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How to save a life

Midnight x Mt. Lady
von

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Dumpf prasselte der Regen auf die Blätter der Bäume und Büsche hinab, durchweichte die schmalen, lehmigen Wege und schlug Blasen in den Pfützen, welche sich bereits gebildet hatten.

Die Pflanzen bogen sich unter dem Wasser, während der wolkenverhangene, graue Himmel jede Hoffnung auf besseres Wetter zu Nichte machte.

Wind fegte über die freien Flächen und zerrte an den Blättern und Ästen der wenigen Bäume.

Bis auf die pfeifenden Windböen und das stetige Prasseln des Regens, war es totenstill auf dem umzäunten Gebiet.

Totenstille...wie überaus passend. Genauso passend wie die Tatsache, dass sich außer ihr bei dem schlechten Wetter niemand her verirrt zu haben schien.

Einsam und verlassen stand die zierliche Blondine auf dem schmalen, vom Regenwasser aufgeweichten, lehmigen Weg und blickte gedankenverloren auf den Grabstein, welcher sich genau vor ihr befand.

Wassertropfen prasselten auf die schwarze Marmorplatte, welche das Grab bedeckte. Die Schnittblumen, welche daraufgelegt worden waren, waren größtenteils bereits durchweicht.

Vor zwei Wochen noch, waren hier weitaus mehr frische Blumensträuße abgelegt worden, doch inzwischen hatte ihre Anzahl stark abgenommen. Konnten Freunde und Verwandte denn mit jedem Tag ein wenig leichter vergessen, was geschehen war? Zog sie denn nichts mehr hier her?

Ihr Blick blieb an dem Grablicht hängen, dessen Flamme dank des kleinen Häuschens, von welchem es umgeben wurde, noch nicht aufgegeben hatte und tapfer flackerte.

Der Regen war noch einmal stärker geworden. Ihre Haare und ihre Kleidung waren schon lange durchweicht, doch die junge Frau spürte weder den Regen, noch die frischen Temperaturen.

Sie hing ihren eigenen Gedanken nach und hatte alles um sich herum vollkommen ausgeblendet.

Drei Wochen waren inzwischen seit jenem grässlichen Tag vergangen. Jener Schlacht, die so viel Tod und Zerstörung gebracht hatte.

Einerseits konnte sie kaum glauben, wo die Zeit geblieben war, andererseits waren die letzten Wochen so schleppend verstrichen, wie zähflüssiger Honig.

Wenn die Blondinne den Grabstein vor sich betrachtete, krampfte sich ihr Magen zusammen. Noch immer wurde ihr schlecht, bei den Erinnerungen an die Schlacht und an die damit verbundenen Ereignisse. Sie zitterte, ballte die Hände zu Fäusten und schluckte die aufkommenden Tränen nur mit Mühe hinunter.

Jedes Leben, welches in dem großen Kampf erloschen war, war ein Leben zu viel gewesen. Sie alle waren aus voller Überzeugung in die Schlacht gezogen, hatten den Frieden erhalten und die Schurken aufhalten wollen. Jeder, der sein Leben auf dem Schlachtfeld ausgehaucht hatte, würde es vermutlich noch nicht einmal bereuen und dennoch erschien es ihr falsch.

Vermutlich hatte jeder Einwohner der Stadt und jeder Profiheld mindestens eine Person verloren, welche ihm etwas bedeutet hatte, aber machte es das für das Individuum besser? Wohl kaum.

Auch wenn sie wusste, dass nicht nur sie es war, die trauerte, so fühlte sie sich doch wie in einer Blase gefangen, in welcher die Zeit stillzustehen schien.

Ihr Blick überflog die Inschrift des Steins. Warum? Warum ausgerechnet sie?! Auch nach drei Wochen wollte es Yu noch nicht in den Kopf. Auch nach drei Wochen war der Schmerz über den Verlust noch genau so unerträglich.

Und war es heuchlerisch, dass sie es nun war, die sich fast täglich hier her verirrte und trauerte?

Hätte man Außenstehende gefragt, so hätten diese wohl einheitlich bestätigt, dass es andere Personen gab, die der Verstorbenen zu Lebzeiten wesentlich näher gestanden hatten. Vermutlich hätten viele sogar bestätigt, dass die beiden wie Feuer und Wasser gewesen waren. Rivalinnen, welche sich mehr stritten, als das sie normal miteinander redeten.

Doch die Wahrheit sah ein wenig anders aus. Die Wahrheit war, dass die junge Profiheldin sich die Schuld dafür gab, was geschehen war.

Natürlich, die Schlacht war hart, chaotisch und unübersichtlich gewesen. Es war praktisch unmöglich immer und zu jeder Zeit ein Auge auf alle Teamkameraden zu haben, erst recht bei der schieren Menge an Kämpfenden. Und doch... wenn sie nur stärker gewesen wäre. Ein wenig schneller. Es hätte schon ausgereicht, wäre es ihr gelungen die Trümmerteile abzufangen, welche zum Untergang ihrer Rivalin beigetragen hatten. Für sie selbst wäre es zwar durchaus unangenehm gewesen, von herumfliegenden Trümmern getroffen zu werden, doch bei ihrer Größe hätte sie einen solchen Treffer problemlos verschmerzen können.

Und dann war da noch diese monströse Kreatur gewesen, welche sie alle in Atem gehalten hatte.

Für dieses Monstrum mussten die meisten der Kämpfenden doch nicht viel größer als Ameisen ausgesehen haben. Wäre sie bloß stärker gewesen. Sie hätte es mit diesem Gegner aufnehmen müssen, hätte dabei so viele Leben retten und vor allen Dingen verhindern können, dass SIE überhaupt erst versucht hatte das Monstrum in Schlaf zu versetzen.

Ihre nagenden Schuldgefühle waren eine Seite der Medaille, doch gab es da noch einen ganz anderen Punkt, etwas, was wohl niemand auch nur ansatzweise geahnt hätte.
 

~~~ Flashback ~~~

Drei Wochen zuvor, war die Welt noch in Ordnung gewesen. Zumindest am Morgen.

Bevor sie losgezogen waren, hatten hunderte Helden sich versammelt. Hier und da waren einige provisorische Lager aufgeschlagen worden, in welchen die Kämpfenden noch einmal die Chance hatten sich zu sammeln und die Lage zu besprechen.

Die junge Frau erinnerte sich noch genau daran, wie nervös sie vor der großen Schlacht gewesen war. Entschlossen zwar, aber eben auch nervös, was sie so gut es ging vor den anderen, oftmals älteren und erfahreneren Profihelden, zu verbergen versucht hatte.

Mit einer Hand hatte Yu die weiße Plane des Lagers zur Seite geschoben und hatte das Innere des riesigen Zeltes betreten, da auch sie noch einmal einen Blick auf die Karte riskieren und zudem noch einen Schluck hatte trinken wollen.

Im Zeltinneren hatten sich einige bekannte Gesichter, aber auch viele Fremde befunden.

Die Luft schien zu knistern, so kurz vor dem Start der Mission.

Bewaffnet mit einer Flasche Wasser, hatte die junge Frau sich an einen der Stehtische zurückgezogen, den Gesprächen der anderen gelauscht und gleichzeitig Ausschau nach ihren Teamkameraden gehalten. Draußen in der Menge hatten sie sich aus den Augen verloren, doch hier beim Zelt hatten sie sich vor Beginn der Schlacht treffen wollen.

Ohne es zu bemerken, hatte sie damit begonnen das Etikett der Wasserflasche zu bearbeiten. Ein Zeichen von Nervosität, dessen sie sich nicht wirklich bewusst gewesen war.

Mt. Lady schreckte auf, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Kamui? Sie drehte sich zu der Person herum und erkannte, dass es Midnight war, die sich ihr unbemerkt genähert hatte.

"Wo hast du dein Team gelassen?", erkundigte sie Ältere sich.

"Die beiden müssen hier irgendwo in der Nähe sein, aber wir haben uns draußen vor einer Weile aus den Augen verloren. Kein Wunder, bei der Menschenmenge."

"Es ist kaum zu glauben, wie viele sich heute hier versammelt haben um zu kämpfen."

Nun war es an der Blondine eine Augenbraue hochzuziehen. "Und was ist mit dir? An wessen Seite wirst du kämpfen?", wollte sie wissen.

Unter anderen Umständen wäre Umstehenden vielleicht aufgefallen, dass die beiden Heldinnen ein wenig zu nah beieinander standen und ein wenig zu vertraut wirkten, als man es von ihnen erwartet hätte.

"Ich werde ein Auge auf einige meiner Schüler haben. Wenn wir Profis schon nervös sind, wie muss es dann erst den Schülern gehen?"

"Es ist traurig genug, das diese Teenager uns überhaupt in eine so gefährliche Schlacht folgen müssen." Die Blondine verzog missbilligend das Gesicht.

"Recht hast du. Daran sieht man nur wieder, wie ernst es eigentlich ist."

Die Jüngere drehte sich ein wenig, sodass die Arme der beiden Heldinnen sich scheinbar zufällig berührten. Midnight verstand die Geste und lehnte sich ihrerseits zu der Blondine, die normalerweise über ein mehr als gesundes Selbstbewusstsein verfügte.

"Ah, da bist du! Wir haben dich schon gesucht, Takeyama." Die Zeltplane wurde erneut zur Seite geschoben und Kamui Woods betrat das Lager, bahnte sich einen Weg durch die Menge und gesellte sich zu seiner Teamkameradin.

"Ich habe euch draußen in der Menge aus den Augen verloren. Ist Edge Shot auch irgendwo hier?"

"Du meinst wohl eher, du bist in der Menschenmenge verloren gegangen. Ist bei einem Zwerg wie dir auch keine Kunst.", neckte die UA Lehrerin die jüngere Heldin schmunzelnd.

Als Kamui sich zu ihnen gesellt hatte, waren sie wie auf ein unsichtbares Zeichen hin wieder ein wenig mehr auf Abstand gegangen.

"Ein Zwerg? Ich? Hätte ich lieber meine Quirk aktivieren und dabei versehentlich auf einige Mitstreiter treten sollen?", murrte Yu und knuffte ihr Gegenüber leicht.

"Wir sollten langsam los.", erinnerte Kamui sie.

"Sensei!", rief ein blonder Schüler aus, welcher nun ebenfalls das Lager betreten hatte. Er winkte der UA Lehrerin zu und schien aufgrund der bevorstehenden Schlacht so gestresst, als würde er bereits einen Satz machen, wenn lediglich eine Stecknadel auf den Boden fallen sollte.

"Ich denke ich muss jetzt auch los - die Schüler einsammeln." Midnight nickte den beiden anderen Profihelden zu, wobei ihr Blick einen Moment länger als nötig auf der Jüngeren ruhte.

"Pass auf dich auf.", äußerten ihre beiden Gesprächspartner wie aus einem Mund, ehe die Dunkelhaarige sich schließlich zum Gehen wandte.

Reflexartig griff Yu nach ihrem Arm und hielt sie auf. "Ne- Midnight...-", begann sie und verstummte schließlich, als sie sich der Tatsache bewusst wurde, dass Kamui direkt neben ihr stand.

Da gab es etwas, was sie sagen wollte, doch kein Wort verließ ihre Lippen.

Die Ältere hielt kurz inne, blickte sie an und nickte schließlich. "Ich weiß." Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Wenn das hier vorbei ist und die Stadt hoffentlich nicht in Schutt und Asche liegt, gehen wir in der neuen Mall shoppen. Du schuldest mir noch was."

"Klar, warum nicht. Aber jetzt gewinnen wir erst einmal diesen Kampf."

Die Dunkelhaarige bahnte sich einen Weg durch die Menge, verschwand aus ihrem Sichtfeld... und aus ihrem Leben.

~~~ Flashback Ende ~~~
 

Weiterhin hatte das Wetter sich nicht gerade gebessert. Unnachgiebig prasselte der Regen auf den Friedhof. Die Lehmwege waren inzwischen hoffnungslos aufgeweicht und hatten sich viel mehr in rutschigen Schlamm verwandelt.

Plötzlich schob sich ein Regenschirm über die junge Frau, ehe sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Yu konnte die Wärme des andere Körpers, welcher dicht hinter ihr stand, spüren.

"Wusste ich es doch, dass ich dich hier finden würde.", sprach ihr Teamkamerad sie an. "Legst du es darauf an krank zu werden? Du bist ja vollkommen durchweicht."

Die Blondine riskierte noch einen letzten Blick auf den Stein vor sich, ehe sie sich zu Kamui Woods umdrehte. "Du hast mich erschreckt.", murrte sie. "Und überhaupt, warum war dir so klar, dass du mich hier finden würdest?"

Angesprochener seufzte. "Weil es die letzten beiden Male, als du nicht zur Patrouille durch die Stadt aufgetaucht bist, nicht anders war."

Die Blondine, welche aktuell ihre Zivilkleidung trug, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

"Schon so spät?", wunderte sie sich. "Dann sollten wir jetzt wohl gehen." Sie gab sich alle Mühe, so wie immer zu wirken und sich nicht anmerken zu lassen, wie sie sich eigentlich fühlte. Als wenn ihr Team sich dies nicht ohnehin denken könnte, doch was das betraf, war die Profiheldin darum bemüht Stärke zu zeigen.

So viele Helden hatten nach der Schlacht ihre Kostüme bei Seite gelegt und ihren Beruf aufgegeben. Sie wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass sie über ähnliches nachdenken würde, nur weil sie trauerte.

In der Schlacht waren so viele Kollegen verletzt oder getötet worden, weil sie für den Erhalt des Friedens gekämpft hatten. Jetzt, wo Chaos und Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung herrschte, war es umso wichtiger, das Helden Präsenz zeigten, auch wenn viele der Zivilisten nicht mehr allzu gut auf die Profis zu sprechen waren.

Dennoch, wie könnte sie nach all dem, was passiert war, ans Aufgeben denken? Was ihre Arbeitsmoral betraf, hatte Mt. Lady sich mit der Zeit verändert. Waren es zu Beginn nur Ruhm und der Schein der Kameras gewesen, welche sie interessiert hatten, so hatte die Zeit sie doch zu einer Heldin aus Überzeugung werden lassen.

Gemeinsam bahnten die beiden Teamkameraden sich einen Weg über das Friedhofsgelände in Richtung Parkplatz.

"Bist du mit dem Auto da?", erkundigte sie sich.

Kamui nickte. "Richtig. Und vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht. Du musst dich umziehen, bevor du dir noch den Tod holst und Präsenz in Zivil zu zeigen, ist auch keine besonders gute Idee."

"Recht hast du. Fahren wir also rasch bei meiner Agentur vorbei.", stimmte die Blondine ihm mit unergründlicher Mimik zu.

"Takeyama?" Ihr Teamkamerad blieb stehen und sie tat es ihm gleich, wollte sie bei dem Wetter doch nicht unter dem Regenschirm hervorlaufen. "Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?"

Einen Moment betrachtete sie die hölzerne Maske ihres Gegenübers schweigend, ehe sie nickte.

"Ist es. Etwas Arbeit wird mich sicherlich ablenken."
 

Gerade als die beiden das Friedhofstor erreicht hatten und hinaus auf den angrenzenden Parkplatz treten wollten, hatte auch ein alter Mann das Tor erreicht, bloß dass der Alte gerade erst angekommen war und einen Strauß Blumen in einer Hand, einen Regenschirm in der anderen hielt.

Der Alte hielt inne und blickte zu den Profis hoch.

"Du bist die einzige, die regelmäßig vorbeikommt, junge Dame.", wandte der Senior sich mit kratziger Stimme an die Blondine, welche blinzelte.

"Wie meinen Sie das?"

"Du lässt dich von Wind und Wetter nicht abschrecken und besuchst regelmäßig ein bestimmtes Grab. Die Person muss dir wichtig gewesen sein."

Yu musterte den alten Mann genauer. "Sie habe ich hier auch schon öfter gesehen, wenn ich so darüber nachdenke."

"Wohl aus den gleichen Gründen, was? Ich besuche das Grab meiner Enkeltochter. Kann sozusagen nicht loslassen." Er verzog den Mund zu einem zahnlosen Lächeln.

Der Mann, der vom Alter bereits gebeugt ging, ein von Falten gezeichnetes Gesicht, ein Muttermal auf der Wange und intensive, blaue Augen hatte, musterte sie weiterhin ganz direkt.

"Wenn du die Chance hättest es ungeschehen zu machen, zu ändern was geschehen ist, würdest du diese Chance nutzen, junges Fräulein?", wollte der alte Herr wissen.

Die Profiheldin war überrascht über diese, doch recht persönliche Frage. "Wie kommen Sie darauf? Egal, was wir vielleicht gerne ändern würden, die Zeit lässt sich nun einmal leider nicht mehr zurückdrehen."

"Aber angenommen es gäbe die Chance.", beharrte der Alte.

Ohne lange darüber nachzudenken nickte Yu. "Natürlich. Könnte ich nachträglich noch etwas daran ändern, ich würde es tun." Ihr Blick wanderte in Richtung Parkplatz. "Aber das ist und bleibt Wunschdenken. Geschehenes lässt sich leider nicht ungeschehen machen. Entschuldigen Sie uns jetzt bitte."

"Wir schützen, wen wir können, aber manchmal reicht das leider nicht. Trotzdem, auch heute wird es wieder Menschen in der Stadt geben, die Hilfe benötigen und für diese Personen werden wir, wenn möglich, da sein.", mischte Kamui sich in das Gespräch mit ein, ehe er seine Teamkameradin sanft aber bestimmt vor sich her in Richtung Parkplatz schob.

"Passen Sie auf sich auf. Erst recht bei dem Wetter.", verabschiedete er sich noch von dem alten Herrn.

Yu steuerte währenddessen ganz automatisch auf das Auto des anderen Helden zu.

"Merkwürdige Begegnung, wirklich.", stellte sie fest, während das Bild des alten Herrn sich in ihrem Gedächtnis festgebrannt hatte. Dieses kleine Muttermal in seinem Gesicht und die auffällig blauen Augen...fast wie...

"Vielleicht ist das seine Art zu trauern. Immerhin scheint der alte Mann keinen Hass auf uns Helden entwickelt zu haben, wie ein Großteil der Städter.", antwortete Kamui und schloss das Auto auf.
 

Eine Viertelstunde später betraten die beiden Profihelden bereits die Agentur, in deren Erdgeschoss sich das, wie ein Wohnzimmer anmutende, Büro befand.

"Ich föhne meine Haare und ziehe mich um, dann können wir los.", verkündete die junge Frau und lief in Richtung Flur. Ihre Wohnung lag praktischerweise genau über ihrer Agentur, sodass ihr weitere Wege erspart blieben.

Ihr Teamkamerad setzte sich aufs Sofa und nickte ihr zu. "Ist gut. Aber beeil dich bitte. Edge Shot ist schon ohne uns losgezogen. Wir treffen ihn dann später in der Stadt."

Rasch stieg die Blondine die Treppen zur ersten Etage hoch, schloss die Tür auf und betrat ihre Wohnung.

Ihre vom Regen durchweichte Kleidung streifte sie im Bad ab, ehe sie sich erst einmal abtrocknete und damit begann ihre Haare halbwegs trockenzuföhnen.

Schließlich griff sie nach ihrem Heldenkostüm, welches auf einem Kleiderbügel an der Badezimmertür zwischengelagert worden war, und schlüpfte hinein. Fehlte nur noch ihre Dominomaske.

Yu trat zum Badezimmerspiegel, blickte hinein und betrachtete ihr Spiegelbild einen Moment lang.

Die Dominomaske würde die Schatten unter ihren Augen halbwegs verbergen. Für die Zivilisten würde die Heldin folglich aussehen wie immer, bis auf die kleine Narbe, welche von ihrer linken Augenbraue bis zum oberen Augenlid reichte.

Einerseits war sie froh, dass sie nur mit dieser einen Narbe aus dem Kampf zurückgekehrt war, andererseits schrie ihr Ego auf. Hatte es unbedingt ihr bislang makelloses Gesicht treffen müssen?!

Eine Narbe am Arm oder Knie wäre leichter zu verbergen gewesen. Aber nein, es musste natürlich genau die Stelle über ihrem Auge sein!

Yu wusste, das Kamui unten im Büro auf sie wartete und das sie sich besser beeilen sollte, dennoch gebot ihre Eitelkeit, die sie nach wie vor nicht abgelegt hatte, es ihr, wenigstens zu versuchen die verhasste Narbe zu überschminken. So ganz funktionierte das nicht, aber immerhin weniger auffällig schaute die verheilte Verletzung nun aus.

Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sehr annehmbar, wie sie fand... bis auf die Narbe. Während sie die Dominomaske aufsetzte, kam ihr der Gedanke, dass andere vielleicht froh gewesen wären, mit eine Narbe, aber dafür lebendig, aus der Schlacht zurückzukehren. Sofort mischte sich Kummer in ihren Blick.

Vielleicht sollte sie froh sein, dass lediglich ihr Äußeres, auf welches sie so viel Wert legte, einen leichten Kratzer abbekommen hatte.
 

Schließlich lief sie zurück ins Erdgeschoss, wo Kamui bereits auf sie wartete.

Er streckte sich und erhob sich dann vom Sofa. "Können wir los?", erkundigte er sich bei seiner Kameradin, welche sich mit dem Rücken an den Türrahmen gelehnt hatte.

"Von mir aus. Suchen wir Edge Shot und schließen uns ihm an."

Da sie die Tür abschließen musste, wartete sie ab, bis Kamui die Agentur verlassen hatte, durch den Flur gelaufen und auf die Straße getreten war. Dann mal los...

Die Blondine nickte leicht, besann sich darauf sich zusammenzureißen, da sie ihr Team nicht mit ihrer Stimmung runterziehen wollte und folgte ihm schließlich.

Doch kaum, dass sie über die Türschwelle schritt, wurde die Umgebung in ein grelles weißes Licht getaucht. So grell, dass Yu erst einmal nichts sehen konnte, lediglich diese endlose weiße Fläche.

Was zum?! Ein Blitz? Aber so hell? Und so lange?

"Was ist das?!", rief sie in der Hoffnung, ihr Teamkamerad hätte eine Erklärung für dieses Phänomen.

"Du kannst es...du kannst beschützen was du liebst, wenn dein Herz es nur will.", hörte sie eine Stimme sagen, welche weit weg zu sein schien und gleichzeitig doch so nah klang.

Eh? Was? Sie sah sich um, doch da war nur dieses weiße Licht und sonst nichts. Wer sprach da? Die Stimme kam ihr flüchtig bekannt vor. Definitiv hatte sie sie schon einmal gehört und doch war die Person ihr nicht vertraut genug, als dass sie sie hätte zuordnen können.

Dann schwand das grelle Licht plötzlich genauso schnell wieder, wie es aufgetaucht war. Noch zuckten einige grelle Lichtpunkte vor Yus Augen, fast so, als hätte sie direkt in den Blitz einer Kamera gesehen, doch auch dies gab sich schnell wieder.
 

Sie blinzelte. "Merkwürdig, wirklich.", stellte sie fest. "Hey, Kamui, hast du einen so seltsamen Lichtblitz schon einmal gesehen?"

...keine Antwort. Erneut blinzelte die Blondine. Auch das war seltsam. Eben noch hatte der andere Profiheld praktisch direkt vor ihr gestanden und nun fehlte jede Spur von ihm.

War er vielleicht schon ins Auto gestiegen? Sie blickte zu dem Platz, wo er den kleinen schwarzlackierten Wagen eben noch genau vor der Haustür geparkt hatte, doch auch von dem Fahrzeug fehlte jede Spur. Genauso wie von ihrem Teamkameraden.

Oder war er wegen des Lichtblitzes wieder an ihr vorbei und zurück ins Büro gelaufen? Sie hätte es nicht bemerkt, weil das Licht so grell war.

Das erklärte zwar nicht, wo das Auto so plötzlich hin war, doch nachzusehen konnte nicht schaden.

"Kamui?", rief sie noch einmal fragend und drehte sich zu ihrem Haus um, um dieses wieder zu betreten.

Gerade noch rechtzeitig gelang es Yu abzubremsen. Beinahe wäre sie gegen eine Wand aus Backsteinen gelaufen. Aber wie...?! Da, wo eben noch die Haustür gewesen war, befand sich jetzt eine massive Wand aus rotem Backstein.

Wie das möglich sein sollte, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Ungläubig blinzelte sie und rieb sich über die Augen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ihre Agentur nicht mehr aussah wie ihre Agentur. Sie hatte sich nicht wegbewegt und doch war das Gebäude hinter ihr definitiv nicht mehr ihr Haus, sondern hatte größere Ähnlichkeit mit einer alten, verlassenen Lagerhalle!

Sie verstand die Welt nicht mehr.

Yu wandte den Blick in Richtung Straße und musterte verwirrt ihre Umgebung. Einige der angrenzenden Häuser sahen so aus wie immer, während sie andere Gebäude dafür noch nie hier gesehen hatte.

Und die Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in welcher sie heute Morgen erst noch Brötchen geholt hatte, war plötzlich nahtlos durch ein Fahrradgeschäft ersetzt worden? Was zum?!

Das konnte doch gar nicht sein. Sie träumte das, richtig? Oder war sie wegen dem Stress in letzter Zeit einfach zusammengeklappt? Das würde es erklären.

In Zeitlupe griff sie mit der rechten Hand nach ihrem linken Arm und kniff hinein. Autsch! Ihr Schmerzempfinden funktionierte durchaus noch tadellos. Also war sie wach.

Aber was war dann mit ihrer Agentur und der Stadt passiert? Wo war Kamui Woods? Und wie hatte das alles in nur wenigen Herzschlägen passieren können?!
 

Die Blondine war mit der Situation heillos überfordert und doch war ihr klar, dass sie nicht ewig hier stehenbleiben konnte. Das würde sie auch nicht weiterbringen.

Maßlos verwirrt setzte sie sich schließlich zögerlich in Bewegung, um sich die Umgebung ein wenig genauer anzusehen und hoffentlich eine Erklärung für die plötzlich veränderte Stadt zu finden.

Das hier konnte doch keine Einbildung sein, dafür war alles viel zu real. Der Gesang der Vögel, das Rauschen der vorbeifahrenden Fahrzeuge, der übelriechende Qualm einer weggeworfenen Zigarette, ein spitzer Kiesel auf den sie versehentlich trat... nein, all das hier musste wirklich die Realität sein.

Aber wenn dem so war, wo genau war sie dann hier gelandet? Vor allen Dingen so schnell.

Während Yu die Straße entlanglief, die ihr eigentlich so vertraut war, versuchte sie sich zu orientieren. Die meisten Häuser sahen vollkommen anders aus, Läden hatten gewechselt, oder trugen plötzlich andere Namen. Das...das konnte doch alles gar nicht sein.

Kopfschüttelnd setzte sie ihren Weg fort, unsicher, wohin sie eigentlich wollte. Sie musste Kamui wiederfinden, würde auf ihrer Suche vielleicht über Edge Shot oder ein anderes bekanntes Gesicht stolpern, doch auf jeden Fall musste sich aufklären, was genau geschehen war.

Hinzu kamen die Zivilisten. Im Normalfall erkannten Zivilpersonen Helden, fragten hier und da nach Fotos oder Autogrammen, oder liefen zumindest ganz normal weiter, doch hier?

Yu wurde das Gefühl nicht los, dass vorbeifahrende Autofahrer und auch die Jogger auf der anderen Straßenseite, ihr merkwürdige Blicke zuwarfen. Irgendetwas an ihrem Heldenkostüm schien diese Menschen zu verwundern. Aber was?

Sie blickte an sich hinab, konnte jedoch nichts ungewöhnliches feststellen. Ihr Kostüm sah genauso aus wie immer. Was also hatten die Menschen?

Nach der Schlacht waren viele Zivilisten Helden gegenüber nun skeptisch, teilweise alles andere als positiv eingestellt, doch die Leute hier schienen diese Meinung nicht zu vertreten, sondern viel mehr überrascht zu sein. Fast so, als hätte sie sich entschieden, ein Kleid aus Pfauenfedern zu tragen.

Während die Blondine die Umgebung musterte, fiel ihr auf, dass die Stadt in einem viel besseren Zustand war, als sie sie in Erinnerung hatte. Ganze Stadtteile waren vor drei Wochen zerstört und verwüstet worden, doch die Straßen und Gebäude hier wirkten vollkommen intakt. Wie in einer Art Kriegsgebiet sah es hier nun wirklich nicht aus.
 

Ratlos und verwirrt, bog die Profiheldin um eine Ecke. Immer noch fehlte jede Spur von ihrem Team. Vielleicht sollte sie die beiden anderen mal anrufen? Das war eigentlich keine schlechte Idee.

Vor ihr führte eine Treppe von etwa 15 Stufen einen Hügel hinunter. Am Fuße der Treppe grenzte die nächste Straße an.

Gut, sie würde ihre Teamkameraden anrufen, aber erst einmal würde sie noch rasch die Treppe heruntersteigen, da sie beim Wählen nicht am Ende noch ins Stolpern geraten wollte.

Yu hob den Blick und wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, als ein Bus am Fuße der Treppe anhielt und eine einzelne Person ausstieg, ehe das Fahrzeug sich wieder in Bewegung setzte.

Die Augen der jungen Frau weiteten sich ungläubig. Sie glaubte wirklich nicht recht zu sehen.

Schlagartig wurde ihr Mund trocken und alles in ihrem Kopf begann sich zu drehen.

Sie sah gerade nicht wirklich, wen sie da sah, oder? Das bildete sie sich ein. Anders ging es doch gar nicht! Und doch...diese Person war so real wie alles hier in dieser ihr fremden Umgebung.

Die junge Heldin war zwischen Ungläubigkeit und stetig größer werdender Freude hin und hergerissen, doch schließlich überwog die Freude und zerfraß für den Moment jeden Zweifel.

Sie würde diese Person überall wiedererkennen. Wirklich überall und sie war sich ganz sicher, dass sie es war, auch wenn sie nicht verstand, wie das möglich sein sollte.

Auch die andere Frau war stehen geblieben, allerdings unten am Fuße der Treppe und blickte zu ihr hinauf. Fragte sie sich wohl auch gerade, wie all das sein konnte?

Yu hielt es nicht länger aus. Sie riss sich aus ihrer Schockstarre und rannte die Treppe hinunter, so schnell, dass es ein Wunder war, dass sie nicht ins Stolpern geriet.

Auf der vorletzten Stufe angekommen, stieß sie sich von der Steinplatte ab und sprang der Anderen fast schon in den Arm. Ihr Gegenüber stolperte zwei Schritte gemeinsam mit ihr zurück, ehe beide das Gleichgewicht wiedergefunden hatten.

Die Blondine zog die Ältere in eine enge Umarmung und vergrub das Gesicht für den Moment an ihrem Schlüsselbein.

So überschwänglich hatte sie Midnight wohl noch nie begrüßt, Bekannte von ihnen wären wohl vollkommen vom Glauben abgefallen und eigentlich war es auch nicht Yus Art, jemanden so stürmisch zu umarmen, dass sie die Person dabei fast von den Füßen riss, doch konnte man es ihr verübeln?

Verdammt, die letzten drei Wochen über war sie der festen Überzeugung gewesen, die Ältere wäre in der Schlacht getötet worden. Alle hatten das geglaubt. Und jetzt... jetzt lief sie ihr unverhofft in dieser merkwürdigen Stadt über den Weg.

Wie oft hatte sie sich genau das gewünscht? Wie oft hatte sie sich die andere Profiheldin zurückgewünscht? Wie sehr hatte sie sie in den vergangenen Wochen vermisst und jetzt...

Die Frau, die sie umarmte, war ganz eindeutig real. Sie konnte ihre Wärme spüren und auch an dem Parfüm, welches sie trug, hatte sich nichts geändert.

"Du... du bist es wirklich. Ich fasse es nicht.", fand Yu langsam die Sprache wieder und blickte hoch zu der größeren Heldin, ohne diese dabei loszulassen.

Sie blickte ihr ins Gesicht und hatte eigentlich mit Erkennen und Freude gerechnet... doch auf den Gesichtszügen der Älteren spiegelte sich lediglich Verwirrung.

Fragend betrachtete Nemuri die zierliche Frau, welche sie da gerade so unverhofft und stürmisch umarmt hatte. Die Augen der Dunkelhaarigen musterten das überaus attraktive Gesicht einige Sekunden lang ganz genau, ehe sie ihre Hände auf die Schultern der Kleineren legte und sie ein Stück weit von sich schob.

"Hey Kleine, deiner Reaktion nach zu urteilen müssen wir uns wohl schon einmal begegnet sein, aber wer bist du?"



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