich gesagt, mochte ich den Kommentar von Seua mit dem "Ich finde es für dich heraus" auch ziemlich cool XD Die Szene war relativ spontan, deswegen bin ich ein bisschen stolz darauf..

Auf jeden Fall vielen lieben Dank für deinen Kommi^^ das macht mich sehr glücklich^^

Liebe Grüße
Halcy


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