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Die Sonne scheint für alle

von

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I.

I.

 

Lucifer weiß, dass er großen Mist gebaut hat. Und er schämt sich deswegen, vor allem, weil andere für ihn den Dreck wegräumen mussten. Alle um ihn herum denken, so etwas sei ihm egal, aber da irren sie sich. Nur, weil er vor ihnen nicht auf Knien um Entschuldigung bittet, heißt das nicht, dass er sich seiner Fehler nicht bewusst wäre. Auch wenn er diese Fehler aus guten Absichten heraus beging. Auch wenn sie dadurch Chiho und Emi retten konnten. Das zählt nicht.

Das einzige, was zählte, war, dass der GPS-Tracker, der ihnen half, die beiden zu finden (und daher zu retten), ein riesiges Loch in Maos Geldbeutel riß. Und dass er – unabsichtlich – im Bemühen, dieses Loch zu stopfen, ein noch größeres Loch hineinriß. Das konnte Dank Emis Hilfe zwar wieder rückgängig gemacht werden (und dadurch haben sie etwas wichtiges über Japans Vertragsrecht gelernt), aber die ursprüngliche Schuld bleibt immer noch bestehen. Und er hat immer noch vor, seinen Anteil zu leisten. Er muss seine Fehler wieder ausbügeln, das gebietet ihm sein Gewis.... seine Ehre.

Und genau aus diesem Grund hat er sich klammheimlich aus der Wohnung geschlichen und steht jetzt hier, in diesem Park. Laut Internetrecherchen ist dies hier ein beliebter Treffpunkt für Männer jeden Alters, die auf ein stundenweises Abenteuer (oder – für die besonders romantischen Träumer - den Beginn einer langfristigen Beziehung) aus sind. Lucifer weiß, was ihn erwartet, denn das Internet ist wirklich eine wahre Schatzgrube an Wissen. Und er ist nicht unerfahren, auch wenn diese Erfahrungen aus der verstaubten Mottenkiste seiner ersten Jahrtausende stammen. Aber auch er hatte seine Sturm und Drang Zeit, was dieses Vergnügen betrifft.

Sex war eine der ersten Aktivitäten, mit denen er versuchte, die Langeweile im Himmel zu bekämpfen. Erst danach kamen die gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Aber jetzt ist er eher ein Mensch als ein Engel (oder Dämon), dementsprechend unsicher fühlt er sich auch.

Betont lässig vergräbt er seine Hände in seinen Hosentaschen, lehnt sich an einen Laternenpfahl und mustert die anderen verstohlen. Er ist eindeutig der einzige Jugendliche hier, alle anderen sind e in ihren Zwanzigern und älter. Viele tragen Alltagskleidung wie er, aber es gibt auch mindestens genauso viele, die direkt aus dem Büro zu kommen scheinen. Sie sehen normal aus, keine Junkies oder Penner, auch keine Professionellen, obwohl er bestimmt nicht der einzige ist, der wegen des Geldes hier steht. Aber sie haben alle eines gemeinsam: sie strahlen alle ausnahmslos eine gewisse Einsamkeit und Verzweiflung aus. Es ist nicht viel, aber er kann spüren, wie all diese negativen Gefühle in ihn hineintröpfeln und seinen Magiekern aufladen.

Also nicht nur Geld, sondern auch das, huh?

Egal wie diese Nacht endet, schon dafür hat es sich gelohnt.

Er muß nicht lange warten, bis er Aufmerksamkeit erregt. Ein Mann in den Dreißigern in feinem Anzug und Aktentasche, der auf einer Bank sitzt und mit seinem Smartphone beschäftigt ist, sieht immer wieder zu ihm hinüber. Lucifer tut, als sähe er es nicht, behält ihn aber im Auge. Es ist eindeutig, dass der Mann mit jemanden chattet und dass dieses „Gespräch“ nicht sehr erfreulich verläuft. Wahrscheinlich war er hier verabredet und sein Date hat abgesagt.

Lucifer wittert sofort eine günstige Gelegenheit und das nächste Mal, als der Mann zu ihm hinübersieht, schenkt er ihm ein winziges Lächeln.

Und es dauert tatsächlich nicht lange, bis der arme Kerl sich erhebt und zu ihm hinüberkommt.

„Bist du nicht etwas zu jung, um hier zu stehen?“ Er versucht besorgt zu klingen, doch das gierige Funkeln in seinen Augen und die Art, wie er Lucifers Körper taxiert, verrät ihn.

Wie er es in einem Film gesehen hat, legt Lucifer den Kopf schief und blinzelt den Mann vor sich von unten her mit einem verführerischen Lächeln an.

„Ich bin älter, als ich aussehe, O-Kyaku-sama.“

Lucifer spürt, wie die Enttäuschung, die der Mann eben noch verströmte, bei dieser Anrede in Hoffnung umschlägt und sein Lächeln wird noch ein klein wenig herzlicher.

Die japanische Sprache ist wirklich ein Segen. Mit einem einzigen unschuldigen Satz konnte er ihm alles sagen, was nötig war, ohne vulgär zu werden, einfach, indem er ihn mit „verehrter Kunde“ ansprach.

 

 

Es beginnt mit einem Kribbeln und gipfelt in einer elektrischen Entladung, die in seinen Lenden beginnt und dann seine Wirbelsäule hinauffährt, um in seinen Schulterblättern zu explodieren.

Lucifer wirft den Kopf in den Nacken und aus seiner Kehle löst sich ein heiserer Schrei.

Verdammt.Verdammtverdammtverdammt!

Das ist anders, als er es in Erinnerung hatte.

Heftig keuchend stützt er sich mit den flachen Händen auf der Brust des Mannes unter ihm ab und versucht, sich wieder zu sammeln. Aber erst, als er aus dem rechten Augenwinkel eine schwarze Feder zu Boden trudeln sieht, wird er sich bewusst, was da in seinen Schulterblättern explodiert ist. Panisch zieht er seine Flügel wieder zurück in seinen Körper. Keinen Augenblick zu früh, denn der Mann unter ihm kehrt langsam aus seinem eigenen Nirwana zurück.

Er lächelt und Lucifer lächelt unwillkürlich zurück.

„Wow. Du bist wirklich jeden Yen wert.“

Und plötzlich fühlt er sich gar nicht mehr so großartig. Lucifers Lächeln gefriert. Sein Magiekern summt, begeistert über den unerwarteten Energieschub, aber etwas ganz tief in ihm, fühlt sich nur noch angewidert.

 

 

Ein Fehler. Es war ein riesiger Fehler.

Nervös tastet Lucifer nach dem Geld in seiner Tasche. Es fühlt sich an wie ein unheimlich schwerer Stein, der ihn unweigerlich zu Boden zieht. Es zu besitzen ist nicht halb so tröstlich, wie er dachte.

Eine Hand in der Hosentasche, die ängstlich das Geld umklammert, hat er die andere zu seinem Mund gehoben und knabbert nervös an seinem Daumennagel herum.

Er starrt aus dem Fenster der Bahn, ohne den ungewöhnlich schönen Sonnenaufgang wirklich zu sehen. Es war ein riesiger Fehler, das weiß er jetzt.

Die Nacht war noch jung und sein erster Kunde war romantischer Stimmung und er war so naiv, anzunehmen, dass es bei allen anderen auch so sein könnte. Sein erster Kunde hatte ihn Tempo und Art bestimmen lassen, aber die anderen hatten ihre eigenen Vorstellungen und diese beinhalteten entwürdigende Stellungen und Aktionen.

Menschen. Einer schlimmer als der andere.

Lucifer unterdrückt ein Schaudern. Sein gesamter Körper schmerzt vor unerwünschten Berührungen und er ekelt sich vor sich selbst.

Je rücksichtsloser sie sich seines Körpers bedienten, je rigoroser sie ihre eigene Lust befriedigten, desto stärker wurde sein Magiekern aufgeladen, aber die Hälfte davon verbrauchte er sofort wieder, um seine Wunden zu heilen.

Der Schmerz war unerträglich, aber wenigstens blieben seine Flügel aus genau diesem Grunde unsichtbar.

Vielleicht hatte er auch einfach nur Pech mit den letzten drei Männern. Er muss sich seine Kunden wohl zukünftig sorgfältiger auswählen. Und … urgh, nope, er lässt sich bestimmt nie wieder gegen einen Baum vögeln.

Durch das Fenster kann er die Häuser seines Viertels sehen und plötzlich, er weiß nicht warum, treten ihm die Tränen in die Augen.

Er fühlt sich unsicher, verloren und vor allem … schmutzig.

So, so schmutzig.

Der Zug fährt im Bahnhof ein und die Türen haben sich kaum geöffnet, da springt er schon heraus und rennt los. Er würde fliegen, wenn er das schon könnte. So aber bleiben ihn nur seine menschlichen Füße. Er rennt und rennt und rennt, während das Geld in seiner Tasche immer schwerer wird und er vor Tränen kaum noch etwas sehen kann. Als das, was er aus Ermangelung besserer Alternativen sein „Zuhause“ nennt, in seine verschwommene Sicht kommt, hält er dem Druck kaum noch stand. Irgendwie schafft er es aber trotzdem, sich zusammen zu reißen, bis er die Treppe zur Wohnung hinaufstürmt. Erst hier, außerhalb der Sichtweite zufälliger Passanten, gibt er dem Druck nach. Seine Flügel entfalten sich mit einem wohltuenden „swosh“ und sie bilden sofort einen schützenden Halbkreis um seine viel zu kleine, empfindliche Gestalt.

 

 

II.

II.

 

Ein neuer Morgen bricht über dem Shibuya Bezirk in Tokyo an und noch liegt das Gebäude, das von seiner Besitzerin „Villa Rosa Sasazuka“ getauft wurde, in frühmorgendlicher Ruhe. In der kleinen sechs-Tatami-großen Wohnung mit der Nummer 201, von den Bewohnern liebevoll „Devil's Castle“ genannt, sitzen zwei dieser Bewohner friedvoll am Frühstückstisch.

Friedvoll – aber alles andere als sorgenfrei.

Alciel, ein Dämon aus dem Clan der Iron-Scorpion, hier aber als Ashiya Shiro bekannt, großgewachsen, hellblond, selbsternannter Hausmann und daher auch fürs Budget zuständig, macht sich, kaum wach, sofort Gedanken um ihre Schulden. Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt ruhig schlafen konnte. Andererseits waren die Ereignisse in den letzten Tagen sehr nervenaufreibend und erschöpfend.

„Im kleinen Tante-Emma-Laden um die Ecke suchen sie eine Aushilfe. Ich werde mich heute da bewerben. Das wäre perfekt, weil es so nah ist. Da muss ich Urushihara nicht so lange allein lassen und könnte auch in der Pause nach dem Rechten sehen.“

„Klingt gut“, noch nicht ganz wach, reibt sich der Dämonenkönig Mao Jakobu, hier als Mao Sadao bekannt, die rötlichen Augen, streicht sich einmal durchs verwuschelte, dunkle Haar und rollt dann mit seiner rechten Schulter, in der es vernehmlich knackt. Die Aushilfsarbeit auf der Baustelle ist doch anstrengender, als er dachte. Diese menschlichen Körper halten wirklich nichts aus.

In solchen Momenten wünscht er sich zurück in die Dämonenwelt. Da hatten sie wenigstens keine Geldsorgen, weil Geld dort genauso unbekannt ist wie essen, trinken oder schlafen. Na ja, zumindest besteht nicht die körperliche Notwendigkeit dazu – nicht, sobald sie ausgewachsen sind. Dann trinken, essen und schlafen sie nur noch aus Vergnügen. Die dunkle Energie ihrer Heimat sorgt für alles andere.

„Uns fehlen noch 35.000 Yen...“, bemerkt Alciel bitter. Waren ihre Finanzen früher schon klamm, bewegen sie sich jetzt in Richtung chronisch pleite.

„Ashiya, bitte. Lass uns wenigstens beim Frühstück nicht über unsere miserablen Finanzen reden.“

Sofort senkt Alciel so demütig den Kopf, dass ihm seine blonden Haarsträhnen tief ins Gesicht fallen. „Ich entschuldige mich, Mylord.“

Mao nickt nur und greift nach der Schale mit seiner Miso-Suppe.

„Uru-“ beginnt Alciel ihren dritten Mitbewohner zum Frühstück zu rufen, unterbricht sich jedoch, als Mao hastig die Hand hebt.

„Nicht, bitte. Es ist gerade so schön ruhig hier.“

Gehorsam klappt sein General den Mund wieder zu und beläßt es dabei, nur den Wandschrank, in dem es sich der letzte ihres Trios gemütlich eingerichtet hat, mit seinen Blicken zu töten.

Er wundert sich, wo dieser kleine Parasit bleibt. Normalerweise kriecht er aus seinem Loch hervor, sobald er das Essen riecht, aber heute ist es dort drinnen wirklich verdächtig still. Ein Teil von ihm begrüßt dies genauso sehr wie Mao, aber der andere, der größere Teil, der gelernt hat, den Namen Urushihara mit ihrem ständig schrumpfendem Haushaltsbudget in Verbindung zu bringen, befindet sich in nervöser Alarmbereitschaft.

Unwillkürlich rutscht sein Blick hinüber zu dem kleinen Tisch vor der Wand und er atmet sichtlich auf, als er den Laptop dort liegen sieht. Sehr gut. Wenigstens im Moment sind sie vor exzessivem Onlineshopping also sicher.

„Mylord“, beginnt er betont laut, damit es der Bewohner des Wandschranks auch ganz bestimmt hört, „ich habe darüber nachgedacht, Urushihara während meiner Abwesenheit zu fesseln und zu knebeln. Auf diese Art wäre sichergestellt, dass er keinen Unsinn anstellt.“

„Das klingt verlockend, Ashiya“, erwidert Mao in gespieltem Ernst und in derselben Lautstärke. „Oder wir versuchen es mit Beruhigungsmitteln.“

„Mylord, das können wir uns nicht leisten.“

„Schade.“

„Ein Schlag auf den Kopf vielleicht?“

„Oder-“

In diesem Moment wird die Wohnungstür mit Schwung aufgerissen und ein weiß-schwarz-violetter Blitz stürmt herein und an ihnen vorbei, reißt die Tür zum Wandschrank auf, stürzt sich selbst hinterher und wirft die Tür dann lautstark wieder hinter sich zu.

Die beiden brauchen fünf geschlagene Sekunden, um sich von ihrer Überraschung zu erholen und dann noch einmal drei, um diesen Blitz als ihren Mitbewohner zu erkennen.

„Urushihara?“ beginnt Mao dann verdattert. Er war draußen? Er war außerhalb der Wohnung?

Entgegen Maos ausdrücklichen Befehls?

Die Tür des Wandschranks öffnet sich einen Spaltbreit, eine schmale, helle Hand wird sichtbar und wirft etwas auf den Tisch. Dann schließt sich die Tür wieder.

Mao blinzelt einmal. Zweimal. Dreimal.

Alciel blinzelt sogar viermal.

Dann langt Mao nach dem zusammengerollten Bündel Geldscheinen und betastet es ungläubig.

„Urushihara?“

„100.000 Yen“, kommt es gedämpft aus dem Schrank. „Nicht gestohlen, ich schwör's.“

Mao zählt nach und sieht dann seinen General an. Alciel sieht aus, als schwanke er zwischen Wut und Entsetzen hin und her. Letztendlich überwiegt die Wut.

Urushihara! Du wagst es, den Befehl unseres Königs zu mißachten und das Castle zu verlassen? Du bist ein gesuchter Schwerkrimineller!“

Aus dem Schrank antwortet ihm nur Schweigen und das ist ungewöhnlich. Normalerweise würde er jetzt so etwas wie „setze Diebstahl nicht mit Mord gleich“ oder „Dramaqueen“ entgegnen.

„Urushihara!“ Am Ende seiner Geduld springt Alciel auf, doch noch hält er sich zurück und ballt nur die Fäuste. Es ist offensichtlich, wie schwer es ihm fällt, den gefallenen Engel nicht regelrecht aus der Wand zu kratzen. Doch solange sein König im Raum ist, wird er ihm die Führung überlassen.

Mao erhebt sich, innerlich seufzend. Einem Teil von ihm ist es schnurzpiepegal, woher das Geld stammt, solange dieser Unglücksrabe nicht wieder in die Fänge eines dubiosen Vertreters geraten ist und sich unnütze Dinge aufschwatzen ließ.

Geld ist Geld und sie können es wirklich gut gebrauchen.

Aber der größere Teil von ihm ist alarmiert. Lucifer hat die Wohnung in der Nacht unbemerkt verlassen! Dafür musste er sich an ihnen vorbei schleichen und sie haben einfach weitergepennt? Und seit wann ist Lucifer so leichtsinnig?

Auch wenn es knapp vier Monate her ist, dass er zusammen mit Olba all diese Raubüberfälle begangen hat - für Olba das Geld und den Schmuck und für Lucifer die Furcht der Opfer, die seine Magie auflud – können sie sich nicht sicher sein, ob die Polizei nicht doch noch hinter ihm her ist.

Das ist der Grund, wieso Mao es ihm untersagt hat, die Wohnung zu verlassen.

Und der andere ist schlicht und einfach der, dass Lucifer Menschenansammlungen nicht erträgt. Auf Maos Frage, wieso er damit keine Probleme hatte, als er ihn und Alciel auf offener Straße angriff, rümpfte Lucifer nur die Nase und meinte in einem Tonfall, als sei das doch sonnenklar:

„Weil ich geflogen bin.“

Mao bezweifelt, dass er jetzt geflogen ist, also, was hat ihn dazu getrieben, über seinen eigenen Schatten zu springen und raus zu gehen?

Mit ein paar entschlossenen Schritten steht Mao vor dem Wandschrank und öffnet die Tür.

„Geh weg“, knurrt es ihm sofort ungnädig entgegen.

Mao stutzt, schluckt die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, wieder herunter und mustert seinen ehemaligen General irritiert. Lucifer hockt mit dem Rücken an der Seitenwand des Schrankes gelehnt, mit um die angezogenen Knie geschlungenen Armen und hält den Kopf so tief gesenkt, dass nur seine violette Haarmähne zu sehen ist. Aber was Mao am meisten erstaunt ist die Tatsache, dass er seine Flügel manifestiert hat. Rabenschwarz, mit einem Hauch von Violett, umgeben sie ihn wie ein Schutzschild.

Für einen Augenblick ist Mao wie erstarrt. Er liebt diese Schwingen. Sie sind wunderschön. Mao, dessen eigene Flügel nur denen von Fledermäusen ähneln, hat ihn immer um diese eleganten Schwingen bewundert.

Und dann steigt Mao dieser Geruch in die Nase. Lucifer stinkt nach Magie, aber sie ist eher schwach, also sieht Mao darüber hinweg. Er kann gerade mal seine Flügel manifestieren, außerdem … erinnert er Mao in diesem Moment mehr denn je an einen zierlichen Teenager. An einen zitternden, zutiefst verstörten Teenager. Mit wunderschönen Rabenflügeln.

Aller Ärger ist sofort verflogen.

„Urushihara“, behutsam spricht Mao ihn an.

Unter dem Vorhang violetten Haares blitzen ihn zwei ebenfalls violette Augen trotzig an.

„Geh weg. Nimm das Geld und laß mich in Ruhe. Ich habe nichts Unredliches getan, okay?“

Mao mustert ihn eindringlich. Sind das da Tränenspuren auf Lucifers Wangen?

Lucifers Flügel ziehen sich noch ein paar Millimeter enger um ihn zusammen, geben gerade noch so viel von seinem Gesicht frei, dass Mao sehen kann, wie sich seine Miene zu einer Mischung aus Furcht und Wut verzerrt.

„Nichts Kriminelles, okay? Ich schwör's! Meine Güte, da mache ich mich mal nützlich, wie Alciel es immer von mir will und dann ist es euch auch nicht recht?“

„Entschuldige“, erwidert Mao schnippisch, „wenn wir nach deiner letzten Aktion mißtrauisch sind.“

„Woher hast du so viel Geld?“ schaltet sich jetzt Alciel hinter Mao ein. „Und nenn mich gefälligst bei meinem japanischen Namen!“

„Ihr seid ja nur neidisch, weil ich in einer Nacht mehr Geld verdient habe als Mao in einem halben Jahr als Burgerbrater!“

„Schichtleiter“, berichtigt ihn der Burgerbrater trocken.

„Was auch immer.“

„Lucifer. Ich frage dich zum letzten Mal: woher kommt das Geld?“

Bei der Nennung seines richtigen Namens zuckt der Engel sichtlich zusammen.

„Spielhalle?“ murmelt er schließlich zögernd.

„Und das soll nicht illegal sein?“ schreit Alciel „Du bist minderjährig!“

„Ich bin älter als ihr zwei zusammen!“

Hier nicht! Und du benimmst dich auch nicht so!“

Lucifer verschwindet vollends unter seinen Flügeln. Nur seine nackten Füße und seine Knöchel sind noch zu sehen.

„Dein verantwortungsloses Benehmen ist eine Schande für alle Generäle unseres Königs! Ich kann es nicht glauben, dass du einst Mao-samas größte Armee befehligt hast! Deine Nutzlosigkeit entehrt Ihre Hoheit! Entschuldige dich sofort bei Mao-sama!“

Aus der Federkugel vor ihnen antwortet ihm nur Schweigen.

Alciel holt tief Luft und öffnet den Mund, um ihm noch mehr an den Kopf zu werfen, doch Mao bringt ihn mit einem schnellen Blick zum Schweigen.

Leise schließt er die Tür und führt den großen blonden Mann am Arm ein paar Schritte weiter. In der Küchenzeile lässt er ihn wieder los. Die Wohnung ist klein, also zieht er seinen General zu sich hinunter und flüstert ihm ins Ohr:

„Laß es gut sein, Ashiya. Er wird es uns nie sagen, wenn wir ihn dazu zwingen. Und, ehrlich gesagt, kaufe ich ihm das mit der Spielhalle nicht ab.“

Alciel, für den es einem Sakrileg gleichkommt, Mao zu belügen, schnappt entsetzt nach Luft.

„Ich entschuldige mich in seinem Namen, Mao-sama. Ich als sein gesetzlicher Vormund übernehme volle Verantwortung für diese Respektlosigkeit.“

Mao ist versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass vor allem sein Name auf den Papieren steht, hält sich dann aber doch zurück. Alciel sieht es nun einmal als seine Aufgabe, Mao den Rücken freizuhalten und dazu gehören auch unliebsame Pflichten, wie zum Beispiel, die Verantwortung für einen gewissen, faulen Engel zu übernehmen.

Also winkt er nur ab und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Alciels Eifer manchmal nervt.

„Sieh das Positive“, vielsagend wedelt er mit dem Bündel Geldscheinen vor Ashiyas Nase herum. „Weder du noch ich brauchen jetzt noch einen Nebenjob. Wir sind nicht nur nicht mehr im Minus, sondern haben auch ein sattes Plus auf unserem Konto. Und...“ er zieht das Wort mit einem triumphierenden Grinsen in die Länge, „weil ich nicht mehr auf der Baustelle arbeiten muß, habe ich noch drei freie Tage, bis ich wieder zurück zu MgRonald's muß. Lass uns chillen, Ashiya, wir haben es uns redlich verdient.“

Alciels goldbraune Augen leuchten für einen Moment vergnügt auf, doch dann zieht er wieder eine ernste Miene.

„Sehr wohl, Mylord. Dann gestattet mir, zur Bank zu gehen und das Geld auf unser Konto einzuzahlen.“

Grinsend zieht Mao drei zehntausend-Yen-Scheine aus dem Bündel und drückt ihm dann den Rest in die rechte Hand. Die adreißigtausend aber gibt er Alciel in die linke Hand mit den Worten:

„Und davon kaufst du uns etwas Schönes zum Essen, okay? Und mit dem Rest mach, was du willst.“

Alciels Augen bekommen einen schwärmerischen Ausdruck.

„Ein neuer Reiskocher“, zählt er auf, während er glücklich Richtung Wohnungstür schwankt. „Neue Handtücher. Passende Staubsaugerbeutel. Richtiges Porzellangeschirr. Richtiges Besteck. Und vielleicht einen Ventilator?“

Schmunzelnd sieht ihm Mao nach, wie er in seine Schuhe schlüpft und dann mit zunehmend sicherem Schritt aus der Wohnung eilt. Er lauscht ihm hinterher, wie er die Außentreppe hinunterpoltert und setzt sich dann wieder an den Tisch, um sein Frühstück zu beenden.

„Urushihara?“

Schweigen.

„Fühl dich frei, da herauszukommen und mit mir darüber zu reden, wann immer du willst.“

Wieder Schweigen.

„Das war ein Angebot, kein Befehl. Noch nicht.“

Aus dem Schrank kommt ein leises Rascheln, dann ist es wieder still. Eine Minute vergeht, in der Mao geduldig wartet und erst seinen Rest der Miso-Suppe und dann den von Alciel verspeist.

Dann, langsam, zögernd, öffnet sich die Schranktür, zwei nackte Füße erscheinen und dann folgt der Rest des gefallenen Engels. Seine dunklen Schwingen immer noch um sich gefaltet steht er mit gesenktem Kopf da und erinnert Mao unwillkürlich an ein verlorenes Rabenküken.

Er holt einmal tief Luft und für einen Moment sieht es aus, als wolle er etwas sagen, doch dann wendet er sich nur zur Seite und verschwindet im Badezimmer.

Mao runzelt die Stirn, wartet und spitzt die Ohren. Als das Geräusch der Dusche ertönt, glaubt er noch etwas anderes unter dem Wasserrauschen zu hören. Es ist schwach und in Verbindung mit Urushihara eigentlich unmöglich, also verschwendet er einen Teil seiner geringen Magie, um auf seinen dämonischen Hörsinn umzuschalten. Und ja, da ist es: ein ersticktes Schluchzen.

Maos Miene verdüstert sich.

Ja. Von wegen Spielhalle.

 

 

Zitternd liegt Lucifer in seinem Schrank, umhüllt von angenehmer Dunkelheit und schmiegt sich fester an seine Federn. Scheiß-Teenagerhormone. Es ist nicht fair, dass er in diesem Körper gelandet ist. Wieso sind Maos und Alciels menschliche Körper biologisch älter als seiner? Sie sind tausende von Jahren jünger als er, verdammt nochmal!

Seine Augen brennen noch immer von seinen Tränen. Er weiß gar nicht, wieso er geheult hat. Dafür gibt es keinen logischen Grund.

Er ist wieder Zuhause (so gut man dies hier ein Zuhause nennen kann) und sogar Mao ließ ihn, als er aus dem Bad kam, unbehelligt zurück in seinen Schrank klettern.

Letztendlich war es ihm also doch egal, wie er zu diesem Geld kam. All dieses Nachbohren war nichts weiter als eine einzige große Machtdemonstration.

Lucifer, du bist eine Wanze, ich zertrete dich unter meinem Ziegenfuß wann immer ich will, vergiß das nie.

Nicht, dass er das je gesagt hätte, aber das braucht er auch nicht. Lucifer sieht es in jeder Geste, jedem Stirnrunzeln, jedem Blick.

Und Alciel ist keinen Deut besser. War er noch nie. Er hat schon immer auf ihn herabgesehen, und hier auf der Erde spielt er sich auf, als wäre er seine Mutter oder so.

Bah, soll er doch glücklich werden mit dem Haushaltskram, den er sich von Lucifers schwer verdientem Geld kauft.

Wer ist hier jetzt der Parasit, he?

Grummelnd rollt er sich noch etwas enger zusammen.

Ich hab's geschafft, huh? Um seine Lippen zuckt ein triumphierendes Lächeln. Ich hab's tatsächlich geschafft. Zuerst dachte ich, ich pack das nicht, aber es stimmt, was man hier so sagt: es ist nur beim ersten Mal schwer.

Und nach der Dusche spürt er nicht mal mehr ein Echo auf seiner Haut.

Lucifer war nie gut mit anderen Engeln. Oder Dämonen. Oder Menschen. Mit ihnen außerhalb eines Ziels, einer Aufgabe zu interagieren, bereitete ihm schon immer Schwierigkeiten. Er war noch nie ein geselliger Typ. Mit je mehr Leuten er sich in einem Raum befindet, desto erschöpfter fühlt er sich am Ende. Ihre lauten Stimmen bereiten ihm Kopfschmerzen. Ungefragte Berührungen sind wie Feuerspuren auf seiner Haut. Er bleibt lieber für sich. Zieht lieber sein eigenes Ding durch. Hält sie sich ganz einfach vom Leib.

Es ist seltsam, aber im Kampf, auf dem Schlachtfeld, hatte er damit niemals Probleme. Vielleicht liegt es daran, daß er dann immer ein Ziel vor Augen hat, auf das er sich ganz und gar konzentrieren kann. Schlimm wird es erst wieder, wenn das Adrenalin seinen Körper verläßt. Wo andere lautstark zur Siegesfeier zusammenfinden, sucht er sich eine stille Ecke und versucht, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. In der Dämonenwelt, während andere sich gegenseitig auf die Schultern klopften und mit ihren Taten prahlten, entfaltete er seine Schwingen und flog in den Himmel hinauf. Hoch und hoch und immer höher und weiter und weiter und wieder zurück, bis sich sein innerer Aufruhr irgendwann löste.

Oh, wie sehr er es liebt zu fliegen!

Seine Flügel sind das Stärkste an ihm, sie tragen ihn bis ans Ende der Welt und trotzen jedem Sturm. Sie halten ihn warm in kalten Nächten und sind ihm ein Trost an schlechten Tagen.

Er vermisst es, zu fliegen.

Es fühlt sich an, als hätte man ihn amputiert.

Aber es gibt hier nicht genug Magie, es kostet ihn viel Energie, sie überhaupt zu manifestieren. Aber sind sie erst einmal draußen, will er sie nie wieder hergeben.

Sein Körper ist erschöpft und müde von dieser Nacht, aber er will noch nicht schlafen und kämpft tapfer weiter gegen diese bleierne Schwere an. Er will es noch ein wenig genießen. Darin schwelgen. In dieser kleinen Menge an Magie, die er heute unerwarteterweise ergattern konnte.

Niemand war darüber überraschter als er. Aber wer konnte denn ahnen, dass es neben Furcht und Verzweiflung noch eine andere Emotion gibt, an der er sich laben kann?

Genug, um seine Flügel wieder zu einem Teil von ihm werden zu lassen. Auch wenn sie noch zu schwach sind, um ihn zu tragen.

Er vermisst es so sehr zu fliegen!

Er weiß nicht, wie Mao und Alciel das ertragen, aber andererseits flogen sie nie nur um des Fliegens Willen wie er.

Ich will wieder fliegen. Nur so, aus Spaß. Nicht, weil es nötig ist, weil wir gerade wieder gegen irgendwen kämpfen.

Wenn ich nur noch ein klein wenig mehr Magie sammeln könnte...

Mehr … nur ein kleines bisschen mehr...

Ganz egal, wieviele Berührungen und andere … Dinge ich dafür ertragen muss.

Ich. Will. Wieder. Fliegen.

 

III.

III.

 

Emilia Justina oder Emi Yusa, wie sie hier heißt, in ihrer Welt als die legendäre Heldin bekannt, derzeit Angestellte in einem Call Center, kann nicht glauben, was sie sieht, als sie aus der U-Bahn steigt. Sie ist müde und hat einen kleinen Schwipps, weil ihre Arbeitskollegin und Freundin Suzuki Rika unbedingt noch mit ihr einen Trinken gehen wollte. Und Emi kann nicht immer absagen – schon gar nicht bei jemanden, der so nett ist wie Rika.

Eigentlich will sie nur nach Hause und in ihr Bett, aber wenn der Dämonenfürst und sein General in die U-Bahn steigen (aus der sie gerade kommt), und das um halb zwölf in der Nacht, kann sie das doch nicht einfach ignorieren. Wer weiß denn, was die beiden wieder im Schilde führen?

Also heftet sie sich an ihre Fersen und folgt ihnen unbemerkt, bis sie im Bahnhof von Shinjuku wieder aussteigen.

Huh? Was wollen die beiden denn bitteschön im bekanntesten Homosexuellenviertel ganz Tokyos? Sie sind doch nicht etwa... Oh, aber, das würde vieles erklären. Vor allem, wie sie es zu dritt in ihrer winzigen Bude aushalten. Und immerhin sind sie Dämonen, Anstand und Moral sucht man bei ihnen vergebens. Wer weiß, welche ekelhaften, ausschweifenden Orgien sie in der Dämonenwelt immer feierten?

Sie folgt Mao und Ashiya zu einem Park und jetzt fällt ihr auf, dass sie sich wirklich, wirklich seltsam benehmen.

Ja, geradezu verdächtig. Sie drücken sich bei den Sträuchern herum, als würden sie ebenfalls jemanden beschatten, stellen sich dabei aber so ungeschickt an, dass man fast Mitleid bekommt.

Sie sieht sich das eine Weile an und fasst dann einen Entschluss. Leise schleicht sie hinter sie.

„Was lauert ihr hier so herum? Welch dämonischen Plan heckt ihr jetzt schon wieder aus?"

Die beiden machen vor Schreck fast einen Satz nach vorne ins Gebüsch.

„Emi!" Mao fasst sich als erster. „Was machst du hier?"

„Ich habe zuerst gefragt!"

„Wo kommst du denn her?" keucht Ashiya, sich theatralisch die Hand auf die Brust pressend.

„Ich bin euch gefolgt, was sonst?"

„Stalkerin“, schnaubt Mao.

„Ich bin keine Stalkerin. Ihr seid Dämonen, es ist meine Pflicht als Heldin, euch im Auge zu behalten!"

„Sag ich ja. Stalkerin."

„Du -“, sie beugt sich vor und tippt ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust, hält dann jedoch inne, als ihr Blick zum ersten Mal über Maos Schulter wandert und sie sieht, was auf der anderen Seite des Gebüsches liegt. Es ist nur ein kleiner Platz mit Bänken, aber um diese Zeit ist er gut frequentiert. Die Laternen sind sogar hell genug, dass man die Gesichter deutlich erkennen kann. Nicht, dass sie Probleme hätte, diese Gestalt nicht schon unter weitaus schlechteren Lichtverhältnissen wieder zu erkennen.

„Ist das Urushihara?“ Ungläubig starrt sie auf den Teenager, der allein durch seine zierliche Figur unter all den Erwachsenen dort auffällt wie ein bunter Hund. Die Hände lässig in den Hosentaschen, lehnt er an einer der Laternen.

„Wir sind ihm gefolgt“, erklärt Ashiya im Flüsterton.

„Er hat sich heimlich aus der Wohnung geschlichen“, ergänzt Mao. „Das hat er letzte Nacht schon getan und kam dann mit einem dicken Geldbündel zurück."

Sie starrt die beiden für einen Moment lang fassungslos an, während sich in ihrem Hirn allmählich die Rädchen zu drehen beginnen.

Doch, ah, nein, das kann nicht sein.

Es muss eine andere Erklärung dafür geben.

Unwillkürlich gleitet ihr Blick wieder hinüber zu Urushihara. Er ist nicht mehr allein. Er redet mit einem adrett erscheinendem Mann in einem Anzug. Ein Salariman. Und der Kleidung nach zu urteilen ein ziemlich gut betuchter. Sie hat ein gutes Auge für so etwas.

„Ein Sugardaddy?" murmelt sie, als sie sieht, wie der Mann Urushihara, der ihm gerade mal bis zum Kinn reicht, besitzergreifend einen Arm um die Schultern legt.

„Ein was?" will Mao verwirrt wissen.

„Was hat Urushihara mit diesem armen Mann vor?" fragt Ashiya zur selben Zeit.

Emi runzelt die Stirn.

Es ist wohl eher die Frage, was hat dieser Mann mit Urushihara vor? Sind die beiden wirklich so ahnungslos? Haben sie überhaupt einen blassen Schimmer, wo sie sich hier befinden?

„Wieviel Geld hat er euch denn gegeben?" fragt sie, um ihre eigenen Gedanken zu zerstreuen, bevor sie in eine Richtung abdriften, die sie lieber nicht nehmen sollten.

Mao und Ashiya wechseln einen schnellen Blick.

„Genug, um unsere Schulden zu bezahlen", erwidert Mao vage.

Emi nickt nur. So ausweichend, wie diese Antwort eben war, war es bestimmt eine größere Summe, aber deswegen zu diskutieren lohnt sich nicht.

„Sie gehen", vielsagend deutet sie zu Urushihara und dem Unbekannten hinüber.

Sie nimmt die Verfolgung auf, achtet aber auf einen angemessenen Abstand. Mao und Ashiya folgen ihr dicht auf den Fersen. Der Salariman hält Urushihara an der Hand und hat es plötzlich sehr eilig, von hier fort zu kommen.

Und ja, verdammt, sie halten genau auf dieses Gebäude zu.

Urushihara ist klein, gerade mal einsfünfundfünfzig, was ihn zu einer selbst für hiesige Verhältnisse zierlichen Person macht. Außerdem sieht er aus wie ein Teenager. Kleidet sich wie ein Teenager. Versteckt die Hälfte seines Gesichts immer unter seinen Haaren. Wirkt dadurch auf eigenartige Art und Weise jung und verletzlich. Na ja, bis man ihn genauer kennt und erkennt, welch ein fauler, hinterhältiger Nichtsnutz er doch ist. Es ist ihr ein Rätsel, wie sich der gefürchtete General Lucifer, dessen Dämonenarmee ihre Heimat niederbrannte, in so etwas verwandeln konnte.

Aber die Männer hier, die auf ein Abenteuer aus sind, wissen das alles natürlich nicht. Sie sehen nur einen zierlichen Teenager. Kein Wunder, dass er nicht lange warten musste, bis er Aufmerksamkeit erregte.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll", murmelt sie zu sich selbst, während sie beobachtet, wie die beiden hineingehen. „Eigentlich ist er gewiß hunderte von Jahren alt, aber hier gerade mal achtzehn. Minderjährig. Normalerweise wäre es meine Pflicht als Heldin, da jetzt dazwischen zu gehen, aber er ist immer noch ein Dämon. Und alt genug, um genau zu wissen, was er da tut."

„Was ist ein Love Hotel?" liest Mao das Schild über dem Eingang, während er neben sie tritt. Aufstöhnend klatscht sich Emi mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Seid ihr wirklich so ahnungslos? Was seid ihr denn bitteschön für Dämonen?"

Die beiden verschränken nur die Arme vor der Brust und starren sie abwartend an. Das kann doch alles nicht wahr sein! Verlangen die jetzt wirklich eine Erklärung?

„Das ist ein Stundenhotel. Urushihara hat einen reichen Gönner gefunden, einen Sugardaddy, der ihn dafür bezahlt, dass er ihm Gesellschaft leistet“, umschreibt sie es möglichst vage. Das Thema ist ihr unangenehm. So ganz ist es ihr eben noch nicht gelungen, ihre Erziehung durch die Heilige Kirche abzuschütteln.

„Ach so", erwidert Mao gelassen, „ich dachte schon, es ginge um Sex."

„Mylord!" entsetzt schnappt Ashiya nach Luft. Ob wegen der direkten Ausdrucksweise oder des Skandals an sich, bleibt sein Geheimnis.

Emi dagegen spürt, wie ihr das Blut in die Wangen steigt. Zornig ballt sie die Hände zu Fäusten. Doch dann atmet sie einmal tief ein und langsam wieder aus. Okay, Mao hat sie veräppelt, aber davon lässt sie sich doch nicht provozieren.

„Mylord", aufgeregt packt Ashiya Mao am Arm, „wir sollten sofort dort hinein und diesen armen Mann aus Urushiharas Klauen befreien, bevor er ihm noch etwas antut."

Emi blinzelt verdutzt, öffnet den Mund, klappt ihn dann aber wieder zu. Der Ruf ihres Bettes wird plötzlich immer lauter.

„Auf Wiedersehen. Ich muss in neun Stunden im Büro sein und habe noch einen langen Heimweg." Mit diesen Worten wirbelt sie auf dem Absatz herum und eilt davon.

Denn das hier geht sie wirklich gar nichts an und sie will auch nicht mit hinein gezogen werden. Das sollen die drei mal schön unter sich ausmachen.

„Mylord?“ drängt Ashiya ungeduldig.

Mao wendet den Blick von Emis entschwindender Gestalt ab, sieht kurz zum Hotel und dann in die erwartungsvolle Miene seines Generals.

„Ich glaube nicht, dass Urushihara diesem Mann etwas antun wird. Gehen wir zurück und stellen ihn zur Rede, wenn er nach Hause kommt.“

Ashiya zieht eine zweifelnde Miene, nickt dann aber gehorsam.

 

 

Es ist drei Uhr morgens und Mao nippt schon an seiner zehnten Tasse Tee. Er sitzt am Tisch und seine Augen brennen vor Müdigkeit, doch Alciels Rastlosigkeit sorgt auch bei ihm für eine gewisse Unruhe.

„Ashiya. Die Küche glänzt schon. Hör auf und geh endlich schlafen. Du weckst sonst Bell.“

Crestia Bell, oder Kamazuki Suzuno, wie sie hier heißt, stammt aus Emis Heimat und ist eine Attentäterin im Dienste der Heiligen Kirche von Ente Isla und seit ein paar Wochen auch ihre Nachbarin. Ursprünglich wurde sie hierher geschickt, um Emi – die auf Ente Isla inzwischen als Ketzerin gilt – zu richten und die Dämonen zu vernichten. Doch die Erde verfügt über eine merkwürdige Magie – sie verändert jeden aus ihrer Welt, der einen Fuß auf sie setzt. Vielleicht liegt es an der Friedfertigkeit Japans, die einem geistig und seelisch jene Ruhe schenkt, auf die man selbst in Ente Islas Klöstern vergebens wartet oder auch nur daran, dass die Erde über kaum Magie verfügt – jedenfalls begann Crestia Bell auf einmal über ihre Gegner nachzudenken. Sie zog neben ihnen ein, erschlich sich ihr Vertrauen als gute Nachbarin und genießt es jetzt als Gelegenheits-Verbündete.

Ob sie inzwischen Feind oder Freund ist, wissen sie nicht, aber sie neigt dazu, neugierig mit den Ohren an der Wand zu hängen.

„Ich kann nicht, Mylord“, kommt es in einem ungewohnt weinerlichen Tonfall zurück, während Alciel zum hundertsten Mal die Spüle putzt. „Ich finde keine Ruhe, so lange ich weiß, dass Urushihara dort draußen ist und vielleicht einen unschuldigen Menschen ausnutzt. Ihn vielleicht sogar foltert. Mylord, wir hätten ihn stoppen sollen.“

In Wirklichkeit ist ihm dieser Mensch total egal, viel eher dreht sich ihm bei dem Gedanken der Magen um, wie dieser Mensch Urushihara anfasst. Aber das kann er vor Mao nicht zugeben. Und vor sich selbst erst recht nicht.

„Und woher sollten wir wissen, in welches Hotelzimmer er mit ihm gegangen ist?“ erwidert Mao, der sich mehr um Alciels Gemütszustand sorgt als um alles andere. Logische Argumente, hat er schon vor Jahrhunderten gelernt, helfen seinem General, auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. „Ich bezweifle, dass der Portier uns das gesagt hätte. Verschwiegenheit gehört schließlich zu seinem Job. Hätten wir in jedes Zimmer stürmen und die Paare dort dadurch zu Tode erschrecken sollen?“

„Natürlich nicht, Mylord“, protestiert der andere sofort. Obwohl der Gedanke daran, auf diese Art ihre magische Energie aufzuladen, etwas Verlockendes an sich hat.

„Wir wissen auch nicht, wann Urushihara da wieder herausgekommen wäre, dort blöd in der Gegend herumzustehen hätte uns auch nicht weitergebracht.“

„Dem stimme ich zu, Mylord.“

Mal ganz davon abgesehen, dass sie dann höchstwahrscheinlich ebenfalls eindeutige Angebote erhalten hätten. Schon allein der Gedanke daran, sich von einem Menschen derart berühren zu lassen, löst in Mao tiefstes Unbehagen aus. Wahrscheinlich hätte er seinen Abscheu über diese Unverfrorenheit nicht herunterschlucken können und wer weiß, wieviel von seinem dämonischen Wesen er dann instinktiv offenbart hätte? Uh nein, auf diese Art von Aufmerksamkeit kann er gut verzichten, das wieder gerade zu biegen und die Erinnerungen der Zeugen zu löschen, kostet ihn mehr magische Energie als es die ganze Sache wert ist.

„Aber irgendwann muss Urushihara ja wieder nach Hause kommen. Wir können hier also in aller Ruhe auf ihn warten.“

„Das klingt vernünftig, Mylord, wie immer. Ich wage es mir nur gar nicht auszumalen, was er mit diesem armen Menschen alles anstellt.“ Alciel erschaudert sichtlich.

Mao runzelt die Stirn. Sicher, Alciel reagiert oft etwas übertrieben und es fällt ihm auch nach über einem Jahr in dieser Welt schwer, gewisse Dinge zu begreifen, aber diese Reaktion erscheint ihm noch doch etwas extrem. Er fragt sich, ob das Konzept, wieso Menschen ein Love Hotel aufsuchen, bei Alciel wirklich angekommen ist. Denkt er wirklich, das wäre nur eine andere Art der Folter?

Mao seufzt einmal innerlich tief auf. Nicht, dass er viel von dieser käuflichen Liebe verstünde, aber er liest und hört viel – vor allem, wenn seine Kolleginnen den neuesten Tratsch verbreiten. Alciel dagegen verläßt die Wohnung nur, wenn er einkaufen geht und dann ist er nur auf seine Einkaufsliste konzentriert.

Und für solche Dinge interessiert er sich schon mal gar nicht. Wer weiß also, was er sich in seiner Fantasie jetzt ausmalt?

Aber wenn Mao ehrlich sein soll, dann versteht er auch nicht, wie so etwas dem Vergnügen dienen kann. So sehr, dass man dafür auch noch bezahlt. In der Dämonenwelt dient der Sex nur einem einzigen Zweck – dem, Nachwuchs zu zeugen. Und das Konzept der Liebe ist auch eher selten. Lieben sich die Eltern? Eher nicht. Und was den Nachwuchs betrifft: natürlich wird dieser gehegt und gepflegt, aber geliebt? Das ist eher eine typisch menschliche Eigenschaft.

Und nach allem, was er im Laufe der Jahrhunderte über Engel erfahren hat, sieht es bei denen auch sehr mau mit diesem Liebeszeugs aus. Engel sind arrogante und egoistische Bastarde, das sieht man ja deutlich an Lucifer.

„Ashiya, beruhige dich. Ich bin sicher, Urushihara macht ihm, wenn es hoch kommt, schöne Augen und stiehlt ihm dann das Geld aus der Brieftasche. Und weil das so peinlich ist, wird der Typ auch keine Anzeige erstatten. Genau genommen wird es ihm eine Lehre sein, niemals wieder mit einem Fremden so einfach mitzugehen.“

Doch Alciel regt diese Vorstellung offensichtlich nur noch mehr auf.

„Mylord, das ist furchtbar! Das ist kriminell. Bitte erlaubt mir, diesen Parasiten angemessen zu bestrafen, sobald er nach Hause kommt.“

„Sicher, gerne.“ Mao seufzt schwer, nimmt einen Schluck von seinem Tee und starrt dann versonnen in die grünliche Flüssigkeit. Er erinnert sich an Lucifers merkwürdiges Benehmen am Morgen. Zweifellos hat er letzte Nacht schon einmal so etwas durchgezogen. Und wahrscheinlich wäre er dabei fast geschnappt worden.

Er beschließt, kein Mitleid zu zeigen, sollte es diesmal schief gehen.

Ein paar Tage in einer Zelle tun ihm bestimmt mal gut.

Und wenn die Polizei dann herausfindet, was er noch so auf dem Kerbholz hat, geschieht es ihm recht.

„Wir sind viel zu nachsichtig mit ihm. Internet ist für ihn erstmal gestrichen. Und er wird dir zukünftig im Haushalt helfen, dafür werde ich sorgen.“

Alciel stößt einen erleichterten Seufzer aus und schenkt ihm ein dankbares Lächeln.

„Endlich, Mylord.“

 

IV.

 

Fünfundsechzigtausend Yen und ein paar unangenehme Erfahrungen reicher, stolpert Lucifer die Treppe zur Wohnung hinauf. Es ist sechs Uhr morgens, am Horizont geht gerade die Sonne auf und er hofft inbrünstig, dass Mao und Alciel noch schlafen. Um ihre neugierige Nachbarin Kamazuki Suzuno macht er sich weniger Gedanken. Sie ist zwar verdammt schnell mit ihrem mannsgroßen Hammer der Gerechtigkeit zur Hand, aber mit ihr kann man noch diskutieren, während Mao und Alciel ihm schon gar nicht mehr zuhören.

Er hat noch im Love Hotel geduscht, aber sauberer fühlt er sich dadurch nicht. Und das ist seltsam. Er ist es nicht gewohnt, dass ihn etwas derart quält. Wie kommt es, dass er knöcheltief im Blut seiner Feinde waten kann, aber bei dem hier fühlt er sich so schrecklich, dass er sich übergeben könnte?

Dabei dachte er, es würde diesmal leichter werden. Aber nein, er musste sich regelrecht dazu zwingen. Niemand hat sich beschwert, also hat er seine Sache wohl gut gemacht, aber es kostete ihn so viel Überwindung, und diese Überwindung hat ihn mehr erschöpft als alles andere.

Aber die Magie, die er währenddessen sammelte, reichte aus, um seine inneren Wunden zu heilen und es blieb sogar noch etwas übrig. Sogar sehr viel. Wenn das so weitergeht, braucht er vielleicht nur noch eine Nacht, um wieder richtig fliegen zu können.

Dann wird er auf den höchsten Punkt in dieser Stadt steigen, die Flügel ausbreiten und sich die Freiheit zurückerobern. Einmal um die Erde mit Mach drei und hoch hinauf bis in den Orbit. Oder doch zumindest so weit, wie es die dünner werdende Luft zuläßt. Er wird fliegen, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht. Er wird die Wolken durchstoßen und unter ihm wird sich das Land in verwaschene Farben von Grün und Braun verwandeln und der Ozean wird tiefblau schimmern. Genau so, wie er es im Internet gesehen hat.

Dieser Planet hat so viel mehr geografische Abwechslung zu bieten als sein Geburtsort oder die Dämonenwelt oder Ente Isla und er kann es kaum erwarten, dies alles mit eigenen Augen zu sehen.

Das ist es, wofür er das alles hier auf sich nimmt, nicht die fünfundsechzigtausend Yen oder die Hunderttausend von gestern. Nicht, dass er sich nicht dennoch etwas dafür kaufen wird. Zu Anfang wäre ein neuer, modernerer Laptop eine gute Idee, gefolgt von ein paar Extras. Ein paar neue Spiele? Vielleicht eine neue Konsole? Und selbst dann bleibt noch genug übrig, was er Mao und Alciel in den Rachen stopfen kann, damit ihn diese zumindest für den restlichen Monat nicht mehr nerven.

Stell dich also nicht so an, Lucifer.

Er weiß, dass es sich als Fehler herausstellen könnte, aber er kann nicht widerstehen. Und so lässt er seine Flügel aus seinem Rücken ploppen, sobald er oben im Korridor steht.

Ah, es fühlt sich so gut an, sie wieder zu spüren. Auch wenn er sie aufgrund der Enge nicht ausbreiten kann, aber selbst, wenn er sie zusammenfaltet, fühlt es sich großartig an. Wenn die Spitzen seiner Schwungfedern so ganz sachte über den Boden schleifen, sendet das ein aufregendes Kribbeln über seine Wirbelsäule und erinnert ihn an das elektrisierende Gefühl, wenn er in einen Gewittersturm hineinfliegt.

Vor der Tür mit der Nummer 201 zieht er sich die Schuhe aus – er will keine unnötige Zeit verschwenden, denn je länger er außerhalb seines Schrankes verbringt, desto größer ist die Gefahr von störenden Geräuschen und des Erwischt-werdens. Mit den Schuhen in der Hand öffnet er so leise wie möglich die Tür und tritt über die Schwelle.

Eine Sekunde später stockt ihm der Atem und ihm sträuben sich die Federn.

Shit. Shit.

Sie sind wach. Beide. Und – noch schlimmer – sie scheinen auf ihn gewartet zu haben.

Hilfe.

Alciel steht wie immer in der Küche. Hinter ihm dampft der neue Reiskocher und auf dem Herd ein Topf. Es riecht nach Misosuppe und Fisch. Doch anstatt sich voller Inbrunst dem Essen zu widmen wie sonst, hat sich Alciel ihm voll zugewendet und starrt ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen und mit in die Hände gestützten Fäusten an. Hochgewachsen, in der typisch stolzen Haltung steht er in seiner Küchenschürze vor ihm. Beeindruckend wie immer. Und wie stets fühlt sich Lucifer dadurch eingeschüchtert. (Aber das ist nur natürlich, immerhin ist Alciel zwei ganze Köpfe größer als er). Wie immer lässt sich Lucifer das aber nicht anmerken. Als er seinem ersten Dämonen begegnete, lernte er, sich eine unerschrockene Gleichgültigkeit anzutrainieren. Einem Raubtier gegenüber zeigt man seine Angst nicht. Niemals.

Schon gar nicht, wenn dieses sich davon nähren kann.

Mao sitzt am Tisch, vor sich eine Teetasse und wirkt sehr kühl und beherrscht. Aber jeder, der ihn kennt, weiß, dass das viel gefährlicher sein kann als ein schlichter Wutanfall.

Wow. In diesem Moment wirken sie wirklich wie gewalttätige Eltern, deren ungehorsamer Teenager zu lange unterwegs war.

„Wir wissen, was du getan hast“, platzt es aus Alciel heraus.

Oh.

Oh. Na, dann...

Sorgfältig stellt er seine Chucks in den Schuhschrank, zieht den Anteil der beiden aus seiner Hosentasche und drückt Alciel das Geld wortlos in die Hand. Er erwartet keinen Dank und er bekommt auch keinen. Nur wieder diesen bösen Blick.

Was er aber erwartet, ist eine Standpauke, seinen Anstand betreffend. Eventuell auch darüber, welch eine Schande er mal wieder ist. Und ob er sein Geld nicht mit ehrlicher und vor allem harter Arbeit verdienen kann wie Mao-sama.

Deshalb trifft ihn Maos Frage auch so unvorbereitet.

„Ich kann sie riechen. Wo hast du soviel Magie her?“

Ha? Unwillkürlich zieht er seine Flügel enger an seinen Körper heran.

„Von allen Dingen, fragst du mich das?“

Es ist doch nicht viel. Missgönnt man dem Bettler wirklich seinen Kanten Brot? Hassen sie ihn wirklich so sehr?

„Was hast du getan?“ anklagend erhebt Alciel die Stimme. „Wieviel Furcht hast du dafür unter die Menschen gebracht?“

„Huh? Ich glaube, du mißverstehst da etwas...“

„Was hast du getan?“ Innerhalb eines Augenblicks steht Mao vor ihm und drängt ihn an die nächstbeste Wand.

Zu nah. Zu nah. Viel zu nah.

Selbst in seiner menschlichen Gestalt ist er größer als Lucifer und der Griff um seine Kehle ist verdammt eisern. Lucifers Flügel senden Blitze sengenden Schmerzes an sein Gehirn, als sie so brutal zwischen ihm und der Wand eingequetscht werden.

Mit zunehmender Panik, aber auch grenzenloser Verwirrung, starrt Lucifer in Maos rot glühende Augen, aus denen ihm nichts als Wut und Verachtung entgegenleuchtet. Ehrlich gesagt, versteht er die Welt nicht mehr. Was genau hat er getan, dass Mao jetzt derart ausrastet? Das Geld sollte ihn doch eigentlich milde stimmen, oder?

„Wieviele arme Menschen hast du dafür verletzt?“ will Alciel aus dem Hintergrund wissen. „Wieviele getötet? Wieviel Schaden hast du dafür angerichtet?“

„I-ich...“ aber sie wollen gar keine Antwort, das erkennt er in dem Moment, als Maos Griff um seine Kehle noch ein kleines bisschen präsenter wird. Er drückt nicht zu, er schnürt ihm nicht die Luft ab, aber das muss er auch gar nicht. Allein das Gefühl von etwas um seinen Hals lässt sein Herz durchdrehen.

Es ist eine uralte Angst, die ihm anscheinend in die Wiege mitgegeben wurde. Schon als Engel hat er seinen Hals mit hohen Kragen immer besonders geschützt. Und als Dämon kam zu dem hochgeschlossenen Mantelkragen noch ein breiter Metallring dazu.

Und dann spürt er es.

Er spürt, wie sich Mao an seiner Furcht vor ihm nährt. Wie er genau das mit ihm macht, was sie ihm vorwerfen.

Als erstes verschwinden seine Flügel, aber damit gibt sich Mao nicht zufrieden.

Es tut weh.

Das hier ist mehr eine Vergewaltigung als das, was er in den letzten Stunden erlebt hat. Das tat er sich immerhin freiwillig an. Aber das hier...

Mao saugt mit voller Absicht jedes bißchen Magie aus ihm heraus. Bis kein Tropfen davon mehr übrigbleibt.

Es tut weh!

Es läßt ihn leer, schwach und nutzlos zurück. Macht ihn schwächer als ein Neugeborenes. Er kann kaum noch atmen!

Vor seinen Augen tanzen schon schwarze Punkte. Sein Herzschlag dröhnt ihm so laut in den Ohren, dass er Alciels Gezeter im Hintergrund gar nicht mehr hören kann. Erst als seine Beine unter ihm nachgeben, lockert Mao seinen Griff um seine Kehle und tritt einen Schritt zurück.

Keuchend ringt Lucifer nach Luft.

Er muss hier raus! Irgendwie.

Egal wie.

Nur raus hier!

Voller Panik huschen seine Augen in der Einzimmerwohnung hin und her. Ein Fluchtweg muss her. Die Tür – unmöglich, er kommt nie unbeschadet an Alciel vorbei.

Und direkt vor ihm lauert Mao.

Bleibt nur –

Lucifer zögert keine Sekunde und macht das Einzige, was ihm übrigbleibt. Er sammelt seine letzten Kräfte, täuscht einen Angriff nach vorne an, weicht dann aber im letzten Moment zur Seite aus, stürzt zum offenen Fenster und - springt.

 

 

In jenem Moment, wo er sich instinktiv dreht, als hätte er seine Flügel noch und sich sein Sturz nicht verlangsamt, als er stattdessen weiter wie ein Stein zu Boden fällt, weiß er, dass sowohl diese Drehung als auch dieser Sprung an sich ein riesengroßer Fehler war.

Ihm bleibt nicht viel Zeit, das zu bedauern.

Das letzte, was er hört, bevor seine Welt in Dunkelheit versinkt, ist ein lautes, vernehmliches „knack“.

 

 

V.

 

Müde hebt die junge, dunkelhaarige Frau aus Apartment 202 ihren Kopf vom Kissen, ist dann aber sofort hellwach, als sie begreift, was sie geweckt hat.

Stimmen, zwar gedämpft, aber eindeutig sehr aufgeregt, dringen aus der Nachbarwohnung zu ihr hinüber. Zuerst ist sie verärgert …

Blöde Dämonen, gönnt mir doch meinen Schlaf!

… aber der Moment währt nur so kurz, wie ihr Pflichtbewußtsein benötigt, um richtig zu erwachen. Sofort schämt sie sich, überhaupt eingeschlafen zu sein, aber aus dem, was sie in der Diskussion vor ein paar Stunden entnehmen konnte, ging es nur um Lucifer und dass er wieder mal etwas getan hatte, was Mao und Alciel wütend machte.

Aber da es sie erstens nichts angeht, wenn die drei sich streiten und zweitens diese ständige Uneinigkeit für alle anderen hier nur von Vorteil sein kann, hat sie irgendwann nicht mehr richtig zugehört und ist offensichtlich darüber eingeschlafen.

Schließlich schlich sie Lucifer schon vorletzte Nacht hinterher, und wandte sich sofort wieder schaudernd ab, als sie zusehen durfte, wie dieser mit einem Mann in einem Stundenhotel verschwand. Es fällt ihr zwar immer noch schwer, die hiesige Schrift zu entziffern, aber sie musste nicht lesen, was über der Eingangstür stand, um zu wissen, worum es sich handelte – außerdem war die Hand des Mannes auf Lucifers Hinterteil mehr als eindeutig.

Da beschloss sie, dass sie das nichts weiter angeht.

Und wenn sich die drei deswegen jetzt zerstreiten, geht sie das ebenfalls nichts an.

Auch wenn sie, nervös streicht sich Crestia Bell alias Kamazuki Suzuno die Knitterfalten in ihrem Kimono glatt, langsam beginnt, den gefallenen Engel in ihr Herz zu schließen. Aber das liegt nur an ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der aufbegehrt, wenn sie Zeuge davon wird, wie die anderen ihn behandeln. Es liegt ganz bestimmt nicht daran, dass sie Mitleid mit diesem Kellerkind hat.

Die Stimmen werden plötzlich lauter. Neugierig geworden, streicht sie sich eine lange Haarsträhne zurück hinters rechte Ohr und spitzt die Ohren. Doch noch kann sie keine eindeutigen Worte verstehen. Und so rutscht sie dichter an die dünne Spanplatte heran, die sich hier Wand schimpft und drückt ihr Ohr flach dagegen.

„Wieviele arme Menschen hast du dafür verletzt?“ Das ist eindeutig Alciels Stimme. „Wieviele getötet? Wieviel Schaden hast du dafür angerichtet?“

Bei diesen Worten versteift sich Crestia unwillkürlich. Das klingt ernst. Ist etwas geschehen, was sie hätte verhindern können, wäre sie nicht eingeschlafen? Atemlos presst sie sich noch etwas enger an die Wand, um auch ja kein weiteres Wort mehr zu verpassen.

Doch auf der anderen Seite bleibt es verdächtig still, stattdessen … sie erschauert unwillkürlich und bekommt eine Gänsehaut, fühlt sie doch ein unheilverkündendes Ansteigen dunkler Magie. Dunkelrot und grün. Mao und Alciel.

Unwillkürlich fährt ihre Hand hoch zu ihrer Haarnadel, doch bevor sie sie ziehen und diese sich in ihre Waffe verwandeln kann, hört sie plötzlich zwei erschrockene Schreie und einen dumpfen Aufprall von draußen.

Verwirrt runzelt sie die Stirn und erhebt sich langsam, unsicher, ob sie ihrer Neugier nachgeben und zum Fenster gehen soll, um zu sehen, woher dieses Geräusch kam oder ob sie nicht doch lieber sofort in die Nachbarwohnung stürmt.

Doch die Dämonen nehmen ihr die Antwort auf diese Frage ab, denn sie stürzen lautstark aus Apartment 201, rennen die Treppe hinunter und währenddessen hört sie Alciels lauten, entsetzten Schrei.

Urushihara!

Mit zwei großen Schritten ist sie an ihrem Fenster angelangt, schiebt es entschlossen zur Seite und lehnt sich über die Brüstung, um einen Blick nach unten zu werfen.

 

 

Sein Bewußtsein kommt und geht in Wellen. Er spürt seinen Körper nicht mehr und sehen kann er auch nichts, aber sein Hörsinn funktioniert leidlich. Auch wenn alles klingt, als befände er sich unter Wasser.

„Mist. Es funktioniert nicht.“ Da ist ein Kribbeln, er erkennt Maos Magiesignatur, aber sie gleitet nur über ihn hinweg wie ein warmer Wind.

„Lasst es mich versuchen, Mylord.“

Das Kribbeln verändert sich, wird stärker und hektischer, ein mit Brausepulver versetzter Wind, der wirkungslos über ihn hinweg rauscht.

Was, zum Geier, treiben die da?

„Wir haben keine Wahl. Ruf einen Krankenwagen, Ashiya.“

„Aber Mylord...“

„Das ist es, wofür eine Familienkrankenversicherung da ist, Ashiya!“

„Nichtsnutziger Dämonenkönig Sadao, was soll der Lärm am frühen Morgen?“

Crestia. Oh, Crestia. Ihre Stimme, ihre Beschimpfungen sind Balsam für seine Seele. Ja, Danke, endlich jemand, der Mao mal seine eigene Medizin zu schmecken gibt. Für einen Moment ist er fast glücklich.

Die Stimmen werden undeutlich, verschwimmen, als würden sie ineinanderfließen. Sie werden zu einem unverständlichen Hintergrundrauschen, während er auf eine verlockende Schwärze zutreibt. Doch dann:

„...shihara.“

„Hanzō .“ Sie klingen zunehmend verzweifelter. „Hanzō !“

Hanzō ... wer ist dieser Hanzō ?

Lucifer!

Die Nennung seines Namens durchbricht den Matsch, in den sich sein Verstand verwandelt hat, doch das hält nicht lange an. Es reicht gerade, um zu begreifen, dass er auf etwas sehr, sehr hartem liegt. Aber das ist alles, was er spürt. Es ist, als wäre die Verbindung zwischen seinem Körper und seinem Geist durchtrennt worden, da sind weder Schmerzen noch irgend etwas anderes in der Art. Und trotzdem ist alles taub.

Aber in seinem Kopf fühlt es sich an, als würde er schweben. Hoch, hoch und immer höher hinauf. Sonnenstrahlen wärmen sein Gesicht und der Wind fährt durch seine Schwingen. Ein zärtliches, fast liebevolles Liebkosen, beinahe wie Finger, die durch seine empfindlichen Daunen kämmen.

Es folgt wieder Dunkelheit, bis ihn das an- und abschwellende Geräusch einer Sirene zurückholt.

Was dann folgt, sind nur Bruchstücke.

„... passiert?“

„... wie alt?“

„... und Sie sind?“

„... Doppelfraktur … Schädel-Hirn-Trauma ...“

Es dauert nicht lange, dann taucht er wieder in die Schwärze hinab. Sie ist wie dunkler Schlick, feucht und dickflüssig und zieht ihn unbarmherzig immer tiefer.

Bis ihn abermals eine Sirene herauszerrt. Wieder Stimmen, doch diesmal weigert sich sein Hirn, die Worte zu verstehen. Er bewegt sich ohne einen Muskel zu rühren und irgend etwas wird auf seinen Mund und seine Nase gepresst.

Sauerstoffmaske... der Gedanke blitzt innerhalb einer Sekunde auf und ist genauso schnell wieder vergessen. Stattdessen bahnt sich ein anderer seinen Weg an die Oberfläche.

Meine Flügel...

das Gefühl des Verlustes, der Leere, das ihn plötzlich überfällt, hat etwas Lähmendes an sich. Sein gesamtes Inneres zieht sich in einem schmerzhaften Krampf zusammen.

Sein Herz schmerzt.

Sein gesamtes Sein schmerzt.

Und plötzlich befindet er sich wieder in Ente Isla und kämpft mit der Heldin Emilia. Er ist überrascht über ihre helle, weiße Aura. Ihr Körper wird von mehr heiliger Energie durchpulst als es bei einem normalen Menschen möglich sein dürfte. Ihre Augen funkeln vor Wut, Verachtung und Hass und da liegt wilde Entschlossenheit in ihrer Miene und plötzlich fühlt er sich an jemanden aus seiner Vergangenheit erinnert.

Lailah. Sie sieht aus wie Lailah.

Sie ist Lailahs TOCHTER.

Diese plötzliche Erkenntnis lässt ihn im denkbar ungünstigsten Moment zögern und schon eine Sekunde später spürt er, wie Emilias Klinge seine Brust durchbohrt. Der Schmerz ist unbeschreiblich. Er stürzt zu Boden und während er dort im Schlamm und Dreck liegt und langsam und qualvoll verblutet, findet er Trost in dem Gedanken, dass ihm die Schmach erspart bleibt, von einem gewöhnlichen Menschen getötet worden zu sein. Von einem Halbengel ist zwar auch nicht ideal, aber es entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Bah, er konnte Lailah sowieso nie leiden. Sie mochte eine gute Wissenschaftlerin sein, aber sie ließ immer andere für sich die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen. Wenn Mao und Alciel ihn immer faul nennen, dann sollten sie mal Lailah sehen!

Er weiß nicht, wie lange er dort liegt, gefangen zwischen Leben und Tod, aber er hofft, dass Mao-sama ihn findet. Oder Alciel. Gerne auch Camio. Irgend einer.

Wenn ihnen zu Ohren kommt, dass er besiegt wurde, werden sie ihn doch bestimmt suchen, oder? Sie suchen immer ihre gefallenen Kameraden, das gehört zu Mao-samas neu erfundenem Dämonenkodex.

Doch die Zeit vergeht und allmählich wird ihm klar, dass ihn niemand sucht. Die bittere Enttäuschung, die sich daraufhin in sein immer schwächer schlagendes Herz schleicht, wird von einer noch härteren Erkenntnis begleitet.

So ist es. Natürlich.

Er war und ist für alle anderen nur ein Werkzeug.

Und ist das einmal zerbrochen, wird es weggeworfen. So war es auf den beiden Monden, auf denen sich Himmel und Dämonenwelt befinden und dem dazugehörigen Planeten, auf dem die Landmasse Ente Isla liegt und so ist es – natürlich - auch hier auf dem Planeten Erde.

Das ist der rote Faden, der sich durch sein gesamtes, jahrtausendelanges Leben zieht. Er würde lachen, wenn er noch die Kraft dazu hätte.

Aus Lucifers Kehle löst sich ein leises Wimmern, als sich seine Erinnerungen im Jetzt verlieren, aber diesen einen Gedanken zurücklassen. Zusammen mit dem Verlust seiner Flügel ist diese Last zu schwer, um nicht darunter erdrückt zu werden.

Was dann folgt ist eine Dunkelheit, wie sie schwärzer nicht sein kann.

Er heißt sie willkommen.

Er will nicht mehr aufwachen.

Nie wieder.

 

VI.

 

Im Krankenhaus diagnostizieren sie neben vielen oberflächlichen Schrammen und blauen Flecken eine mittelschwere Gehirnerschütterung und eine offene Doppelfraktur des rechten Unterarms. Die Operation dauert eine Stunde. Sie fixieren die Knochen mit Schrauben und er bekommt eine Schiene.

Er weiß nicht, ob er aus der Narkose aufwacht oder die ganze Zeit über bewusstlos war, jedenfalls ist ihm übel, als er wieder zu sich kommt. Das kann aber auch an der Gehirnerschütterung liegen.

Sie stellen viele Fragen, von denen er keine einzige beantwortet. Das überläßt er denen, die ihn in diese Situation gebracht haben.

Sie kommen und gehen. Lungern an seinem Bett herum.

Alciel ist voller Vorwürfe gegen ihn

Sieh nur, wieviele Sogen du Mao-sama wieder bereitest.“

und Mao spielt den sich sorgenden Vormund

Wird er seinen Arm wieder richtig bewegen können, Doktor?“.

Lucifer blendet sie genauso aus wie alles andere um sich herum.

Sein Arm ist ihm völlig schnuppe. Er trauert seinen Flügeln nach. Er will sie wieder haben. Ihr Verlust ist so vollkommen, dass er eine Leere in ihm hinterläßt, so schwer, so unendlich, wie er sie nie zuvor verspürt hat.

Sie sind fort.

Und das fühlt sich endgültig an.

In all den Jahrtausenden, in all den Kriegen, sowohl bei Engeln, Dämonen und Menschen herrschte immer dieses eine Tabu: wenn etwas Flügel sein eigen nennt, egal ob Freund oder Feind, reiß sie ihm nie aus. Sogar die Heilige Kirche von Ente Isla hält sich daran. Sie sind korrupt bis ins Mark, aber sie kämen nicht einmal auf die Idee, sich an Flügeln zu vergreifen.

Seine Flügel waren nie in Gefahr.

Und jetzt … sind sie fort.

Einfach nur ... fort.

Es ist zu viel.

Und so flüchtet er sich an den einzigen Ort, wohin man ihm nicht folgen kann.

In seinem Kopf stellt er sich vor, er würde fliegen. Beschwört die Erinnerung daran herauf und vermischt sie mit seiner Fantasie. Er fliegt und fliegt und niemand kann ihn einholen. Unter ihm die Wolken und über ihm die Sonne. Unter ihm das Meer und über ihm die Sterne und der Mond.

Diese Sterne und dieser Mond.

Ja, er hat sich in diesen Planeten verliebt. Er ist schöner als alles, was er in seinem langen Leben jemals gesehen hat. So artenreich, so leuchtende Farben, so wunderbar und grausam zugleich.

Hier zu fliegen muss wunderbar sein.

Und so fliegt er und fliegt und niemand verlangt etwas von ihm.

Niemand zieht und zerrt an ihm. Niemand versucht, ihn in eine Richtung zu stoßen.

Er kann frei wählen und er wählt das Fliegen.

Nur er und der Wind.

Sie schicken eine Psychologin oder Sozialarbeiterin (so genau interessiert ihn das nicht) vorbei, die ihn fragt, ob sein Sturz die Treppe hinunter ein Unfall war. So erfährt er zum ersten Mal, dass sie es vertuscht haben. Alciel und Mao müssen ihn von seinem Aufschlagpunkt unter dem Fenster drei Meter weiter zur Treppe getragen haben, ungeachtet des Risikos einer Wirbelverletzung.

Das ist … okay, schätzt er mal. Er will auch nicht als suizidal abgestempelt werden. Obwohl es den beiden wohl eher darum geht, möglichst wenig mit den hiesigen Behörden zu tun zu haben.

Das Krankenhaus will ihn über Nacht dabehalten, aber Mao interveniert erfolgreich.

Er darf noch vor dem Abendessen gehen.

Sie haben die Kleidung, mit der eingeliefert wurde, aufgeschnitten und ruiniert, ein neuer Punkt, über den sich Alciel in Endlosschleife beschweren kann. Trotzdem bringt er ihm ein neues T-Shirt, Unterwäsche, eine Cargohose und seine Chucks vorbei und verlangt, dass sich Lucifer dafür bedankt.

Doch Lucifer hat seit dem „Unfall“ kein einziges Wort zu ihm und Mao gesagt, und hat auch kein Bedürfnis, jetzt damit anzufangen. Schlimm genug, dass sie ihm keine Privatsphäre gönnen, als er sich umkleidet.

Gut, dass er auf Autopilot ist. Ein Teil von ihm fliegt gerade durch ein paar wattige Schäfchenwolken und genießt die Luftströmungen um seine Federn.

 

 

 

„... ah, ich erinner mich noch genau, wie sich Chi-chan den Arm brach. Das war beim Völkerball und ich musste sie aus der Schule abholen. Erinnerst du dich noch Chi-chan? Du warst so enttäuscht, weil du nicht beim Turnier mitmachen konntest. Erst danach hast du mit dem Bogenschießen angefangen. Völkerball war danach nicht mehr so dein Ding, nicht wahr? Du warst damals acht. Und jetzt bist du schon eine junge Dame. Hach, wie die Zeit vergeht.“

„Mama, hör doch mit diesen alten Geschichten auf. Das interessiert doch niemanden.“

„Aber Chi-chan, es gibt keinen Grund, sich deswegen zu genieren...“

Es ist bestimmt nicht das Schlaueste, damit ausgerechnet auf dem Rücksitz im Auto von Chihos Mutter hervorzuplatzen, aber etwas in ihm macht regelrecht „schnapp“. Diese Frau plappert genauso dümmlich daher wie ihre Tochter immer, und allein, dass sie sie abholt, bedeutet, dass Mao der Kleinen alles erzählt hat. Und natürlich hat diese für ihren Mao-san dann dieses private, kostenlose Taxi arrangiert. Dass Chiho auf dem Beifahrersitz sitzt und er zwischen Alciel und Mao hinten und dadurch regelrecht eingezwängt und bedrängt wird, macht es nicht besser.

Das Schlaueste ist es trotzdem nicht, aber in diesem Moment kann er nicht anders.

Und so unterbricht er Frau Sasaki mitten im Satz.

„Ihr seid alle solche verdammten Heuchler.“

Frau Sasaki klappt den Mund hörbar zu und wirft ihm über den Rückspiegel einen erschrockenen Blick zu. Chihos Blick geht eher in Richtung verunsichert. Alciel und Mao neben ihm versteifen sich spürbar. Die ganze Atmosphäre im Auto dreht sich um hundertachtzig Grad.

Aber er ist noch nicht fertig.

„Ich hasse euch.“

Selbst in seinen Ohren klingt seine Stimme flacher und ausdrucksloser als jemals zuvor. Vielleicht ist die Wirkung daher so groß. Chiho und Mao schnappen hörbar nach Luft und Alciel knurrt leise. Er packt sogar seinen geschienten Arm und drückt so fest zu, dass das Plastik knackt.

Lucifer spürt gar nichts.

Und er ist noch lange nicht fertig.

„Das nächste Mal springe ich vom Dach.“

Keine Warnung oder Drohung, einfach nur eine simple Feststellung. Aber ob die drei zusätzlichen Meter wirklich etwas ausmachen, weiß er erst, wenn er es ausprobiert hat. Die U-Bahn wäre vielleicht der sicherere Weg, immerhin sind Tausende Menschen hier damit pro Jahr erfolgreich, nicht wahr?

„Haha“, lacht Mao neben ihm nervös, legt ihm die Hand auf dem Kopf und wuschelt ihm durchs Haar. Jenen Teil seines Skalps, der mit dem Verband bedeckt ist, spart er glücklicherweise aus. Für die Menschen mag es spielerisch erscheinen, aber Lucifer erinnert das an ganz andere Situationen. Es gab viele davon, sowohl in der Dämonenwelt wie auch einmal hier. So zeigte ihm der Dämonenkönig seinen Platz.

Etwas in ihm erstarrt furchtsam.

Und etwas anderes wünschte, diese Hand wäre wieder eine riesige Pranke, die seinen Schädel mit Leichtigkeit zerquetschen kann.

„Er macht Scherze. Sie wissen ja, wie Teenager sind. Immer so melodramatisch.“

„Ja“, fügt Alciel eifrig hinzu, um Schadensbegrenzung bedacht. „Nehmen Sie ihn nicht ernst, Sasaki-san. Urushihara will sich nur wichtig machen.“

„Ich weiß, was ihr meint“, gluckst die Frau am Steuer mit einem Seitenblick zu ihrer Tochter.

„Mama!“ protestiert Chiho prompt und zieht eine beleidigte Schnute.

„Blamier uns nicht“, zischt Alciel Lucifer zu, doch der starrt nur vor sich hin. Er ist wieder tief in seinen Kopf abgetaucht. Dort, wo ihn keiner finden kann.

Wo er seine Schwingen zu voller Größe ausbreitet, sich vom Wind tragen läßt und mit den Vögeln und Drachen um die Wette fliegt.

 

 

Die Wohnung ist nicht leer, als Mao, Alciel, Chiho und Lucifer eintreten. Der Tisch biegt sich quasi unter einem opulenten Festmahl, von dem das meiste Crestia Bells Handschrift trägt. Natürlich ist sie selbst anwesend, aber auch Emi und Suzuki Rika.

„Na, endlich“, begrüßt Emi sie. „Wird auch langsam mal Zeit.“

„Willkommen zurück“, Suzuki Rika beugt höflich im Sitzen ihren Oberkörper nach vorne. „Ich hoffe, ich störe nicht?“

„Ich hab sie mitgebracht“, erklärt Emi so selbstsicher wie immer. „Sie wollte mal sehen, wie Ashiya so lebt.“

Rikas Wangen nehmen einen verlegenen Rotton an, doch sie widerspricht nicht.

„Tut mir leid wegen der Verspätung“, entschuldigt sich Ashiya mit einem Seitenblick zu Lucifer. „Unser Kellerkind konnte sich nur schwer vom Krankenhaus lösen. Er hatte wohl auf einen All-inclusive-Aufenthalt gehofft.“

Das Kellerkind zieht es vor, auf diese offensichtliche Lüge gar nicht erst zu reagieren. Er kehrt sowieso nur sehr widerwillig zurück in die Realität.

„Hallo Emi-san. Hallo Suzuno-san. Hallo Suzuki-san“, neben ihnen verbeugt sich Chiho tief.

„Willkommen zurück Mao-san, Ashiya-san, Chiho-san, Urushihara-san.“, begrüßt Crestia sie formell wie immer.

„Hallo Chi-chan. Komm, setz dich neben mich“, Emi winkt sie so selbstverständlich zu sich heran, als wohne sie hier.

„Hallo Chiho, schön, dich zu sehen“, lächelt Rika.

„Lasst uns essen“, mit großen Schritten eilt Mao auf den Tisch zu. „Ich habe einen Bärenhunger.“

Ashiya folgt ihm dicht auf dem Fuß.

Lucifer bleibt als Letzter im Eingangsbereich zurück. Ein Blick auf das Gewusel vor ihm und er erinnert sich wieder an seine pochenden Kopfschmerzen.

„Es ist schön, dich zu sehen, Lucifer.“

Crestia ist die einzige, die ihn nicht wie Luft behandelt. Sie steht immer noch da, wo sie sie alle begrüßt hat und lächelt ihn an. Wie immer trägt sie einen altmodischen Kimono und bedient sich einer sehr formellen Sprache. Und sie benutzt auch seinen richtigen Namen, denn Suzuki Rika hört ihnen nicht mehr zu und die Benutzung ihrer richtigen Namen ist nichts weiter als die subtile Drohung von „ich behalte euch im Auge“.

„Wie geht es dir?“

Das ist das erste Mal, dass ihm heute jemand diese Frage stellt, der kein Arzt oder eine Krankenschwester ist. Lucifer senkt den Kopf und starrt auf seinen geschienten Arm. Die Bewegung verursacht Schwindel und eine Übelkeitswelle, die noch an Fahrt gewinnt, als der Duft des Essens in seine Nase dringt.

„Crestia … entschuldige, aber ich glaube nicht, dass ich etwas essen kann. Danke für deine Mühe.“

„Urushihara!“ Das ist Mao. „Setz dich endlich oder wir fangen ohne dich an.“

Lucifer lässt seinen Blick über den Tisch wandern. Da steht keine Schale für ihn und der einzige Platz, der frei ist, ist der für Crestia. Also – alles wie immer bei solchen Zusammenkünften. Das hier ist nur ein kleines sechs-Tatami-Matten-Apartment und sieben Personen sind einer zuviel. Und derjenige, der zuviel ist, sitzt dann immer in der Ecke an seinem Katzentisch bei seinem Laptop und isst separat von allen anderen.

Lucifer wird plötzlich wieder sehr, sehr schlecht.

„Heuchler. Kleingeistige, dämliche Heuchler“, murmelt er vor sich hin.

„Urushihara“, Maos knurrende Stimme verrät ihm nicht, ob dieses Knurren eine Reaktion auf seine Worte ist oder darauf, dass er an Crestia vorbei in Richtung Badezimmer geht.

„Uru-shi-ha-ra...“

Das gilt eindeutig der Tatsache, dass er im Bad verschwindet und die Tür hinter sich schließt.

„Urushihara!“ Das ist Emi.

„Urushihara!“ Und das ist Ashiya. „Sei nicht immer so undankbar! Kamazuki-san hat sich sehr viel Mühe mit dem Essen gegeben! Sei froh, dass du etwas abbekommst. Begrüße unsere Gäste wenigstens angemessen!“

Das einzige, was Lucifer noch begrüßen will, ist die Toilettenschüssel. Ihm ist schlecht und er gibt sich keine Mühe, die Geräusche zu unterdrücken, als er sich übergibt. Ihm ist schwindlig und übel und er hat rasende Kopfschmerzen, aber das Porzellan ist angenehm kühl auf seiner Haut, und so unbequem sitzt es sich hier nicht. Was spricht dagegen, dass er für eine Weile hierbleibt?

„Urushihara!“ Ein ungeduldiges Hämmern an der Tür reißt ihn aus seinem dösigen Zustand. „Mach auf! Ich muss mal!“

„Dann geh nach nebenan zu Crestia“, murmelt er kraftlos zurück.

Yeah. Denn das hier gehört mir. Ich hab hier alles, was ich brauche, wieso sollte ich gehen?

Leider ist diese Frau genauso stark wie stur. Ein wohlgezielter Tritt gegen das Schloß genügt und schon schiebt sie die Überreste der Tür beiseite. Im Hintergrund hört er Alciel verzweifelt etwas von „teuer“ und „Vermieterin“ schreien und seltsamerweise bringt ihn das zum Kichern. Nur ganz kurz, weil sein Kopf gleich platzt und da schwarze Flecken in seinem Sichtfeld tanzen.

„Oi“, hört er sich selber antworten, „das zahle ich dir doch aus der Portokasse...“

Im Durchschnitt verdient er etwas über achtzigtausend pro Nacht. Und er ist sicher, sein gebrochener Arm stellt da kein großes Hindernis dar. Sobald sein Kopf und sein Magen aufhören, sich so daneben zu benehmen, zieht er wieder los.

Geld. Magie. Flügel. Fortfliegen. In der Reihenfolge.

„Mach Platz.“

Mehr als ein „Hasse euch alle“, bringt er nicht heraus, denn da hat die Heldin Emilia ihn schon am Kragen gepackt und vor die Badezimmertür gesetzt. Ihm ist schwindliger als je zuvor und die drei Meter bis zu seinem Schrank erscheinen ihm plötzlich unglaublich weit, vor allem, weil er an dieser so furchtbar lauten Gesellschaft vorbei muss. Seine Sicht ist nur verschwommen, aber das wenige, was er erkennen kann, zeigt ihm, dass sie bei dem Dessert angelangt und wie immer so in ihre Gespräche vertieft sind, dass sie nichts anderes mehr um sich herum wahrnehmen.

Uh, die schwarzen Flecken vor seinen Augen dehnen sich aus. Wenn er noch irgend wohin will, sollte er jetzt damit anfangen. Mühsam zieht er sich am Küchenschrank auf die Beine, greift sich die Plastikschüssel, die zum Trocknen auf der Spüle liegt (Alciel wird toben, wenn er den Schrank vollkotzt) und wankt dann, sich mit dem verletzten Arm an der Wand abstützend, zu seinem Refugium.

Falls ihm irgend jemand Beachtung schenkt, bekommt er es nicht mit. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, annähernd bei Bewußtsein zu bleiben. Irgendwie schafft er es, die Schranktür zu öffnen und hineinzuklettern. Er schafft es sogar, die Tür hinter sich wieder zu schließen. Doch dann verlassen ihn seine Kräfte und Dunkelheit, angenehme Dunkelheit umfängt ihn.

 

 

„Hanzō ist wieder in seinem Schrank.“ Hätte jemand anderes als Crestia Bell diese Worte ausgesprochen, wären sie im Stimmengewirr untergegangen, aber in ihrem Tonfall liegt generell eine Autorität, der sich niemand entziehen kann.

„Huh?“ Mao unterbricht kurz sein Gespräch mit Chiho. „Hab ihn gar nicht bemerkt. Oi, Urushihara!“ Er dreht sich um und schlägt mit der flachen Hand an den Schrank. „Willst du nichts essen?“

„Wir behalten dein Geld!“ ruft Alciel von der anderen Tischseite. „Für die Badezimmertür.“

„Mao-san“, nimmt Chiho ihr unterbrochenes Gespräch mit dem Dämonenkönig wieder auf, „ich bin dir so dankbar, dass du morgen für mich die Mittagsschicht übernimmst. Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne dich tun würde...“

„War es wirklich eine gute Idee, Hanzō schon aus dem Krankenhaus zu holen?“ unterbricht Crestia sie mit ernstem Gesicht. „Ich erinnere mich, dass es hier eigentlich Standard ist, Personen mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung noch über Nacht zur Beobachtung dazubehalten.“

„Das mag sein, Kamazuki-san“, erklärt ihr Alciel. „Aber das hätte zu einer Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge geführt, die unser Budget nur unnötig belastet hätte.“ Er zieht eine Grimasse. Etwas in ihm krümmt sich bei jedem Wort zusammen, aber es ist so leicht, in die selbstgewählte Rolle des kleingeistigen, geizigen Hausmannes zu schlüpfen. „Es ist schon schlimm genug, dass Mao-sama für ihn mitbezahlen muss.“

„Was redest du denn da für einen Stuß?“ Emi, die gerade aus dem Badezimmer zurückkehrt, hat seine letzte Bemerkung gehört und kann über die Unwissenheit der Dämonen wirklich nur lachen. „Wißt ihr denn überhaupt nichts? Habt ihr euch die Versicherungsunterlagen jemals richtig durchgelesen? Maos Beitrag richtet sich nach seiner Einkommenshöhe und da sind sowohl du wie auch Urushihara ohne Zusatzkosten mitversichert, weil ihr als seine Familienangehörigen geltet. Die Beiträge erhöhen sich erst, sobald sich sein Gehalt merklich erhöht. Und natürlich, weil sie jedes Jahr wieder neu angepasst werden, aber das hat etwas mit der Gier der Aktionäre zu tun und da müssen alle Versicherten durch.“

Kopfschüttelnd setzt sie sich wieder an ihren Platz und zieht sich die letzte Schale Vanillepudding heran.

Crestia runzelt die Stirn. Diese Portion hatte sie extra für Lucifer zurückgestellt!

„Emi, sei nicht so unfair“, Rika neben ihr lächelt Alciel um Verzeihung heischend an. „Sie stammen nicht von hier, woher sollen sie das wissen? Ashiya-san, wenn du magst, helfe ich dir, aus eurer Krankenversicherung das beste herauszuholen. Es gibt da gewisse Zusatztarife, die standardmäßig enthalten sind, die man aber nicht braucht und kündigen kann. Das spart dir manchmal ein paar tausend Yen im Jahr.“

„Würdest du das wirklich tun, Rika-san?“ Alciel schwankt, ob er das Angebot annehmen sollte. Sie will bestimmt etwas dafür, aber er kann sich nicht vorstellen, was das sein könnte. Seine Zustimmung kommt daher ziemlich verhalten. „Das wäre nett.“

Mao kratzt sich inzwischen verlegen am Kopf.

„Na ja, aber die ganzen Fragen dort wurden wirklich lästig“, erklärt er an Emi gewandt. „Eine Sozialarbeiterin hat ihn schon ausgefragt. Ich will einfach keinen Ärger mit den Behörden haben.“

„Diese Vorgehensweise ist normal“, beruhigt Chiho ihn, stolz, ihr Wissen als Tochter eines Polizisten weitergeben zu können. „In dieser Stadt hat die Anzahl der Mißhandlungen innerhalb der Familie zugenommen, da sind sie jetzt besonders genau bei solchen Unfällen.“

„Ja, und das wüßtet ihr auch, wenn ihr einen TV hättet“, fügt Emi in einem gewissen herablassenden Tonfall hinzu. „Die Begründung 'ist die Treppe herunterfallen' steht ganz oben auf der Liste der verdächtigsten Ausreden, dicht gefolgt von 'lief gegen einen Schrank'.“

„Auch wenn es die Wahrheit ist“, nickt Chiho eifrig, dass ihre Zöpfe nur so wackeln. Die unsicheren Blicke, die Mao und Alciel tauschen, entgehen ihr völlig. Aber nicht Emi. Sie runzelt die Stirn und hebt zu einer Frage an, doch Crestia kommt ihr zuvor.

„Es ist nicht die Wahrheit, Chiho-chan. Er fiel aus diesem Fenster.“ Vielsagend deutet sie auf das Corpus Delicti. „Aber bei genauerer Betrachtung der lauten Auseinandersetzung, die dem ganzen vorausging und der Höhe, in der dieses Fenster in der Wand angebracht ist, erscheint es mir wahrscheinlicher, dass Hanzō entweder aus dem Fenster gestoßen wurde oder selbst gesprungen ist.“

„Eh? Eh?“ kiekst Chiho entgeistert auf. „Nein, das kann nicht sein. Du lügst. Nicht wahr, Mao-san? Du hast gesagt, er ist die Treppe hinuntergefallen. Und wir wissen alle, wie gefährlich diese Treppe ist. Emi und Suzuno fallen da ständig herunter. Ha, und auch wenn...“, noch im selben Atemzug reckt sie herausfordernd das Kinn nach oben und verschränkt die Arme vor der Brust, „...hatte Urushihara es ganz bestimmt verdient. Er treibt den armen Ashiya doch ständig zur Weißglut und hört nie auf Mao. Sie hätten ihn nie bei sich aufnehmen sollen. Da ist es doch kein Wunder, wenn den beiden der Kragen platzt. Ich wundere mich eher, dass es nicht schon viel früher geschehen ist.“

Crestia mustert sie mit hochgezogener linker Augenbraue, entscheidet sich aber, auf weitere Kommentare zu verzichten.

Suzuki Rika allerdings fühlt sich eindeutig fehl am Platz und starrt verunsichert auf ihren leeren Teller. Das, was sie hier hört, gefällt ihr ganz und gar nicht, aber sie wagt es auch nicht, sich darüber ein Urteil zu erlauben. Es geht sie schlicht nichts an.

„Themenwechsel“, bestimmt Emi, die bemerkt, wie unangenehm Rika das ganze Gespräch langsam wird. „Ashiya, ich habe zwei Karten für eine Kinovorstellung geschenkt bekommen. Eine habe ich Rika gegeben. Eigentlich wollte ich mit ihr da hingehen, aber ich muss morgen länger arbeiten. Also gehst du morgen Abend mit Rika ins Kino. Es ist eine Einladung“, betont sie. „Die Karte ist schon bezahlt, du musst nichts dazu zahlen.“

„Und die Snacks und die Getränke übernehme ich“, ergänzt Rika schnell und strahlt den blonden Mann dabei regelrecht an.

„Kann ich dieses Angebot wirklich annehmen?“ sinniert Alciel mit einem hilfesuchenden Blick zu seinem König laut.

Mao nickt nur und signalisiert ihm mittels hochgerecktem Daumen, wie begeistert er von dieser Idee ist.

„Du wirst viel Spaß haben. Du hast es dir verdient.“ Dabei rutscht sein Blick vielsagend zum Wandschrank hinüber, hinter dem Lucifer „lebt“.

Alciel nickt widerstrebend und sieht dann hinüber zu Rika, die ihn immer noch so begeistert anlächelt. Er weiß zwar nicht, was sie von ihm will, aber wenn sein König möchte, dass er in diese Kinovorstellung geht, dann wird er es tun.

 

 

VII.

 

So leise wie möglich dreht sich Alciel von der Rückenlage auf die Seite. Er will seinen König, der nur einen halben Meter entfernt schläft, nicht durch seine Unruhe aufwecken. Es ist nicht so dunkel in dem kleinen Apartment, wie er es gerne hätte, die Straßenbeleuchtung ist dazu viel zu hell, aber das ist nicht der Grund dafür, dass er nicht schlafen kann.

Unwillkürlich lauscht er auf die Geräusche um sich herum – Mao-samas ruhige, tiefe Atemzüge, das Ticken der alten Wanduhr, das Knarzen der Holzbalken, aus denen dieses Gebäude zusammengezimmert wurde und … ja, da ist es, ganz schwach: das Rascheln und Schaben im Wandschrank, die Geräusche von etwas Lebendigem.

Dank all der Magie, die in ihm kreist, muss er sich nicht einmal anstrengen, um sogar Lucifers Atemzüge zu hören. Alciel weiß nicht, wie lange er ihnen schon lauscht, wahrscheinlich hört er schon unbewusst nach ihnen, seit ihre ungebetenen Gäste nach Hause gegangen sind und hier wieder Ruhe eingekehrt ist.

Er sollte so etwas Unhöfliches nicht denken, aber diese Weiber kratzen an seinen Nerven. Es fällt ihm zunehmend schwerer, seine Maske des ständig höflichen, rationalen Hausmannes aufzubehalten, vor allem an solchen Tagen wie dem heutigen. Die Diskrepanz zu dem, wie er sich geben muss und wie er eigentlich sein möchte, wird zunehmend größer und erdrückender.

Aber sein König kann keinen zusätzlichen Ärger gebrauchen, er hat es auch so schon schwer genug, also gilt die Devise: immer lächeln und winken.

Auch Zuhause in der Dämonenwelt musste er stets seine eigenen Bedürfnisse anderen unterordnen. Aber Mao-sama ist der einzige, für den er es mit ganzem Herzen tut.

Es ist nicht so wie damals, als er von seinem Clan dazu gezwungen wurde, den Häuptling zu geben, weil alle anderen zu feige dazu waren. Er war noch zu jung und gar nicht bereit für diese Verantwortung, die man ihm aufdrückte, aber er wuchs schließlich in sie hinein und irgendwie gelang es ihm sogar, seinem Clan zu einer gewissen Anerkennung zu verhelfen. Als Mao ihn schließlich herausforderte und besiegte und ihn und seinen Clan damit in seine Gefolgschaft eingliederte, war es keine Niederlage, sondern ein Gewinn für alle.

Maos Ziele schienen zuerst unerreichbar, aber er verfolgte sie mit einer Hartnäckigkeit und Selbstaufopferung, die Alciel geradezu dazu zwang, ihm treuer als treu zur Seite zustehen, damit Mao nicht selbst auf seinem Weg dorthin ausbrannte.

Selbst hier in der Menschenwelt gibt er immer alles. Da ist es doch nur logisch, dass Alciel ihm den Rücken freihält, wo immer er kann.

Leider beinhaltet das aber auch, zu lächeln und zu winken, wenn er Emi & Co doch eigentlich am Liebsten durch das nächste Tor davonjagen würde.

Diese Nervensägen brauchen dringend ein eigenes Privatleben, sie lungern gefühlt ständig hier herum und ruinieren seinem König dessen wohlverdienten Feierabend. Und nicht einmal an einem Tag wie diesem konnten sie ihn in Ruhe lassen!

Und musste diese dämliche Heldin auch noch Suzuki Rika hier anschleppen? Alciel weiß nie, wie er sich dieser Frau gegenüber benehmen soll, also zeigt er ihr nichts als reinste Höflichkeit, in der Hoffnung, nicht irgend eine ihm unbekannte Etikette zu übertreten, denn erstens will er Suzuki-san nicht verletzen (sie hat ihm schließlich nichts getan) und zweitens ist sie Emis Freundin und Emis Gezeter geht ihm auch so schon genug auf die Nerven.

„Ashiya, schlaf endlich“, schreckt ihn Mao-samas leise, sanfte Stimme aus seinen Gedanken.

Schuldbewußt zuckt Alcel zusammen.

„Jawohl, Mylord“, flüstert er.

Einen Herzschlag lang ist nichts zu hören außer Lucifers Atemzügen im Schrank und Alciel spürt, dass sein Herr ebenfalls nach ihnen lauscht.

„Es wird alles gut“, wispert Mao dann.

Alciel nickt nur und drückt sein Gesicht fester ins Kissen. Er möchte daran glauben. Er möchte es wirklich, aber... Lucifer ist verletzt, und das ist ihre Schuld! Sie sind hier nicht in der Dämonenwelt, das war kein Trainingskampf oder eine Schlacht, das war nicht einmal eine offizielle Herausforderung oder ein Kräftemessen. Das ist ihnen einfach außer Kontrolle geraten und das hätte einfach nicht passieren dürfen! Er muss einen Weg finden, um so etwas in Zukunft zu vermeiden, das ist seine Aufgabe, sein König zählt auf ihn!

Hätte er sich umgedreht, hätte er vielleicht einen kurzen Blick auf Maos bedrückte Miene werfen können, bevor dieser sie wieder unter seiner üblichen Unbekümmertheit verborgen hätte, aber er dreht sich nicht um.

Und Mao ist sehr froh darüber, denn so sehr, wie Alciel ihm keinen unnötigen Stress verursachen möchte, will er Alciel ebenfalls keine zusätzlichen Sorgen aufbürden. Alciel steigert sich so schnell in solche Dinge hinein, dass Mao – vor allem seitdem sie Menschen sind – manchmal befürchtet, der Gute könnte gleich einem Herzinfarkt erliegen. Und was täte er dann ohne ihn? Ohne Alciel ist er verloren, das weiß er schon seit Jahrhunderten. Und es schmerzt ihn zutiefst, dass sie jetzt in dieser Situation sind, denn das ist alles nur seine Schuld.

Angefangen damit, dass sie hier auf der Erde gelandet sind, bis hin zu seinem kärglichen Teilzeitgehalt, mit dem sie auskommen müssen und dann noch diese ganzen Katastrophen, die sie geradezu zu verfolgen scheinen. Es fällt ihm oft nicht leicht, ihnen solche engstirnigen Feinde wie Emi mit unerschütterlicher Freundlichkeit vom Halse zu halten, aber es funktioniert. Als König kann er nun einmal selten so handeln, wie er es gerne möchte, er trägt schließlich auch die Verantwortung für seine Untertanen (und Freunde). Er kann es nicht riskieren, diese geballte Frauenpower auf Alciel oder Lucifer loszulassen, es genügt schon, wenn sie ständig in irgendwelche Scharmützel zwischen den Engeln und Emi verwickelt werden. Natürlich ist sie dem Himmel als Halbengel ein Dorn im Auge und eigentlich könnte es ihm völlig egal sein, aber leider tendieren die Engel dazu, immer unschuldige Menschen in ihre Angelegenheiten mit hineinzuziehen und so unglaublich es klingt, aber – Mao hat begonnen, die Menschen der Erde zu mögen.

Das sind wahrscheinlich die Nebenwirkungen seines Jobs.

Doch wenn er zwischen den Menschen der Erde und Alciel oder Lucifer wählen müsste, würde er keine Sekunde zögern und diesen ganzen Planeten in Brand stecken, wenn es nötig wäre.

Aber wenn sich Alciel und Lucifer angiften, weiß er nie, was er tun soll. Er will sich auf keine Seite schlagen, und es widerstrebt ihm zutiefst, das zuzugeben, aber seit sie Lucifer hier bei sich aufgenommen haben, steht Alciel unter zusätzlichem Streß und er findet keinen Weg, das Problem zu lösen. Und wie es scheint, belastet ihn dies genauso wie Alciel, es gibt sonst keinen anderen Grund, wieso er heute so überreagierte.

Er hat einen schrecklichen Fehler begangen, aber das Schlimmste ist, dass er nicht weiß, wie er das wieder gutmachen kann. Wenn Lucifer doch nur nicht so starrsinnig wäre und ihnen nicht immer die kalte Schulter zeigen würde! Er ist so furchtbar distanziert, es ist so schwer, an ihn heranzukommen – war das früher auch schon so? Sein Benehmen, seine ganze Art, ist nicht sehr hilfreich, weil sie ihn manchmal so wütend macht, dass er Lucifer am Liebsten einfach nur noch packen und schütteln könnte.

Was, zum Henker, stimmt nicht mit ihm?

Warum will er sich nicht integrieren?

Und was treibt ihn dazu, zu denken, es sei okay, seinen Körper für Geld zu verkaufen?

Mao weiß nicht, welcher Gedanke ihn mehr aufregt: der, dass Lucifer Sex mit einem Menschen hat oder dass er mit dieser merkwürdigen Magie nach Hause kam?

Mao ist nicht dumm, nachdem in den Nachrichten über nichts berichtet wurde, woher Lucifer diese Energie bezogen haben könnte, begriff er sehr schnell, dass es irgend wie mit dem zusammenhängen muss, was Lucifer und diese fremden Männer miteinander (wortwörtlich) trieben.

Diese Magie fühlt sich jedenfalls auch ganz anders an. Viel elektrisierender. Auf ihre Art viel mächtiger ohne wirklich stark zu sein. Ein Tor kann er jedenfalls mit ihr noch lange nicht öffnen. Wenn er sie mit etwas vergleichen müsste, dann käme ihm das Bild eines plätschernden Baches aus goldenem Honig in den Sinn – während die normale negative Energie eher einem auflodernden und alles verzehrendem Feuer nahekommt, an dem man sich wunderbar wärmen kann.

Und er muss zugeben – diese neue Energie kann einen süchtig machen. So sehr, dass er sich allmählich fragt, ob es seine Schuld war, dass er Lucifer diese Magie nicht zurückgeben und ihn nicht einmal damit heilen konnte, lag es vielleicht daran, dass er diese Kraft unbewusst gar nicht wieder hergeben wollte?

Ich bin ein schlechter König. Unwillkürlich ballt er die Fäuste. Ich muß einen Weg finden, das alles wieder einzurenken.

Denn, ehrlich gesagt: es tut furchtbar weh, wenn Lucifer diese drei Worte zu ihnen sagt:

ich hasse euch.

Noch schlimmer ist eigentlich nur der traurige Ausdruck in Alciels Augen seit heute Morgen.

 

 

VIII

 

„Urushihara, wir gehen jetzt.“

Es ist kurz vor elf Uhr vormittags, Mao ist auf dem Weg zu seiner Schicht und Alciel begleitet ihn noch bis zum Supermarkt an der Ecke.

„Urushihara?“

Mao wirft er noch einen Blick zu dem gefallenen Engel hinüber. Der hängt mit dem Oberkörper auf dem niedrigen Tisch wie ein Schluck Wasser und starrt aus halbgeschlossenen Augen vor sich hin.

„Hmmm...“ kommt es nur unbestimmt zurück.

„Kein Internet“, warnt ihn Alciel aus reiner Gewohnheit heraus. „Und Finger weg von deiner Spielekonsole. Sonst muss ich sie dir wieder wegnehmen.“

„Ey Alter“, protestiert Lucifer schwach, „ich kann kaum was sehen, wie soll ich da Zombies töten?“

Mao mustert ihn einen Moment, während Alciel schon nach draußen geht - er muß hier raus, er erträgt diesen Anblick einfach nicht mehr. Dieses blasse Gesicht, diese blauen Flecken und die dunkelrot leuchtenden Schrammen, ganz zu schweigen von dem geschienten Arm...

„Ruf uns an, wenn es dir schlechter geht. Ashiya ist in einer Stunde wieder da. Und wir bitten Suzuno, nach dir zu sehen.“

„Hmmmm...“ macht Lucifer nur und vergräbt das Gesicht in den Armen.

Mao seufzt nur und verläßt dann die Wohnung. Er fühlt sich nicht wohl dabei, ihn allein zu lassen. Wenigstens wird Lucifer in diesem Zustand keinen Unsinn anstellen.

 

 

Als Alciel zurückkommt, hat sich nicht viel verändert. Außer, dass Crestia Bell bei Lucifer am Tisch sitzt und einen ihrer dicken Wälzer liest. Sie klappt das Buch zu, sobald sie ihn sieht und erhebt sich mit den ihr typischen, geschmeidigen Bewegungen.

„Willkommen zurück, Alciel", begrüsst sie ihn.

Lucifer dagegen gibt keinen Laut von sich. Alciel runzelt missbilligend die Stirn, verzichtet vor Crestia aber auf eine Zurechtweisung.

Er bedankt sich bei ihr und bringt sie höflich zur Tür. Da sie ihm nichts sagt, geht er davon aus, dass nichts Nennenswertes in seiner Abwesenheit geschehen ist. Das beunruhigt ihn ein wenig.

„Urushihara, lebst du noch?"

Keine Antwort.

Alciel erstarrt und betrachtet die auf dem Tisch zusammengesackte Gestalt etwas genauer. Als er dann aber sieht, wie sich Rücken und Schultern unter leichten Atemzügen heben und senken, ist er beruhigt.

Nachdenklich geht er in Küche, holt den Rest der Misosuppe, die es heute zum Frühstück gab, heraus und füllt die Brühe in eine Extraschale ab. Lucifer hat heute noch nichts gegessen und Alciel hofft, dass er sich wenigstens zu Flüssignahrung überreden lässt.

Während sie in der Mikrowelle erhitzt wird, wandern seine Gedanken unwillkürlich zum gestrigen Tag zurück.

Für einen kurzen Moment, als er Lucifer da im Hof liegen sah, ganz verdreht und die Knochen weiß und blutig aus seinem Arm ragten, da blieb ihm fast das Herz stehen und er dachte, sie hätten ihn umgebracht.

So etwas hatte er noch nie zuvor empfunden.

Die fünf Sekunden, bis sie bei ihm waren und seinen Puls überprüfen konnten, waren fast die längsten in seinem ganzen Leben. Ob ein Dämon tot ist oder nicht, erkennt man schon lange, bevor man es richtig nachprüfen kann, weil er dann nämlich keine schwarze Energie mehr verströmt. Aber Lucifer hatte schon vorher keine Magie mehr, er war völlig leer, so wie jetzt... Und dann später im Auto, diese Worte, die er sagte, vor allen dieses ich hasse euch... Alciel bekommt noch heute eine Gänsehaut, wenn er daran denkt.

So hat Lucifer noch nie geredet.

Noch nie.

Er benutzt dieses Wort in anderen Zusammenhängen wie „warum hasst ihr mich so“ oder „ihr müsst mich wirklich hassen“, aber dieses Wort, dieses Gefühl so auf sich gerichtet zu sehen, das verursacht ihm eine gewisse Beklemmung.

Das Kling der Mikrowelle reißt ihn aus seinen düsteren Gedanken.

„Urushihara." Er nimmt die Schale heraus und geht mit ihr hinüber zum gefallenen Engel. „Du musst etwas zu dir nehmen, sonst dehydrierst du."

Er legt die Schale auf den Tisch, doch als er immer noch keine Reaktion erhält, setzt er sich zu ihm.

„Urushihara?"

Zögernd streckt er die Hand aus und berührt seinen Nacken.

Immer noch keine Reaktion.

Er kann nicht einmal sagen, ob Lucifer nur so tut als ob er schläft, wirklich schläft oder das Bewusstsein verloren hat.

„Lucifer", murmelt Ashiya, streichelt durch diesen violetten Haarsträhnen und wundert sich, wie weich sich das doch anfühlt. Von hier kann er ganz deutlich die Naht am Hinterkopf sehen; die Ärzte haben sich viel Mühe gegeben, die Haare nur unmittelbar um die Wunde herum wegzurasieren. Eine zehn Zentimeter lange, aggressiv und dunkelrot leuchtende Naht. Und anders als andere Narben wird diese nicht spurlos abheilen.

„Ich wünschte, ich könnte dir deine Magie zurückgeben. Natürlich nicht alles, aber ein bisschen. Soviel, damit du heilst, aber ... Das geht nicht. Wir haben es versucht."

Das ist frustrierend. Mao-sama und er können sich einfach keinen Reim darauf machen, warum das nicht funktioniert. Letztendlich war das der Grund, wieso sie dazu gezwungen waren, einen Krankenwagen zu rufen.

Lucifers Finger zucken. Es sind die seines gebrochenen Arms und sie sehen so blaß – fast schon bläulich - aus in dieser dunkelroten Schiene.

„Lucifer? Komm schon, du musst etwas zu dir nehmen."

„Alciel", seine Stimme ist schwach, fast nur ein Wispern, „geh weg... Du bist zu laut..."

Sofort spürt dieser wieder die altbekannte Wut in sich aufbrodeln - wie kann er es wagen? - doch dann atmet er einmal tief ein, um sich zu beruhigen. Nein, dafür hat er nicht die halbe Nacht lang wachgelegen, nachgedacht und dann beschlossen, geduldiger zu sein.

„Tut dir dein Kopf noch weh?" Er hat davon gehört, dass manche bei Migräne geräuschempfindlich werden, vielleicht ist das bei einer Gehirnerschütterung ja genauso. „Soll ich dir in deinen Schrank helfen? Da ist es ruhiger und dunkler."

Lucifer murmelt etwas. Es klingt verwaschen und undeutlich. Alciel versteht nur Bruchstücke.

„... G'sellschaft... aus 'n Augen aus 'm Sinn... Hätt'ste wohl gern..."

Alciel benötigt ein paar Sekunden, um das zu verstehen, doch dann zieht er einmal scharf die Luft ein. Fassungslos starrt er auf die zusammengesunkene Gestalt vor sich. Ärgerte ihn soeben noch diese respektlose Haltung, sieht er jetzt die Erschöpfung und die Einsamkeit dahinter.

Glaubt Lucifer etwa, dass er ihnen gleichgültig ist?

Wieder holt Alciel einmal tief Luft. Er sortiert seine Gedanken gründlicher als je zuvor, und als er dann zu sprechen beginnt, wählt er seine Worte mit sehr viel Bedacht.

„Du bist eine Nervensäge und ich ärgere mich täglich über dich, aber ich will trotzdem nicht, dass dir etwas passiert. Mao-sama ist ein guter König und als solcher fühlt er sich für dich verantwortlich, wie für jeden anderen auch, ob nun ein einfacher Untertan oder General. Und als seine rechte Hand ist es bei seiner Abwesenheit meine Pflicht, diese Verantwortung mit zu übernehmen. Also nein", fügt er stolz hinzu, „ich hätte es nicht gerne, wenn dir etwas zustößt."

Lucifer dreht den Kopf etwas und wirft ihm einen undeutbaren Blick aus trüben, violetten Augen zu. Dann vergräbt er das Gesicht wieder in seinen Armen.

Ein richtiges Lebenszeichen! Stolz schiebt Alciel die Schale noch ein paar Zentimeter näher an ihn heran.

„Trink etwas“, fordert er ihn auf.

Aber zu seiner großen Enttäuschung rührt Lucifer keinen Muskel.

„Undankbarer Nichtsnutz“, zischt Alciel nun doch verärgert, steht auf und geht hinüber in die Küche, denn dafür hat er jetzt wirklich weder die Geduld noch die Zeit. Er muss das Abendessen für Mao-sama zubereiten und da ein richtiges Mahl schon mal ein paar Stunden dauert, will er möglichst früh damit anfangen.

Während er die Zutaten zusammensucht und auf der Anrichte sortiert, hört er hinter sich Geräusche – ein leises Schnaufen, das Rascheln von Stoff und wie sich die Schranktür öffnet und dann leise wieder zugeschoben wird. Er muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich Lucifer wieder in sein Refugium zurückgezogen hat. Ohne auch nur einen Schluck zu trinken.

Alciels Miene verdüstert sich, doch diesmal will er es ihm noch durchgehen lassen.

 

 

Lucifer greift sich eine Decke, zieht sie sich über seinen Kopf und rollt sich zusammen. Sie ist nur ein schwacher Ersatz für seine Flügel, aber sie ist alles, was er hat. Er bereut es, überhaupt aus seinem Schrank herausgekommen zu sein. Jetzt versteht er gar nicht mehr, wieso er sich so sehr nach Gesellschaft sehnte. Während ihm Crestias Gegenwart wenigstens noch ein klein wenig gut tat – sie strahlt diese gewisse Ruhe aus und kann stundenlang still sitzen und vor allem quatscht sie ihn nicht voll oder verlangt irgend etwas von ihm – hat Alciel alles, jedes bißchen inneren Frieden, das er gefunden hatte, wieder zerstört. Wieso konnte er nicht einfach schweigen und ihn in Ruhe lassen? Wieso muss er ihm ständig unter die Nase reiben, wie unwichtig er ist? Ächzend vergräbt er den pochenden Kopf in seinen Armen. Er sollte versuchen, etwas zu schlafen, solange es noch geht. Wenn Mao zurückkommt, stehen bestimmt auch bald wieder Emi oder Chiho vor der Tür wie fast jeden Abend. Die beiden brauchen dringend ein eigenes Privatleben!

Er seufzt einmal leise auf. Vielleicht hat er Glück und er kann wieder richtig sehen, wenn er aufwacht. Mit dieser verschwommenen Sicht kann er ja nicht einmal im Internet surfen. Wegen seines Arms muss er auch schon auf die Konsole verzichten. Das ist hart. Sehr hart. Denn ohne die Möglichkeit in eine dieser aufregenden Online-Welten abzutauchen, bleibt ihm nur seine eigene Fantasie. Und dann träumt er unweigerlich vom Fliegen. Und der Schmerz über den Verlust seiner Flügel, wenn er wieder in der Realität landet, quält ihn mehr als sein Kopf und der Arm zusammengenommen.

Urgh. Wenn mein Kopf wieder einigermaßen in Ordnung ist, lade ich meinen Magiekern wieder auf.

Der gebrochene Arm wird wohl kaum ein Problem darstellen, schließlich ist es nicht seine Fingerfertigkeit, wofür die Kerle ihn bezahlen.

Aber diesmal wird er vorsichtiger sein. Er wird nicht hierher zurückkehren, bis er einmal um die Welt geflogen ist.

Und vielleicht nicht mal dann.

Wenn... wenn seine Flügel überhaupt zurückkehren.

Aber wenn nicht, hat er garantiert keinen Grund mehr, hierher zurück zu kehren.

Denn dann gibt es keinen Grund mehr für irgend etwas.

 

IX.

 

Ein vorsichtiges Klopfen an der Schranktür reißt Lucifer aus seinem dösigen Zustand, in dem seine Kopfschmerzen auf ein erträglich Niveau gesunken waren und er gerade durch einen Canyon flog.

„Urushihara?“

Geh weg, blöder Dämonenkönig.

„Lebst du noch?“

Nein.

„Urushihara?“

Wer?

„Hanzō?“

Huh?

„Lucifer!“

Die Tür wird zurückgeschoben und ein schwacher Lichtstrahl fällt herein. Lucifer blinzelt unwillig, zieht sich die Decke über den Kopf und dreht sich auf die andere Seite.

Mao starrt auf das Deckenbündel und atmet einmal tief und genervt durch. Plötzlich bemerkt er, dass er die Hände zu Fäusten geballt hat und lockert sie wieder ganz bewusst. Ein weiteres Mal holt er tief Luft.

„Ashiya ist soeben gegangen“, sagt er und bemüht sich, ruhig und sachlich zu klingen. „Es wäre schön, wenn du ihm wenigstens Auf Wiedersehen gesagt hättest. Er gibt sich immer viel Mühe und hat Anerkennung verdient. Er hat mir gesagt, dass du heute noch nichts gegessen hast, dabei hat er dir extra eine Schale Brühe gemacht. Mit Rücksicht auf deine Kopfschmerzen hat er heute sogar aufs Staubsaugen verzichtet. Ja, doch“, wiederholt er und seine Stimme wird um eine Nuance schärfer und anklagender, „du hättest ihn wenigstens anständig verabschieden und ihm viel Spaß wünschen können.“

Lucifer murmelt etwas vor sich hin, und hätte Mao nicht noch immer Lucifers Magie, hätte er mit seinen schwachen Menschenohren bestimmt nichts verstanden, so aber verfinstert sich seine Miene sofort.

„Stimmt, du hast ihn nicht darum gebeten, aber er hat es dennoch für dich getan. Und du hast trotzdem nicht mal den Anstand, ihm ein Mindestmaß an Höflichkeit und Respekt zu zollen. Das ändert sich ab sofort, Urushihara. Du kommst jetzt da raus und wirst etwas von der guten Mahlzeit zu dir nehmen, die Ashiya für uns beide gekocht hat. Und du wirst ihn anständig begrüßen, wenn er zurückkommt. So, wie es in diesem Land üblich ist.“

Es dauert eine Sekunde, bis er darauf reagiert. Heute fühlt er sich noch weniger angesprochen als sonst, wenn man ihn bei seinem japanischen Namen anspricht (den er sich nicht einmal selbst aussuchen durfte!).

„Ich habe keinen Hunger.“

„Du musst etwas essen. Dein menschlicher Körper benötigt Nahrung, um zu funktionieren. Und um gesund zu werden.“

Lucifer wühlt sich aus seiner Decke und funkelt ihn an. Doch ein mattes „lass mich in Ruhe“ ist alles, was er hervorbringt. Es hilft sowieso nicht, denn gegen Mao hat er in diesem Zustand nicht die geringste Chance.

 

 

Lustlos stochert Lucifer auf seinem Teller herum. Der dämonenkönigliche Burgerbrater sitzt ihm schräg gegenüber an diesem niedrigen Tisch und lässt sich seine eigene Portion sichtlich schmecken.

Lucifer hat keinen Hunger, aber er wagt es nicht, irgend etwas zu sagen, was Mao verärgern könnte. Er glaubt immer noch, Maos Finger um seine Kehle zu spüren und nichts hasst er mehr als dieses Gefühl, innerlich in seiner Gegenwart zu erstarren. Er hat Angst vor ihm, aber es ist diese Art von Angst, die ihm als Wurzel für eiskalte, stumme Wut dient. Dieselbe stumme Wut, die ihn schon sein gesamtes Leben begleitet und in ihm gärt und gärt und gärt, bis sie aus ihm hervorbricht wie Magma aus einem Vulkan. Um dann wieder zu erkalten und eine neue Schicht zu bilden, unter der die Flamme seiner Wut weiterbrodelt.

Er hat gelernt, diese Wut in die richtigen Bahnen zu lenken, was ihn zu einem der besten und furchterregendsten Engel und Dämonen machte.

Nur ist er im Moment leider weder das eine noch das andere.

Ohne seine Magie ist er schutzlos.

Und seine Wut nutzt ihm hier gar nichts. Im Gegenteil – sie würde seine Situation nur noch verschlimmern, dann hätte er wieder Maos Hände um seine Kehle und noch mehr Angst, von der sich dieser Bastard nähren kann.

Angestrengt starrt Lucifer auf seinen Teller und vermeidet jeden Blickkontakt.

Sein Schädel schmerzt zwar wirklich nicht mehr ganz so stark wie heute Morgen und Mittag, und auch seine Sicht ist nicht mehr so verschwommen, aber dafür fühlt sich sein Kopf samt Nacken so unglaublich schwer an. Außerdem kann er kaum die Stäbchen halten. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass er Rechtshänder ist und jetzt nur seine Linke benutzen kann.

Am liebsten würde er einfach nach vorne fallen und mit dem Gesicht in Alciels liebevoll zubereitetem Teriyaki landen.

Von dessen Geruch ihm übel wird.

Warum kann Mao ihn nicht einfach in seinem Schrank lassen?

Schon unter normalen Umständen ist es so anstrengend, den Schein zu wahren. Mao und Alciel werfen ihm seit Wochen vor, er solle mehr teilhaben, sich nicht ständig einigeln, nicht immer nur vor seinem Laptop hocken, dabei wissen sie gar nicht, wie schwer es ihm schon seit Jahrhunderten fällt, sich nicht in irgendeinem Loch zu verkriechen, irgend wohin, wo es dunkel und ruhig ist, wo es niemanden gibt, der etwas von ihm will. Früher war er echt gut darin, Interesse zu heucheln, aber jetzt gelingt ihm das immer weniger.

Mao hat begonnen, das Schweigen zwischen ihnen mit Anekdoten aus seinem heutigen Arbeitstag zu füllen, aber Lucifer ist nicht Alciel, ihn interessiert es nicht, ob es heute wieder unangenehme Kunden gab oder ob die Chefin wieder von Maos Engagement begeistert war.

Dafür geht ihm Maos Stimme langsam aber sicher auf die Nerven.

„Kommt Emi heute nicht?“ unterbricht er ihn mit einem Blick auf die Wanduhr. „Oder Chiho?"

Das ist ihm zwar auch egal, von ihm aus können beide bleiben, wo der Pfeffer wächst, aber er braucht ein anderes Thema, sonst wird er noch wahnsinnig.

„Emi?“ verwundert runzelt Mao die Stirn, doch dann fällt ihm ein, dass Lucifer das gestrige Gespräch ja gar nicht mitbekommen hat. „Ich bin froh, wenn sie uns mal nicht stalkt. Sie macht heute Überstunden. Und Chiho ist hoffentlich Zuhause und lernt für ihre Prüfung morgen."

„Und Crestia?"

„Suzuno“, berichtigt ihn Mao, „ist in ihrer eigenen Wohnung. Und belauscht uns vielleicht, wer weiß..." Unwillkürlich rutscht sein Blick hinüber zu der Wand, die sie sich mit der Nachbarwohnung teilen.

„Heute sind nur wir zwei hier."

Lucifer nickt nur und stochert weiter in seinem Essen herum. Maos Stirnrunzeln vertieft sich, als er bemerkt, dass er kaum etwas angerührt hat

Er selbst hat schon aufgegessen und so legt er jetzt seine Stäbchen auf den leeren Teller, richtet sich gerade auf, faltet die Hände vor sich auf dem Tisch und mustert Lucifer mit ernster Miene. Dabei wird sein Blick unwillkürlich von Lucifers gebrochenem Arm angezogen. Alciel ist nicht der einzige, dem dieser Anblick eines leblosen Lucifers auf den Pflastersteinen nicht aus dem Kopf gehen will.

Dieses Thema muss endlich vom Tisch, es hat ihn den ganzen Tag über beschäftigt und wirkt sich schon auf seinen Job auf, so sehr, dass ihn sogar seine Chefin darauf angesprochen hat. Warum er so zerstreut und so unglücklich wirke, hatte sie wissen wollen. Er konnte sie vorerst beruhigen und versicherte ihr, es käme nie wieder vor und er hat vor, dieses Versprechen zu halten. Er kann es sich nicht leisten, seinen Job zu verlieren, er ist in diesem Haushalt immer noch der einzige mit einem geregeltem Einkommen.

Es wird wirklich Zeit, mal ein paar grundlegende Dinge klarzustellen und das Problem an der Wurzel zu packen.

„Es wird Zeit, dass wir mal ein ernstes Wort miteinander reden“, beginnt er daher ernst. „So, wie bisher, geht es nicht weiter. Ich beschränke deine Internetzeit auf sechs Stunden pro Tag und du wirst keine einzige Minute davon mehr für deine dämlichen Spiele verschwenden. Die Bedingung, dass du hier mit uns leben darfst, sah vor, dass du im Internet nach Machtquellen für uns recherchierst. Das ist das einzige, wonach du noch im Internet suchen darfst. Die restliche Zeit gehst du Ashiya zur Hand. Du meckerst nicht, du widersprichst nicht und du machst, was er dir sagt. Und du behandelst ihn gefälligst mit Respekt."

Lucifers einzige Reaktion bestand darin, bei den Worten „sechs Stunden pro Tag“ seine Eßstäbchen auf den Teller zurückzulegen. Und jetzt starrt er nur mit gesenktem Kopf auf besagten Teller. Seine Haare bedeckten sein Gesicht, so dass Mao nicht einmal in seiner Miene lesen kann. Hat er ihm überhaupt zugehört?

„Verstanden?" hakt Mao daher scharf nach.

Lucifer zuckt zusammen und senkt den Kopf noch tiefer, und obwohl seine Stimme nur ein Wispern ist, schwingt unüberhörbar der Trotz in ihr.

„Wer gibt dir das Recht, so über mich zu bestimmen?"

„Ich bin dein König."

Für einen kurzen Moment funkeln ihn zwei violette Augen entgegen, doch dann senkt er schnell wieder den Blick.

„Und du nennst dich einen gerechten König?" Wieder nur ein Wispern, aber diesmal voller Bitterkeit.

Mao zögert, aber nur kurz. Er ist ein gerechten König. Ihm war es gelungen, die Clane zu vereinigen, die starken wie die schwachen und niemand sah mehr auf den anderen nur wegen seiner Herkunft herab. Sie haben alle eine Stimme bekommen, und er hört ihnen zu.

Und Lucifer weiß das. Er hat ihm dabei geholfen. Er war dabei.

Was soll das also?

Doch dann fällt ihm ein, dass Lucifer ein manipulativer Bastard ist. Entschlossen schüttelt er seine kurzzeitige Verwirrung ab.

„Ashiya und ich, wir hatten viel Nachsicht mit dir“, fährt er schließlich unbeirrt fort. „Alles, was jetzt passiert, hast du dir selbst zuzuschreiben."

„Das verstehe ich nicht.“ Und das ist die Wahrheit. Das Denken fällt ihm schwer, aber er ist sich sicher, selbst wenn er darüber nachdenken könnte, würde er zu keinem anderen Ergebnis kommen. Das, was Mao da sagt, fühlt sich einfach falsch an.

Erstens wurde er selbst in der Dämonenwelt nie fair behandelt, aber dafür immer wie der Außenseiter, der er seiner Herkunft entsprechend war.

Zweitens ist es hier jetzt auch nicht anders.

Alciel hasst ihn.

Mao hasst ihn.

Er kann es verstehen, wenn Emi und Chiho ihn hassen, aber was hat er Mao und Alciel je angetan? Also, bevor er versuchte, sie zu töten, aber das ist vierzehn Wochen her und Mao hat ihn dafür eine gesalzene Abreibung verpasst, nach Dämonentradition ist die Sache dadurch aus der Welt geschafft. Und sie haben ihn ja schon früher gehasst, nur war er ihnen damals nützlich. Jetzt ist er ihnen auch wieder nützlich, aber sie hassen ihn noch mehr als sonst? Und das selbst, nachdem sie hundertfünfundsechzigtausend Yen und seine Magie von ihm bekommen haben?

Urgh. Er ist so verwirrt, ihm brummt wieder der Schädel. Verzweifelt hält er sich den Kopf.

Mao mustert ihn durchdringend.

„Ja, das wundert mich nicht“, erwidert er dann geringschätzig. „Wie sollte ein antisozialer Parasit wie du das auch verstehen?“

Zum ersten Mal, seit er hier mit ihm am Tisch sitzt, hebt Lucifer den Kopf und blickt ihm gerade ins Gesicht. Seine Miene und seine Augen sind völlig ausdruckslos, genau wie seine Stimme:

„Ich. Hasse. Dich. Mao-sama.“

Mao gefriert das Blut in den Adern. Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass man ihm diese Worte an den Kopf wirft, von einigen bekommt er sie regelmäßig zu hören – vor allem von Emi – aber mit dieser Emotionslosigkeit hat er sie noch nie gehört. Schon gar nicht von Lucifer.

„Huh?“ scherzt er nervös. „Womit hab ich das verdient?“

Lucifer starrt ihn eine Weile noch genauso ausdruckslos an, doch plötzlich verdüstert sich seine Miene und seine Augen verdunkeln sich auf eine wohlbekannte Art, die auf aufsteigenden Zorn schließen lassen.

„Ihr seid Idioten,“ zischt er. „Ihr habt genug von meiner Magie geklaut, um hier für die nächsten vier Wochen keinen Finger rühren zu müssen. Und trotzdem wäscht Alciel das Geschirr immer noch per Hand ab, kocht, geht einkaufen und putzt.“ Um ein Portal zu öffnen, reicht es noch nicht, glücklicherweise, denn dann würden sie ihn bestimmt hier zurücklassen, nicht wahr? Der Gedanke verursacht ihm einen Knoten im Magen, der ihn nur noch wütender werden läßt.

„Und du? Was machst du mit meiner Magie? Sorgst du damit dafür, dass der Burgergrill nicht ausgeht? Wieso habt ihr mir meine Magie geklaut, wenn ihr sie nicht mal sinnvoll einsetzen wollt? Es ist meine Magie. Wenn ihr nichts Richtiges damit anfangen könnt, gebt sie mir verdammt nochmal zurück!

Von einer Sekunde auf die andere ist er von einem lethargischen Trauerkloß zu einem explodierenden Pulverfass mutiert.

Mao ist regelrecht erleichtert. Das ist der Lucifer, wie er ihn kennt.

„Wir können sie dir nicht zurückgeben. Wir haben es versucht. Wir konnten dich nicht einmal heilen. Glaubst du wirklich, wir hätten sie noch, wenn wir sie dir zurückgeben könnten?“

Ja!“

Mao blinzelt entgeistert.

„Was?“

Lucifer schnaubt verächtlich.

„Ihr würdet sie mir nie im Leben zurückgeben, selbst wenn ihr könntet.“ Seine Stimme ist jetzt wieder dieses Wispern, aber sie besitzt eine Bitterkeit, bei der es Mao eiskalt den Rücken hinunterrieselt. Es ist diese Stimme. Diese Stimme, mit der zu ihm sprach, als sie sich das erste Mal begegneten. „Ihr seid vom Stamme Nimm. Ihr könnt nur nehmen. Ihr habt mir noch nie etwas gegeben ohne dafür etwas zu wollen. Das ist es, was ihr Dämonen mit den Engeln gemeinsam habt. Ihr wollt immer etwas von mir. Und ihr nehmt es euch. Ist dabei scheißegal, ob es sich um mein Wissen oder meine Fähigkeiten handelt. Ihr benutzt mich.“ Deshalb ist es nicht so schlimm, wenn er weiter seinen Körper verkauft, denn dafür erhält er wenigstens Geld. Aber Mao und Alciel gönnen ihm gar nichts, sie wollen immer nur mehr und mehr...

„Ich bin nur ein Werkzeug für euch.“

Mao benötigt etwas, um sich von dieser Stimme zu erholen und noch etwas länger, bis Lucifers Worte zu ihm gänzlich durchgesickert sind. Und dann könnte seine Verwirrung nicht größer sein. Werkzeug? Meint er das wirklich ernst?

„Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du dich integrierst“, versucht er es ein weiteres Mal. „Wir leben zusammen, wir sollten uns gegenseitig unterstützen.“

„Nein, du und Alciel wollt nur einen Hund, der mit dem Schwanz wedelt und alles macht, was ihr sagt.“

„Was?“ Im ersten Moment will Mao aufbrausen, doch dann wirft er einen Blick in Lucifers blasses, verschrammtes Gesicht, in diese violetten, harten Augen und stockt. „Warte einen Moment. Kommt das so bei dir an?“

„Ja.“ Plötzlich zuckt um Lucifers Mundwinkel dieses für ihn so typische, sarkastische Lächeln. „Alles, woran ihr interessiert seid, ist mein nerdiges Computer-Wissen. Aber nicht mal das reicht euch. Ihr wollt meine Fähigkeiten und ihr wollt einen Haussklaven.“

Mao flüchtet sich in humorvoll angehauchten Spott. „Darf ich dich daran erinnern, dass du uns töten wolltest?“

„Und dafür hast du mir, auf deutsch gesagt, die Fresse poliert. Außerdem habt ihr mich auf dem Schlachtfeld verrecken lassen. Ich würde sagen, alles in allem seid ihr mir noch etwas schuldig.“

Mao öffnet den Mund um zu protestieren, schließt ihn dann aber wieder. Allmählich bekommt er eine Ahnung davon, was zwischen ihnen schiefgelaufen ist. Und er denkt daran, dass er die Menschen, mit denen er seit einem knappen Jahr zusammenarbeitet, besser kennt als seinen General, der ihm seit dreihundert Jahren zur Seite steht.

Wann ist zwischen ihnen dieser breite und tiefe Graben entstanden?

Gab es dafür ein einziges, großes Ereignis oder waren es vielmehr viele, kleine Begebenheiten, die sich summierten?

Wann hat er sich so weit von Lucifer entfernt und wieso hat er das nie bemerkt?

Es gab Zeiten, da haben er, Alciel und Lucifer zusammen gespaßt und gelacht. Sie waren ein Trio. Er hatte vier große Generäle, aber diese beiden waren darüber hinaus auch seine engsten Freunde.

Aber eigentlich... weiß ich gar nichts über Lucifer. Ich weiß alles über Alciel, über Camio und Adramelech und Malacoda, sogar über die verschiedenen Clanchefs weiß ich, wo sie lebten, wer sie waren, bevor wir uns trafen, aber von Lucifer weiß ich nur, dass er aus dem Himmel stammt. Nach mehr habe ich ihn nie gefragt. Ich war nur froh, jemanden wie ihn an meiner Seite zu haben. Sein Ruf garantierte mir, dass ich, der kleine, unbekannte Goblin, auch alle anderen Clanchefs von meinen Ideen überzeugen konnte.Wenn ER mir folgte, würden mir auch alle anderen folgen.Und so war es ja auch.

Die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag.

Oh nein! Er hat Recht!

Mao räuspert sich unangenehm berührt.

„Vielleicht sollten wir diese Diskussion zu Ende führen, wenn Ashiya dabei ist“, schlägt er beschwichtigend vor. „Er sollte dabei sein, denn das hier betrifft auch ihn.“

Lucifer starrt ihn einen Moment lang einfach nur an und dann, von einer Sekunde zur anderen, erlischt das Licht in seinen Augen wieder. Wortlos lässt er sich mit dem Oberkörper auf den Tisch sinken und vergräbt den Kopf in den Armen – genau wie heute Morgen.

Ratlos blinzelt Mao auf ihn hinab, beschließt aber, nichts dazu zu sagen.

X.

 

„Es...“ Suzuki Rika zögert kurz und schenkt ihm dann ein nervöses Lächeln, bevor sie sich kurz vor ihm verbeugt, „...es war schön. Lass uns das beizeiten wiederholen, Ashiya-san.“

„Mir hat es auch sehr gefallen. Komm gut nach Hause, Suzuki-san."

Alciel verbeugt sich höflich und sieht ihr nach, wie sie in ihr Auto steigt und losfährt. Ob er ihr Angebot, ihn nach Hause zu fahren nicht doch lieber hätte annehmen sollen? Uh. Nein, das wäre nicht angemessen gewesen, außerdem ist seine Fahrkarte noch eine Stunde gültig, das wäre doch Verschwendung.

Zügig begibt er sich Richtung Metro und sinniert darüber nach, wie wenig er Menschenfrauen versteht. Warum wurde sie immer so rot, wenn sie sich miteinander unterhielten? Und ständig diese verstohlenen Seitenblicke. Wieso griff sie während der Kinovorstellung nach seiner Hand? Was erwartete sie von ihm? Er hielt mit ihr Händchen, genau wie sie es wollte, aber irgend etwas war wohl doch nicht richtig, denn sie wirkte jetzt beim Abschied sehr enttäuscht. Hat er etwas falsch gemacht?

Als er an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen ist, fährt sein Zug in den Bahnhof ein. Als er sich in den vollen Waggon quetscht und dabei versucht, sich zu beherrschen und nicht seine Magie einzusetzen, um sich Abstand zu verschaffen, denkt er daran, was er heute unerwarteterweise herausgefunden hat.

Gruselfilme.

Sie sollten öfter in solche Kinovorstellungen gehen. Die Furcht der Zuschauer ist exquisit. Sie ist zwar nicht ausreichend, um wirklich etwas zu bewirken, aber es ist ein kleiner, durchaus belebender Energiestoß.

Und wenn sie zur Nachtvorstellung gehen, um eine Uhrzeit, wo weniger Menschen unterwegs sind, könnten sie sogar Lucifer mitnehmen.

Lucifer... ohne es wirklich zu wollen, muss er wieder an ihn denken. Das geht quasi schon den ganzen Abend so. Er lauerte immer irgendwo in seinem Hinterkopf. Vielleicht konnte er sich deshalb nicht so gut auf Suzuki-san konzentrieren?

Aber er wird dieses Bild nicht mehr los. Wie er unten im Hof lag. Blutend. So still. So … so reglos. Sein gebrochener Arm... die Knochen so weiß. Nur einen Hauch weißer als sein Gesicht.

Lucifer. So klein und zierlich. Wie es sich anfühlte, als er ihn auf Maos Befehl ein paar Meter weiter trug. Totes Gewicht. Schwer. Leblos.

Alciel fuhr im Krankenwagen mit. Wieso, weiß er nicht. Es war nur so ein Gefühl, dass er ihn nicht alleine lassen konnte. Seinen (wortwörtlich) gefallenen Engel.

In einem der ersten uralten Bücher, die er las, nachdem Lucifer ihm und Mao das Lesen beigebracht hatte, stand, er sei die Original-Sünde. Zuerst dachte er, er hätte sich verlesen, weil das gar keinen Sinn ergab, aber dann fragte er Lucifer danach und dieser erklärte ihm nur mit dem für ihn so typischen, bitteren Lächeln, das bedeute nur, dass er als erster Engel der zweiten Generation ein geborener Unsterblicher sei. Wobei unsterblich nur bedeutet, dass ihm weder Alter noch Krankheit etwas anhaben könnten, etwas, was die Dämonen mit ihm gemein hätten. Würden sie aufhören, sich gegenseitig zu töten, könnten sie gewiß auch zehntausend Jahre alt werden wie er. Und an dieser Stelle hatte Mao-sama begeistert genickt und verkündet, dass genau dies sein Ziel für die Dämonen wäre.

Weder Alter noch Krankheit … um Alciels Lippen zuckt ein bitteres Lächeln.

Bevor er in den Krankenwagen durfte, fragten sie ihn, ob er ein Verwandter sei. Ja, sagte er ohne zu zögern, sein Bruder. Warum hat er das gesagt? Er weiß es nicht, aber es fühlte sich in diesem Moment einfach nur richtig an. Und dann wieder auch nicht, denn Lucifer ist mehr als nur ein Bruder. Alciel kennt kein Wort, das das Gefühl auch nur annähernd beschreibt, das ihn überkommt, wann immer er an Lucifer denkt oder in seiner Nähe ist.

Alciel vertraut ihm auf eine merkwürdige, verrückte Art und Weise. Lucifer ist nicht loyal, das hat er bewiesen, aber das hat er auch nie behauptet, also war es kein Betrug. Er ist brillant und witzig und einzigartig und Alciel bewundert ihn für all das. Und alles was zwischen ihnen in den letzten Wochen passiert ist, ändert gar nichts daran.

Lucifer ist Lucifer und als er da im Krankenwagen lag und später in diesem großen Bett, da hätte Alciel ihn am liebsten festgehalten. Ihn nie wieder losgelassen. Natürlich hat er es nicht getan, wie er vieles nicht tut, was er gerne täte.

Aber Lucifer war so blass und er starrte die ganze Zeit nur so leer vor sich hin und dieser Anblick ließ Alciel zusätzlich an Ort und Stelle erstarren.

Mit genau diesem leeren Blick erwischt Alciel ihn manchmal vor seinem Laptop. Als wäre er nicht da. Als wäre er irgendwo anders, an einem Ort, wohin ihm Alciel nicht folgen kann. Und das macht ihn dann immer so wütend.

Wie sehr ihn die Gedanken an Lucifer gefangennahmen, fällt ihm erst auf, als er fast über die erste Stufe hoch zu ihrer Wohnung stolpert.

Oh.

Die Bahnfahrt und den Fußweg hierher hat er offensichtlich zurückgelegt, ohne es wirklich zu bemerken. Wie nachlässig von ihm.

Zutiefst beschämt über seine mangelnde Disziplin, geht er die restlichen Stufen hinauf, betritt den Korridor und dann Apartment 201.

„Ich bin wieder da.“

„Willkommen zurück, Ashiya“, begrüßt ihn Mao vergnügt. „Wie war's? Hattest du viel Spaß?“

„Es war ganz interessant, Mylord“, erwidert Alciel, während er aus Jacke und Schuhen schlüpft und sich dann zu Mao und Lucifer an den Tisch setzt. „Auch wenn ich bezweifle, Suzuki-sans Erwartungen erfüllt zu haben. Ich muss zugeben, dass mir die menschlichen Frauen noch Kopfzerbrechen bereiten.“

Lucifer, der sich bei seinem Eintreten nur widerwillig von seiner schlaffen Position auf der Tischplatte aufgerichtet hat, stützt nun das Kinn in die Hand und blinzelt ihm müde entgegen.

„Das ist doch gar nicht so schwer. Suzuki Rika sieht in dir einen potentiellen Ehemann, genau wie Chiho einen in Mao sieht.“

„Urushihara, ich verbiete dir, Suzuki-san oder Sasaki-san weiterhin solch niedere Beweggründe zu unterstellen“, rügt Alciel ihn schon fast automatisch. Und noch im selben Moment tut es ihm leid, denn Lucifer hat recht. Er hat immer recht, wenn es um das Lesen von Menschen geht. Außer, wenn es ihn selbst betrifft – wie der Vorfall mit diesem windigen Vertreter vor ein paar Tagen deutlich gezeigt hat.

Lucifer starrt ihn aus seinen violetten Augen nur einen Moment lang ausdruckslos an und zuckt dann mit den Schultern.

„Was auch immer … können wir endlich anfangen, Mao?“

Fragend sieht Alciel zu seinem König.

„Mylord?“

Mao richtet sich unwillkürlich etwas auf und sieht ihm ernst in die Augen.

„Wir können so nicht weitermachen, Ashiya. Wir leben hier auf engstem Raum zusammen und müssen unsere Probleme endlich lösen.“

Alciel nickt und vermeidet es krampfhaft, zu Lucifer hinüber zu sehen. Er weiß, dass Lucifer das Problem ist und Lucifer weiß, dass er es weiß, aber Alciel hat nicht vor, den Engel irgendwie zu provozieren. Ein Streit würde das hier nur unnötig vertagen und wenn sein König sich endlich mal dazu entschlossen hat, ein Machtwort zu sprechen, wird er das nicht sabotieren.

„Und daher...“, fährt Mao fort, greift neben sich und legt drei Blätter Papier und drei Stifte auf den Tisch.

„Wann immer es bei mir auf der Arbeit Probleme zwischen den Mitarbeitern gibt, ruft meine Chefin sie zu einem vertraulichen Gespräch zu sich ins Büro. Jeder muss drei Dinge aufschreiben, als erstes etwas, was er an den anderem mag oder bewundert. Als zweites, was ihn am anderen so stört. Und drittens dann, was er sich von dem anderen wünscht, was dieser ändern soll, damit sie besser miteinander auskommen. Das lesen sie sich gegenseitig vor und dann haben sie zehn Minuten, um darüber zu diskutieren und sich zu einigen. Die Zettel tauschen sie aus und kleben sie an das Innere ihres Spinds, damit sie jeden Tag daran erinnert werden, wo ihre Stärken liegen und was sie an sich ändern müssen. Und sei es nur am Arbeitsplatz.“

Er reicht jedem von ihnen ein Blatt und einen Stift.

„Ich soll jetzt also diese drei Dinge in Bezug auf Urushihara aufschreiben?“ versichert sich Alciel nachdenklich. Das Ganze klingt ziemlich absurd, aber wenn Mao darauf besteht...

Mao nickt.

„Und ich schreibe drei auf und Urushihara zu jedem von uns ebenfalls drei, ja, genau so.“

„Drei Punkte werden da nicht ausreichen“, murmelt Alciel mehr zu sich selbst, aber doch laut genug, dass jeder ihn verstehen kann.

Um Maos Lippen zuckt ein kleines, verständnisvolles Lächeln.

„Die Wichtigsten reichen erst einmal, Ashiya. Wir gehen es langsam an und sehen, wohin es uns führt. Und bitte spart euch irgendwelche Beleidigungen.“

Lucifer rollt nur mit den Augen und beginnt zu schreiben. Ganz offensichtlich scheint er nicht einmal darüber nachdenken zu müssen. Es wirkt ungelenk wegen der Schiene, aber sein Stift fliegt nur so übers Papier. Während er mit den Stäbchen eindeutig seine Schwierigkeiten hatte, trifft dies nicht aufs Schreiben zu.

Alciel dagegen starrt die ersten paar Sekunden nur auf dieses weiße Blatt Papier. Sein Kopf ist wie leer gefegt. Und dann purzeln seine Gedanken nur so durcheinander. Es gibt so unendlich viel, was er niederschreiben könnte, wo soll er nur anfangen? Langsam senkt er den Stift auf das Papier.

Mao neben ihm hatte Stunden, um sich ganz genau zu überlegen, was er schreiben will und bringt seine Gedanken in schönster Kalligraphieschrift aufs Papier.

„Fertig“, vermeldet Lucifer als erster und wirft seinen Stift auf den Tisch.

Mao wirft ihm einen ungläubigen Blick zu.

„So schnell? Nimm das bitte ernst, Urushihara.“

„Lass mich das erstmal vorlesen, bevor du mich verurteilst, ja?“ schnappt dieser beleidigt zurück.

Daraufhin schenkt Mao ihm ein versöhnliches Lächeln, während er seinen eigenen Stift behutsam beiseite legt..

„Willst du anfangen?“

Lucifer wirft einen kritischen Blick zu Alciel hinüber, der immer noch eifrig beim Schreiben ist. Und beim Ausradieren.

„Ich lasse mich nicht hetzen“, erklärt Alciel, der diesen Blick sehr wohl spürt, aber wild entschlossen ist, sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Aber trotzdem benötigt er nicht mehr als noch zwei Minuten, bevor auch er den Stift beiseite legen kann.

„Fang an, Ashiya“, auffordernd nickt Mao ihm zu.

Lucifer runzelt die Stirn und für einen Moment huscht ein enttäuschter Ausdruck über seine Miene, doch er schweigt.

Alciel räuspert sich einmal und holt tief Luft.

„Also, Punkt eins: was ich an Urushihara mag: seinen brillanten Verstand und es ist eine Schande, wie wenig er ihn jetzt benutzt.“

„Oi. Keine Beleidigungen. Mao?“

„Das war nicht nett, Ashiya.“

Alciel ist anderer Meinung, doch er nickt gehorsam.

„Gut, Punkt zwei“, er hebt den Blick und sieht Lucifer eindringlich an, „mich nervt dein Desinteresse an allem, was nicht in deine kleine Blase aus Internet und Spielen passt. Punkt drei: respektiere unseren König und mich endlich und leiste deinen Anteil. Ich habe es satt, hinter dir herzuräumen oder dir alles hinterherzutragen ohne dass du auch nur einmal daran denkst, ebenfalls einen Finger zu rühren. Eigentlich hätte ich noch hundert andere Dinge, aber das sind die Wichtigsten.“

Es fühlt sich so gut an, das endlich mal auszusprechen!

Lucifer selbst nimmt alles mit völlig unbewegter Miene zur Kenntnis und das verunsichert und verärgert Alciel zu gleichen Teilen.

Mao räuspert sich und zieht damit alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Gut, jetzt ich. Punkt eins: Urushihara, ich bewundere dein Talent, wie schnell du dich an eine fremde Kultur, Sprache und Technologie anpassen kannst. Und genau deshalb verstehe ich nicht, Punkt zwei: wieso du dich weigerst, dich in unser Leben hier angemessen zu integrieren. Punkt drei: kannst du Ashiya nicht ein wenig zur Hand gehen? Ab und zu wenigstens? Es genügt ja schon, wenn du mal deinen Müll wegräumst oder dein benutztes Geschirr in die Spüle stellst.“

„Danke, Mylord.“ Alciel ist über soviel Schützenhilfe wirklich gerührt.

„Ashiya, du hälst mir hier seit einem Jahr den Rücken frei und ich finde, du brauchst nicht noch mehr Sorgen als du dir ohnehin schon machst.“

„Wow, wirklich süß“, kommentiert Lucifer gedehnt. Seine Stimme trieft nur so vor Spott. Doch bei seinen nächsten Worten klingt sie erstaunlich neutral und sachlich. „Darf ich jetzt? Mao, ich bewundere deinen Optimismus. Ich hasse es, wie du mit unserer ärgsten Feindin interagierst als wäre sie deine beste Freundin. Was ich mir von dir wünsche: lass mich in Ruhe. Ich kann nicht mehr fliegen, vielleicht nie wieder, das hast du mir gestern genommen, also lass mir wenigstens mein Internet und meine Spiele und zwar ohne Einschränkungen.“ Ohne wirkliche Atempause wendet er sich dann Alciel zu. „Alciel: du kochst wirklich gut, du solltest darüber nachdenken, einen eigenen Ramen-Shop zu eröffnen. Ich hasse es, dass du selbst vor den Menschen nie ein gutes Haar an mir lässt. Und von dir wünsche ich mir auch, dass du mich in Ruhe lässt. Hör auf, mich zu einem Klon von dir machen zu wollen.“

„Du findest, ich koche gut?“ bricht es aus Alciel verblüfft heraus.

„Ja.“ Überrascht darüber, dass dies das einzige zu sein scheint, was ihn interessiert, runzelt Lucifer die Stirn.

Über die ganze Entwicklung mehr als zufrieden, lehnt sich Mao zurück. Niemand ist ausgeflippt, es wurde nicht herumgeschrien und die Einrichtung ist auch noch intakt.

„Nun, damit kann man doch arbeiten...“

Doch da unterbricht ihn Alciel plötzlich. Es dauerte eine Weile, bis alles, was Lucifer sagte, bei ihm angekommen ist. Aber jetzt ist er wirklich entsetzt.

„Was heißt das, du kannst vielleicht nie wieder fliegen?“

„Wenn ihr mir meine Magie nicht mehr zurück geben könnt, bekomme ich sie vielleicht auch nicht mehr durch Furcht oder Verzweiflung oder...“ Lucifer zögert kurz und spuckt sein nächstes Wort dann geradezu hervor. „... Lust zurück. Ich müsste es erst ausprobieren.“

Alciel starrt ihn einen Moment lang einfach nur fassungslos an, doch dann ereilt ihn so etwas wie ein Geistesblitz.

„Oh“, meint er an Mao gewandt, „das erinnert mich daran, was ich heute herausgefunden habe: ein Gruselfilm setzt bei den Zuschauern eine geringe Menge negative Energie frei.“

Maos Augen leuchten regelrecht auf.

„Das wäre vielleicht eine Möglichkeit an Magie zu kommen ohne die Menschen in Gefahr zu bringen.“

Lucifer blinzelt einmal hart. Er hat echte Probleme mit diesem abrupten Themenwechsel, aus irgend einem Grunde fühlt es sich heute noch schmerzhafter an als sonst, mittendrin ignoriert zu werden, aber je länger er über Alciels Entdeckung nachdenkt ... Im Grunde genommen ist das gar keine schlechte Idee. Wieso ist er nicht darauf gekommen?

„Ich kann ja mal ins Pornokino gehen...“, überlegt er laut. Ja, doch, er kann sich wirklich langsam dafür erwärmen. „Da passiert nicht nur auf der Leinwand, sondern auch auf den Sitzen so einiges. Wär jedenfalls einfacher als das Love Hotel. Und bequemer als ein Baum.“

Das wirst du nicht tun!“ fährt Alciel ihn völlig unvermittelt an.

„Ashiya?“ fragt Mao besorgt.

Lucifer zuckt nur überrascht zusammen, vor allem, als Alciel auch noch zu ihm herumwirbelt und mit den Finger auf ihn zeigt. Ein Finger, der sich langsam in eine Klaue verwandelt und zu einer Hand und einem Arm gehört, deren eben noch weiche Haut sich langsam in hartes Chitin verwandelt.

„Du hasst es, berührt zu werden. Wieso lässt du dich dann von Menschen … besudeln?“

„Ashiya?“ Mao klingt jetzt zunehmend irritierter, doch wieder hört sein General ihm gar nicht zu – etwas, was er von ihm wirklich nicht gewohnt ist.

Alciel, der sich inzwischen vollständig in seine Dämonenform verwandelt hat, beugt sich so weit nach vorne, dass seine Nasenspitze fast Lucifers berührt. Sein schwarzer Scorpionschwanz peitscht dabei so unruhig hin und her wie der einer nervösen Katze.

„Von Menschen!“ zischt er Lucifer mitten ins Gesicht. „Du bist ein Engel! Kein Mensch hat das Recht, dich so … so sündig anzusehen, geschweige denn, dich zu berühren!“

Lucifer starrt ihn nur aus geweiteten Augen an. Er ist kalkweiß geworden und der Schock steht ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Und trotzdem ist er wie erstarrt.

„Al-Alciel?“ würgt er stotternd hervor.

Mao fühlt sich plötzlich zurückversetzt zu einem ähnlichen Ereignis und erhebt sich unwillkürlich.

Ashiya! Stop!

Ein schneidender Befehl, verstärkt mit Macht und Magie, doch der einzige, der wimmernd zurückzuckt, ist Lucifer. Die Augen weit aufgerissen und beide Arme abwehrend ausgestreckt, wirkt er wie ein verängstigtes Kaninchen vor der Schlange – oder besser gesagt: vor dem Skorpion.

Alciel dagegen nutzt diese Gelegenheit nur, um Lucifer an den Oberarmen zu packen und festzuhalten.

„Ich gestatte es nicht, dass irgend einer dieser Menschen je wieder seine Hand an dich legt!“

Lucifer beginnt zu hyperventilieren.

Zu nah. Zu nah! Viel zu nah!

Alciel ist ihm so nahe, dass er jeden einzelnen hellen Fleck in seinen Augen erkennen kann. Sie schimmern und leuchten wie flüssiges Gold.

Er kann den Blick nicht abwenden. Seine ganze Welt scheint auf diese Augen zusammenzuschrumpfen. Am Rande seines Bewußtseins spürt er Alciels Hände um seine Oberarme und er hört das Dröhnen seines Herzens in seinen Ohren, aber alles, was er sieht, sind diese goldenen Flecken, die heller werden, je dunkler der Rest seines Sichtfeldes wird.

„Ashiya!“ Mit einem Satz ist Mao bei ihnen und versucht, den Iron-Scorpion von Lucifer zu trennen. „Stop! Er hat eine Panikattacke!“

Alciel knurrt genervt. Das ist ihm auch klar! Lucifers Furcht ist sprunghaft angestiegen und hält sich auf einem Level, das selbst für ihn unerträglich wird. Es ist einfach zuviel. Außerdem weigert er sich, auch nur einen Tropfen von Lucifers Furcht anzunehmen. Er hat noch nie die magische Energie, die aus Angst und Verzweiflung geboren wird, abgelehnt, und es ist irritierend, gegen die eigenen Instinkte anzukämpfen, aber er kann doch nicht von Lucifer...

„Alciel, lass ihn los!"

„Damit er wieder aus dem Fenster springt?"

Mao gerät ins Stocken und zieht seine Hand, mit der er Alciel stoppen wollte, zurück. Plötzlich sieht er Alciels Griff um Lucifers Oberarme in einem völlig neuem Licht. Für die Dauer zweier Herzschläge sind Lucifers gequälte Atemzüge die einzigen Geräusche im Raum. Dann schnalzt Mao missbilligend mit der Zunge.

„Ich wollte nur, dass wir uns zusammensetzen und vernünftig darüber reden." Genau wie Alciel widersteht er der Versuchung, sich an Lucifers Panik zu nähren. Nach gestern traut er sich selbst nicht mehr und fürchtet, wieder zu weit zu gehen.

Plötzlich ist irgend etwas anders.

Es dauert eine Weile, bevor Mao dahinterkommt, was das ist: Lucifer atmet nicht mehr so laut. Und dann sackt Lucifer in Alciel Griff zusammen und Mao begreift schlagartig: Lucifer atmet überhaupt nicht mehr.

XI.

 

Es ist, als würde er aus einem tiefen, dunklen Moor zurück ins Licht gezogen. Dieses Gefühl ähnelt dem gestrigen, aber diesmal ist etwas grundlegend anders. Er lehnt an einem warmen Körper und starke Arme halten ihn. Normalerweise etwas, das alle Alarmsirenen aufheulen lässt, aber diesmal fühlt er sich ... sicher?

„Bist du wieder da?"

Er blinzelt. Vor ihm sitzt Mao und mustert ihn... besorgt?

„Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt."

Bei diesen Worten umklammern ihn diese Arme ein klein wenig fester. Aber nur für einen Moment. Lucifer dreht den Kopf und sieht nach oben in ein ernstes Gesicht. Alciel! Wieder in seiner menschlichen Gestalt. Er sagt kein Wort, aber der Ausdruck in seiner Miene ... das ist eindeutig Sorge, aber auch eine gewisse Entschlossenheit.

„A-Alciel?" Unwillkürlich macht Lucifer eine ausweichende Bewegung, aber daraufhin umarmt Alciel ihn nur wieder fester. „W-was ist passiert?"

„Du hast hyperventiliert und hattest einen Atemaussetzer", erklärt Mao betont locker. Aber jeder, der ihn kennt, hört die Nervosität heraus.

„Oh..." ist alles, was Lucifer dazu einfällt. Er fühlt sich ziemlich matschig, aber das ist seit gestern ein Dauerzustand.

Es entsteht ein unangenehmes Schweigen, das mit jeder verstreichenden Sekunde peinlicher wird. Aber niemand bewegt sich. Und dafür ist Lucifer sehr dankbar. Etwas in ihm sträubt sich, Alciels Arme zu verlassen und dieses Etwas wird mit jedem Herzschlag größer. Er ist zur Zeit nicht er selber, daran muss es liegen. Aber er hofft, dass Alciel sich nicht als erster bewegt. Er hofft, dass er seine Arme nicht fortzieht. Er hofft, dass er sich nicht daran erinnert, wen er hier hält, denn dann würde er ihn garantiert wegstoßen und dabei ist Alciel doch so warm. Also hält Lucifer ganz still.

„Tja, nun...“ Maos dunkle Stimme bricht den Bann. Er lacht verlegen und reibt sich den Nacken. „Wollen wir darüber reden? Wo wir schon mal damit angefangen haben...?“

Und wie es Lucifer befürchtet hat, löst Alciel seine Umarmung und rutscht ein paar Zentimeter von ihm ab. Und dann noch ein paar mehr und mehr, bis er neben ihm kniet. Die Hände auf den Oberschenkeln, den Rücken gerade und den Kopf demutsvoll gesenkt, kniet er am Tisch und murmelt ein „Jawohl, Mylord.“

Von einer plötzlichen inneren Kälte ergriffen, schlingt Lucifer beide Arme um seinen eigenen Oberkörper. Er bringt kein Wort heraus, schenkt Mao aber den giftigsten Blick, den er auf Lager hat.

Er. Hasst. Ihn. So. Sehr.

Etwas irritiert über Lucifers Reaktion, runzelt Mao die Stirn, doch er hat beschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

„Ashiya“, wendet er sich mit sanfter Stimme an seinen blonden General, „auch wenn ich verstanden habe, wieso du eben so ausgerastet bist, möchtest du es Lucifer auch nochmal erklären?“

Alciel senkt den Kopf noch um ein paar Zentimeter tiefer und holt einmal tief Luft. Seine rechte Hand zuckt nur Seite und er packt Lucifers linke Hand, als wolle er ihn an Ort und Stelle halten.

Verdutzt starrt Lucifer auf diese Hand, in der seine eigene so klein und zart wie die eines Kindes erscheint. Sein eigener Herzschlag dröhnt ihm plötzlich so laut in den Ohren, dass er Alciels Antwort fast gar nicht versteht.

„Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass diese Menschen unseren Engel derartig anfassen“,

murmelt er, den Blick dabei beschämt von Lucifer abgewandt. Während es ihm nie schwer fällt, seinem König immer wieder und wieder seine unsterbliche Liebe und Ergebenheit zu beteuern, muss er jetzt, wo es um Lucifer geht, quasi jedes einzelne Wort geradezu gewaltsam hervorpressen. Aber Mao hat es ihm befohlen, also gehorcht er. Das heißt aber nicht, dass er dabei in diese violetten Augen sehen kann.

„Das ist es wirklich nicht wert.“ Unwillkürlich packt er Lucifers Hand etwas fester. „Ich verstehe einfach nicht, warum er so weit gehen muß. Wie er diese Berührungen ertragen kann, aber vor uns so große Panik hat, dass er entweder aus dem Fenster springt oder aufhört zu atmen. Wie kann er fremden Menschen so sehr vertrauen, dass er sie all diese furchtbaren Dinge mit sich machen lässt, aber vor uns fürchtet er sich zu Tode?“

Mit immer noch wild klopfendem Herzen starrt Lucifer auf ihre inzwischen ineinander verschlungen Finger.

„Euer … euer Engel?“ wispert er.

Nun dreht Alciel doch den Kopf in seine Richtung und starrt ihn verblüfft an. Von all dem, was er gerade unter unvorstellbaren inneren Qualen gestand...

Alciels Augen verengen sich gefährlich.

„Hast du mir überhaupt zugehört, du Kellerkind?“

„Ashiya...“, mahnt Mao leise.

„Ich bin euer Engel?“ wiederholt Lucifer verdutzt ohne Mao auch nur eines Blickes zu würdigen. Seine ganze Aufmerksamkeit gehört dem blonden Mann neben sich, der immer noch seine Hand hält.

„Seit wann gehöre ich euch? Ich habe ja kapiert, dass ich für euch nur ein nützliches Werkzeug bin, und dass ich euren Haussklaven spielen soll, überrascht mich nicht, aber ich habe immer noch einen freien Willen. Ich bin nicht euer Engel. Ich bin über zehntausend Jahre alt, verdammt nochmal! Ich entscheide selbst, von wem ich mich vögeln lasse! Ihr braucht das Geld, oder nicht? Ständig jammerst du herum, wie viel ich euch koste. Jetzt bedanke dich doch einfach mal. Du und Mao, ihr beide hasst mich doch, wieso kümmert es euch dann? Oder hasst ihr mich so sehr, dass ihr über jeden Aspekt meines Lebens bestimmen müsst?“

Aus Alciels Kehle löst sich ein dumpfes Knurren.

Niemand hier hasst dich, du Idiot!“ schreit er so laut, dass selbst Mao überrascht zusammenzuckt. „Wie kommst du überhaupt auf diese Schnapsidee? Glaubst du, ich hätte sonst so eine Scheißangst um dich?“

Zuerst schreckt Lucifer entsetzt zurück, doch das lässt ihn aufhorchen. Alciel flucht sonst nie.

„Warum... warum hast du...? Huh?“

„Ich weiß nicht, warum, okay?“ Verzweifelt greift Alciel nach Lucifers anderer Hand und hält nun auch diese – wenn auch etwas ungeschickt, da die Schiene im Weg ist. In seinen goldbraunen Augen beginnt es verdächtig zu schimmern. „Du bist verdammt nochmal Lord Lucifer, der beste General, den Mao-sama je hatte! Du hast mir verdammt nochmal ein Loch in die Brust geschossen und deine ganze schnoddrige Art treibt mich nochmal zum Wahnsinn, aber wenn jemand hinfällt und wieder aufsteht, dann bist das du, es gibt keinen plausiblen Grund, wieso ich …“, er schnappt nach Luft und fährt dann mit leiser, brechender Stimme fort: „Aber es ist so. Und es tut mir verdammt weh, wenn du mir sowas sagst.“

„Sowas?“ hakt Lucifer verständnislos nach. Auch seine Stimme ist plötzlich schwer vor mühsam unterdrückten Emotionen.

Alciel schließt die Augen und Lucifer beobachtet mit Entsetzen, wie sich eine Träne unter seinen Lidern hervorstiehlt.

„Dass du mich hasst“, gesteht er schniefend.

„Alciel...“ ohne wirklich darüber nachzudenken, befreit Lucifer seine linke Hand aus Alciels Griff und wischt ihm die Träne von der Wange.

„Lucifer...“ Aufschluchzend wirft Alciel seine Arme um ihn und drückt ihn an sich.

Und Lucifer … lehnt sich nach einem kurzen Zögern nur an ihn und entgegnet diese Umarmung ungeschickt.

Mao beobachtet das Ganze etwas verdutzt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Alciel so emotional reagiert, aber normalerweise sieht sich Mao im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Normalerweise ist er es, der derart umarmt wird. Jetzt zu sehen, wie sein treuer General seinen anderen (nicht ganz so treuen) General umarmt, verursacht ihm einen kleinen Stich im Herzen. Und vielleicht ist dieser kleine Hauch von Eifersucht die Triebfeder seiner nächsten Handlung.

Innerhalb eines Herzschlages gesellt er sich zu ihnen und schließt sie beide gemeinsam in seine Arme.

„Jaaaa“, schnurrt er dabei gedehnt, „so gefällt mir das.“

 

 

 

Lucifer fühlt sich emotional so ausgelaugt, dass er kaum noch geradeaus sehen kann. Glücklicherweise scheinen Mao und Alciel etwas zu bemerken, denn nach dieser seltsamen Gruppenumarmung reden sie nicht mehr über dieses Thema und stattdessen bringt Mao Alciel die aufgewärmten Reste vom Abendessen. Während sich die beiden gegenseitig von ihrem Tag erzählen, döst Lucifer für ein paar Minuten einfach weg.

Er schreckt auf, als Alciel ihn sachte an der Schulter schüttelt und ihm vorschlägt, sich auch bettfertig zu machen. Lucifer gehorcht ihm da nur allzu gern. Als er knappe fünfzehn Minuten später frisch geduscht und umgezogen und mit geputzten Zähnen zurückkommt, kann er seinen Augen kaum trauen.

„Ist das euer Ernst?“ Irritiert huscht sein Blick zwischen Mao und Alciel und den ausgerollten Futons hin und her.

„Ja“, erklärt Alciel und klopft vielsagend neben sich auf die dünne Matratze.

Lucifer zögert unsicher und wirft einen sehnsüchtigen Blick zu seinem Wandschrank hinüber.„Wenn ihr befürchtet, ich könnte wieder davonschleichen, kann ich euch beruhigen. Heute ist mir wirklich nicht danach.“

„Darum geht es nicht. Oder, Ashiya?“

„Ich fühle mich einfach besser, wenn du in meiner Nähe bist.“ Alciel blickt Lucifer unverwandt an und seine Miene ist so ernst und entschlossen und das Licht in seinen Augen so zwingend, dass sich Lucifer wie von selbst in Bewegung setzt und sich zwischen ihn und Mao sinken läßt.

„Wir haben nur zwei Futons“, bemerkt er dabei zögernd.

Wortlos rutscht Alciel zur Seite und lupft vielsagend seine Decke. Lucifer wirft ihm einen überraschten Blick zu.

„Ist das dein Ernst?“ wiederholt er.

Alciel klopft nur bedeutungsvoll auf das zweite Kopfkissen neben seinem eigenen.

Lucifer zögert. Das ist ihm viel zu nahe. Aber er ist so müde, dass ihm schon schwindlig wird. Sein Gehirn ist immer noch (und nach der Dusche noch viel mehr) leicht matschig. Und das sieht bequem aus. Er hat schon lange nicht mehr auf einer richtigen Matratze geschlafen, im Schrank hat er nur ein Brett als Unterlage und eine Decke. Er hat zwar schon an schlimmeren Orten gelegen, seit er ausgiebigen Schlaf braucht, aber alles in ihm sehnt sich nach einem warmen, gemütlichen Plätzchen ...

Seufzend gibt er sich geschlagen.

 

 

XII.

 

Urgh.

Irgend etwas trifft ihn in den Bauch. Mao ist mit einem Schlage hellwach.

Kerzengerade fährt er in die Höhe und blickt sich aus wilden Augen um.

Durch das Fenster fällt der erste Schein der Morgendämmerung und taucht das kleine Apartment in ein fahles Licht. Es steht nicht viel herum, in dessen Schatten sich etwas verbergen könnte und sein siebter Sinn für Gefahr meldet ihm auch nichts.

Erleichterung durchflutet ihn.

Keine Angreifer. Alles ruhig.

Doch der Druck auf seinem Schoß ist immer noch da.

Als er den Kopf senkt und dort eine schmale, helle Hand, samt des dazugehörigen geschienten Unterarms liegen sieht, zuckt ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel.

Lucifer. Er dreht den Kopf und sein Lächeln vertieft sich. Lucifer liegt da wie hingegossen, auf dem Rücken, mit bis über den Bauchnabel hochgerutschtem T-Shirt, tief auf den Hüften hängender Jogginghose und hat alle Viere von sich gestreckt. Mao verbeißt sich nur mit Mühe ein Kichern. Typisch Lucifer. Er kann sich in jedem noch so kleinem Loch zusammenrollen, aber wenn er mal Platz hat, breitet er sich ungeniert aus. Und trotz allem muss er sich sehr sicher bei ihnen fühlen, um sich jetzt und hier auf diese verletzliche Art und Weise zu präsentieren.

Wieder einmal fällt Mao auf, wie zierlich er ohne seine beeindruckenden Schwingen doch ist. Und jetzt, ohne seine Magie, ohne diese gewaltige Aura der Macht, liegt hier wirklich nur noch ein schwacher, hilfloser Mensch vor ihm.

Er weiß aus eigener Erfahrung, wie erschreckend es sich anfühlt, machtlos zu sein - aber so machtlos wie Lucifer war er auch hier auf der Erde zugegebenermaßen noch nie. Ein Minimum von Magie besaß er immer. Aber bei Lucifer ist es jetzt sogar noch viel schlimmer. Er besitzt nicht nur keine Magie mehr, er kann auch keine mehr absorbieren. Als wäre sein Magiekern blockiert oder ... Und bei diesem Gedanken zieht Mao scharf die Luft ein... zerstört.

Oh nein! Das wollte er nicht!

Von tiefer Schuld und Scham gequält, vergräbt er das Gesicht in den Händen. Er muss das wieder in Ordnung bringen. Irgendwie. Es muss doch einen Weg geben, es gibt immer einen Weg.

„Verzeih mir, Lucifer“, flüstert er. „Verzeih mir.“

Neben ihm ertönt ein kleines Schnaufen. Erschrocken nimmt Mao die Hände herunter und wirft einen Blick zur Seite, doch dann atmet er erleichtert auf. Nichts in Lucifers Gesicht deutet darauf hin, dass er ihn gehört hat. Im Gegenteil. Lucifer nimmt seine Hand aus Maos Schoß und dreht sich mit einem weiteren Schnaufer auf die andere Seite und die Hand, die eben noch auf Mao lag, landet nun genauso schwungvoll auf Alciels Brust.

Oh ja. Jetzt erinnert sich Mao wieder, warum sie ihr Lager niemals direkt neben Lucifer aufschlugen. Dämonen müssen in ihrer Heimat zwar nicht schlafen, aber das heißt nicht, dass sie nicht doch mal eine Rast einlegen und wenn Lucifer erst einmal liegt … nun ja, wenn man ihn ließ, war Schlafen immer seine Lieblingsbeschäftigung. Sie können von Glück reden, dass es in der Dämonenwelt kein Internet und Spielekonsolen gibt, sonst wäre er niemals aus seiner Höhle herausgekrochen.

Aber er ist unzweifelhaft sehr, sehr niedlich, wenn er so tief schlummert. Mao spürt, wie sich ein kleines Lächeln auf seine Züge schleicht, während er Lucifer beobachtet.

Plötzlich hört er ein leises, unwilliges Knurren und dann beginnt es in Alciels Miene zu zucken. Er blinzelt ein paar Mal und während er langsam aus den Tiefen seines Schlafes auftaucht, greift er schon nach Lucifers Hand. Doch anstatt sie wegzuschieben, wie Mao es eigentlich erwartete, schlingt er nur seine Finger um Lucifers und hält sie fest. Der Anblick berührt etwas tief in Maos Inneren und eine merkwürdige Wärme breitet sich in seiner Brust aus.

Vorsichtig beugt er sich zu ihnen hinüber. Alciels goldbraune Augen blinzeln ihn noch völlig verschlafen an.

„Guten Morgen, Mylord“, wispert er mit vom Schlaf rauher Stimme.

Bevor er Anstalten machen kann, sich zu erheben, deutet Mao nur vielsagend auf Lucifer, der sich, als würde er etwas spüren, in diesem Moment enger an den Blonden kuschelt.

„Bleib liegen“, flüstert er. „Heute kümmere ich mich mal ums Frühstück.“

 

 

Er sollte das nicht zulassen. Es ist seine Aufgabe, das Frühstück zuzubereiten, aber Alciel gehorcht, wie er seinem König immer gehorcht. Außerdem … versonnen streicht er mit seinen Fingern über jenes Stück von Lucifers weicher Handinnenfläche, das nicht von der Schiene bedeckt ist … würde er Lucifer bestimmt nur aufwecken, wenn er sich jetzt erhebt.

Und im Moment ist alles so warm und gemütlich und einfach nur friedlich. Alciel wagt einen kleinen Blick zur Seite und kann sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Lucifer hat sein Gesicht an Alciels Schulter vergraben, und das bißchen von seiner Miene, dass man unter seinen violetten Haaren sehen kann, wirkt unglaublich entspannt. Und niedlich.

Wie von selbst rutscht Alciels Hand unter seinem Kopfkissen hervor und schlingt sich locker um Lucifers Oberkörper. Der gibt im Schlaf einen kleinen Seufzer von sich und schmiegt sich noch etwas fester an seine Seite. Sein ureigener Duft von Honig und Flieder dringt in Alciels Nase und vermischt sich mit dem von grünem Tee, als Mao hinter ihnen seine erste Tasse des Tages aufgießt.

Das ist so gemütlich. Zufrieden schließt Alciel die Augen und genießt diesen Moment jetzt einfach mal. Während er so daliegt und in diesem fluffigen Kokon aus Zufriedenheit und Wärme schwelgt, fühlt er noch etwas anders: ein Kribbeln und Flattern, das irgendwo ganz tief in seinen Inneren in der Lendengegend beginnt, und sich dann über seinen Bauchnabel bis hoch zu seinem Brustkorb ausbreitet. Zuerst denkt er, er hat sich wieder den Magen verdorben, doch schnell fällt ihm auf, dass sich dies hier völlig anders anfühlt.

Es läßt ihn sich warm fühlen und viel, viel lebendiger.

Aber es hat – wie er zu seinem Schrecken feststellen muß – auch einen starken Effekt auf seine übliche, morgendliche Schwellung. Inzwischen weiß er natürlich, dass dies für einen männlichen Menschen in diesem Alter eine völlig natürliche Morgenreaktion ist, aber trotzdem war er immer sehr froh, wenn sich dieses Problem schon kurz nach dem Aufwachen wieder von alleine legte, doch diesmal wird es durch dieses warme Gefühl nur spürbar verstärkt.

Verdammt. Vielleicht sollte er sich den Anblick ihrer Vermieterin vor Augen führen? Oh, nein, das wäre dann doch viel zu extrem. Er versucht es lieber mit Atemübungen und stellt wenig später mit Erstaunen fest, dass sich sein Problem zwar nicht löst, dafür aber zunehmend besser anfühlt. Und plötzlich ist es nicht mehr etwas, was ihn stört, sondern einfach nur … Druck und Anspannung, die ganz wunderbar mit dieser Wärme korrelieren.

Unwillkürlich schlingt er seinen Arm etwas fester um Lucifer und drückt ihn noch etwas näher zu sich heran, während er sich diesem Gefühl einfach nur hingibt...

Er weiß nicht, wie lange er in diesem angenehmen Zustand schwebt, er schreckt erst auf, als er spürt, wie sich Lucifer neben ihm zu rühren beginnt. Siedendheiß fällt ihm ein, dass Lucifer es bestimmt nicht so toll findet, wenn Alciel so anhänglich ist und da er Streit so früh am Morgen vermeiden will, zieht er sich bedauernd von dem gefallenen Engel zurück. Vorsichtig, um ihn nicht unnötig zu wecken, rollt er sich vom Futon.

Als er aufsteht, begegnet er Maos warmen Blick. Er lächelt und Alciel errötet unwillkürlich.

Eine leise Entschuldigung murmelnd, verschwindet der blonde Dämon im Badezimmer.

 

 

XIII.

 

Lucifer erwacht mit dem Gefühl, als käme er von einem warmen Ort in eine Kühlkammer, doch er will das nicht genauer analysieren, dazu müsste er nämlich erst die Watte aus seinem Kopf vertreiben und das ist ihm jetzt einfach zu anstrengend. Müde reibt er sich die Augen und hievt sich dann langsam in eine sitzende Position.

„Guten Morgen, Lucifer", hört er eine sanfte Stimme neben sich.

„Guten Morgen", nuschelt er automatisch zurück.

Er reibt sich den letzten Schlaf aus den Augen und blinzelt dann in Maos lächelndes Gesicht. Er und Alciel sitzen an dem niedrigen Tisch, vor jedem von ihnen steht eine Tasse Tee und mitten auf dem Tisch... Lucifers Augen weiten sich überrascht - dampfen auf einem Teller goldbraun gebackene, frische Eierkuchen. Gierig saugt er den herrlichen Duft ein, der von dieser Süßigkeit ausgeht und ihm läuft sofort das Wasser im Munde zusammen. Unwillkürlich beginnt er zu lächeln, doch dann hält er abrupt inne. Vielleicht bekommt er ja gar nichts ab - es wäre ja nicht das erste Mal, dass die beiden sich selbst ein Festmahl gönnen und er leer ausgeht.

„Ich geh duschen und so", murmelt er, geht die anderthalb Meter zum Wandschrank hinüber, holt sich frische Wäsche und schlurft dann hinüber zum Bad.

„Lass dir nicht zu viel Zeit", ruft Mao ihm derweil nach. „Die Eierkuchen werden kalt."

„Mylord, ich gebe erneut zu bedenken, dass dies kein gesundes und ausgewogenesFrühstück ist."

„Das stimmt, Ashiya. Aber Lucifer steht auf sie, nicht wahr?"

Lucifer hat gerade die Badezimmertür beiseitegeschoben, aber diese Bemerkung lässt ihn überrascht zögern.

„Das stimmt", gibt er zu. Er darf wirklich etwas abhaben?

„Danke", fügt er dann noch leise hinzu, bevor er im Bad verschwindet.

Mao schenkt Alciel ein triumphierendes Grinsen. Der lächelt fröhlich zurück.

„Er hat sich bedankt, Mylord. Und es klang ehrlich."

„Natürlich, Ashiya", zufrieden nippt Mao an seiner Tasse. „Es liegt an uns, ihm zu zeigen, dass er für uns nicht nur ein nützliches Werkzeug ist, sondern viel, viel mehr." Er schluckt seinen Tee herunter und grummelt dann: „Ich weigere mich, dem Stamme Nimm anzugehören.“

Alciel starrt einen Moment sinnend auf die geschlossene Badezimmertür.

„Nun“, meint er dann gedehnt, „einmal können wir uns diese Süßspeise durchaus mal gönnen. Aber nur heute."

„Einmal die Woche", berichtigt Mao ihn sanft, aber entschieden.

Alciel verzieht das Gesicht.

„Aber ...“, klagt er weinerlich, „Eierspeisen gelingen mir nie."

Mao gluckst nur, langt zu ihm hinüber und wuschelt ihm vergnügt durch die blonden Haare.

„Das macht nichts. Ich bereite gerne für uns einmal in der Woche das Frühstück zu. Ehrlich, das macht mir nichts aus.“

Alciel mag es nicht, wenn man so durch seine Frisur fährt, und bei seinem König macht er da (ausnahmsweise) keine Ausnahme. Doch er lächelt, als er Maos Hand aus seinem Haar pflückt und wagt es sogar, sie für einen Moment festzuhalten und zu drücken, um ihm sein stummes Einverständnis zu signalisieren.

Diese ganze Situation hat etwas von einer Verschwörung an sich – aber eine gute. Alciel beginnt, sich den Kopf zu zermartern, wie er Lucifer ebenfalls eine Freude machen könnte. Er will nicht ins Hintertreffen geraten, aber er sollte seinen Herrn auch nicht in seiner Großzügigkeit und Güte übertreffen.

Für die nächsten zehn Minuten sitzen sie einfach nur schweigend da, trinken ihren Tee und lauschen auf das Wasserrauschen der Dusche.

 

 

Es ist nicht einfach zu duschen, wenn sich der dominante Arm in einer Schiene befindet und nicht nass werden darf, aber er bekommt langsam Übung darin. Wenigstens müssen sie nicht mit heißem Wasser geizen, auch wenn dieses Minibadezimmer aus dem letzten Jahrhundert ein lächerlicher Witz ist zu dem, was Mao-samas richtiges Castle in der Dämonenwelt an Badezimmern zu bieten hat.

Auch wenn es nicht leicht war, ihn von den Vorzügen fließenden Wassers zu überzeugen.

Aber Lucifer war es leid, zu leben wie in der Steinzeit. Er mochte dem Himmel den Rücken gekehrt haben, aber das bedeutete nicht, dass er sich Komfort und Luxus versagte. Nicht, wenn es eine andere Möglichkeit gab.

Dass er jetzt hier in so beengten Verhältnissen duschen muss und ihm nicht einmal eine handelsübliche Badewanne zur Verfügung steht, steigert seine Laune wahrlich nicht. Das hier ist einfach nur ein Loch. Er fragt sich wirklich, wieso die beiden nichts besseres finden konnten.

Ich kann das ändern.

Nachdenklich streicht er sich durch das klatschnasse Haar und verzieht dann schmerzhaft das Gesicht. Es ziept, dort, wo sie ihn genäht haben. Er hatte es für einen Augenblick wirklich vergessen.

Warum muss immer ich derjenige sein, der die Sachen anpackt?

So wie das mit der Warmwasserversorgung im Castle. Oder wie die Zeitaufteilung fürs Training ihrer Soldaten. Verdammt, er hatte sogar die Idee für eine Schule kleiner Dämonenrotznasen, wo sie lesen und rechnen lernen. Es war die einfachste Methode, sich eine neue Generation schlauer Gefolgsleute heranzuziehen, denn er war es wirklich leid, ihnen alles tausendmal erklären zu müssen. Bei Mao und Alciel hatte es ja auch funktioniert.

Seufzend stellt er die Dusche aus und wickelt sich in ein Handtuch. Er fühlt sich immer noch nicht sauber, aber ihm wird schon schwindlig von der Hitze. Während er in seine Kleidung schlüpft, muss er sich ein paar Mal am Waschbecken abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

So eine Gehirnerschütterung ist wirklich ätzend!

So ganz ohne seine heilende Magie ist er wirklich total aufgeschmissen.

Wie sehr er das hasst!

Seufzend stützt er sich am Waschbecken ab und starrt in den beschlagenen Spiegel.

Öhhhh... Nein, er wird das nicht abwischen, er will gar nicht erst wissen, ob er so mies aussieht, wie er sich fühlt.

Mit einem weiteren, tiefen Seufzer nimmt er ein Handtuch und rubbelt sich damit die Haare trocken, wobei er sehr vorsichtig mit seinem Hinterkopf ist.

Aber irgendwann kann er es nicht mehr länger herauszögern, also atmet er noch einmal tief durch, setzt sein bestes Pokerface auf und verlässt das Bad.

 

 

Als Lucifer zurückkommt, zeigt er eine ausgesprochen gleichmütige Miene und lässt sich betont lässig am Tisch nieder.

„Spuckt es aus“, meint er dann und starrt mit düster zusammengezogenen Augenbrauen auf die Eierkuchen. „Was wollt ihr von mir?“

„Mao-sama hat sich viel Mühe gegeben...“ beginnt Alciel sofort tadelnd, wird jedoch von Mao höchstpersönlich unterbrochen.

„Ich will mich bei dir entschuldigen.“ Maos Stimme ist leise und sehr ruhig und gerade deshalb umso eindrucksvoller. „Für alles, was ich dir vorgestern angetan habe. Nein, eigentlich für alles, was ich dir angetan habe, seit wir uns das erste Mal begegnet sind, vor allem für all die Dinge, von denen mir gar nicht bewusst war, was ich dir damit antue. Und ich gestehe, dass ich das jetzt immer noch nicht weiß, aber ich verspreche dir, mich zu bessern. Aber dafür musst du mir klipp und klar sagen, was dich stört. Abgemacht?“

Alciel neben ihm zieht scharf die Luft zwischen den Zähne ein und starrt ihn aus großen Augen an, als könne er nicht fassen, was sein König da gerade sagt. Und auch Lucifer ist verblüfft. Es ist nicht unüblich, dass sich Mao mit solch großen Worten entschuldigt, aber bisher noch nie bei ihm!

Das bringt ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht.

„Ist das dein Ernst?“

„Ja, Lucifer. Mein voller Ernst.“ Intuitiv greift Mao nach seiner Hand und instinktiv scheut Lucifer zurück. Doch dann wird er sich dessen bewußt und legt sie wieder auf den Tisch.

Mao wagt ein kleines Lächeln und verschlingt zaghaft ihre Finger miteinander, immer darauf gefasst, dass Lucifer wieder zurückschreckt, doch als das nicht geschieht, wird aus seinem Lächeln ein breites, zufriedenes Grinsen.

Lucifer starrt für einen Moment nur auf ihre beiden Hände und hebt dann den Kopf. In seinen violetten Augen schimmert so etwas wie vorsichtige Hoffnung.

„Gut. Könntest du … könntet ihr mich dann bitte ab sofort immer so nennen, wenigstens, wenn wir unter uns sind?“

Irritiert runzelt Mao die Stirn. „Wie?“

„Bei meinem Namen. Lucifer.“ Er zögert kurz und fährt dann entschuldigend fort: „Ich weiß, dass es wichtig ist, weil wir uns hier anpassen müssen, so lange wir hier leben und so, aber... ich bin nicht Urushihara Hanzō. Es gibt keinen Urushihara Hanzō. Er ist Fake. Und ich … bin kein Fake. Ich … will kein Fake sein. Nicht für euch.“ Zum Ende hin wird seine Stimmer immer leiser, bis sie nur noch ein schwer verständliches Murmeln ist. Doch dank ihrer gestohlenen Dämonenenergie können sie ihn sehr gut verstehen.

„Du bist doch kein Fake!" protestiert Alciel heftig, bevor Mao darauf etwas erwidern kann. „Du bist auch kein Werkzeug. Und du warst es auch nie. Für keinen von uns. Niemals!", erklärt er kopfschüttelnd. „Was ist nur los mit dir, dass du immer in diese Richtung denkst? Und jetzt hör auf mit diesen furchtbaren Gedanken und iss. Eierkuchen schmecken am besten, wenn sie noch warm sind."

Mit diesen Worten schaufelt er gleich drei der goldgelben Süßspeisen auf einen Teller, bestreut sie dick mit Puderzucker und stellt den Teller dann schwungvoll vor Lucifer hin.

„Und jetzt: Guten Appetit."

Lucifer wagt es nicht, ihm zu widersprechen und auch Mao schweigt. Ihr selbsternannter Hausmann kann selbst auf ihn ganz schön einschüchternd wirken, wenn er es darauf anlegt.

 

 

 

XIV.

 

„Langsam.“

Lucifer schwankt kurz und sofort schlingt Mao ihm einen Arm um die Taille. Lucifer versteift sich bei dieser Berührung, läßt sich von ihm aber dann doch die letzten Stufen der Treppe hinunterhelfen.

„Warum?“ jammert er, während er mit einer Hand seine Augen vor dem hellen Sonnenlicht abschirmt. Mao findet das übertrieben, so hell ist es nicht, die Sonne steht über ihnen und die Mauern der Nachbarhäuser und das Laub der vielen Bäume spenden genug Schatten.

„Damit Ashiya in Ruhe staubsaugen kann“, erwidert er geduldig.

Nicht, dass das offensichtlich war und nicht, dass Lucifer das in den letzten zwei Minuten schon zweimal gefragt hat. Aber vielleicht ist das jetzt auch nur Lucifers Art, seinen Unmut kundzutun. Eine große Wahl hat ihm Mao zugegebenermaßen ja nicht gelassen. Aber Mao findet auch, dass Lucifer genug Zeit vor dem Laptop vertrödelt hat. Zwei Stunden sind seiner Meinung nach mehr als genug, zumal er sowieso nicht weiß, womit genau Lucifer da beschäftigt war, aber diesmal wollte er auch weder fragen noch den Eindruck erwecken, dass er ihn bevormunden will, also ließ er ihn gewähren. Andererseits befürchtet er, der Engel könne seine Augen schon viel zu früh wieder überanstrengen – weder ihm noch Ashiya ist entgangen, wie Lucifer immer häufiger die Augen zusammenkniff.

Und trotzdem scheut er es sich, ihm einfach nur zu gestehen, dass er sich um ihn sorgt und bemüht Ausflüchte.

„Du kennst doch Ashiya“, erklärt er seine offiziellen Beweggründe deshalb ausführlich. „Lassen wir ihn in Ruhe im Castle herumwirbeln. Wenn er sich jetzt nicht mit irgend etwas beschäftigen kann, dreht er noch durch. Alle denken immer, er sei so ruhig und gelassen, der reinste Fels in der Brandung, aber sie kennen ihn nicht so gut wie wir.“

Lucifer neben ihm kichert zustimmend und lehnt sich etwas schwerer gegen ihn. Er scheint Maos stützenden Arm endlich anzunehmen. Vielleicht ist er aber auch unsicherer auf den Beinen, als er zugeben will.

„Und dir wird ein bißchen frische Luft gut tun“, ergänzt Mao, während er ihn auf die hintere Seite des Hauses führt. Vorbei an den letzten blühenden Sträuchern und Pflanzen des zur Neige gehenden Sommers. „Hier, siehst du – hier ist ein schönes, schattiges Plätzchen.“

Gelangweilt hebt Lucifer den Kopf, doch plötzlich weiten sich seine Augen und Mao kann sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

„Ein Pavillon? Seit wann haben wir einen Pavillon im Garten?“

„Schon immer?“ gibt Mao verschmitzt zurück.

Er wusste, dass es Lucifer überraschen würde – er verläßt die Wohnung schließlich selten und wenn, dann geht er ohne Umwege Richtung Straße, also in die entgegengesetzte Richtung.

Der Pavillon ist klein, vielleicht drei Meter im Durchmesser und dreieinhalb hoch, wirkt durch seine filigrane Bauweise und das geschwungene Dach aber viel größer. Das Holz schimmert im Sonnenlicht wie frischer Bernstein und am Eingang hängt ein Windspiel aus Kristallen, die bei jedem Windstoß mit einem sanften, melodischen Klingen aneinanderstoßen.

Behutsam führt er Lucifer die wenigen Stufen hinauf, während dieser sich staunend umsieht. Mao gefällt es, dass das Funkeln in diesen violetten Augen zurückgekehrt ist.

„Manchmal sehe ich Suzuno hier sitzen und lesen. Ich glaube, die Kissen sind auch von ihr. Gemütlich, oder?“

Mit diesen Worten setzt er sich auf die hölzerne Sitzfläche, die einmal rundherum geht und mit roten, dicken Kissen ausgepolstert wurde und zieht Lucifer neben sich.

„Vielleicht sollte ich doch öfter rausgehen?“ murmelt dieser nachdenklich, während er sich weiter kritisch umsieht. Sekundenlang bleibt sein Blick auf dem funkelnden Windspiel hängen, dann neigt er den Kopf zur Seite und schließt lauschend die Augen.

„Es ist ruhig hier“, bemerkt er nach ein paar Sekunden beinahe andächtig und schlägt die Augen wieder auf. „ Sehr still.“

Mao nickt zustimmend. Sie sind umgeben von Bäumen und Sträuchern und das meiste, was sie hier hören können, sind das Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten und das Rascheln der Blätter. Und das Klavierspiel eines Nachbarn – aber da es ein sehr ruhiges Stück ist und fast fehlerfrei gespielt wird, stört es sie nicht wirklich. Und nur ganz selten weht das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu ihnen hinüber.

Dann sieht Mao, wie Lucifer kurz das Gesicht verzieht. Seine gesunde Hand fährt hoch zu seiner Stirn.

„Ist dir schwindlig? Komm, leg dich hin.“

„Mao?“ Lucifer gibt ein erschrockenes Aufquieken von sich, aber es ist schon zu spät.

Innerhalb eines Herzschlages findet er sich erst in Maos Armen und dann mit dem Kopf auf dessen Oberschenkeln wieder. Sein völlig überforderter Gleichgewichtssinn flüchtet sich gar nicht erst in Schwindel und geht gleich zur Übelkeit über.

Aufstöhnend verkrallt er sich mit der gesunden Hand in Maos Sweater und versucht, sich nicht zu übergeben.

„Urgh“, ächzt er, als er sich wieder einigermaßen erholt hat. „Willst du, dass ich dir in den Schoß kotze? Baka Mao-sama.“

„Tut mir leid, tut mir leid“, entschuldigt sich Mao hastig, streicht ihm mit einer Hand beruhigend durchs Haar und reibt mit der anderen seine Schulter. Lucifer seufzt nur, nimmt die Beine hoch und streckt sich der Länge nach auf der Sitzfläche aus. Dann rückt er sich so zurecht, dass er bequem weiterhin Maos Schoß als Kopfkissen benutzen kann. Er muss zugeben – für ihn ist das sehr gemütlich und wenn er Mao jetzt zu schwer wird, ist der selbst dran schuld.

Mao zögert einen Moment, doch dann landet seine Hand wieder in diesem violetten Haar und streichelt sanft hindurch. Es ist weich und seidig und riecht nach Honig und Flieder. Sachte streicht er ihm die Strähne zurück, die immer seine rechte Gesichtshälfte bedeckt und lässt seine Finger dann über Augenbrauen, Nasenwurzel und Stirn wandern, wobei er die verschorften Wunden dort schuldbewusst ausspart.

„Huh... hm ...“, beginnt er, aus irgend einem Grund plötzlich sehr verlegen, „wie... wie geht es dir? Hast du immer noch Kopfschmerzen?“

Lucifer blinzelt aus halbgeschlossenen Augen zu ihm auf. Die Frage irritiert ihn, aber er spielt das Spiel gerne mit.

„Ich sehe nicht mehr verschwommen.“

„Das ist gut. Das freut mich. Ehrlich. Und dein...“ Sanft und beinahe schüchtern berührt er die Plastikschiene. „...hm, Arm?“

„Ist noch dran.“

„Es tut mir leid. Ich mache es wieder gut. Ich verspreche dir, ich finde einen Weg. Du wirst wieder der mächtige, dunkle Engel mit den größten Flügeln und den schönen Rabenfedern sein, den alle fürchten.“

Lucifers linke Augenbraue zuckt kurz in die Höhe. Schöne Rabenfedern? Wie soll er das jetzt verstehen? Er begeht den Fehler, hoch in Maos Gesicht zu blicken und ihn diesmal richtig anzusehen. Die Wärme, die ihn aus diesen rötlichen Augen entgegenschimmert, überrascht und erschreckt ihn gleichermaßen. Hastig wendet er den Blick wieder ab. Das Funkeln und Glitzern des Windspiels ist auch viel interessanter.

Leider haben Maos Worte die Erinnerung an seine Flügel in ihm aufgewühlt, und um nicht daran denken zu müssen, lenkt er das Gespräch ganz bewußt in eine völlig andere Richtung. In eine, von der er weiß, dass sie Mao aus seiner sonderbar sentimentalen Stimmung reißen wird, denn damit kann er fast noch schlechter umgehen als mit dem Verlust seiner Flügel.

„Das Castle ist wirklich zu klein für uns drei.“

Mao blinzelt einmal hart aufgrund dieses abrupten Themenwechsels. Und bei Lucifers nächsten Worten zieht er erst die Augenbrauen hoch, dann runzelt er die Stirn, doch er unterbricht ihn nicht.

„Wir sollten umziehen. Wenn ich das noch eine Woche durchziehe, reicht es schon für eine kleine Eigentumswohnung und nach drei Wochen für die Anzahlung eines kleinen Hauses. Wir müssen vielleicht Abstriche machen, aber auch eine Bruchbude gehört dann wenigstens uns und schlimmer als das Loch, in dem wir jetzt wohnen, geht ja fast gar nicht. Und mit eurer Magie wäre eine Sanierung kein Problem.“

Maos Miene hat sich regelrecht verfinstert, doch Lucifer bemerkt es nicht, weil er immer noch das Windspiel anstarrt. Aber er hört den erwachenden Zorn in der Stimme seines Königs.

„Du willst damit wirklich weitermachen?“

Lucifer zuckt nur mit den Schultern.

„Wer weiß, wie lange ihr hierbleibt, warum macht ihr es euch dann nicht gemütlich? Du kannst ja immer noch bei MgRonald's arbeiten, wenn es dir gefällt. Und Alciel freut sich bestimmt auch, wenn er sich auf ein paar Quadratmetern mehr austoben kann.“

Aus Maos Kehle kommt ein leises Grollen.

„Das klingt, als würdest du annehmen, wir würden ohne dich zurück gehen.“

Abermals dieses betont gleichmütige Schulterzucken.

„Wenn ich meine Magie nicht zurückbekomme, kann ich genauso gut auch hierbleiben.“

Mao atmet einmal tief ein und wieder aus.

„Wir lassen dich nicht im Stich“, erklärt er dann mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet.

Seine Hand, die während der letzten dreißig Sekunden damit aufgehört hatte, durch Lucifers Haar zu streicheln, fängt wieder damit an. Lucifer würde es nie zugeben, aber er hat sie vermisst. Normalerweise würde er sich mit Händen und Füßen gegen eine solche Behandlung wehren, und er schiebt es auf seine derzeitige Verfassung, dass er es jetzt sogar genießt.

„Erinnerst du dich noch an unseren Pakt?“ meint Mao plötzlich. „Als ich dich überredete, mit mir zu kommen? Ich habe dir erlaubt, mich zu töten, wenn es dir bei mir langweilig wird.“

„Ich habe versucht, dich zu töten. Dich und Alciel. Erinnerst du dich?“

„Ja, aber das war nicht, weil dir langweilig war. Wir haben dich enttäuscht und hatten es verdient. So wie du deine Abreibung danach verdient hattest.“

Da hat er recht und es tut gut zu wissen, dass er ihm nicht nur zugehört, sondern ihn auch verstanden hat. Aber worauf will er hinaus?

„Mein Kopf fühlt sich immer noch matschig an. Ich komme irgendwie nicht mehr mit...?“

„Ich will dir einen neuen Pakt vorschlagen: Ashiya und ich suchen nach einer Lösung und du wirst dich währenddessen nicht verkaufen, in Ordnung? So lange, bis dein Arm verheilt ist. Und sollten wir bis dahin keinen Weg gefunden haben, verhandeln wir neu.“

Lucifer denkt kurz darüber nach. Das klingt fair. Außerdem kann er Mao immer genau das vorwerfen, sollte Alciel wieder über die zusätzlichen Kosten jammern, die Lucifer ihnen beschert.

„Einverstanden.“

Mao strahlt.

„Abgemacht.“

Lucifer rollt nur mit den Augen, bevor er sie schließt.

Lächelnd streichelt ihm Mao weiter mit der Rechten durchs Haar. Seine Linke ruht leicht auf Lucifers Brust, wo er dem gleichmäßigen Heben und Senken seines Oberkörpers bei jedem Atemzug nachspürt.

Merkwürdig.

Zum ersten Mal in seinem über dreihundert Jahre langen Leben ist er sich wirklich bewußt, ein atmendes, lebendiges Wesen zu berühren. Das warme Gefühl, das dieser Gedanke in seiner Brust auslöst, überwältigt ihn beinahe.

Ist das etwas, was mit seinem menschlichen Körper zusammenhängt? Oder haben Dämonen durch ihren täglichen Überlebenskampf nur einfach keine Zeit, um so zu empfinden?

Wie mag es mit Engeln sein? Sie haben mehr als genug Zeit, spüren sie es? Hat Lucifer so schon mal empfunden? Spürt er es jetzt?

Nachdenklich betrachtet Mao den Engel. Lucifers linke Hand spielt mit der Kordel von Maos Sweater, er hat ein Bein angezogen, das andere baumelt genauso herunter wie sein rechter Arm, die Finger schleifen lässig auf dem Boden und ganz allgemein wirkt er sehr, sehr entspannt.

Tatsächlich ist Lucifer entspannt, und niemanden wundert das mehr als ihn selbst. Außerdem ist er normalerweise nicht so anhänglich. Aber es fühlt sich richtig an, wenn Mao ihn berührt. Warm.

Und er könnte noch den ganzen restlichen Tag hier so liegen.

Für einen unbedarften Zuschauer müssen sie wirklich ein seltsames Bild abgeben, fast wie ein... Liebespaar. Der Gedanke amüsiert ihn. Unwillkürlich kräuseln sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln.

„Wenn uns deine Chiho jetzt so sehen könnte...“

„Hm...“ macht Mao nur und starrt weiter gedankenverloren auf ihn hinab, während seine Finger sachte durch Lucifers Haar kämmen.

„Sie steht auf dich.“

Mao rollt mit den Augen.

„Sie ist noch ein Kind.“

Lucifer gibt ein nachdenkliches Brummen von sich.

„Du bist zu nett zu ihr. Kein Wunder, dass sie sich Hoffnungen macht.“

Mao verkneift sich ein Seufzen. Waren sie eben nicht noch bei einem völlig anderem Thema?

Ach, Lucifer, du redest über alles, nur nicht über dich.

„Ich kann sie nicht daran hindern. Ich arbeite mit ihr zusammen. Den Ärger, den meine Chefin mir macht, wenn ich Chiho zum Heulen bringe, will ich mir gar nicht erst ausmalen.“

Lucifers Augen öffnen sich einen Spaltbreit und Mao glaubt ein schelmisches Glitzern in diesem schönen Violett zu erkennen.

„Du bist ihr Held. Und das gefällt dir.“

„Quatsch.“

Lucifer kichert leise.

„So etwas nennen sie hier Heldenkomplex. Du bist ein Dämon mit Heldenkomplex.“

„Ach“, Mao klingt nicht halb so verärgert, wie er es gerne hätte. „Halt einfach die Klappe.“

 

 

XV.

 

Lucifer fühlt sich, als würde er geradezu dahinschmelzen. Urgh. Jetzt weiß er wieder, wieso er es nicht mag, wenn man ihm so durch die Haare fährt. Es fühlt sich auf Dauer einfach nur viel zu gut an. Und das ausgerechnet bei Mao! Er erinnert sich noch zu gut an dessen riesige Pranken, wie sich diese um seinen Kopf legten und Druck ausübten – nicht viel, gerade genug, um ihn daran zu erinnern, wer hier größer und stärker war.

Und jetzt sind es ausgerechnet diese Finger – wenn auch in einer kleineren Version – die so sanft durch seinen Skalp fahren und ihm ein angenehmes Schaudern über den Rücken jagen.

Ja, spinnt er denn total?

Hastig stemmt sich Lucifer in die Höhe – etwas zu schnell, denn ihm wird sofort schwindelig. Sofort sind Maos Hände da, die ihn halten und stützen und als ihm Mao dann einen Arm um die Schultern legt, wehrt sich Lucifer nicht, und läßt sich stattdessen ergeben gegen ihn sinken. Mao ist warm, seine Schultern sind breit und seine Arme stark und so sehr Lucifer es auch hasst – er fühlt sich in diesem Moment einfach nur sicher. Er weiß nicht, woher dieses Gefühl plötzlich kommt, denn das hier ist Mao (!!), aber es ist andererseits auch ein schmerzlich vermisstes Gefühl, etwas, wonach er sich sein ganzes Leben lang sehnte und das ihm immer versagt blieb.

Sein Hirn muss bei diesem Sturz wirklich mehr abbekommen haben als gedacht.

Mao seinerseits versucht ganz ruhig zu bleiben, ruhig und geduldig, während er wartet, bis sich Lucifer neben ihm in eine für ihn angenehme Position zurechtgerückt hat. Er vermisst das Gewicht seines Kopfes auf seinen Oberschenkeln, doch dasselbe Gewicht auf seiner Schulter und der sanfte Druck von einem warmen Körper, der sich an ihn presst, gefällt ihm sogar noch etwas besser. Wieviel Vertrauen auch immer zerstört war, es scheint noch genug vorhanden zu sein, damit sich Lucifer wie ein Kätzchen neben ihm zusammenrollt.

Ausgerechnet Lucifer, der distanzierteste Charakter, den er kennt.

Doch Mao wird sich nicht beschweren. Kein Ton kommt über seine Lippen, denn er will diesen kostbaren Moment nicht zerstören.

Das macht jemand anderes für ihn. Der Wind weht ein Poltern, gefolgt von einem unterdrückten Fluch zu ihnen hinüber.

Erschrocken schreckt Lucifer auf. „Ist das etwa...?“

„Ja“, seufzt Mao ergeben, während er sich widerwillig erhebt. Und Lucifer dann auffordernd die Hand entgegenhält. „Das war Emilia. So stolpert nur sie die Treppe hinauf.“

 

 

Man hört Emilias wütendes Gezeter schon von Weitem, aber so sehr er es auch versucht, kann Lucifer kein einziges Wort verstehen. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ihre Stimme an seinen Nerven kratzt wie Fingernägel auf einer Schiefertafel und sein müdes Hirn da lieber abschaltet. Er folgt Mao so schnell wie er kann, als dieser die Treppe hochrennt und dabei immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Lucifer hat keine Lust auf diese Begegnung, aber etwas in ihm drängt ihn zur Eile. Das Wissen, dass Alciel dieser Furie ganz allein gegenübersteht, erweckt etwas in ihm, das er schon sehr lange nicht mehr gespürt hat.

„Was ist hier los?“

Mit einem Ruck öffnet Mao die Tür zu Apartment 201.

Seine Stimme ist nicht besonders laut, aber von einer Schärfe und Autorität, die sogar Emilia mitten im Wort stocken läßt. Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann hat sie sich wieder gefaßt.

„Was hier los ist? Dein Schoßhündchen hat Rika verletzt, das ist hier los!“

Ihr anklagend ausgestreckter Zeigefinger erdolcht eine Million unschuldiger Luftmoleküle, während sie auf Alciel deutet. Der steht ein paar Schritte von ihr entfernt, neben ihm liegt der Staubsauger und er trägt sein Bandana, wie er es sich immer beim Putzen angewöhnt hat, dazu seine grüne Schürze und hat die Fäuste in die Hüften gestemmt.

Er ähnelt wirklich jeden Tag mehr einer Hausfrau, stellt Lucifer bei diesem Anblick unwillkürlich fest.

Und obwohl ihn Emilias Auftauchen absolut überrumpelt hat, strahlt der blonde Dämon immer noch diese Ruhe und Kraft aus, die Lucifer an ihm so bewundert. Er ist kein geborener Häuptling, er wurde zu einem gemacht und dasselbe gilt für sein Dasein als General und egal, wie verunsichert er sich innerlich vielleicht gerade fühlen mag, lässt er nichts davon an die Oberfläche.

Lucifer spürt, wie diese kalte, stille Wut in ihm aufflackert und das Gefühl, sich schützend vor Alciel zu stellen, wird geradezu übermächtig.

Emilias laute Stimme bringt ihn wieder zurück ins Hier und Jetzt.

Er. Hasst. Sie. So. Sehr.

Bitch!

„Rika ist todunglücklich, weil dieser Baka keine Ahnung davon hat, wie man sich bei einem Date benimmt! Du kommst jetzt mit und bringst das wieder in Ordnung, kapiert?“

„Jetzt?“ will Mao ungläubig wissen, der mit zwei großen Schritten in den Raum getreten ist und allein dadurch Emilias Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat – vielleicht ist aber auch die Tatsache, dass er wieder teilweise seine Dämonengestalt annahm, nicht ganz unschuldig daran.

Nicht, dass sie sich durch die zwei Meter, die spitzen Ohren oder die Fangzähne und den anderthalb Hörnern einschüchtern läßt. Ganz im Gegenteil. Ihr langes, rotes Haar beginnt sich an den Wurzeln schon bedrohlich silbern zu färben - ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Heldin in ihr hervorbricht.

„Natürlich jetzt! Sofort! Oder denkt ihr, ich opfere meine Mittagspause aus Spaß?“

„Nun mal langsam, Emi...“, beginnt Mao in einer Mischung aus Drohung und Beschwichtigung, doch bevor er weiterreden kann, wird er von Lucifer unterbrochen.

„Ja, Emilia, ganz langsam.“ Betont gemächlich schlendert der gefallene Engel an ihr vorbei und bleibt genau zwischen ihr und Alciel stehen.

„Es ist nicht Alciels Schuld, wenn Rika sich etwas einbildet, sondern deine. Schließlich war das mit dem Date doch deine glorreiche Idee. Wieso willst du sie überhaupt so unbedingt verkuppeln? Was erhoffst du dir dadurch? Denkst du wirklich, Alciel würde die Seite unseres Königs jemals wegen einer Menschenfrau verlassen?“

„Lucifer...“

Sie zischt aufgebracht und macht einen großen Schritt auf ihn zu. Um sie herum wallt eine Aura Heiliger Energie auf, mit der besonders Lucifer unangenehme Erfahrungen gemacht hat. Der sengende Schmerz von ihrem aus genau dieser Energie bestehendem Schwert durchbohrt zu werden, ist ihm plötzlich wieder allgegenwärtig.

Lucifer wird um eine Nuance blasser, er weicht aber keinen Zentimeter zurück.

„Du bist eine Heuchlerin, Emilia Justina.“ Herausfordernd funkelt er sie an. „Spielst dich hier als Rikas besorgte Freundin auf und hast dabei doch alles andere als ihr Glück im Auge. Ein Dämon und ein Mensch? Mach dich nicht lächerlich. Du weißt, dass das überhaupt nicht funktionieren kann. Dämonen und Menschen sind völlig inkompatibel. Also spar dir diese Scharade und mach dich vom Acker.“

Emis rechte Hand zuckt zu ihrer linken Hüfte und plötzlich ist die Luft von einem weißen Schimmern erfüllt, ein strahlender Blitz und sie hält Betterhalf, ihr Heiliges Schwert zwischen ihren Fingern. Aber bevor sie damit zum Schlag ausholen kann, steht Mao zwischen ihr und Lucifer. Obwohl er sich immer noch auf seine zwei Meter große Form beschränkt, verströmt er plötzlich eine solche starke Aura dunkler Macht, dass die Heldin unwillkürlich eine Gänsehaut bekommt.

„Das reicht jetzt, Emi.“ Seine Stimme ist völlig ruhig und beherrscht, doch das Feuer in seinen rötlichen Augen ist eine deutliche Warnung. „Es ist besser, du gehst jetzt.“

Emi will zuschlagen, doch plötzlich ist es, als würde sich die Luft um ihren Schwertarm herum verdichten. Ihre Muskeln sind auf einmal wie gelähmt und Betterhalf scheint plötzlich so viel zu wiegen wie hundert Pferde.

Damit konfrontiert fällt ihre Wut flackernd in sich zusammen. Sie zögert, Betterhalf noch immer halb erhoben und mustert ihn aus zusammengekniffenen Augen.

„Irgend etwas ist anders an dir.“

Er legt den Kopf schief und kratzt sich an seinem abgebrochenen Horn. Dabei spielt um seine Lippen ein kleines, boshaftes Lächeln, nicht viel, aber genug, um seine spitzen Eckzähne gefährlich aufblitzen zu lassen.

„Oh, wirklich? Vielleicht mag ich es auch einfach nicht, wenn du meine Familie bedrohst?“

Sie schnaubt nur und konzentriert sich. Aber erst, als ihr Blick von Mao zu den beiden Dämonen hinter ihm schweift, sieht sie es. Lucifer steht noch immer einen Schritt hinter ihm und funkelt sie aus seinen violetten Augen böse an, die Hände auf Hüfthöhe, die Finger gespreizt, bereit, einen Zauber zu wirken und Ashiya hat sich inzwischen einen Fußbreit schräg vor ihn geschoben, den rechten Arm ausgestreckt, als wolle er Lucifer hinter sich schieben – oder ihn davon abhalten, anzugreifen. Auch Ashiya steht nun in seiner Dämonengestalt vor ihr und die Spitzen seines gegabelten Schwanzes zeigen drohend in ihre Richtung.

Und zwischen ihnen, zu ihren Füßen, wirbelt, wie feiner, goldglitzernder Rauch, eine Art von Energie, wie Emi sie noch nie gesehen oder gespürt hat. Sie scheint alle drei miteinander zu verbinden und Maos Magie zu verstärken.

Kommt ihr ihr heiliges Schwert deshalb plötzlich so unendlich schwer vor?

Hinter ihr ertönt plötzlich eine leise, sanfte Stimme.

„Emi-san, wieso bedrohst du diese Dämonen?“

Überrascht wirbelt die Angesprochene herum. Auf der Türschwelle steht Crestia Bell, heute in einen besonders schönen Kimono gekleidet und die Hände auf sehr japanische Art und Weise vor sich gefaltet.

„Suzuno... das ist doch wohl klar: weil sie Dämonen sind!“

Crestias ruhiger Blick wandert von einem zum anderen und dann wieder zu ihr zurück.

„Haben sie etwas angestellt?“

„Er …“, wütend zeigt sie mit ihrer freien Hand auf Ashiya. Zu gerne würde sie dafür ihre Schwertspitze benutzen, doch Betterhalf ist immer noch unendlich schwer. „Wegen ihm ist Rika total unglücklich! Er hat ihr das Date ruiniert!“

Crestia blinzelt einmal und legt dann den Kopf etwas schräg, während sie darüber nachdenkt.

„Oh …“, meint sie schließlich gedehnt, „das Date.“

„Ja, genau, das Date. Dafür verlange ich, dass er sich bei Rika entschuldigt.“

„Aber Emi, es war nicht dein Date. Diesen Kampf muss Rika austragen, nicht du.“ Crestias ruhige, weise Worte wirken auf Emilia wie ein Eimer kaltes Wasser.

„Außerdem“, fährt Crestia tadelnd fort, „ist Rika ein Mensch dieser Erde. Du solltest sie nicht in unsere Angelegenheiten mit hineinziehen. Und … du solltest niemals jemanden gegen seinen Willen verkuppeln wollen, schon gar nicht, wenn einer der Betroffenen sein Herz schon einem anderen geschenkt hat.“

„Huh? Aber...“ sie begegnet Crestias ernstem Blick und plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Haaren. Ungläubig reißt sie die Augen auf.

„Oh“, macht sie leise und verstört und wiederholt dann etwas lauter: „Oh.

Und dann schämt sie sich, dass sie das überhaupt in Betracht zieht, aber Crestia hat es gesagt. Und sie irrt sich in solchen Dingen nie. Also Mao und Ashiya? Huh, sowas dachte sie sich ja schon immer. Emilias Wangen färben sich zu einem adretten Pink und für einen Moment huscht ihr Blick zwischen den drei Dämonen hin und her.

„Urg“, macht sie dann, wirbelt sie– noch eine Nuance röter – auf dem Absatz um und stiefelt zur Tür. Als sie auf Crestias Höhe ist, dreht sie sich noch einmal um und deutet wieder drohend mit dem Zeigefinger auf Ashiya.

„Du entschuldigst dich trotzdem bei Rika, kapiert?“

Mit diesen Worten rauscht sie davon. Erst, als das Klappern ihrer hohen Absätze auf der Außentreppe verklungen ist, geht so etwas wie ein erleichtertes, kollektives Aufatmen durch den Raum.

„Es tut mir leid, wenn wir dich gestört haben, Suzuno“, entschuldigt sich der Dämonenkönig bei ihrer Nachbarin, während er wieder in seine Menschengestalt zurückkehrt.

„Das ist schon in Ordnung, Mao. Das war nicht eure Schuld. Lucifer – du hast Nasenbluten.“

„Was?“ Verdutzt hebt Lucifer die Finger seiner linken Hand unter seine Nase und starrt dann auf seine rotglänzenden Fingerspitzen. „Oh, verdammt.“

Ashiya gibt einen entsetzten Schrei von sich, ist mit einem großen Schritt am Kühlschrank, reißt ihn auf und kommt dann mit einem Kühlbeutel zu ihm zurück. Mao hat Lucifer inzwischen sanft dazu genötigt, sich hinzusetzen.

„Kopf senken“, befiehlt Ashiya, während er den Kühlbeutel in Lucifers Nacken presst.

Crestia beobachtet die zwei noch eine Weile, wie sie wie aufgeregte Mutterhennen um Lucifer herumwuseln, lächelt wissend und geht dann wieder zurück in ihre Wohnung.

 

 

XVI.

 

Lucifer schäumt vor Wut.

„Das meine ich, Mao: du bist zu nett zu ihr! Kein Wunder, dass sie denkt, sie kann hier jederzeit hereinstürmen, mit Anschuldigungen um sich werfen und solche Forderungen stellen!“

Irgendwie bringt er es fertig, den Dämonenkönig trotz Eisbeutel in seinem Nacken und blutigem Taschentuch vor der Nase besonders wild anzufunkeln.

Mao dagegen findet diesen Anblick erstaunlicherweise geradezu entzückend und es fällt ihm schwer, nicht bis über beide Ohren zu grinsen.

„Aber ist es nicht taktisch klüger, wenn sie als Aggressor dasteht und nicht wir?“

„Für wen? Für unsere Nerven bestimmt nicht! Sei nicht so verdammt nachsichtig mit ihr! Nicht einmal ein Mensch würde sich das von ihr gefallen lassen!“ Er hält inne, aber nur, weil Alciel ihm wortlos das Taschentuch abnimmt, seine Nase kritisch untersucht und, als er feststellt, dass die Blutung tatsächlich aufgehört hat, in die Küche geht, um das blutige Taschentuch im Mülleimer zu entsorgen und den Eisbeutel zurück ins Eisfach zu legen.

„Sie hat Betterhalf gezogen, Mao! Ihr vermaledeites Schwert! Der Gebrauch von Schwertern ist hier verboten. Du solltest sie anzeigen.“

„Es ist keine gute Idee, zur Polizei zu gehen und dadurch Aufmerksamkeit zu erregen“, gibt Alciel zu bedenken, als er zurückkehrt und sich neben ihn setzt.

Lucifer wirft ihm einen kurzen Seitenblick zu, schnaubt einmal und funkelt dann wieder Mao vor sich an.

„Du könntest es Chihos Vater stecken. Er ist Polizist und findet es bestimmt nicht lustig, wenn er erfährt, welchen Umgang seine Tochter pflegt. Oder ich könnte ihm eine anonyme Mail schicken.“

Mao schüttelt den Kopf.

„Das verbiete ich dir, Lucifer.“

„Unglaublich!“ In einer fassungslosen und hilflosen Geste wirft Lucifer beide Arme in die Höhe. „Ihr versucht so sehr, nicht aufzufallen, dass ihr euch ungestraft herumschubsen lasst! Was ist nur aus euch geworden? Ihr seid Dämonen, verdammt nochmal! Verteidigt euch endlich mal! Wozu habt ihr meine Magie denn, wenn nicht mal dafür?“ Aus seiner Kehle löst sich ein Grollen und er ballt die gesunde Hand zur Faust. „Ich hätte gewusst, wofür ich sie einsetze. Ich hätte diese Bitch hochkant in die nächste Woche gepustet.“

Besorgt greift Alciel nach seiner Hand.

„Lucifer. Beruhige dich, sonst blutet deine Nase wieder.“

Lucifer schnauft nur und für einen Moment scheint es, als wolle er etwas sagen – und es wäre bestimmt nicht sehr freundlich gewesen – aber in diesem Moment ertönt die Türklingel.

„Wenn sie das ist...“ knurrt Lucifer drohend.

„Nein“, unterbricht ihn Alciel und erhebt sich, „das wird der Pizzabote sein.“

Was?

Lucifer starrt ihm aus großen Augen hinterher, wie er zur Tür geht und sie öffnet. Und dann klappt ihm die Kinnlade nach unten, als dort tatsächlich der Pizzabote steht. Er wirft einen fragenden Blick zu Mao hinüber, doch der ist genauso entgeistert wie Lucifer.

Sprachlos sehen sie zu, wie Alciel dem Pizzaboten Geld in die Hand drückt, drei Kartons von ihm entgegennimmt, ihn mit einem freundlichen Gruß entlässt und dann die Tür wieder hinter ihm schließt. Alciel kommt zu ihnen zurück, legt die drei Pizzakartons auf den Tisch und öffnet sie nacheinander.

„Hier, für dich“, meint er dann und schiebt Lucifer eine der Schachteln zu. „Ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen.“

Lucifer, dem bei dem appetitlichen Anblick und verlockendem Geruch sichtbar das Wasser im Munde zusammenläuft, starrt ihn nur an, als wäre ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen.

Mao seinerseits wirft Alciel mit hochgezogenen Augenbrauen einen fragenden Blick zu.

Der wiederum zuckt nur mit den Schultern und lächelt verlegen.

„Es ist Lucifers Geld, oder? Und er nervt mich schon seit seinem ersten Tag hier, dass er sich mal eine Pizza bestellen will. Außerdem überlege ich mir, das nächste Mal vielleicht selber eine zu backen. So schwer scheint das nicht zu sein und dann sind die Zutaten wenigstens frisch.“

Lucifers Erstarrung löst sich endlich und er umarmt ihn spontan. Er kann sein Glück kaum fassen. Erst die Eierkuchen zum Frühstück und jetzt das hier. Hat er heute etwa Geburtstag? Da vergißt er doch glatt Emilias unsäglichen Auftritt von eben.

„Danke, Alciel. Danke! Dafür bring ich auch den Müll raus.“

Unendlich glücklich und stolz über diese Reaktion, entgegnet Alciel diese Umarmung. Lucifer ist warm und passt so gut in seine Arme, dass er ihn am liebsten gar nicht mehr daraus entlassen würde. Und so lässt er ihn auch nur sehr widerwillig wieder gehen, als er sich wieder zurückzieht.

Alciels goldbraune Augen schimmern sanft, als er dem Engel dabei zusieht, wie dieser sich auf seine Pizza stürzt.

„Stimmt die Geschmacksrichtung?“

„Ja, perfekt. Dankeschön“, nuschelt Lucifer um sein Pizzastück in seinem Mund herum und strahlt ihn dabei an.

Unwillkürlich legt Alciel eine Hand auf seine Brust, in der es sich plötzlich so warm anfühlt. Hat er Lucifer jemals so … glücklich erlebt? Wann haben diese unglaublichen Augen zum letzten Mal so geleuchtet? Es ist, als wäre in diesem Moment ein riesengroßer Schatten von ihm abgefallen.

Und für den Bruchteil einer Sekunde fühlt sich Aslciel ihm sehr verbunden, fast, als wären sie für einen winzigkleinen Moment eins, als schlügen sogar ihre Herzen im gleichen Takt.

Doch dann vergeht dieses Gefühl und lässt nichts außer Leere und Verwirrung zurück.

Hastig wendet sich Alciel seiner eigenen Pizza zu. Dabei begegnet er flüchtig Maos warmen Blick, sieht sein Lächeln und spürt, wie ihm unwillkürlich das Blut in die Wangen steigt.

Mao ist zu klug, um diesen Moment mit einem Kommentar zu zerstören, also konzentriert auch er sich nur wortlos auf sein Essen.

Er würde lügen, würde er behaupten, die warmen Blicke, mit denen Alciel Lucifer beschenkt, würden keinen leisen Stich der Eifersucht in ihm auslösen. Bisher war er der einzige, der in den Genuß dieser Blicke kam, sie jetzt teilen zu müssen, schmerzt. Aber während er so an seiner Pizza knabbert und darüber nachsinnt, fällt ihm auf, dass er Alciels Aufmerksamkeit gerne teilt, wenn sich Lucifer dafür ihm gegenüber weiterhin so anschmiegsam zeigt wie vorhin im Pavillon.

Als sie Emilia gegenübertraten und sich gegenseitig beschützten, war es wieder genau wie früher.

Sie waren wieder ein Trio, kämpften und standen füreinander ein. Nicht grundlos nannte sein Lehrmeister und Statthalter Camio die beiden immer die rechte und die linke Hand des Dämonenkönigs.

Aber diesmal spürte Mao darüberhinaus zu Lucifer eine ungewöhnlich starke Verbundenheit - und wenn er ganz tief in sich hineinhorcht, fühlt er sie noch immer. Als wären sie für diese wenigen Sekunden eins gewesen.

Ist das dieses merkwürdige Gefühl, von denen die Menschen immer so schwärmen? Und ist es das, wovon ihm Lailah immer erzählte? Der Engel mit den strahlend weißen Schwingen, der ihm das Leben rettete, als er noch ein Kind war, sah in ihm etwas, weil sie seine Tränen mißinterpretierte. Es waren Tränen des Zorns, aber sie sah in ihnen Tränen über den Verlust seiner Familie und inzwischen weiß er nicht, ob sie damit wirklich so falsch lag, wie er immer behauptete.

Gefühle sind verwirrend und seit er ein Mensch ist, seit er Zeit hat, darüber nachzudenken, scheint es manchmal, als würde seine gesamte Welt auf dem Kopf stehen. Sein ganzes Weltbild hat sich seit seiner Ankunft hier verschoben und gerade in den letzten Tagen kam noch der eine oder andere Looping hinzu.

Während er den Geschmack von zerlaufenem Käse und Salami auf seiner Zunge zergehen läßt und seinen beiden Generälen (Freunden!) dabei zusieht, wie sie ebenfalls ihre Pizza genießen, überkommt ihn so etwas wie eine Epiphanie.

Er wird nicht zulassen, dass jemals wieder etwas oder jemand zwischen ihnen steht.

„Wir müssen sie loswerden“, erklärt er mitten in ihr gemütliches Schweigen hinein und fängt sich dafür von seinen beiden Generälen verdutzte Blicke ein.

„Rika“, konkretisiert er mit gedämpfter Stimme.

Er erinnert sich gerade noch rechtzeitig an ihre neugierige Nachbarin und überprüft schnell den Verfremdungszauber um ihr Apartment, mit dessen Hilfe Crestia Bell sie zwar hören aber nicht verstehen kann und der aufgrund seiner Beschaffenheit keinen Verdacht bei ihr auslöst. Menschen wie sie neigen dazu, bei Stille mißtrauisch zu werden, aber wenn sie keine deutlichen Worte verstehen können, zweifeln sie eher an ihrem eigenen Hörsinn als einen Zauber dahinter zu vermuten, vor allem, wenn es sich um einen alten, vergessenen aus dem Himmel handelt.

„Und Chiho.“ Und als die beiden ihn nur auffordernd zunicken: „Natürlich nicht wortwörtlich, aber Suzuno hat recht: sie sind Menschen dieser Welt und wenn das so weitergeht, machen sie uns nur Probleme. Wenn wir sie uns vom Hals halten wollen, wird das zwar zwangsläufig Emis Zorn auf uns laden, aber das ist es wert. Ich bin es leid, ständig so zu tun, als würde ich Chihos Annäherungsversuche nicht bemerken, obwohl sich alles in mir bei ihrem Dackelblick, der süßen Stimme und dem ständigen Präsentieren ihrer Monstertitten zusammenkrümmt.“

An dieser Stelle schnalzt Alciel tadelnd mit der Zunge.

Lucifer dagegen nuschelt ein „sie sind wirklich enorm“, um seine Pizza herum.

Mao quittiert beides nur mit einem Lächeln.

„Chiho und Rika müssen sich endlich aus dem Kopf schlagen, dass wir gutes Heiratsmaterial sind. Und mir fällt da wirklich nur eine Möglichkeit ein.“ Er holt einmal tief Luft und macht eine theatralische Pause. „Sie lassen uns nur in Ruhe, wenn sie denken, dass wir schon vergeben sind. Und zwar nicht mit irgendeiner ominösen Ehefrau oder Verlobten in der Dämonenwelt, das ist zu unglaubwürdig. Es muss jemand aus dem Hier und Jetzt sein. Und wenn wir es geschickt anstellen, wird es Emi sein, die uns dabei hilft, Chiho und Rika davon zu überzeugen.“

Alciel runzelt nachdenklich die Stirn, während Lucifer leise zu kichern beginnt.

„Ernsthaft, Mao? So hinterhältig kenne ich dich gar nicht. Willst du ihr ernsthaft vorgaukeln, dass du und Alciel ein Paar seid?“

Alciels Augen weiten sich erschrocken, aber bevor er dazu etwas sagen kann, grinst Mao nur verschlagen.

„Nein, Lucifer, nicht Ashiya und ich. Das würde sie uns nie abkaufen, denn dazu leben Ashiya und ich schon viel zu lange unter einem Dach ohne dafür auch nur ein Anzeichen zu zeigen. Aber du und ich und Ashiya und du, das wäre eine überzeugende Kombination.“

„Was?“ japst Alciel neben ihm erschrocken auf.

Und Lucifer ... läßt sein Pizzastück fallen, starrt ihn für einen Moment einfach nur aus großen Augen an und bricht dann in hysterisches, wieherndes Gelächter aus.

 

 

XVII.

 

„Emi, ich weiß wirklich nicht...“ seufzt Suzuki Rika, während sie versucht, mit ihrer Freundin Schritt zu halten.

Sie bereut es wirklich, ihr ihr Herz ausgeschüttet zu haben. Schließlich war das Date für ein erstes Date doch gar nicht so schlimm. Ashiya mag nicht von hier stammen, aber er benimmt sich sehr japanisch und das heißt, ausgesprochen zurückhaltend und das hat sie einfach überrascht. Sie muss einfach ihre Erwartungen zurückstellen und Geduld zeigen.

Emi wirft ihr einen scharfen Blick über ihre Schulter hinweg zu und wäre in ihrer Hast beinahe über die erste Treppenstufe gestolpert.

„Du bist viel zu nett zu ihm“, erklärt sie, nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat. Für die restlichen Stufen hält sie sich vorsorglich am Geländer fest.

Rika folgt ihr ergeben. Hätte sie doch nur die Klappe gehalten! Das Ganze war schließlich nur ein einziges großes Mißverständnis. Was, wenn Emi ihr durch diese Aktion jetzt alles ruiniert? Das wäre schrecklich!

Aber wenn Emi sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht aufzuhalten, das hat Rika schon mehr als einmal hautnah miterlebt.

„Es ist schon spät“, versucht sie es ein letztes Mal. „Sie schlafen vielleicht schon.“

„Es ist nicht spät. Es ist gerade mal kurz nach zwanzig Uhr.“

„Ja, aber was ist mit Urushihara?“ verzweifelt greift Rika nach jedem möglichen Strohhalm. „Er ist krank, vielleicht schläft er schon?“

Emi, die inzwischen vor der Tür mit der Nummer 201 steht, und die Hand schon zur Türklingel ausgestreckt hat, wirft ihr einen verständnislosen Blick zu.

„Wen kümmert dieser abgebrochene Freak?“ meint sie in einem Tonfall als würde sie über ein ekelhaftes Insekt reden und drückt ihren Zeigefinger entschlossen auf den Klingelknopf. Das durchdringende Schrillen erscheint Rika heute besonders unangenehm.

Sie hören Geräusche aus der Wohnung und ein genervtes „jaja, komme ja schon“, aber dennoch nimmt Emi nicht den Finger von der Klingel. Rika wird die Sache mehr als peinlich und deshalb hält sie sich in gebührendem Abstand, bereit, so schnell wie möglich wieder umzudrehen.

Und doch ertappt sie sich dabei, wie sie glättend über ihre Bluse und ihren knielangen Rock streicht. Sie kommt direkt aus dem Büro und ist sich plötzlich nur zu gut der Knitterfalten durch das lange Sitzen bewusst.

Emi zieht erst ihren Finger zurück, als sie hören, wie das Schloß entriegelt wird.

Die plötzliche Stille ist geradezu ohrenbetäubend.

Und dann öffnet sich die Tür und Ashiya Shirō steht vor ihnen. Wie immer bei seinem Anblick spürt Rika, wie ihr Herz schneller zu schlagen beginnt, aber dann sieht sie genauer hin und ihre Wiedersehensfreude verwandelt sich in ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Es ist offensichtlich, dass sie ihn bei etwas gestört haben, doch noch weigert sich ihr Gehirn, die richtigen Verknüpfungen zu ziehen.

Emi mustert den Dämonen in menschlicher Gestalt vor sich abfällig. Er wirkt erhitzt, als hätten sie ihn eben bei einem anstrengenden Workout gestört. Obwohl das in seinem Fall dann wohl eher ein extremer Putzanfall gewesen wäre. Seine Wangen leuchten hochrot, auf seiner Stirn glitzern Schweißperlen und seine Frisur wirkt, als wäre er damit in einen Ventilator geraten. Sein derangierter Aufzug setzt sich auch in seiner Kleidung fort – das Shirt ist auf links gedreht und hängt unordentlich über einer Hose, die auch aussieht, als habe er sie sich gerade hastig übergeworfen. Der Gürtel fehlt, so dass er sie sich mit einer Hand festhalten muß. Und – Emi blinzelt irritiert – er ist barfuß.

Doch sie fasst sich schnell wieder.

„Stören wir dich bei irgend etwas?“ erkundigt sie sich spitz und macht Anstalten, die Wohnung zu betreten, doch er macht ihr einen Strich durch die Rechnung, indem er einen Schritt hinaus zu ihnen in den Korridor geht und die Tür hinter sich schließt.

„Kann man so sagen...“, entgegnet er dabei ungewohnt schroff, „was wollt ihr?“

Wow. Zum ersten Mal klingt er wie der Dämon, der er ist. Sie wußte doch, dass seine Höflichkeit nur eine billige Maskerade ist. Aber davon lässt sie sich doch nicht abschrecken!

„Wolltest du dich nicht bei Rika entschuldigen?“

Ashiya starrt sie einen Moment lang einfach nur an, streicht sich dann ergeben seufzend eine blonde Haarsträhne zurück und wendet sich dann an Rika.

„Es tut mir leid, Suzuki-san“, meint er in einem so gleichmütigen Tonfall, als würde er übers Wetter reden. „Es lag nicht in meiner Absicht, dir den falschen Eindruck zu vermitteln, dass ich romantische Absichten dir gegenüber hege und noch Single wäre.“

„Oh...“ Rika schluckt einmal schwer. Sie erkennt ihn nicht wieder. Wo ist der freundliche, warmherzige Mann geblieben, den sie kennengelernt hatte? „Ich... ist schon gut. Es war ein Mißverständnis. Ich muss mich entschuldigen. Für die späte Störung.“

Sie verbeugt sich hastig. Sie will nur noch eines: schnell von hier verschwinden. Das ist so peinlich!

Emi funkelt Ashiya böse an. In diesem Moment wird hinter ihm die Tür zurückgeschoben und eine ihnen nur allzu bekannte Gestalt erscheint auf der Schwelle.

„Shiiiirōōōōō.. komm wieder rein, mir ist kaaaaalt“ greint Lucifer, während er sich an Ashiyas rechte Seite presst. Seine gesunde Hand vergräbt sich besitzergreifend auf Brusthöhe in Ashiyas Shirt, während er die beiden Frauen unter unordentlich ins Gesicht fallenden, violetten Haarsträhnen ungnädig anfunkelt. Er trägt nur ein ihm viel zu großes Shirt, das ihm bis zu den Knien reicht. Größe und Schnitt lassen daraus schließen, dass es eigentlich Ashiya gehört.

„Was wollt ihr hier?“ faucht er die beiden Frauen an. „Glaubt ihr, wir sind ein Restaurant oder so, wo ihr euch durchschnorren könnt, wann immer ihr wollt? Sucht euch ein Privatleben und stört nicht immer diejenigen, die eins haben. Wir sind beschäftigt.“

„E-Entschuldigung.“ Rika will sich zurückziehen, aber Emi ist sauer.

Sie versucht wieder, sich in die Wohnung zu drängen, aber die beiden weichen keinen Zentimeter.

„Wo ist Mao?“ verlangt sie zu wissen, während sie sich bemüht, an ihnen vorbei einen Blick in die Wohnung hinter ihnen zu erhaschen. Und sie wünschte sofort, sie hätte es unterlassen, denn die durchwühlten Decken auf dem ausgebreiteten Futon lassen nicht viel Spielraum für Interpretationen.

„Er ist nicht hier“, schnappt Lucifer zurück, der immer noch an Ashiya hängt wie eine Klette. „Er ist in den Onsen gegangen. Er weiß, was sich gehört.“

Emi spürt, wie eine Ader auf ihrer Stirn zu pochen beginnt.

„Was ist das hier für ein mieses Spiel?“ faucht sie ihn aufgebracht an. „Glaubt ihr im Ernst, ich nehme euch dieses Quatsch ab? Ihr beide? Das soll doch wohl ein schlechter Witz sein! Da müsst ihr euch schon was Besseres einfallen lassen, wenn ich euch das glauben soll!“

Ashiya ignoriert ihr Geschrei und wendet sich stattdessen an Rika.

„Suzuki-san, wie du siehst, gehöre ich schon Hanzō.“ Er klingt aufrichtig entschuldigend, aber das ist für Rika nur ein kleiner Trost.

Dann muss sie mit ansehen, wie der Mann ihrer Träume Urushihara einen Arm um die Hüften schlingt und ihn fester an sich drückt, während er gleichzeitig liebevoll auf ihn hinunterlächelt.

„Ich wollte eigentlich warten, bis er volljährig ist, aber nachdem er aus dem Fenster fiel und fast gestorben wäre, habe ich beschlossen, ihm meine Liebe zu gestehen.“

Für einen Moment lächelt Urushihara zurück und das ist das verliebteste Lächeln, das Rika je in ihrem Leben gesehen hat. Aber damit ist es schlagartig vorbei, als er sich Rika zuwendet. Gefährlich funkelnde violette Augen bohren sich warnend in ihre.

„Er gehört mir, Suzuki Rika.“

Unwillkürlich läuft ihr ein Schauder über den Rücken. Urushihara ist fünfzehn Zentimeter kleiner als sie – fünfundzwanzig, wenn man ihre High Heels miteinrechnet - und nur ein Teenager, aber die Art, wie er sich an Ashiya klammert lässt sie keine Sekunde daran zweifeln, dass er auch sehr, sehr besitzergreifend sein kann.

Und gefährlich.

„Ich sehe es. Ich … nun … ich entschuldige mich erneut.“ In ihren Augen glänzen Tränen, als sie sich ein letztes Mal verbeugt.

Es gelingt ihr, die Fassung zu bewahren, bis sie sich umdreht und in den Schatten des Korridors verschwindet.

„Rika! Warte!“ ruft Emi ihr nach, doch diese eilt weiter, als habe sie sie nicht gehört.

Wütend funkelt Emi die beiden Dämonen an.

„Ihr Mistkerle! Nur damit ihr es wisst: ich glaube euch kein Wort!“

Lucifer lächelt arrogant.

„Musst du auch nicht. Aber zu deiner Information: wir sind seit hundert Jahren durch einen Blutschwur aneinander gebunden. Und Mao hat sogar noch viel länger Anspruch auf mich. Es ist eben nicht immer alles so, wie du glaubst.“

Ashiya nickt zustimmend.

„Hier auf der Erde hatten wir aufgrund der verschiedenen Ereignisse und mit Rücksicht auf unsere Integration in die hiesige soziale Gemeinschaft eigentlich beschlossen, eine längere Pause einzulegen. Unglücklicherweise führte das nur zu weiteren Spannungen, weil man einen Blutschwur niemals ignorieren sollte. Und dann hatte Urushihara seinen Unfall und das öffnete uns die Augen. Es war unsere Schuld, dass er aus dem Fenster fiel. Mao-sama und ich konnten den Gedanken nicht ertragen, dass er sich von Menschen berühren lässt und verloren die Fassung.“ Lächelnd drückt er den gefallenen Engel an seine Seite. „Urushihara Hanzō... Lucifer gehört uns.“

„So ist es, mein süßer Skorpion“, schnurrt Lucifer zurück.

Bah! Sie muß sich gleich übergeben.

„Beweist es! Ich will es sehen! Küsst euch!“

Ashiya mustert sie herablassend.

„Wie kannst du es auch nur in Betracht ziehen, du seist es wert, Zeuge eines solch intimem Momentes zwischen uns zu werden?“

„Natürlich weigert ihr euch“, erwidert sie höhnisch. „Ihr könnt es nicht beweisen. Weil das alles ganz großer Quatsch ist.“ Sie hebt die Hand und piekst Ashiya damit mitten auf die Brust. „Noch vor vier Tagen ist diese kleine Pest mit jedem ins Bett gegangen, der ihm dafür genug Geld gab. Wenn du dir schon eine Beziehung aus den Fingern saugen musst, nur, weil du zu feige bist, um dich auf Rika einzulassen, warum nimmst du dann nicht jemanden, der mehr wert ist als diese kleine Hure?“

Ashiyas Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen und er knirscht hörbar mit den Zähnen.

„Das nimmst du zurück. Sofort. Niemand beleidigt meinen Engel!“

„Oh“, lächelt sie fies. „Aber das habe ich doch eben getan.“

Ashiya starrt sie einen Herzschlag lang einfach nur wortlos an. Für einen schicksalshaften Moment scheint es, als wolle er sie schlagen, doch da zieht Lucifer ihn an seinem Arm zurück in die Wohnung.

„Sie ist es nicht wert, mein Großer.“

Und ehe es sich Emi versieht, starrt sie nur noch auf die geschlossene Wohnungstür.

 

 

XVIII.

 

Alciel ist wirklich wütend.

Er hätte dieser unverschämten Heldin für ihre beleidigenden Worte nur zu gerne eine gescheuert. Sein Zorn nimmt ihn so gefangen, dass er erst bemerkt, dass er sich schon längst wieder in der Wohnung befindet, als er den weichen Futon unter sich fühlt. Und dann, ganz plötzlich, sitzt ein Bündel gefallener Engel auf seinem Schoß.

„Sie ist noch da“, wispert Lucifer in sein linkes Ohr, während er ihm die Arme um den Nacken schlingt. „Und sie beobachtet uns.“

Alciel schielt aus dem Augenwinkel hinüber zu dem schmalen Küchenfenster und tatsächlich starren zwei neugierige Augen unter einem roten Haarschopf zu ihnen hinein. Diese Frau besitzt wirklich überhaupt kein Schamgefühl.

„Lass uns überzeugend sein“, murmelt Lucifer.

Sein Atem ist ein warmer Hauch gegen Alciels Ohr. Und plötzlich ist dieser sich des warmen, geschmeidigen Körpers so dicht an seinem nur allzu gut bewußt und das lässt ihn unwillkürlich erschauern.

Es ist nur Theater, erinnert sich Alciel.

Es ist alles arrangiert – die unordentlichen Decken, die schlampige Kleidung und die Tatsache, dass Lucifer sein Shirt trägt. Sogar seine roten Wangen und sein verschwitztes Aussehen sind künstlich hervorgerufen. Der „Schweiß“ ist Wasser und seine Gesichtsfarbe stammt von Lucifers kneifenden und reibenden Fingern. Zum Glück stolpert Emi immer so laut die Treppe hinauf - die eine Minute genügte völlig, um sich „herauszuputzen“.

Alles nur Theater.

Aber warum fühlt es sich dann nur so unheimlich gut an, wenn Lucifer auf seinem Schoß sitzt, ganz so, als gehöre er dorthin?

Warum stockt ihm bei einem Blick in diese violetten Augen der Atem und warum kommt er ihm auf halbem Wege entgegen, als er sich anschickt, ihn zu küssen?

Und das, obwohl es in Alciels Clan geradezu als verpönt gilt, sich gegenseitig auf den Mund zu küssen? In seinen ganzen 1.573 Jahren hat er noch niemals das Verlangen verspürt, auf diese Art zu küssen – nicht freiwillig, nicht von sich aus und schon gar nicht außerhalb der Paarungszeit.

Außer jetzt.

Und ehe er es sich versieht, wird aus einem gut geplanten Theaterstück Ernst. Gierig verkrallen sich seine Finger in Lucifers Rücken, er spürt und hört, wie der Stoff seines (!) Shirts unter seinen Nägeln reißt, doch das interessiert ihn nicht, alles, was er will, ist diesen warmen, geschmeidigen Körper ganz fest an sich zu drücken und ihn nie, nie wieder loszulassen.

 

 

Es ist nur ein Schauspiel. Ich spiele nur eine Rolle, mehr nicht.

Das sagte sich Lucifer von Anfang an. Und die Reaktionen der beiden Frauen waren es wirklich mehr als wert.

Aber warum fällt es ihm nur so schwer, damit aufzuhören?

Warum fühlt es sich so gut an?

Es sollte sich nicht so gut anfühlen.

Es sollte sich so anfühlen wie mit den Menschen - gezwungen, anstrengend, widerwärtig.

Aber stattdessen ertrinkt er hier regelrecht in solch starken, positiven Emotionen, wie er sie schon lange nicht mehr erleben durfte. Das letzte Mal fühlte er etwas ähnliches, als er seine Flügel ausbreitete und durch die Wolken glitt - nur aus reinem Spaß am Fliegen. Wärme durchflutete sein Inneres und sein Herz jubilierte - genau wie jetzt.

Er verspürt plötzlich dieses elektrisierende Prickeln in seinen Schulterblättern, und für einen Moment, einen kurzen, kostbaren Moment, kann er sie spüren.

Seine Flügel.

Doch die erlösende Explosion, die normalerweise in der Manifestation seiner Schwingen endet, bleibt aus. Es tut weh, als würde ein Riß mitten durch seine Seele gehen, aber der Schmerz vergeht schnell, als Alciels Zunge seine Mundhöhle zu plündern beginnt.

 

 

Endlich geht sie.

Erleichtert gleitet Mao vom Waschtisch herunter und legt den kleinen Taschenspiegel wieder zurück ins dazugehörige Fach. Allmählich kam er sich schon vor wie ein Knastbruder, wie er da auf dem Waschtisch balancierte, um aus dem schmalen Fenster mithilfe eines Spiegels einen mehr schlechten als rechten Blick auf Emilia dort draußen auf dem Korridor zu werfen. Und dann konnte er doch nicht viel mehr als ihren leuchtend roten Haarschopf sehen. Es war trotzdem eindeutig, dass sie durch das Küchenfenster spionierte. Sie ließ sich ziemlich viel Zeit dabei, seine Armbanduhr verrät ihm, dass sie mindestens drei Minuten da stand.

Er wartet, bis er sie die Treppe hinunter poltern hört, und lässt dann sicherheitshalber noch eine weitere Minute verstreichen, bevor er sich anschickt, sein Versteck zu verlassen.

Breit grinsend und sehr zufrieden mit seinem gelungenen Plan, schiebt er die Tür beiseite.

„Oi, Jungs...“ Er stockt mitten im Satz.

Die beiden fahren sofort auseinander, als sie seine Stimme hören – eher gesagt, springt Lucifer geradezu von Alciels Schoß und sitzt dann einen halben Meter entfernt in betont unschuldiger Pose da, aber mit hochrotem Gesicht, während Alciel dagegen regelrecht zur Salzsäule erstarrt.

„M-Mylord“, bringt er schließlich mit zitternder Stimme hervor und schenkt ihm ein viel zu breites Lächeln. „E-es scheint, als hätte unsere kleine List funktioniert.“

Mao mustert ihn mit hochgezogenen Brauen und versucht, sich ein noch breiteres Grinsen zu verkneifen. Seinen sonst immer so kontrollierten General so erregt zu erleben, besitzt einen gewissen Reiz. Ihn zu foppen ist geradezu ein zwingendes Muss.

„Sehr schön, Ashiya. Ich habe auch nichts anderes von euch erwartet. Auch wenn du dich vielleicht ein wenig zu sehr hineingesteigert hast, wenn ich mir deine Hände so ansehe.“

Verdattert wirft Alciel einen Blick auf seine Hände und läuft noch röter an.

„D-das...“ verlegen versucht er, seine dämonischen Chitinkrallen erst zurückzuverwandeln und, als ihm das nicht gelingt, diese in den Ärmeln seines Shirts zu verstecken. „D-das... Verzeiht mir, Mylord. Das ist mir sehr peinlich...“

„Lass ihn in Ruhe, Satan Jacobu.“ Aufgebracht funkelt Lucifer seinen König an – und die Tatsache, dass er Maos wahren Namen benutzt, unterstreicht nur, wie zornig er wirklich ist. „Emi hat uns die ganze Zeit über beobachtet und es sollte doch echt wirken, oder? Jetzt mach dich nicht über ihn lustig, er hat nur deinen Befehl befolgt. Es war schließlich deine Idee, dass wir als Pärchen auftreten.“

„Du hast recht.“ Beschwichtigend hebt Mao die Hände und setzt sich zu ihnen. Mit einem verschmitzten Funkeln in den rötlichen Augen legt er jedem der beiden einen Arm um die Schultern. Und in diesem Moment fühlt es sich wieder an wie früher, wo sie gemeinsam irgendwelche Pläne schmiedeten, um Maos Macht zu stärken.

„Aber wißt ihr auch, was mir klar wurde, als ich Emi vom Bad aus beobachtete?“ Verschwörerisch senkt er die Stimme. „Wenn wir wirklich überzeugend sein wollen, dürfen wir keine Sekunde lang nachlassen. Wir können es uns nicht leisten, dass nur irgend ein klitzekleiner Zweifel an der Ernsthaftigkeit unserer Beziehung aufkommt.“ Er hält einen Moment inne, bis er spürt, wie sich die beiden unwillkürlich versteifen, als sie begreifen, was er damit meint.

„Und deshalb, Lucifer“, fährt er dann aufgeräumt fort, „teile ich diese Nacht mit dir meinen Futon. Tut mir leid, Ashiya.“

„Euer Wunsch ist mir Befehl, Mylord“, erklärt Alciel, zwar vom Geschehenen noch erschüttert, aber er gewinnt langsam seine Fassung zurück. Es genügt jedenfalls, um seine Enttäuschung erfolgreich zu verbergen.

Doch zu seiner großen Überraschung ist es ausgerechnet Lucifer, der ihm – wenn auch ohne es zu wissen – Schützenhilfe gibt.

„Oi, Mao-baka, ich bin nicht dein Haustier. Ich entscheide selbst, wo ich mich hinlege. Ihr beide werdet schön eure Futons zusammenschieben und ich liege dann direkt in der Mitte. Und ich will ein eigenes Kopfkissen und eine eigene Decke.“

Mao-baka kichert vergnügt und wuschelt ihm – vorsichtig, wegen der Naht am Hinterkopf – durchs violette Haar.

„Ganz wie du wünschst, Lucifer. Wenn du dafür dein jetziges Outfit nicht änderst. Ashiyas Shirt steht dir einfach nur zu gut.“

Alciel neben ihm seufzt nur.

Lucifer dagegen wirft ihm einen argwöhnischen Blick zu. „Aber meine Shorts darf ich mir noch anziehen?“

„Nein“, erwidert Mao entschieden. „Das ist sexy, so, wie es ist. Und …“, breit grinsend legt er seine Hand auf Lucifers rechtes Knie und streichelt sich dann unter dem Shirt über den nackten Oberschenkel. Lucifers Augen werden schmal, doch er sagt nichts.

„Du bist mein Ehemann, nicht vergessen“, schnurrt Mao. Er weiß selbst nicht, woher er den Mut dazu nimmt. Die frechen Sprüche stammen aus seinen Mangas und diese wolllüstige Geste ebenfalls. Aber es macht Spaß. „Ich brauche Zugriff. Jederzeit.

Entschlossen schiebt Lucifer Maos freche Hand beiseite.

„Das musst du mit meinem anderen Ehemann absprechen“, erklärt er kühl, aber mit einem unverkennbar amüsierten Funkeln in den Augen.

Dann windet er sich unter Maos Arm hindurch und krabbelt anderthalb Meter weiter, wo er sich an seinen kleinen Tisch mit dem Laptop hinhockt.

„Ich zocke noch etwas, bis ihr das geklärt habt“, meint er dabei, klappt den Bildschirm hoch, schaltet den Laptop ein und stülpt sich dann seine Kopfhörer über die Ohren.

 

 

IXX.

 

Mist!

Da hat er extra noch länger im Internet gesurft – und ja, diesmal hat er tatsächlich nach möglichen Machtquellen recherchiert und ist dabei wieder mal bei irgendwelchen irdischen Göttersagen hängengeblieben (es ist wirklich faszinierend, wie viel Fantasie die Menschen von der Erde haben und das alles ist nur einen Mausklick entfernt!) - und bis Mitternacht gewartet, bis er ganz sicher war, dass die beiden Idioten schlafen, bevor er sich zwischen sie legte, nur, um festzustellen, dass zumindest einer von ihnen nicht so fest schläft, wie er dachte.

„Was wird das, wenn's fertig ist?“ grollt Lucifer und gibt der aufdringlichen Hand, die es sich auf seiner rechten Hüfte bequem macht, einen festen Klaps.

Mao hinter ihm gibt einen leisen Schnaufer von sich, doch anstatt seine Hand von dort fortzunehmen, schlingt er ihm stattdessen nun den ganzen Arm um die Taille und zieht ihn näher zu sich heran.

Lucifer erstarrt innerlich und äußerlich, wenn auch Letzteres nur für eine Sekunde, doch die genügt Mao, um ihm den nächsten Schock zu versetzen.

„Hmmmm...“ Der Ton setzt sich vibrierend über Lucifers Halswirbel fort, als Mao sein Gesicht in seinen empfindlichen Nacken schmiegt.

„Du bist spät. Muss ich dir doch die Internetzeit beschränken?“ Sein Atem ist ein warmer Hauch auf seiner Haut und dringt ihm durch Mark und Bein.

Lucifer unterdrückt ein Schaudern.

„Was tust du da?“ wispert er entsetzt und versucht, mit seiner rechten Hand Maos Unterarm zu umklammern. Doch die Finger seines gebrochenen Arms sind zu schwach, sie hinterlassen höchstens ein paar Kratzer.

Unbeirrt finden Maos Finger ihren Weg unter Lucifers Shirt und wandern nun wie kleine, heiße Flammen über seinen flachen Bauch.

„Du hast dich umgezogen“, murmelt Mao tadelnd und enttäuscht zugleich.

„Hast du was anderes erwartet?“ kommt es herausfordernd zurückgezischt.

„Nein.“ Das Schmunzeln ist deutlich aus Maos Stimme herauszuhören und für einen Moment reibt er seine Nase neckisch an Lucifers Nacken. Dieses Schaudern kann Lucifer diesmal nicht unterdrücken.

Mao grinst heimlich in sich hinein. Er kann Lucifers Angst spüren, und normalerweise würde er ihn sofort in Ruhe lassen, aber das ist nicht nur Furcht. In seinem General und gefallenen Engel ist noch etwas ganz anderes erwacht.

Und wäre er selbst nicht so müde, würde er das jetzt weidlich ausnutzen. So aber knabbert und leckt er nur träge an diesem schönen Nacken herum. Anfangs zuckt Lucifer noch zusammen, aber es dauert nicht lange, bis er sich langsam entspannt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Maos Hand nicht weiterwandert und nur locker auf seinem Bauch liegenbleibt.

Ja, Mao gibt es zu: er hat schon immer gerne gekuschelt, konnte sich dies aber früher nicht leisten. Niemand respektiert einen Dämonenkönig, der sich nach körperlicher Nähe sehnt. Außerdem gewöhnt seine rauhe und gefährliche Heimat diese Gefühle schon den Kleinsten schnell ab. So sehr, dass sie zu Kindern werden, die nur mit der Faust zu streicheln wissen und das für völlig normal halten.

Mao kann nicht für die anderen sprechen, aber von sich selbst weiß er, dass es Dinge gibt, die einem Streicheln sehr nahe kommen und die er daher häufig bei sich beobachtete: Alciel eine Hand auf die Schulter zu legen zum Beispiel. Ein übermütiger Ellbogenstoß zwischen Alciels Rippen. Ein kameradschaftliches Schulterklopfen. Oder Lucifer die Hand auf den Kopf zu legen.

Hier in der Menschenwelt, fernab der Heimat und in diesem Menschenkörper (dessen Unzulänglichkeit er dann die Schuld geben kann), kann er sich viel mehr Gefühlsregungen gestatten und davon macht er nur zu gerne Gebrauch.

Jetzt kann er seinen Engel in den Armen halten – und der läßt es sogar zu! Endlich. Es erscheint ihm, als habe er schon seit Ewigkeiten darauf gewartet.

Und nicht nur, dass er ihn hält – genau wie heute im Pavillon durchströmt ihn die Erkenntnis, etwas Atmendes, Lebendiges zu halten und er läßt sich nur zu bereitwillig in dieses warme Gefühl hineinfallen.

Er muss das auch mit Alciel ausprobieren und überprüfen, ob er das bei ihm genauso intensiv empfindet.

Mit sich und der ganzen Welt zufrieden, wickelt er sich fester um Lucifer und gleitet warm und sicher ins Land der Träume hinüber.

 

 

Ich bin nicht dein verdammter Teddybär.

Genervt runzelt Lucifer die Stirn, und zuckt wieder etwas zusammen, als er spürt, wie sich Mao fester gegen seinen Rücken presst und ihm dadurch etwas verdächtig Hartes gegen den Hintern drückt. Sekundenlang schwankt er, ob er sich beschweren soll, aber dann verraten ihm Maos tiefer werdende Atemzüge, dass dieser eingeschlafen ist und er verzichtet darauf.

Mao ist ihm einen Hauch zu aufdringlich, vor allem, weil sie jetzt keine neugierigen Zuschauer bespaßen müssen und es fällt ihm schwer, nicht irgendwelche Hintergedanken bei Mao zu befürchten, wenn dieser sich plötzlich so anschmiegsam ihm gegenüber benimmt. Der Mann ist sehr körperbetont, das sieht man deutlich an der Art, wie Alciel und er miteinander umgehen, aber bisher ist es Lucifer immer gelungen, seine Distanz zu wahren. Bisher.

Er will es nicht. Solange sein Gehirn noch so matschig und träge ist, kann er darüber hinwegsehen, aber wenn das so weitergeht, wird es ihm noch gefallen. So wie heute diese ruhige Stunde im Pavillon.

Aber das kann er sich in seiner Situation einfach nicht leisten! Im Moment ist er völlig wehr- und schutzlos, er ist leichte Beute und es kratzt empfindlich an seinem Stolz, auf die Hilfe und den guten Willen seiner beiden … Freunde angewiesen zu sein. Das letzte, was er jetzt noch gebrauchen kann, ist der Beginn einer emotionalen Abhängigkeit.

Wenn es schon so sehr schmerzte, von den beiden auf dem Schlachtfeld zurückgelassen worden zu sein, mag er sich gar nicht vorstellen, wie es erst schmerzt, wenn er sich wirklich auf die beiden einlässt und wieder etwas in der Art passiert.

Lucifer kennt sich. Wenn das geschieht, wird er sich nicht damit zufriedengeben, sie tödlich zu verletzen, sondern es wirklich ernst meinen. Es wäre nicht das erste Mal, dass das Blut geliebter Personen an seinen Händen klebt. Die ersten tausend Jahre seines Lebens wurden quasi davon bestimmt. Ironischerweise half ihm genau diese dunkle Seite, seinen Posten als höchster Erzengel zu verteidigen. Die restlichen dreitausend Jahre zehrte er von seinem Ruf, unerbittlich zu sein. „Gott“ war so stolz auf ihn und er hasst sie noch heute dafür. Von seiner Geburt bis zu dem Zeitpunkt, wo er den Himmel (und sie!) verließ, hat sie ihn manipuliert und benutzt wie das willige Werkzeug, als welches sie ihn schuf.

Eine leichte Berührung an seiner verletzten Hand schreckt ihn aus seinen dunklen Gedanken.

Er blinzelt und starrt direkt in Alciels lächelndes Gesicht. Das kann er Dank des durchs Fenster scheinenden Mondlichts deutlich erkennen.

Behutsam verschlingt Alciel ihre Finger miteinander.

„Schlaf, Lucifer“, wispert er dabei. „Es wird alles gut.“

Aus irgendeinem Grunde hat Lucifer plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Unwillkürlich kommt ihm wieder der Kuss in den Sinn, den sie vor gar nicht mal vier Stunden geteilt haben.

„Gute Nacht, Alciel“, flüstert er mit belegter Stimme.

Dieser lächelt noch ein wenig breiter und drückt sachte seine Finger.

„Gute Nacht, Lucifer.“

 

 

Alciel kann es nicht abstreiten: er ist eifersüchtig. Lucifer in den Armen seines Königs zu sehen, verursacht ihm einen unangenehmen Druck auf der Brust. Es ist nur nicht leicht herauszufinden, an welche Stelle er sich wünscht: würde er gerne wie Lucifer von seinem König gehalten werden oder würde er gerne selber Lucifer halten? Das ist verwirrend.

Und noch verwirrender für ihn ist, dass er überhaupt so fühlt.

Allmählich kommt ihm der Verdacht, dass dies mit Lucifers Magie in Verbindung stehen muss, die so honiggolden und schwer am Grunde seines Magiekerns liegt. Sie hat sich nie mit seiner eigenen vermischt, aber dennoch zehrt er von ihr und manchmal, wenn er die Augen schließt, kann er es sehen: ein zäher, träger Fluss, in den seine eigene Magie ein Geflecht aus Wurzeln geschlagen hat und sich genau wie ein Baum davon nährt. Das hat parasitäre Züge, die er sich weigert zu akzeptieren.

Und seit wann ist Lucifers Magie golden? Sie war bisher immer violett. Die Farbe der Magie ist einzigartig, und so unveränderbar wie die Naturgesetze. Und sie war ganz bestimmt nicht golden, als sie sie ihm stahlen.

Was hat das alles zu bedeuten?

Über all diese Gedanken muss Alciel eingeschlafen sein, denn als er die Augen das nächste Mal öffnet, ist es früher Morgen, dem Stand der Sonne nach kurz vor dem Weckerklingeln und etwas Schweres liegt auf seiner Brust. Seltsamerweise muss er gar nicht hinuntersehen, um zu wissen, worum es sich dabei handelt. Lächelnd legt er seine linke Hand auf Lucifers Kopf und beginnt träge durch dieses violette Haar zu streicheln.

Der Engel liegt auf der Seite und quer auf den zusammengeschobenen Futons, und während er mit Kopf und Schultern auf Alciels Oberkörper ruht, die Finger in Alciels T-Shirt vergraben, hat sich Mao um Lucifers angewinkelte Beine geschlungen und hält seine nackten Waden in einer besitzergreifenden Umarmung gefangen. Maos Gesicht ist nur fünfzig Zentimeter von Alciels Schulter entfernt und er wirkt so ruhig und entspannt wie selten zuvor.

Wie von selbst landet Alciels freie Hand in Maos zerzaustem Haarschopf. Und bis zum Weckerklingeln ist er ein sehr, sehr glücklicher Dämon.

 

 

XX.

 

 

Ah, welch ein ruhiger Tag!

Es ähnelt fast seinen ersten Monaten hier in der Menschenwelt, als sein König schwer im Schweiße seines Angesichtes schuftete und Alciel stundenlang allein in Apartment 201 weilte und sich um all die tausend kleinen Dinge kümmerte, die nötig sind, um dies hier in ein heimeliges Zuhause zu verwandeln. Niemand störte seine Kreise und verteilte überall seine Krümel, niemand ließ an den unmöglichsten Stellen irgend etwas liegen und alles hatte seinen rechtmäßigen Platz. Aber so ruhig und friedlich und ordentlich es damals auch war, so fühlte er sich doch auf Dauer recht einsam, so ganz allein.

Und egal, wie nervtötend und frustrierend der gefallene Engel sein konnte – mit seinem Einzug in ihr sechs-Tatami-Matten-Apartment änderte sich das.

Um Alciels Lippen spielt ein zufriedenes Lächeln, als er einen schmutzigen Teller ins Seifenwasser taucht und mit einem Schwamm bearbeitet.

Das Gute daran, wenn man das Geschirr per Hand abwäscht, ist – jedenfalls nach Alciels Meinung - dass man dabei gut nachdenken kann. Die gleichmäßigen Bewegungen und das warme, schaumige Wasser können eine meditative Wirkung haben.

Hinter sich hört er leises Tasten- und Mausklicken und auch das hat heute eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Urushihara … Lucifer noch genauso vor seinem Laptop sitzt wie vor einer halben Stunde. Der Anblick seiner zierlichen Gestalt, wie er sich dort in ungesunder Haltung hinlümmelt und immer mit diesen riesigen Kopfhörern auf dem violetten Haarschopf, hat sich in den letzten Wochen regelrecht in Alciels Netzhaut eingebrannt.

Doch heute ist wirklich ein besonderer Tag, denn bislang kam von Lucifers Seite aus noch kein schnippisches Kommentar, kein spöttisches Schnauben und kein Augenrollen. Stattdessen umgibt ihn eine ungewohnte Aura von allgemeiner Zufriedenheit. Das letzte Mal war er so in der Dämonenwelt und vor ihrem Krieg gegen Ente Isla. Immer, wenn er von seinen kleinen privaten Ausflügen zurückkehrte. Ausflüge, die darin bestanden, dass er einfach nur so herumflog. Alciel kann diese Einstellung nicht teilen, für ihn muss es immer ein Ziel geben, ihm käme es nie in den Sinn, einfach nur so, aus Freude daran, seine Kräfte derart zu verschwenden.

Die Menschen haben hier ein passendes Sprichwort dafür: Ein fleißig Mühlrad friert nicht ein.

Und er ist dieses Mühlrad. Er muss aktiv bleiben, ein Ziel verfolgen.

Fürs Herumlungern und unnötige Energieverschwendung ist Lucifer zuständig.

Aber Alciel will sich nicht beschweren. Nicht heute. Nicht, wenn im Castle eine solch friedliche Stimmung herrscht. Und vor allem nicht, da Lucifer freiwillig seine Computerecke aufgeräumt und Alciel dabei geholfen hat, die Wäsche auf die Leine zu hängen. Ohne dass Alciel ihn darum bitten musste.

Doch dann überfällt es ihn siedendheiß und ihm wäre vor Überraschung beinahe der Teller aus der Hand gerutscht.

Denn das war genau das, was er sich von Lucifer gewünscht hat, nicht wahr?

Alciel erstarrt und starrt sekundenlang einfach nur ins schaumige Abwaschwasser. Einerseits freut er sich natürlich darüber, andererseits verspürt er jetzt aber auch ein schlechtes Gewissen. Und … es hätte etwas viel, viel Wichtigeres gegeben, worum er ihn hätte bitten können... nein, sogar hätte bitten müssen.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

Gründlich wiegt Alciel das Für und Wider gegeneinander ab und beschließt dann, dass es einen Versuch wert ist, auch auf die Gefahr hin, ihren momentanen Waffenstillstand … oder Frieden (?) zu riskieren.

„Weißt du, Lucifer...", beginnt er gedehnt, während er sich langsam umdreht. Es ist vielleicht nicht der beste Auftakt, doch er erfüllt seinen Zweck.

„Hm?" Lucifer schiebt sich den Kopfhörer in den Nacken, dreht sich zu ihm um, faltet seine Beine in den Schneidersitz und legt fragend des Kopf schief.

Für einen Moment starrt Alciel ihn nur wie gebannt an - denn Herrje, ist das ein niedlicher Anblick - dann erinnert er sich wieder, was er sagen wollte.

„Weißt du“, wiederholt er zögernd, „... es gab viele Dinge, die ich dir vorgestern bei unserer Aussprache noch sagen wollte, und inzwischen frage ich mich, ob ich nicht etwas anderes hätte wählen sollen."

Lucifer rutscht sofort in die Devise, versucht es jedoch, mit etwas Galgenhumor zu kaschieren. „Oje, was kommt jetzt?"

„Nichts Schlimmes."

„Okaaay?" Lucifer klingt nicht überzeugt und er ist es auch nicht. Er befürchtet wieder eine gewaltige Kritik an seinem Charakter, dabei war er heute wirklich nett zu dem großen Dämon. Außerdem tat es gut, mal seine Hände – okay, seine eine Hand – zu benutzen und sich etwas mehr zu bewegen, es lenkte ihn von den dunklen Gedanken ab, die auch jetzt immer noch am Rande seines Bewußtseins lauern. Darüberhinaus will er den zerbrechlichen Frieden zwischen ihnen nicht gefährden.

Alciel seinerseits beschließt, dass es für dieses Gespräch besser wäre, wenn sie sich eher auf Augenhöhe begegnen, also stellt er den Abwasch jetzt mal hintenan und setzt sich auf seinen bevorzugten Platz an ihrem niedrigen Tisch. Lucifer legt den Kopfhörer beiseite und rutscht zaghaft näher, bis sie sich gegenüber sitzen.

Alciel schenkt ihm ein kleines, unsicheres Lächeln.

„Es wäre etwas gewesen, was mir wichtig war, aber du verstehst sicher, dass das Wohl unseres Königs immer an erster Stelle kommt?"

„Für dich vielleicht...", brummt Lucifer, doch da er damit nur die Wahrheit ausspricht, honoriert Alciel das mit einem ernsten Nicken.

Plötzlich unglaublich verlegen, weiß er nicht, was er mit seinen Händen machen soll und faltet sie vor sich auf dem Tisch. Dann fährt er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und räuspert sich einmal.

„Ich wünschte mir“, beginnt er vorsichtig, sucht nach Lucifers Blick und hält ihn fest, „du wärst offener mir gegenüber. Du warst schon immer eher der distanzierte Typ, und das ist auch völlig in Ordnung so, aber jetzt bist du regelrecht verschlossen. Man kommt gar nicht mehr an dich heran und das gibt mir das Gefühl, du sperrst mich aus und das... schmerzt."

Lucifer liegt ein sehr, sehr schnippisches Kommentar auf der Zunge, doch ein Blick in Alciels traurige Augen und er verbeißt es sich. Alciel meint es tatsächlich ernst und leidet darunter, oder?

Und weil Alciel – aus welchen geheimnisvollen Gründen auch immer – sich heute noch nicht über ihn beklagt oder ihn zu irgend etwas gedrängt hat, sondern ihn, seit Mao die Wohnung verlassen hat, einfach nur in Ruhe ließ, und sich auch jedes Kommentar sparte, als Lucifer ihm freiwillig bei einigem zur Hand ging, verdient er eine ehrliche Antwort.

„Alciel, schon im Himmel ist es mir zur zweiten Natur geworden, niemanden an mich heranzulassen. Das ist nichts Persönliches, es ist nur einfach sicherer. Für alle Beteiligten. Du hast doch am eigenen Leibe erfahren, wie grausam ich werden kann, wenn ich mich betrogen fühle. Ihr habt mich sterbend auf dem Schlachtfeld zurückgelassen und als ich hierherkam und sah, dass ihr innerhalb so kurzer Zeit mit völlig fremden Menschen Freundschaft geschlossen hattet, euch sogar mit der Heldin, die mich fast umgebracht hat, gut versteht – da sah ich rot. Die Erkenntnis, dass ich für euch weniger wert war als alle anderen, dass ich wieder nur ein Werkzeug war ...“ Er holt einmal tief Luft und fährt sich mit zitternder Hand durchs Haar.

„Bist du nicht und warst du nie“, widerspricht ihm Alciel heftig und greift nach seiner verletzten Hand. „Hör auf, so von uns zu denken. Und hör auf, so abwertend von dir selbst zu denken.“

Nun atmet er einmal tief ein, drückt behutsam Lucifers Finger und sieht ihm dann wieder eindringlich in die Augen.

„Ich kann nicht ändern, was geschehen ist und ich verstehe, dass dieser Vertrauensverlust dazu führte, dass du dich von uns entfernst, aber bitte – wenn ich das so dramatisch ausdrücken darf - komm zurück. Ich werde dich auch nie wieder Parasit oder Kellerkind nennen, das verspreche ich dir.“

Lucifer gluckst leise.

„Alciel, hast du etwa gerade einen Witz gemacht?“

Zuerst will Alciel erbost aufbegehren, doch dann denkt er noch einmal über seine Worte nach und lacht ebenfalls.

„Sieht so aus, nicht wahr?“

Lucifer starrt ihn verdutzt an. Es ist verdammt lange her, dass dieser leichte, heitere Unterton in Alciels Lachen mitschwang. Er senkt den Blick und starrt nachdenklich auf seine Finger in Alciels Hand. Plötzlich ist die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder da. Es tat geradezu körperlich weh, von Mao so abrupt unterbrochen zu werden und dann wieder zur „Normalität“ zurück zu kehren.

„Alciel...“ Er ertappt sich dabei, wie er seine Finger mit Alciels verschlingt und räuspert sich einmal. Ach, scheiß drauf.

„Mao sagte doch, wir sollten uns darin üben, wie ein Paar zu agieren. Ich finde, das hier...“ er macht eine wedelnde Bewegung mit seiner gesunden Hand, „... kommt dem schon sehr nahe. Aber meinst du, wir könnten auch noch etwas … anderes üben?“

Um Alciels Lippen zuckt ein kleines, wissendes Lächeln.

„Und was wäre das?“ erkundigt er sich betont harmlos.

Lucifer lächelt verschmitzt zurück.

„Verzeih mir, ich will dich wirklich nicht beleidigen, aber ich weiß nicht, wie ich das höflich verpacken kann … es war eindeutig, dass Küssen nicht dein Spezialgebiet ist. Ich weiß, dass so etwas nicht unbedingt zur Tradition deines Clans gehört, aber hier in der Menschenwelt ist es unerlässlich. Schließlich möchte keiner von uns unseren König blamieren, oder?“

„Nein, das wollen wir in der Tat nicht“, bestätigt Alciel trocken. Noch vor vier Tagen wäre er über solche Worte tödlich beleidigt gewesen, doch jetzt verspürt er nur so etwas wie eine erwartungsvolle Heiterkeit, als er Lucifer vorsichtig auf seinen Schoß zieht.

„Schließ die Augen“, hört er ihn flüstern und Alciel gehorcht ohne zu zögern.

Das würde er unter normalen Umständen natürlich niemals riskieren, aber dies hier sind keine normalen Umstände.

Lucifer wiegt keine fünfzig Kilo, Alciel spürt sein Gewicht kaum. Instinktiv legt ihm Alciel seine Hände auf die Hüften und er spürt, wie der Engel einmal tief durchatmet und dann sind seine Finger in Alciels Haar und seine Lippen pressen sich zärtlich – oh, so zärtlich - gegen Alciels. Und plötzlich ist das Gefühl von gestern Abend wieder da und aus Alciels sanftem Griff wird eine leidenschaftliche Umschlingung, geboren aus dem Wunsch, diesen warmen Körper, in dem dieser schwierige und widerborstige Charakter und diese kämpferische Seele wohnt, nie, nie wieder los zu lassen.

Ist der Kuß zuerst noch langsam und bedächtig, gewinnt er schnell an Fahrt und als sie sich wieder trennen, sind sie beide ziemlich erhitzt und atemlos.

„Alciel...“ schnurrt Lucifer und glimmt ihn unter halbgeschlossenen Augen so intensiv an, dass dieser bis ins Mark erschauert. Aber es ist ein sehr angenehmes Schaudern.

Sanft fährt er mit seiner linken Hand durch Alciels helle Haare. Dann tanzen seine Fingerkuppen hauchzart über seine runde, menschliche Ohrmuschel.

„Verwandle dich zurück für mich, Alciel. Ich liebe deine spitzen Ohren.“

Alciel gehorcht und nachdem er in seine wahre Gestalt (die kleine, zwei Meter große Version) gewechselt ist, lächelt Lucifer zufrieden und lehnt sich dann zu ihm nach vorne, um sich zärtlich über Alciels rechte, große und spitze Ohrmuschel zu lecken und zu knabbern.

Aus Alciels Kehle löst sich ein leises, tiefes Grollen und sein Griff um Lucifers Taille verstärkt sich wieder. Doch diesmal ringelt sich auch sein chitinverstärkter Schwanz dazu. Aber Lucifer gibt nur einen leisen Brummton von sich, läßt – sehr zu Alciel Bedauern – von dessen Ohr ab, lehnt sich etwas zurück und mustert ihn mit einem Ausdruck auf dem Gesicht, den Alciel nur als lasziv beschreiben kann.

Träge fährt Lucifer mit seiner linken Hand über Alciels Schwanz, der schon bei mehr als einer Gelegenheit seine Gegner aufgeschlitzt hat. Aber Lucifer reibt nur furchtlos über die scharfkantigen Chitinringe bis zum gegabelten Ende, das sich dann ohne Alciels bewußtes Zutun um Lucifers Handgelenk wickelt.

„Lucifer...?“

„Hm?“ macht dieser nur verträumt.

Alciel starrt ihn einen Moment lang einfach nur gebannt an. Ihm gefällt diese weiche, sanfte, offene Seite an seinem Engel. Die nur ihm gehört.

Nur ihm.

Wieder entweicht Alciels Kehle ein dunkles Grollen, seine rechte Hand löst sich von Lucifers Rücken und verkrallt sich stattdessen in einer violetten Haarsträhne.

Kompromißlos zieht er ihn daran zu einem weiteren Kuss zu sich heran.

 

 

XXI.

 

„Mao-san, warte auf mich!“

Hastig stürmt Sasaki Chiho aus dem MgRonald's nach draußen, wild entschlossen, ihren Schwarm noch bis zur ersten Kreuzung zu begleiten, bevor sich ihre Wege leider trennen. Zuerst bekommt sie einen Schreck, denn der übliche Platz, wo er seinen Drahtesel parkt, ist verwaist, aber dann entdeckt sie ihn zehn Meter weiter, wo die Fußgängerzone endet und die Straße beginnt. Dort steht er mit ihrer beider Chefin Kisaki Mayumi an ihrem Auto. Sie übergibt ihm einen Gegenstand, der sich, als Chiho näher rennt, als ein in Folie verschweißter, zusammengerollter Futon entpuppt.

„Mao-san“, beginnt Chiho nach Luft japsend, hält dann jedoch inne, weil sie sich an ihre Manieren erinnert. „Kaichō-san.“ Sie verbeugt sich höflich.

„Oh, hallo Chi-chan.“ Mao schenkt ihr ein Lächeln, bei dem ihr Herz wahre Purzelbäume schlägt. „Entschuldige, dass ich nicht auf dich gewartet habe.“

„Sei ihm nicht böse, Chi-chan“, lacht Kisaki, während sie Mao dabei hilft, den Futon auf seinem Gepäckträger festzuzurren. „Ich hatte es etwas eilig, weil ich im Parkverbot stehe.“ Vielsagend deutet sie auf das Schild hinter ihrem Auto. „So, Marko, ich denke, das sollte jetzt halten.“

„Vielen Dank nochmal, Kaichō-san.“ Mao verbeugt sich tief. Es wurmt ihn zwar immer noch, dass seine Chefin seinen Namen derart verballhornt, aber er beschwert sich schon längst nicht mehr. (Sie erklärte ihm nämlich, dass sie ihn garantiert nicht mit dem Namen des größten Massenmörders in der Menschheitsgeschichte anreden würde, was ihn schnurstracks in die Bibliothek zu Recherchen führte und danach dachte er ernsthaft daran, seinen Namen zu ändern. Denn - heiliger Bimbam - bis zu 80 Millionen Todesopfer? Dagegen ist er ja das reinste Unschuldslamm.)

„Aber nicht doch, Marko, das habe ich gern getan. Ich war doch sowieso dort einkaufen, da kann ich dir auch ruhig diesen Futon mitbringen. Und ich freue mich doch, dass du wieder gut gelaunt bist. Fröhliche Mitarbeiter bedeuten schließlich auch fröhliche Kunden. Bis morgen, ihr beiden!“ Sie winkt ihnen vergnügt zu und steigt in ihren Wagen.

Chiho wartet, bis sie weggefahren ist und platzt dann heraus:

„Mao-san, wenn du einen Futon brauchst, hättest du mich doch auch fragen können. Wir haben noch ganz viele, einen hätte ich dir doch schenken können."

„Das ist lieb gemeint, Chi-chan.“ Langsam schiebt er sein vollgeladenes Fahrrad den Gehsteig entlang. „Aber sie haben im Bettenhaus einen Räumungsverkauf und die Futons waren um achtzig Prozent heruntergesetzt. Ashiya wird mir also nicht den Kopf abreißen, nur, weil ich mal etwas Neues gekauft habe.“

Chiho neben ihm nickt verstehend.

„Das kenne ich. Immer nur Second Hand Ware muss nicht sein.“

„Allerdings. Ich will Urushihara wirklich mal etwas Neues schenken. Der Laptop plus Zubehör war schon Second Hand und seine Klamotten sind es größtenteils auch."

Chiho zuckt innerlich zusammen, ringt sich aber zu einem verständnisvollem Lächeln durch.

„Das verstehe ich. Und ich freue mich, dass ihr euch wieder vertragen habt.“

„Darüber bin ich auch sehr froh. Es ist mir nur unangenehm, dass sich meine schlechte Stimmung so auf meine Arbeit auswirkte, dass es sogar Misaki-san auffiel“, meint er bekümmert.

„Misaki-san ist eine sehr gute Chefin. Sie ist immer sehr verständnisvoll“, versucht sie ihn aufzumuntern.

„Das ist sie, in der Tat. Und zum Glück war noch ein Futon da“, zufrieden tätschelt er die Rolle auf seinem Gepäckträger. „Urushihara und Ashiya können sich ja nicht ständig einen Futon teilen."

Es dauert eine Weile, bis diese Information ihr Gehirn erreicht, doch dann kiekst sie auf.

„Eh? Eh?"

Seit wann? Seit wann? Lebt das Kellerkind nicht im Wandschrank?

Als würde er ihre Verwirrung gar nicht bemerken, lehnt er sich zu ihr hinüber und senkt verschwörerisch die Stimme:

„Ich bin ein wenig eifersüchtig, weißt du? Ich will ja auch mal mit Urushihara kuscheln. Aber ich will keinen Streit, also bekommt Urushihara jetzt einfach seinen eigenen Futon."

„Eh? EEEHHHH???

Er schreckt zurück und reibt sich das schmerzende Ohr.

„Was ist denn los? Warum schreist du denn so laut?“

„Ich... ich... entschuldige. A-aber … ich habe mich bestimmt verhört, aber hast du eben wirklich gesagt, du willst mit Urushihara kuscheln?“

„Ah... ja?“ Mao blinzelt sie verständnislos an. „Das ist doch nur natürlich, dass man mit seinem Ehemann kuscheln will, oder?“

„Ehhhhh? WAS?!

Sie schreit so laut, dass sich schon die Passanten nach ihnen umblicken.

„Beruhige dich Chi-chan, bitte.“ Beschwichtigend hebt er die freie Hand. „Es gibt doch gar keinen Grund dafür, sich so aufzuregen.“

Doch, den gibt es! Und wie es den gibt! Trotzdem holt sie einmal tief Luft und versucht wenigstens, nicht mehr zu schreien, denn das wird ihr selbst langsam peinlich.

„Ich wußte nicht, dass du und Urushihara verheiratet seid“, erklärt sie mit erzwungener Ruhe, aber dafür auch sehr, sehr vorwurfsvoll. „Oder ist das ein Scherz? Wenn, dann ist das ein sehr, sehr schlechter. Urushihara hat versucht, dich umzubringen. Dich und Ashiya. Und mich auch, nebenbei bemerkt. Hast du das alles vergessen? Dienstag noch war Urushihara für dich nur eine Plage. Ein Nutznießer. Ein Parasit. Ist es, weil er aus dem Fenster fiel? Erpresst er dich vielleicht mit deinem schlechten Gewissen?“

Noch während sie ihn das fragt, erkennt sie, dass sie zu weit gegangen ist. Seine stets freundliche Miene wird plötzlich so kühl und seine Augen so hart wie sie es nur von seiner dämonischen Version gewohnt ist. Unwillkürlich bekommt sie eine Gänsehaut.

„Rede nicht so von ihm. Dazu hast du kein Recht.“

Sie zuckt zusammen und spürt, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht weicht. Noch nie hat er so zu ihr gesprochen.

„Es tut mir leid, aber ich kann das nicht glauben. Du hast nie gesagt, dass du verheiratet bist.“ In ihren Augen sammeln sich die ersten Tränen, doch noch überwiegt ihre Empörung. Sie fühlt sich so unendlich verraten! Hat er ihr die ganze Zeit nur etwas vorgespielt?

„Bin ich auch nicht“, erklärt er. „Nicht nach euren Maßstäben. In eurer Sprache gibt es kein Wort dafür, aber Ehemann trifft es schon ziemlich gut. Es ist ein Blutschwur, etwas, das nicht gebrochen werden kann, es sei denn, einer von uns stirbt. Und ja, wir dachten, er sei auf dem Schlachtfeld durch Emilias Schwert gestorben, also haben Ashiya und ich nie etwas gesagt. Es war ein Schock, als er plötzlich vor uns auftauchte. Wir haben ihn im Stich gelassen und er war zurecht sauer auf uns. Er musste sich mit Olba verbünden, um zu überleben. Mit einem korrupten Priester! Und er brauchte Olbas Hilfe, um uns zu finden. Allein bei dem Gedanken daran, wie demütigend das für ihn gewesen sein muss, dreht sich mir der Magen um. Er ist nachtragend, unser Engel, aber das zurecht. Es ist eine Schande, dass erst dieses Unglück geschehen musste, damit wir uns endlich aussprechen. Er ist nicht nur mein Ehemann, ich bin auch sein König und als solcher trage ich doppelte Verantwortung. Und nicht nur ihm gegenüber. Auch Ashiya, meinen Co-Ehemann, habe ich in dieser Zeit schmählich im Stich gelassen.“

Ihr klappt vor Entsetzen die Kinnlade nach unten.

„Ashiya? Ashiya ist auch dein Ehemann?“

„Nein. Aber Urushiharas.“

„W-was?“ Ihre Stimme ist nur noch ein klägliches Piepsen.

Doch er schiebt nur weiterhin ungerührt sein Rad neben ihr her als würde er gar nicht bemerken, wie sehr er ihr mit jedem weiteren Wort den Boden unter den Füßen wegzieht.

„Ashiya ist auch Urushiharas Ehemann, aber nicht meiner. Uraltes Dämonengesetz. Der Blutschwur darf nur ein einziges Mal geschlossen werden. Man muss also weise wählen.“

Was, bitteschön, soll an dieser Wahl weise sein?

„S-seit wann bist du schwul?“

Er macht nur eine abfällige Handbewegung.

„Ph. Ihr Menschen und euer Schubladendenken. Kommt wahrscheinlich von eurer geringen Lebensspanne. Bei uns gibt es so viele Clans, so viele verschiedene Körper und Merkmale zur Auswahl, da denkt man naturgemäß nicht so kleinlich. Es gibt Dämonen, die sind im wahrsten Sinne des Wortes genderfluid. Das ist echt, Chiho, nicht so eine konstruierte, soziale Massenbewegung wie bei euch. Und weil es real ist, ist es bei uns völlig normal und niemand fragt danach.“

Seine Verachtung schmerzt und verschlägt ihr für eine Sekunde glatt den Atem.

„Liebst...“ presst sie mühsam an dem Kloß in ihrer Kehle hervor, „liebst du ihn?“

Diese Frage ist ihr so furchtbar peinlich, vor allem in der Öffentlichkeit, aber sie muss es wissen! Vielleicht ist ja noch etwas zu retten. Das wäre schließlich nicht die erste unglückliche Ehe.

Er mustert sie einen Moment lang kühl und nickt dann einmal knapp.

„Ja, das tue ich wohl, so gut, wie es eben in meiner Macht steht. Ich bin ein Dämon, Chiho. Die meisten bezweifeln, dass wir zu solchen Gefühlen überhaupt fähig sind.“

Sie kämpft um ihre Fassung und reibt sich dann über sich selbst verärgert über die nassen Augen.

„Du bist zu solchen Gefühlen fähig“, erklärt sie entschieden. „Hättest du mich sonst schon zweimal gerettet? All das, was du für mich auf dich genommen hast, das macht man doch nur, wenn man für den anderen etwas empfindet.“

Sie weigert sich entschieden, zu glauben, dass sie nie eine Chance bei ihm hatte.

All die Zeit, die sie zusammen waren, der Tag, wo sie sich gemeinsam das Sommerfeuerwerk ansahen, wo sie mit ihm shoppen ging, all die kleinen, ungestörten Momente, wo er ihr bei MgRonald's half, wenn sie mit einer neuen Maschine nicht zurechtkam, die Abende, wo sie zusammen in seiner Wohnung beim Abendessen saßen, lachten und scherzten und all die Momente, wo er sie in den Arm nahm, nachdem er sie aus Lebensgefahr rettete – all das und noch viel mehr sollte nichts zu bedeuten haben?

Das kann sie nicht glauben.

Und warum ausgerechnet Urushihara? Ashiya – das hätte sie ihm eher zugetraut, aber – Urushihara? Lucifer?

Dieser kleine, hinterhältige Nerd? Dieses Kellerkind? Dieser antisoziale Psychopath?

Ausgerechnet der?

Was hat der, was ich nicht hab?

„Chiho.“ Mao bleibt stehen und sieht sie ernst an. „Ich entschuldige mich bei dir, wenn ich in dir in irgend einer Form Hoffnungen geweckt habe. Wenn dem so ist, dann geschah es nicht aus Absicht. Ich schätze dich als Kollegin und ja, auch als Freundin, aber ich bin schon vergeben. Seit knapp zweihundert Jahren. Und ich bereue keine einzige Sekunde davon.“

Sie spürt, wie sich ihre Augen wieder mit Tränen füllen, aber diesmal wischt sie sie nicht fort.

„A-auch nicht die letzten Wochen?“ bringt sie mit zitternder Stimme hervor.

„Nein. Auch die nicht.“ In seine Augen kehrt der warme Glanz zurück, doch sie bezweifelt, dass sie der Grund dafür ist.

„Keine einzige Sekunde“, bestätigt er mit einem entschiedenen Nicken und einem versonnenen Lächeln auf den Lippen.

Sie schluckt nur einmal schwer, murmelt einen Abschiedsgruß und eilt davon. Sie bemüht sich sehr, ihr Gesicht zu wahren und nicht zu rennen, egal, wie sehr es sie danach drängt. Und sie ist wirklich, wirklich froh, dass Mao ihre Tränen nicht sehen kann, die ihr jetzt ungehemmt über die Wangen rollen.

Sie kann es nicht akzeptieren. Sie weigert sich, das zu akzeptieren.

Sie muss dringend mit Emi darüber reden. Die Heldin weiß ganz sicher Rat.

 

 

 

XXII.

 

Als Mao sein schwer beladendes Rad die Auffahrt zur Villa Rosa Sasazuka hinaufschiebt, bietet sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Eine ihm nur allzu wohlbekannte Gestalt wirft gerade eine Mülltüte in den dafür vorgesehenen Container.

Mao blinzelt überrascht, doch seine Augen melden ihm immer noch dasselbe Bild..

„Du bringst den Müll raus?“ stößt er schließlich fassungslos hervor.

„Huh?“ Vorsichtig schiebt Lucifer den Containerdeckel wieder zu und dreht sich zu ihm um. „Na klar, hab ich doch versprochen.“

Mao starrt ihn für einen Moment lang einfach nur an.

„Oi, was soll dieser Blick?“ verärgert stemmt Lucifer die Fäuste in die Hüften und ähnelt dadurch auf geradezu irritierende Art niemand geringerem als Alciel. „Ich bin durchaus bereit im Haushalt zu helfen, wenn man mich nett darum bittet. Der Tonfall macht die Musik.“

Herausfordernd funkelt er Mao an, doch darunter lauert noch etwas anderes, was Mao nicht einordnen kann – Verlegenheit? Unsicherheit? Was auch immer es ist, es sorgt dafür, dass Lucifers blasse Wangen ein Hauch von Röte ziert.

Komisch, fährt es Mao durch den Sinn, worauf ich in letzter Zeit so bei ihm achte.

Er lächelt beschwichtigend.

„Es gab eine Menge falsche Tonfälle in der letzten Zeit.“, gibt er zu. „Aber ich hoffe, wir sind auf einem guten Weg.“

„Wenn Emilia und Chiho uns nicht mehr fast jeden Abend belästigen würden, das wäre schon mal ein guter Anfang“, kommt es leise zurück. Diesmal schwingt eindeutig eine Spur von Unsicherheit in Lucifer Stimme, ganz so, als erwarte er, mit dieser Meinung alleine da zu stehen. Und in Anbetracht der letzten Wochen kann es ihm Mao nicht einmal verübeln.

„Und ich dachte, ein guter Anfang wären unsere Kuschelnächte“, versucht er es mit einem Scherz, aber Lucifer schnalzt mit der Zunge und wirft ihm einen schiefen Blick zu.

„Du verwechselst mich wohl mit einem Teddybären.“

Und dann zuckt um seine Mundwinkel ein kleines Lächeln.

Mao gluckst leise, als er das sieht, verzichtet aber auf ein dahingehendes Kommentar, dass der gefallene Engel einen vorzüglichen Teddybären abgibt. Lucifer scheint guter Stimmung zu sein, und Mao möchte den zerbrechlichen Frieden zwischen ihnen nicht unnötig riskieren.

Langsam beginnt er, sein Rad in Richtung Schuppen zu schieben und Lucifer schlendert wie selbstverständlich neben ihm her.

„Dir scheint es wirklich gut zu gehen, oder?“ erkundigt sich Mao mit einem vielsagenden Blick auf Lucifers geschienten Unterarm. Es verursacht ihm immer noch ein schlechtes Gefühl in der Magengrube, ihn derartig verletzt zu sehen – vor allem, weil es seine Schuld war!

Schnell schiebt er diese Gedanken beiseite.

„Haben du und Ashiya euch gut vertragen? Oder“, setzt er betont scherzhaft hinzu, „wird er sich gleich wieder bei mir über dich beklagen und du hast nur den Müll rausgebracht, um ihn damit zu bestechen?“

„Es ist alles in Ordnung.“ Lucifer verhakt lässig den Daumen seiner gesunden Hand in der hinteren Tasche seiner Jeans, senkt den Kopf und kickt einen herumliegenden Kiesel fort.

Mao mustert ihn mit hochgezogener rechter Augenbraue. Irrt er sich, oder schimmern Lucifers Wangen wieder so verdächtig rot? Für Mao ist eindeutig: sein General verheimlicht ihm etwas und Lucifers nächste Worte verstärken diesen Eindruck nur noch:

„Alciel und ich verstehen uns wunderbar.“

Jepp, das ist die verdächtigste Aussage, die Mao in den letzten Wochen von Lucifer zu hören bekam. Doch er bohrt nicht weiter nach. Was auch immer vorgefallen ist, er wird es bald erfahren, denn im Gegensatz zu Lucifer kann Alciel ihn nicht anlügen.

Sekundenlang gehen sie schweigend nebeneinander her, dann räuspert sich Mao und klopft stolz auf seine Neuerwerbung auf dem Gepäckträger.

„Der hier ist für dich. Dann musst du dir nicht immer mit einem von uns den Futon teilen. Das Bettenhaus hatte Räumungsverkauf, den Futon gab es um achtzig Prozent verbilligt.“

Um Lucifers Lippen zuckt ein belustigtes Schmunzeln.

„Das wird unseren selbsternannten Sparfuchs freuen.“

„Es ist immer noch dein Geld“, berichtigt ihn Mao, aber Lucifer winkt nur ab.

„Nööö, ihr könnt damit machen, was ihr wollt, so lange noch das eine oder andere Spiel für mich rausspringt.“

Das überrascht Mao beinahe noch mehr als die Tatsache, dass Lucifer ihm nicht nur die Schuppentür öffnet und aufhält, sondern ihm auch dabei hilft, sein Fahrrad zwischen all die anderen Geräte zu zwängen, die noch hier stehen. Mao klemmt sich den Futon unter den Arm und gemeinsam machen sie sich auf den Weg zum „Castle“.

Aus einer spontanen Laune heraus tastet Mao mit seiner freien Hand nach Lucifers und verschränkt im Laufen ihre Finger miteinander. Von Chiho weiß er, dass man das „Händchenhalten“ nennt, aber es fühlt sich mit Lucifer viel besser an als damals mit Chiho.

„Ich habe Chiho übrigens gesagt, dass du mein Ehemann seist. Wie erwartet hat sie nicht gut darauf reagiert. Ich befürchte, sie glaubt es mir noch nicht so recht.“ Er seufzt übertrieben. „Ich werde dich wohl mal zu MgRonald's ausführen müssen, während sie Schicht hat und dann müssen wir uns wohl gegenseitig mit Black Fries füttern.“ Und auf Lucifers belustigtes Schnauben hin, fährt er betont unschuldig fort: „Das habe ich schon bei vielen verliebten Pärchen gesehen und sie scheinen viel Spaß dabei zu haben.“

„Es macht auch Spaß“, kommt es trocken zurück. „Wenn man es mit der richtigen Person und aus den richtigen Gründen macht.“

Das klingt so erfahren! Mao spürt plötzlich einen leichten Groll in sich aufsteigen, drängt ihn aber hastig wieder zurück.

„Wer sagt, dass es nicht die richtigen Gründe sind?“ knurrt er leise vor sich hin.

Lucifer wirft ihm einen irritierten Seitenblick zu, zuckt dann aber nur nonchalant mit den Schultern und geht vor ihm die Treppe hinauf, die hoch zu Apartment 201 führt. Dabei muss er zwangsläufig seine Hand loslassen und Mao vermisst diese schlanken, warmen Finger sofort.

Doch das Schicksal meint es gut mit ihm und entschädigt ihn dafür mit dem wunderbaren Anblick eines sehr ansehnlichen Hinterteils.

Mao weiß nicht, woher dieser Impuls plötzlich kommt, aber ehe er es sich versieht, hat sich seine freie Hand selbstständig gemacht.

Lucifer fiept auf wie ein Welpe, als Maos flache Hand seine Kehrseite trifft, macht unwillkürlich einen Satz nach vorne – womit er den Treppenabsatz erreicht hat und dann wirbelt er noch in derselben Sekunde herum und packt Mao blitzschnell am Kragen seiner Jacke.

„Was. Sollte. Das?“

Mao läßt vor Überraschung fast den Futon fallen. Doch dann breitet sich ein kleines Grinsen auf seinen Zügen aus. Sie befinden sich jetzt fast auf Augenhöhe und oh, wie sehr Mao das Feuer in diesen violetten Augen doch liebt.

„Was denn? Kann ich meinem Ehemann kein Kompliment machen?“

Und noch während er spricht, legt er seine Hand in Lucifers Nacken und zieht ihn die letzten Zentimeter zu einem Kuss heran.

Lucifer erstarrt regelrecht. Doch noch ehe er irgendwie reagieren kann, hat sich Mao schon wieder zurückgezogen. Und dabei grinst er auf eine solch geradezu arrogante, selbstzufriedene Art und Weise, dass Lucifer ihn am liebsten die Treppe hinunterstoßen würde.

Und daher – und ganz bestimmt nur deswegen! - hält er ihn am Handgelenk zurück, als er die Tür öffnen will, die zum Korridor und Apartment 201 führt.

„Warte. Das nennst du einen Kuss?“

Und dann findet sich Mao plötzlich mit dem Rücken an der Tür wieder und sein überraschtes Aufjapsen wird von weichen, besitzergreifenden Lippen verschluckt.

Instinktiv hält Mao den zusammengerollten Futon zwischen sich und Lucifer, doch der läßt sich davon nicht aufhalten, presst sich unerbittlich gegen ihn und ehe es sich Mao versieht, spürt er nicht nur warme Finger, die sich in seinem Haar vergraben, sondern auch eine Zunge, die seine Mundhöhle zielstrebig plündert.

Mit einem satten Geräusch fällt der Futon auf die ausgetretenen Holzbalken und Maos Arme schlingen sich um die schmale Taille seines Generals, während er den Kuss begeistert entgegnet. Lucifer schmeckt riecht nach Flieder und Honig und schmeckt nach diesem Gemisch aus Mirin, Soja und Rindfleisch – was Mao verrät, was Alciel heute gekocht hat - und dass Alciel Lucifer abschmecken ließ. Der Gedanke daran lässt ihm unwillkürlich noch mehr Wasser im Munde zusammenlaufen.

Mao bemüht sich gar nicht erst um Dominanz, denn er ist sich seiner eigenen Unerfahrenheit leider nur allzu deutlich bewusst. Also überlässt er Lucifer die Führung.

Und sein General kann küssen, oh so gut küssen!

Mao hat noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Sein ganzer Körper scheint plötzlich unter Strom zu stehen und jede seiner Zellen schreit förmlich nach mehr.

Mao seufzt unwillkürlich in diesen traumhaften Kuss hinein und zieht Lucifer noch etwas fester an sich.

Dem allerdings wird plötzlich bewusst, was er hier macht. Er küsst Mao-sama.

Oh shit!

Shitshitshit!

Und er hat es initiiert, nicht Mao. Damit hat er eine Grenze überschritten, die er nie hätte überschreiten sollen. Das wird ihm Mao nie verzeihen. Was, zum Henker, hat er sich dabei nur gedacht? Wie konnte er sich nur so hinreißen lassen? Und das ausgerechnet jetzt, wo sie sich wieder besser verstehen.

Hastig beendet er den Kuss und weicht zurück.

Nur widerwillig lockert Mao seine Umarmung.

Lucifers Wangen sind hochrot und für einen Moment treffen sich ihre Blicke, doch dann schlägt er verlegen die Augen nieder.

Der Anblick ist so niedlich, dass es Mao für eine Sekunde glatt den Atem verschlägt.

„Wow...“ bringt er schließlich mit rauher Stimme hervor und leckt sich einmal über die Lippen, auf denen er immer noch Lucifer zu schmecken glaubt. Das war Wahnsinn. Das würde er gerne sagen, aber aus seinem Mund kommt etwas ganz anderes:

„Kein Wunder, dass du mit soviel Geld zurückkamst.“

Lucifer schnaubt einmal.

„Ich habe keinen von ihnen geküsst.“ Jedenfalls nicht freiwillig, aber das behält er lieber für sich. „Da, wo ich herkomme, küsst man nur die, die einem wirklich etwas bedeuten.“ Und noch im selben Moment könnte er sich für diese Worte ohrfeigen. Es ist gefährlich, so viel von sich Preis zu geben, vor allem gegenüber dem Dämonenkönig. Lucifer hat keine Lust, dessen ohnehin schon sehr großes Ego noch zusätzlich zu füttern.

„Wow“, wiederholt Mao, dem das Herz plötzlich bis zum Halse schlägt, „das … das ist gut zu wissen.“

Und dann kann er förmlich zusehen, wie Lucifers seine Mauern wieder hochzieht. Seine eben noch so offene, verletzliche Miene wird zu der altbekannten Maske der Gleichgültigkeit, als er sich bückt und den Futon aufhebt, um ihn dann Mao entschlossen in die Hände zu drücken. Um seine Mundwinkel spielt das ebenfalls altbekannte, spöttische Lächeln, hinter dem er sich so gern versteckt.

Doch in seiner Stimme schwingt eine gewisse Wärme mit, als er an Mao vorbei langt, um den Knauf zu drehen und dann die Tür aufzustoßen:

„Und jetzt, mein Ehemann, lass uns zu meinem anderen Ehemann gehen, denn der hat sich heute mal wieder mit seinem Abendessen selbst übertroffen.“

 

 

Mao bemerkt schnell, dass auch Alciel etwas vor ihm verbirgt. Er benimmt sich zwar wie immer – begrüßt ihn an der Tür, verzieht kurz die Miene, als er den neuen Futon sieht, serviert wie stets ein schmackhaftes, ausgewogenes Mahl und erkundigt sich interessiert nach Maos Tag, doch etwas ist heute … anders.

Mao kann nicht den Finger darauf legen, aber Alciel wirkt nervös. Und er kann ihm noch weniger gerade in die Augen sehen als Lucifer. Und dann sind da noch diese verstohlenen Blicke, die seine beiden Generäle einander zuwerfen...

Aber obwohl Mao mit jeder Minute besorgter wird, lässt er sich nichts anmerken und gibt sich weiterhin von seiner optimistischen, heiteren Seite. Er kennt Alciel. Er muss nur Geduld haben. Nur Geduld...

Und als Mao ihm ausführlich von seinem Gespräch mit Chiho berichtet und davon, dass bei ihr wohl weitere Überzeugungsarbeit vonnöten ist, bricht Alciels mühsam aufrecht erhaltene Fassade plötzlich zusammen.

„Mylord“, platzt es aus ihm heraus. „Ich habe Lucifer geküsst.“

Maos Hand mit den Stäbchen bleibt auf halber Strecke zu seinem Mund hängen. Er blinzelt perplex.

„Huh?“

Alciel verbeugt sich tief und voller Scham.

„Und ehe ich es mich versah, war eine Stunde vorbei. Euer wohlverdientes Abendessen wurde deswegen beinahe nicht rechtzeitig fertig.“

„Aber das...“ beginnt Mao verwirrt, doch da unterbricht ihn ein zunehmend verzweifelt werdender Alciel. Seine rechte Hand schießt nach vorne und krallt sich in den Saum von Maos T-Shirt.

„E-es tut mir l-leid, Mylord“, stammelt der blonde Dämon mit tränenerstickter Stimme. „Ich habe meine Pflichten vernachlässigt und nehme jede Strafe an, die Ihr gegen mich aussprecht.“

„Ashiya...“ etwas ungeschickt tätschelt Mao seine Hand und wirft einen hilflosen Blick zu dem ihm gegenüber sitzenden Lucifer hinüber. Der sieht absichtlich in eine andere Richtung. Seine Wangen leuchten wieder hochrot. Mao hört ihn so etwas wie „mach nicht so ein Drama daraus“ murmeln und das weckt in dem Dämonenkönig den Verdacht, dass es diese Situation hier war, die Lucifer befürchtete und er deshalb vorhin so seltsam reagierte.

„Ashiya, hör zu...“

Sofort hebt dieser den Kopf und starrt ihn aus nassen Augen bange an. Von der gegenüberliegenden Seite des Tisches ist ein leises Zischen zu hören und als Mao einen Blick zu Lucifer hinüberwirft, erstarrt er für einen Moment wie gebannt.

Die Art, wie Lucifer Alciel ansieht, diese Wärme in seinen Augen und diese weiche, geradezu liebevolle Miene, trifft ihn bis ins Mark. Doch dann bemerkt Lucifer, dass er beobachtet wird und setzt wieder sein Pokerface auf.

„Es ist deine Schuld, Mao“, erklärt er kühl, während sich seine violetten Augen herausfordernd in Maos bohren. „Du sagtest, wir sollen niemals darin nachlassen, Pärchendinge zu tun. Und küssen gehört nun einmal dazu. Wenn wir uns ungeschickt darin anstellen, fliegen wir auf, also haben wir geübt.“

Das ist das dritte Mal innerhalb von zweiunddreißig Stunden, dass er Alciel verteidigt.

Mao mustert ihn eine Weile einfach nur stumm, dann nickt er einmal knapp und wendet sich wieder dem noch immer zutiefst bekümmerten Alciel zu.

„Ashiya, hör zu – es ist alles in Ordnung“, er schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln und hilft ihm dabei, sich wieder gerade aufzurichten. „Mach dir bitte keine Sorgen. Ich bin dir nicht böse. Ganz im Gegenteil – ich bin stolz auf dich.“

„Stolz?“ wiederholt Alciel irritiert, während er sich mit dem Handrücken die Tränenspuren von den Wangen wischt. „Mylord, ich verstehe das nicht...“

Schmunzelnd streicht ihm Mao eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht, legt ihm eine Hand in den Nacken und lehnt sich dann zu ihm hinüber, bis sich ihre Stirnen berühren.

„War es schön?“ fragt er, ohne auf seine vorherige Frage einzugehen – weil er nämlich keine Antwort darauf weiß. „War es schön, Lucifer zu küssen? Ja, nicht wahr?“ Und als Alciel zögernd und mit hochroten Wangen nickt:

„Ja, ich weiß. Es ist verdammt schön. Ich hatte das Vergnügen, ihn zu küssen, kurz bevor ich hier reinkam. Ashiya, das alles ist völlig in Ordnung. Küss ihn, wann immer und so lange du willst.“

„Oi.“

„Dafür brauchst du meine Erlaubnis nicht.“

Oi!

„Halte Händchen mit ihm, verführe ihn, paare dich mit ihm, wenn du willst.“

OI! Alter!“

„Denk nur an das, was diese Menschen mit ihm getan haben. Es ist geradezu unsere Pflicht, ihre Spuren von ihm zu tilgen, seinen Körper, seinen Geist und seine Seele von ihnen zu reinigen.“

Alter, geht's noch?

„All das und noch viel mehr darfst du machen, genau wie ich“, grinsend dreht Mao seinen Kopf in Lucifers Richtung. Der, bleich vor Wut, hält die Stäbchen drohend erhoben, bereit, ihm die Augen auszustechen, sollte Mao jetzt noch ein einziges falsches Wort von sich geben.

„ - immer vorausgesetzt – er will das auch.“

„Huh?“ Lucifer blinzelt einmal. Und dann ein zweites Mal. Aber erst beim dritten Mal sind Maos Worte wirklich gesackt.

Mit einem Schnauben lässt er die Stäbchen fallen und plumpst höchst unelegant wieder auf seinen Hintern.

„Das war nicht witzig. Mao Bakayaru.“

Plötzlich hallt ein leises, selten gehörtes Geräusch durch das kleine Apartment. Es ist Alciel.

„Doch das war es“, erklärt er glucksend und deutet mit dem Zeigefinger auf Lucifer. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen.“ Und dann lacht er noch lauter, als Lucifer auf seine Bemerkung hin nur die Arme vor der Brust verschränkt und schmollend das Gesicht verzieht.

„Und?“ fragt Mao schließlich den gefallenen Engel, nachdem sich Alciel wieder etwas beruhigt hat.

„Wie sieht es aus? Willst du?“

Lucifer spürt, wie seine Wangen wieder zu brennen beginnen und senkt unwillkürlich den Blick. Gedankenverloren fährt er mit den Fingern seiner gesunden Hand über das Plastik seiner Armschiene. Er weiß nicht, ob er das wirklich will. Es fühlt sich zu gut an und gute Dinge dauern niemals lange genug, um sie wirklich genießen zu können. Aber in dieser einen Stunde, in denen Alciel und er sich um den Verstand knutschten, hat er kein einziges Mal an seine verlorenen Flügel gedacht. Und auch alle anderen dunklen Gedanken blieben im Hinterhof seines Bewußtseins, wo sie hingehören.

„Ich werde nein sagen, wenn mir etwas nicht passt“, erklärt er schließlich entschlossen und sieht ihnen dabei abwechselnd in die Augen. „Und ihr werdet das ohne Wenn und Aber gefälligst respektieren. Abgemacht?“

„Abgemacht.“ Grinsend spuckt sich Mao in die Handfläche und hält sie ihm dann auffordernd entgegen. Alciel folgt seinem Beispiel.

Lucifer seufzt ergeben und schlägt ein.

 

 

XXIII.

 

Müde streicht sich Emi Yusa über die Stirn. Glücklicherweise hat sie jetzt endlich Feierabend. Dieser Tag war wieder einer dieser Tage, wo alle verrückten Anrufe immer bei ihr landeten. Zum Ende hin fiel es ihr immer schwerer, nicht auszurasten. Aber sie steht kurz vor einer Prämie, da kann sie sich solch ein Benehmen nicht leisten.

Wenigstens geht es Rika gut. Sie ist zwar etwas stiller als sonst, aber alles in Allem kommt sie sehr gut mit ihrer Enttäuschung klar. Besser, als Emi befürchtet hat. Diese Japaner sind wirklich ein sehr nüchterner Menschenschlag. Rational und logisch denkend ohne große emotionale Ausraster – das gefällt ihr.

Sie würde sich gerne daran ein Beispiel nehmen, aber da ist ihr leider ihr Temperament im Wege.

Voller Vorfreude auf ihren wohlverdienten Feierabend, verläßt sie das Hochhaus, in der das Call-Center, in dem sie arbeitet, seinen Sitz hat und tritt auf den großen, belebten Vorplatz, als ihr Blick zwischen all den vorbei hastenden Menschen auf eine ihr nur allzu gut bekannte Person fällt.

„Chi-chan. Was machst du hier?“ Und fügt dann, fast schon aus Gewohnheit, schnell hinzu: „Ist etwas passiert?“

Chiho wirkt völlig aufgelöst.

„Emi... entschuldige, dass ich dich so überfalle. Ich störe dich sicher, aber ich muss dich etwas fragen.“

Emi mustert sie zum ersten Mal etwas genauer. Ihre Augen sind rot, als hätte sie geweint.

„Kleines, du siehst ja völlig fertig aus. Was ist denn passiert?“

„M-Mao...“

„Was hat dieser Teufel wieder angestellt?“ braust die Heldin sofort auf.

Chiho erschrickt und zuckt sichtlich zusammen.

„N-nichts...“, beeilt sie sich sofort zu versichern, und dann kullert ihr eine Träne über die Wange.

Emi betrachtet sie beunruhigt, nimmt sie dann an der Hand und führt sie zu ihrem Lieblingsplatz, wo sie oft zusammen mit Rika ihre Mittagspause verbringt – eine kleine hölzerne Bank im Schatten eines ausladenden roten Ahorns.

„Ich höre“, meint sie dann nur, während sie sich setzt und das Mädchen neben sich zieht.

Chiho wirft ihr einen unsicheren Blick zu, nagt an ihrer Unterlippe und wringt die Hände im Schoß.

„Mao sagte mir heute, er sei verheiratet“, platzt es schließlich aus ihr heraus. „Und zwar mit Urushihara.“ Sie hebt den Kopf und starrt Emi aus großen, tränennassen Hundeaugen an. „Ich kann es nicht glauben. Er lügt doch sicher, oder Emi? Aber wieso sollte er mich anlügen? Habe ich ihm irgend etwas getan?“

Emi starrt sie einen Moment lang einfach nur an, bemüht, eine ruhige, sachliche Miene beizubehalten und sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

Huh? Mao und Urushihara? Was hat dieser perverse Dämonenkönig der Kleinen nur erzählt? Ashiya und Urushihara sind doch ein Paar – sie hat es schließlich mit eigenen Augen gesehen!

„Ich dachte, Ashiya und das Kellerkind seien zusammen“, entfährt es ihr dann doch unbedacht.

Chiho gibt einen erschrockenen Laut von sich.

„Du weißt es also?“ stößt sie vorwurfsvoll hervor. „Und hast mir nichts gesagt?“

„Huh?“, macht die Heldin verwirrt. „Chi-chan, was-?“

„Mao sagte, er und Ashiya, sie beide wären mit Urushihara verheiratet. Kann das sein, Emi? Ist dir etwas davon in Ente Isla zu Ohren gekommen?“

Nein. Ist es nicht. Nicht im Geringsten. Aber das hat nichts zu bedeuten. In diesen Kategorien hat nie jemand gedacht, nicht einmal Olba, so ehrgeizig und korrupt er auch war und so sehr er jede Möglichkeit nutzte, um seine Machtposition zu stärken, und verdammt, diese Information wäre Gold wert gewesen – aber die Dämonen wurden als empfindungslose Monster angesehen, nie als Wesen, die so etwas wie Zuneigung empfinden können. Also dachte niemand daran, dass zwischen dem Dämonenkönig und seinen Generälen diese Art von Beziehung bestehen könnte.

Denn - Dämonen können nicht lieben.

Sie glaubt das auch heute noch. Gut, jetzt, wo sie Menschen sind, hat sich das vielleicht geändert. Aber wenn, dann nur ein bißchen. Ein klitzekleines bißchen. Sie sind und bleiben emotionale Krüppel. Von daher hat sie auch Ashiyas ungebührliches Benehmen gegenüber Rika nicht überrascht – und sie wollte sie ganz bestimmt nicht verkuppeln, um Ashiya und Mao zu trennen, wie dieses Kellerkind behauptete!

Es war trotzdem schäbig und Rika hatte das nicht verdient und dafür würde sie Ashiya immer noch am Liebsten mit Betterhalf durchbohren wie sie es mit Lucifer tat.

Hah! Sie hätte wirklich besser zielen sollen.

„Emi?“

„Uh. Oh. Weißt du, Chi-chan...“ Denk nach, Emi, denk nach. Was willst du? Dass Chiho sich von den Dämonen endlich fernhält, nicht wahr? Und plötzlich weiß sie, was sie zu tun hat. Verzeih mir, Chiho, es ist nur zu deinem Besten. „So leid es mir tut, dir das sagen zu müssen, aber ich glaube nicht, dass Mao gelogen hat.“

„Was?“ kiekst das Mädchen in so hoher Tonlage auf, dass Emi unwillkürlich schmerzhaft das Gesicht verzieht. Doch dann erwidert sie völlig ruhig:

„Wenn er und diese kleine Pest durch einen Blutschwur aneinander gebunden sind, erklärt das alles. Vor allem, wieso sie ihn nach allem, was er ihnen und uns antat, bei sich aufgenommen haben. Normalerweise zeigt Satan nämlich keine Gnade einem Verräter gegenüber.“

Chiho denkt kurz darüber nach. Das klingt logisch, aber sie weigert sich, zu glauben, dass ihr Mao wirklich so unbarmherzig sein kann. Emi ist schließlich nicht ohne Vorurteile und sie kennt Mao nicht so gut wie sie! Nein, Mao und Ashiya hatten einfach Mitleid mit diesem Kellerkind. Außerdem fühlten sie sich bestimmt schuldig, weil sie ohne ihn aus Ente Isla fliehen mussten.

Plötzlich erinnert sie sich, was Emi ihr von Ashiya und der armen Rika erzählt hat. Auch das kann sie nicht wirklich glauben – Ashiya und Rika sind so ein schönes Paar!

„Sind Ashiya und Urushihara also auch mit einem Blutschwur aneinander gebunden? Ich dachte, Ashiya und Rika hatten ein Date?“ Ashiya wird doch bestimmt nicht mit Rika ausgegangen sein, wenn er Gefühle für Urushihara hat, oder? Nein, das wäre falsch und passt gar nicht zu dem Blonden.

„Das Date lief nicht gut.“ Emi holt einmal tief Luft. „Und was Ashiya und Urushihara betrifft... Rika hat es gestern herausgefunden. Ich bin froh, dass es geschah, bevor sie sich wirklich in Ashiya verlieben konnte.“

„Arme Rika. Geht es ihr gut?“

„Sie kommt darüber hinweg. Und du auch, Chi-chan. Mao ist es nicht wert.“ Tröstend drückt Emi ihre Hände.

Chiho versucht ein tapferes Lächeln, aber es mißglückt völlig. Ihre Gedanken, vor kurzem noch aufgeregt flatternde Kolibris, setzen sich allmählich. Aber je mehr der Schock abklingt, desto größer wird ihre Wut.

„Glaubst du nicht auch, dass Urushihara ihn nur erpresst?“

Irritiert runzelt Emi die Stirn.

„Wie meinst du das?“

„Mao hat bestimmt ein schlechtes Gewissen und fühlt sich schuldig, weil Urushihara aus dem Fenster fiel.“

„Er fiel nicht, Chiho“, berichtigt sie Emi. „Er sprang. Mit voller Absicht.“

„Oh. Wie hinterhältig. Nur, damit die beiden zu ihm zurückkehren?“

„Öh...“ Emi zögert und denkt genauer darüber nach. Sie hat sich nie die Frage gestellt, wieso Lucifer aus dem Fenster sprang. Sie teilt nicht Chihos Theorie, aber wenn es hilft, dass sie sich von Mao fernhält, sollte sie ihr lieber zustimmen. Andererseits lügt sie sie nicht gerne an.

„Das wäre durchaus möglich?“

Wenn auch nicht, damit sie zu ihm zurückkehren. Eher, damit er sie zukünftig damit erpressen kann.

„Typisch! Dieser hinterfotzige, kleine Bastard!“

Emi verschluckt sich an ihrem eigenen Speichel, als sie Chiho derart fluchen hört. Doch die gerät immer mehr in Rage.

„Ich wette, er hat Mao damals auch zu diesem Blutschwur gezwungen. Das passt zu ihm, diesem egoistischen Bastard! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich wünschte, er wäre tot!

Und dann:

„Warum hast du ihm in Ente Isla nicht den Garaus gemacht? Emi! Warum hast du nicht besser gezielt?

Plötzlich springt die Fünfzehnjährige auf die Füße. Sie bebt vor Wut und ballt die Hände zu Fäusten.

Emi betrachtet sie argwöhnisch und erhebt sich, Böses ahnend, ebenfalls.

„Chiho...?“

Doch diese gibt nur etwas von sich, das einem Kriegsschrei sehr ähnlich klingt und stürmt davon.

 

 

 

XXIV.

 

Mißmutig starrt Lucifer auf die Rücken seiner beiden Pseudo-Ehemänner. Ihre Rollen sind vertauscht. Jetzt sitzen sie vor seinem Laptop und er an dem niedrigen Tisch und versucht, sich mit einem von Maos Mangas abzulenken. Nicht, dass ihm das bei der Geräuschkulisse wirklich gelingt.

Ergeben klappt er den Manga wieder zu und legt ihn beiseite.

„Ich kann nicht glauben, dass ich zulasse, dass ihr euch das anseht.“

Und warum hat er ihnen nur diese Website gezeigt? Warum nochmal erschien ihm das wie eine gute Idee?

Mao wirft ihm nur einen kurzen Blick über die Schulter zu und beugt sich dann noch ein paar Zentimeter weiter vor Richtung Bildschirm.

„Oh, Lucifer, hör auf zu jammern. Das ist aus reinen... wie nennt man das, Ashiya?“

„Ich glaube, das Wort, dass Ihr sucht, Mylord, lautet Forschungszweck.“

„Ja, genau. Das ist aus reinen Forschungszwecken.“

Lucifer rollt mit den Augen. Jetzt erinnert er sich wieder. Es war seine Idee gewesen, weil er sie in Verlegenheit bringen wollte. Nun, das ist nicht der erste Plan, der sich als Bumerang erweist.

„Stellt wenigstens den Ton ab.“

Er verzieht das Gesicht, als die anfänglichen Stöhngeräusche immer lauter werden. Er hofft inständig, dass ihre Nachbarin nichts davon mitbekommt. Er kann sich leider nicht erinnern, ob der Eindämmungszauber auch ganz allgemein für Geräusche gilt oder nur für Worte.

Als das nächste Keuchen an seine Ohren dringt, krümmen sich ihm bei der Tonlage fast die Zehennägel.

„Das ist viel zu übertrieben! So klingt doch keiner!“

„Ich vergesse immer wieder, dass du hinreichend Erfahrungen damit hast“, kommt es schnippisch von Mao zurück.

„Genau wie ihr! Und genau deshalb verstehe ich nicht, wieso ihr euch das reinziehen müsst. Ihr wißt doch, wie es geht.“

„Ja“, erwidert Alciel todernst, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, „aber wir haben jetzt menschliche Körper. Also müssen wir erforschen, wie es die Menschen machen. Wir wollen schließlich nicht auffallen und Mao-samas Reputation ruinieren.“

Lucifers Ächzen macht dem, das aus den eingebauten Lautsprechern kommt, Konkurrenz.

„Seine hochgeschätzte Reputation leidet garantiert, wenn du so etwas in der Öffentlichkeit machst!“ Er hätte ihnen einen verdammten Disney-Film zeigen sollen. „Wir sind hier nicht in der Dämonenwelt!“

Wobei man auch dort Wert auf seine Privatsphäre legt. Nur die Heilige Kirche denkt, dass Dämonen es wild überall und mit jedem treiben. Ph, Menschen!

Ungewollt blitzen vor seinem inneren Auge die noch relativ frischen Erinnerungen an Finger, die brutal an seinem Haar ziehen, eine verwilderte Parkecke und einen Baum auf. Entschieden schiebt er sie beiseite.

Er rutscht näher, wirft einen Blick über Maos Schulter auf den Bildschirm und schnaubt.

„Das ist ein Film! Das ist nicht echt! Wenn du hier so etwas machst, ist sofort die Polizei hinter dir her!“

Aber Mao und Alciel schauen nur weiter wie gebannt zu, wie die beiden Laiendarsteller ihrer Leidenschaft nach Drehbuch frönen. In der gepflegten Gartenanlage eines Krankenhauses. Das alte Klischee von Arzt und Krankenschwester. Wobei die Krankenschwester sich nach dem Ausziehen als ziemlich strammer Kerl entpuppte. Lucifer wagt es, einen verstohlenen Blick erst auf Maos und dann auf Alciels Schoß zu werfen. Zu seiner großen Erleichterung kann er keine verdächtigen Ausbuchtungen erkennen.

„Ich warne euch: nicht mit mir. Sowas mache ich nicht mit euch, wenn andere zusehen. … Und sowas mache ich generell nicht.“ Schaudernd wendet er sich wieder ab, als die „Krankenschwester“ ihren „Arzt“ mit einer Reitgerte züchtigt und ihm dann ihren Fuß ins Gesicht rammt, damit dieser ihr brav den Stiefel leckt.

„Was?“ erkundigt sich Mao verdattert, jedoch ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu nehmen. „Dich als Krankenschwester verkleiden? Jemanden auspeitschen und demütigen? Oder meinst du das andersherum – auspeitschen lassen und Stiefel lecken?“

Aufgebracht starrt Lucifer auf seinen Hinterkopf. Dämonenkönig hin oder her – wenn er solch ein Thema mit ihm bespricht, sollte er sich gefälligst zu ihm umdrehen.

„Nichts davon“, zischt er und fügt dann mit einer wohldosierten Portion Gehässigkeit hinzu: „Hab ich schon ausprobiert. Bringt mir nichts.“

Es ist zwar schon Ewigkeiten her und an Einzelheiten erinnert er sich nicht, nur daran, dass ihm diese Sado-Maso-Rollenspiele nie behagten. Aber als er jung war, fügte er sich oft den Wünschen anderer - in allen Bereichen seines Lebens - immer in der Hoffnung, etwas zurück zu bekommen, ganz egal, wie er sich dabei fühlte.

Auf sein Kommentar hin wirft ihm Alciel einen schwer zu deutenden Blick zu.

„Was ist?“ verunsichert starrt Lucifer zurück. Warum fühlt er sich jetzt unter diesem Blick bitteschön schuldig? „Ich hatte ein Leben, bevor ich euch traf. Und ein noch viel längeres, bevor ich auf diesen apokalyptischen Mond kam, den ihr Heimat nennt.“

Alciel öffnet kurz den Mund, als wolle er etwas sagen, besinnt sich dann aber eines besseren und schließt ihn wieder. Er hat sich schon halb wieder dem Laptop zugewendet, da entschließt er sich doch noch anders und dreht sich wieder um.

„Lucifer...“, beginnt er behutsam. „Deinem Tonfall entnehme ich, dass du zwar über eine Unmenge an Erfahrungen in diesem Bereich verfügst, aber es scheinen hauptsächlich keine guten gewesen zu sein. Zuhause hast du auch nie großes Interesse gezeigt, egal, wie willig sie dir zu Füßen lagen.“

„Und sie waren sehr willig“, ergänzt Mao unvermittelt und dreht sich nun ebenfalls zu ihm um.

Er und Alciel zeigen beide dieselbe auffordernde Miene. Lucifer fühlt sich sofort unter Druck gesetzt und seine erste Reaktion besteht in Verleugnung und Abwehr, doch seine Vernunft ist schneller. Dieser Tag war seit langem der Beste, seit er hier auf der Erde ist und es wäre töricht, das alles aus einer Laune heraus zu ruinieren.

„Worauf wollt ihr hinaus?“ erkundigt er sich daher vorsichtig.

Mao und Alciel wechseln einen schnellen Blick.

„Ich glaube“, meint Mao schließlich gedehnt, „was uns beide nicht loslässt, ist die Diskrepanz zwischen deinen Erfahrungen, deiner Zurückhaltung Zuhause und der Tatsache, dass du hier freiwillig Menschen an dich herangelassen hast, obwohl wir wissen, wie wenig du auf Körperkontakt stehst. Na ja“, schränkt er mit einem verlegenen Grinsen ein, „wenn man die letzten Tage mal außer Acht lässt, aber ich glaube, das ist etwas völlig anderes, nicht wahr?“

Lucifer wünscht sich, er hätte die Klappe gehalten, denn dann würden sie noch ihren Porno „studieren“ und er wäre nicht gezwungen, sich selbst zu erklären.

„Ich lasse mich nun einmal nicht gerne von jedem ungefragt antatschen. Und was den Sex betrifft... im Himmel gibt es nicht viel Abwechslung. Natürlich habe ich Erfahrung, genau wie ihr. Aber ich stellte schnell fest, dass sie weniger an mir als an meinem Status als Erzengel interessiert waren. Und in der Dämonenwelt war es genau dasselbe. Ja, sie waren willig, aber doch nur, weil ich Satans General war. So nötig hatte ich es nun auch wieder nicht. Nicht, wenn ich stattdessen durch die nächste Wolkenfront fliegen konnte.“

In seine Augen tritt ein verklärter Glanz und um seine Lippen zuckt ein versonnenes Lächeln, als er unwillkürlich die Arme etwas ausstreckt und die Finger bewegt, ganz so, wie er es immer macht, wenn er hoch droben am Himmel mit den Fingern durch eine Wolke streicht.

Dann wird ihm siedendheiß bewußt, was er hier tut. Hastig faltet er die Hände im Schoß.

„Und was die Menschen hier betrifft … es war die einzige Möglichkeit, schnell und legal an viel Geld zu kommen.“

Über die Sache mit der Magie redet er nicht, das wissen sie und er will es sich ersparen, daran mehr als nötig zu denken.

Schweigend denken Mao und Alciel darüber nach. Ihnen ist beiden der bittere Unterton in Lucifers Stimme nicht entgangen und sie wissen beide nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollen. Würden sie nun einfach nur ihren Impulsen folgen, hätte jeder von ihnen den gefallenen Engel ganz fest umarmt, aber jetzt, vor dem jeweils anderen, verspüren sie beide eine große Unsicherheit.

Im Hintergrund läuft immer noch der Porno und das Keuchen und Stöhnen und Betteln der Akteure ist in dieser Zeit die einzige Geräuschkulisse in der kleinen Wohnung. So lange, bis Lucifer mit gequälter Miene zu ihnen rutscht, zwischen sie langt und die Website wieder schließt.

„Hört zu...“ beginnt er, wird jedoch durch ein lautes, polterndes Geräusch, das von draußen hereindringt, unterbrochen.

Die drei erstarren unwillkürlich. Dann seufzt Mao einmal lange und gequält auf.

„Emi...?“

Instinktiv springen sie alle drei auf die Füße und wirbeln zur Eingangstür herum, da gibt es ein erneutes Poltern, diesmal jedoch, weil sich jemand oder etwas gegen die Tür wirft.

Sie wird so heftig geöffnet, dass der Rahmen bedenklich knirscht und dann stürmt eine aufgelöste Sasaki Chiho herein.

 

 

XXV.

 

Maos, Alciels und ja, auch Lucifers allererster Gedanke ist, dass irgend etwas Furchtbares geschehen sein muss, aber ihnen wird schnell klar, dass Chihos hochrotes Gesicht, die unordentlichen Zöpfe, der leicht derangierte Aufzug und ihr heftiger Atem nicht einer ordinären Panik geschuldet sind.

Du verdammter Freak! Ich hasse dich!"

Ohne ihren geliebten Mao-sama auch nur eines Blickes zu würdigen, stürzt sie sich sofort auf den verdutzten Lucifer und gibt ihm einen heftigen Stoß vor die Brust, der diesen nach hinten stolpern lässt. Im letzten Moment kann Alciel ihn auffangen.

„Au! Du kleine Bitch!"

„Sasaki-san!“ Entsetzt starrt Alciel sie an, während sich sein Griff um Lucifers Brustkorb unwillkürlich festigt. Sein Beschützerinstinkt flammt auf und durch den plötzlichen Adrenalinschub haben sich seine Finger wieder in Krallen verwandelt, die sich nun sehr nachdrücklich in Lucifers Oberkörper bohren.

„Chi-chan!“ japst Mao zur selben Zeit. „Was soll das?" Auch er verspürt den überraschenden Drang, sich schützend zwischen Lucifer und die Teenagerin zu werfen - nein, sich auf sie zu werfen und sie bei lebendigem Leib zu zerfleischen. Geschockt über seine eigenen blutdürstigen Instinkte, erstarrt er erst einmal an Ort und Stelle.

Was das soll? Ich werd euch zeigen, was das soll!" schreit sie und hält plötzlich den Laptop in den Händen.

Sie hebt ihn hoch über ihren Kopf und schleudert ihn dann mit aller Wucht zu Boden. Plastik, Glas und Metall splittern und Lucifer gibt ein waidwundes Aufheulen von sich.

Neeeeeeiiiiin!"

Bei diesem Schrei spürt Mao, wie sich ihm alle Haare sträuben und nicht nur aus seiner Kehle löst sich ein dumpfes Knurren. Auch Alciel klingt plötzlich wie ein gereizter, an die Kette gelegter Wachhund.

Die Luft um sie herum scheint sich aufzuheizen und zu verdichten, doch Chiho bemerkt nichts davon.

„Da!" Wie von Sinnen springt die Fünfzehnjährige auf das lädierte Gerät und trampelt darauf herum. „Da! Jetzt weißt du, wie das ist, wenn man jemanden etwas wegnimmt, das man liebt!"

Du Bitch bist doch nicht ganz dicht!"

Lucifer macht einen Satz nach vorne, um sich auf sie zu stürzen und ihr seine Finger in den Hals zu graben, doch Alciels Griff um seine Brust bleibt unerbittlich. Er wird nicht zulassen, dass sich sein Engel wegen eines dummen Görs wie Chiho ins Unglück stürzt.

Chiho!"

Maos Stimme ist ein einziger, scharfer Befehl. Es ist eine Stimme, die ganze Armeen erschüttert hat, doch die tiefrote Wolke der Wut und des Hasses, die Chihos Verstand vernebelt, durchdringt sie nicht.

Von Alciel selbst kommt nur wieder ein heiseres Knurren, ansonsten ist er viel zu sehr damit beschäftigt, den wutschnaubenden Lucifer zu bändigen.

Chiho!"

Plötzlich steht Emi im Raum.

Sie packt Chiho am Arm und zieht sie schnell außer Reichweite. So sehr sie Chihos Wutanfall auch schockiert, die Kleine hat es nicht verdient, von einem tobenden Ex-Engel in der Luft zerfetzt zu werden. Noch nie in ihrem Leben war sie so froh, dass Lucifer im Moment nur ein ganz normaler Teenager ist. Der mörderische Ausdruck in seiner Miene erinnert sie nur zu gut an jenen Dämonengeneral, den sie in Ente Isla nur mit knapper Mühe und Not besiegen konnte.

Sie ist sich sicher – hätte er noch seine Magie, wäre es um Chiho geschehen.

Shinjimae!!“ schleudert Chiho ihm immer wieder und wieder entgegen und er verflucht sie in einer Sprache, die Emi noch nie zuvor gehört hat.

Auch Mao und Alciel werden zunehmend lauter und es schleicht sich zunehmend Frustration in ihren Tonfall, weil es ihnen einfach nicht gelingen will, Lucifer zu beruhigen.

Die Luft heizt sich zunehmend auf – oder kommt ihr das vielleicht nur so vor, weil sie geradezu zusehen kann, wie sich ihre dämonischen Auren verdichten? Maos Rot und Alciels Grün und darunter wieder dieser goldglitzernde Staub …

Und zu allem Überfluß auch noch eine geifernde Chiho, die sie nur mit größter Mühe daran hindern kann, sich wieder auf Lucifer zu stürzen. Würde sie nicht Chiho genauso festhalten wie die beiden Dämonen Lucifer, würde dies zweifellos in einer Katastrophe enden.

Emi fühlt sich zunehmend überfordert, sie kann mit Dämonen kämpfen, aber sie hat keinen blassen Schimmer, wie sie eine Amok laufende Teenagerin beruhigen soll. Noch schlimmer allerdings ist das Gefühl der Schuld, das sich in ihrem Magen breit macht.

Aber hätte sie Chiho belügen sollen? Sie hat ein Recht auf die Wahrheit, auch wenn diese für sie schwer zu verdauen ist.

Chiho ist fünfzehn, Herrgott nochmal! Sie hat ein normales Leben verdient und sollte sich Mao endlich aus dem Kopf schlagen!

Konnte ja niemand ahnen, dass Chiho deswegen hier einen auf Berserker macht.

„Was ist hier los?" Angelockt durch den Lärm und den plötzlichen Anstieg dämonischer Energie, steht auf einmal auch Crestia Bell im Eingang. Sie bekommt zwar keine Antwort, erfasst die Situation aber mit einem einzigen Blick.

„Emi, bring Chiho nach Hause."

Dieser einfache Befehl lässt die Heldin zu ihrer üblichen Selbstsicherheit zurückfinden.

„Es tut mir leid. Und ich bin sicher, Chiho tut es auch leid, wenn sie sich beruhigt und darüber nachgedacht hat“, entschuldigt sie sich, während sie die fluchende und sich sträubende Teenagerin entschlossen am Oberarm mit sich aus der Wohnung zerrt.

Leise schließt Crestia die Tür hinter ihnen und dreht sich dann wieder um. Zu sagen, sie sei schockiert, wäre untertrieben. Sie hat Chiho noch nie so aufgebracht erlebt. Was hat sie nur dazu bewogen, derart gewalttätig zu reagieren? Mutwillige Zerstörung passt gar nicht zu ihr.

Und Emilia war eindeutig genauso schockiert wie sie – das deutlichste Anzeichen dafür war ihre Entschuldigung, denn normalerweise würde sie sich niemals freiwillig bei den Dämonen entschuldigen, ganz egal, wie angebracht es wäre.

Auf leisen Sohlen tapst Crestia näher. Kaum hat Emi mit Chiho die Wohnung verlassen, ist ihre dämonische Energie in sich zusammengefallen und nun stehen Mao und Alciel nur noch als ganz normale Männer vor ihr (soweit dies bei ihnen möglich ist).

Schock, Wut und Zorn weichen langsam einem Ausdruck der Sorge in ihrer Mienen, während ihre Blicke auf dem Dritten in ihrem Bunde ruhen. Der kniet inzwischen auf dem Fußboden und starrt aus tränennassen Augen auf das Puzzle, das vor nicht mehr als einer Minute noch sein Lieblingsspielzeug war.

Mit zitternden Händen durchsucht er die verschiedenen Bruchteile.

„Die Festplatte scheint noch heil zu sein", murmelt er, während er das betreffende Teil einer genaueren Untersuchung unterzieht.

„Das ist gut, oder?" vorsichtig hockt sich Alciel neben ihn. Zögernd streckt er die Hand aus und berührt ihn tröstend an der Schulter.

Aber Lucifer schüttelt ihn ab und wirft ihm einen eisigen Blick zu.

„Ohne Computer kann ich das nicht überprüfen", ist seine schnippische Antwort.

„Oh."

„Und jetzt haben die Geschäfte schon geschlossen."

„Wir kaufen dir gleich morgen früh einen neuen", verspricht ihm Mao.

Alciel zuckt zusammen und wird etwas blasser, nickt aber tapfer.

Nachdenklich legt Crestia den Kopf schief. Die Dynamik zwischen den dreien hat sich eindeutig verändert. Sie scheinen näher zusammengerückt zu sein.

Lucifer atmet einmal tief durch und versucht, seine Fassung wieder zu gewinnen. Noch vor zwei Minuten war alles in Ordnung und jetzt fühlt er sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Und das Schlimmste ist – wieder mal scheint ihn niemand zu verstehen. Er fühlt sich furchtbar allein.

„Darum geht es nicht...“, knurrt er, auf der verzweifelten Suche nach einem Quäntchen Verständnis. „Aber sie kann nicht einfach hier reinstürmen und meine Sachen kaputt machen."

Das ist Kindergartenniveau. Aber vor allem beweist es ihm, wie wenig er als Person respektiert wird. Diese Teenagerin gesteht ihm nicht einmal ein Mindestmaß an Achtung zu, als besitze er keine Rechte. Oder keine Gefühle. Als wäre er ein Nichts.

Und das kommt ihn so bekannt vor.

„Stimmt“, nickt Mao, „das passt gar nicht zu Chi-chan."

Alciel wirft seinem König von unten her einen besorgten Blick zu. „Ich hoffe, Emilia kann Sasaki-san beruhigen.“

„Das hoffe ich auch.“

„Das ist ja mal wieder typisch!“ Lucifer wischt sich mit dem Handrücken über die Augen – verfluchte Teenagerhormone, seit wann ist er so nah am Wasser gebaut? - und funkelt sie dann an. „Diese Bitch macht meine Sachen kaputt und ihr macht euch Sorgen um sie! Was ist mit mir, heh?"

Alciel zuckt unwillkürlich zusammen und streckt wieder die Hand nach ihm aus.

„Lucifer..."

Doch der schnaubt nur, schiebt die Überreste seines Laptops zusammen und macht eine gleichmütige, wedelnde Handbewegung Richtung Tür.

„Schon gut. Lauft ihr hinterher. Tröstet sie. Das wollt ihr doch. Ich komme klar. Ich brauch euch nicht. Hab ich noch nie."

Er hat recht. Chiho hinterher zu rennen war Maos erster und stärkster Impuls, nachdem sein eigener Schock sich gelegt hatte, aber jetzt ist er froh, es nicht getan zu haben. Denn genau dieses Verhalten hat ihn ja erst in diese Situation gebracht, nicht wahr?

„Lucifer..." beginnt er hilflos, doch es ist überdeutlich, dass dieser ihm gar nicht mehr zuhört. Langsam, Stück für Stück, legt er die Einzelteile seines Laptops auf den niedrigen Tisch. Seine Miene ist völlig blank, doch in seinen Augen irrlichtert es. Alciel, der ihm am nächsten ist, sieht es ganz deutlich, setzt sich direkt neben ihn und legt seine Hand auf eine dieser rastlosen Hände.

Lucifer stockt und wendet ihm das Gesicht zu. Alciel wartet, bis sich dieser unstete Blick auf ihn eingependelt hat, bevor er ihre Finger miteinander verschlingt und ein aufmunterndes Lächeln wagt.

„Niemand läuft ihr hinterher.“

Lucifer starrt ihn einen Moment lang einfach nur an, nickt und beginnt dann, die Bruchstücke ziellos hin und her zu schieben. Er befindet sich ganz eindeutig in seinem ganz individuellem Schockzustand.

Mao betrachtet ihn kurz mit gerunzelter Stirn und dreht sich dann zu ihrer Nachbarin um.

„Vielen Dank für deine Hilfe, Suzuno.“

Diese nickt und läßt sich dann ohne Protest von ihm Richtung Tür führen. Doch im Eingangsbereich bleibt sie noch einmal stehen.

„Wieso war Sasaki Chiho so wütend?“ Sie hat nicht viel von dem mitbekommen, was geschehen ist, bevor sie die Wohnung betrat und sie ist neugierig. Sie wird aber nicht auf einer Antwort bestehen, sollte ihr der Dämonenkönig ausweichen. Zu ihrem Glück ist Mao durchaus bereit, ihre Neugier zu befriedigen.

„Genau weiß ich es nicht, aber ich schätze, das liegt an dem, was ich ihr heute gesagt habe. Ich ...“, er räuspert sich einmal und schenkt ihr ein verunglücktes Lächeln, „habe ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich mich aus dem Kopf schlagen soll, weil Urushihara schon mein Ehemann ist.“

Crestia blinzelt einmal. Unwillkürlich rutscht ihr Blick zu den beiden anderen Dämonen im Raum hinüber, die ihnen immer noch den Rücken zuwenden.

„Seit wann?“ will sie schließlich nur wissen.

„Seit zweihundert Jahren.“

Sie nickt bedächtig. „Ich verstehe.“ Sie zögert einen Augenblick und stellt dann etwas irritiert fest: „Emilia erzählte mir das von Suzuki Rika. Sie sagte mir auch, Alciel und Lucifer seien ein Paar.“

Sie versucht, so neutral wie möglich zu bleiben, weil sie niemanden ohne Beweise der Lüge bezichtigen will. Doch Maos Antwort überrascht sie.

„Das stimmt“, gibt er unumwunden zu. „Ashiya ist ebenfalls Urushiharas Ehemann. Jeder von uns beiden ist durch einen Blutschwur an ihn gebunden.“

„Ich verstehe.“ Sie kennt nicht alle Blutschwüre, schon gar nicht die der Dämonen, doch sie bezweifelt nicht deren Stärke und Macht. Und trotz allem ist Lucifer immer noch ein Erzengel und als solcher gehört seine Magie zu einer der Stärksten neben der Gottes. Selbst seine Verbannung aus dem Himmel und die Verderbnis durch die negative, dämonische Energie ändert nichts an dieser Tatsache. Wenn er einen Blutschwur leistete, gehört dieser unzweifelhaft zu einem der Machtvollsten. Mit so etwas spielt man nicht leichtfertig herum.

Arme Sasaki Chiho. Sie hatte von Anfang an keine Chance.

„In der Tat ist das eine Neuigkeit, die von einem naiven Charakter wie Chiho nicht leicht zu verstehen ist.“

„Das ist kein Grund, sich an meinem unschuldigen Laptop zu vergreifen!“ schimpft Lucifer aus dem Hintergrund.

„In der Tat“, stimmt sie ihm da ruhig zu und an Mao gewandt: „Es war offensichtlich.“

„Was?“ verwirrt runzelt dieser die Stirn.

Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln. „Seit Lucifer aus dem Fenster sprang, sind eure Gefühle für ihn offensichtlich. Ihr habt euch viel Mühe gegeben, euch nichts anmerken zu lassen, aber dass ihr euch sehr zugetan seid, spiegelt sich in jeder kleinen Geste wieder. Immerhin ist der Ruf vom Dämonenkönig Satan, seiner rechten Hand Alciel und seiner linken Hand Lucifer sogar bis zur Heiligen Kirche vorgedrungen. Eure Namen wurden nur furchtsam geflüstert und niemals einzeln genannt. Ihr seid die unheilige Trinität.“

„Njaaa...“ verlegen kratzt sich Mao im Nacken. „Ich schätze mal, da hat deine Kirche nicht ganz unrecht.“

Aus Lucifers Richtung kommt ein Geräusch, das wie eine Mischung aus verächtlichem Schnauben und Lachen klingt, doch da Crestia solche Reaktionen von ihm gewohnt ist, sobald sie von der Heiligen Kirche spricht, achtet sie nicht weiter darauf.

Sie verabschiedet sich mit einer höflichen Verbeugung, läßt sich von Mao galant die Tür aufhalten und geht dann hinüber zu ihrem eigenen Apartment. Auf ihrer Stirn bilden sich kleine, nachdenkliche Falten. Vielleicht haben ihr ihre Augen einen Streich gespielt, aber für einen Moment schien es ihr, als habe sie inmitten all dieser finsteren Energie goldglitzernde Funken gesehen...

 

 

XXVI.

 

Der Nachthimmel ist bedeckt, aber ab und zu lugt der Mond doch durch die Wolken. Eine schmale, silberne Sichel und ein paar vereinzelte Sterne. Es ist ungewohnt, nur einen Trabanten am Himmel zu sehen, aber gerade das macht den Reiz dieser Welt aus: sie ist neu für ihn. Und das ist aufregend, und das ist genau das, was sein Herz höher schlagen läßt. Er will es sehen. Alles. Er will es hören. Schmecken. Fühlen. Er will diese Welt aus eigener Kraft erkunden. Er will durch diesen wunderschönen Himmel fliegen. So hoch zum Mond und den Sternen wie es ihm möglich ist und dann wieder tief hinab. Er will die Wassertropfen der Wolken auf seinen Federn spüren. Und er will dicht übers Meer hinweg fliegen, so niedrig, dass er nur den Arm nach unten zu strecken braucht, bis seine Fingerspitzen durch die Wasseroberfläche pflügen und wenn er schnell genug ist, zieht er sogar eine Spur feiner, weißer Gischt hinter sich her. Er will, so kitschig das klingt, auf einer sonnendurchfluteten Waldlichtung landen und barfuß im Moos tanzen, während die Vögel über ihm in den Ästen zwitschern. Er will auf den höchsten Berg fliegen und vor dem Gipfelkreuz ein lustiges Selfie schießen. Und dann wieder schnell verschwinden, denn er ist kein Freund von Eis und Schnee.

Um seine Lippen spielt ein kleines, verklärtes Lächeln. Ohne es zu bemerken, streckt er die unverletzte Hand zum Mond aus und wird dabei besorgt von den beiden anderen Dämonen im Raum beäugt.

Es ist Mao, der sich als erster einen Ruck gibt – schließlich trägt er als Dämonenkönig eine gewisse Verantwortung - und vorsichtig zu ihm hinübergeht. Zuerst schien alles in Ordnung, Lucifer hatte sich wieder abgeregt, wirkte ruhig und gefasst, aber es dauerte nicht lange, dann bemerkten sie, dass er zu gefasst, zu ruhig war. Aber da war es schon zu spät. Sie konnten nicht verhindern, dass sich Lucifer immer mehr in sich selbst zurückzog, aber er will verdammt sein, wenn er sich das noch eine Minute länger tatenlos anschaut.

„Lucifer...“ er rechnet nicht mit einer sofortigen Reaktion, denn der Engel hat wieder diesen leeren Ausdruck in den Augen, also setzt er sich neben ihn, lehnt sich wie er mit dem Rücken an die Wand und folgt seinem Blick nach draußen.

„Der Mond ist heute besonders schön“, meint er leise, hebt ebenfalls seine Hand, verschlingt ihre Finger miteinander und zwingt Lucifers Arm dann mit sanfter Gewalt nach unten. Aber auch danach läßt er diese zierlichen Finger nicht los.

Von der Aktion seines Königs ermutigt, gesellt sich nun auch Alciel zu ihnen und quetscht sich in die Ecke auf Lucifers anderer Seite.

Zögernd, doch dann immer selbstsicherer, legt er ihm einen Arm um die Schultern und es dauert nicht lange, bis Lucifer instinktiv der Wärme seines Körpers folgt und sich gegen ihn lehnt.

„Woran denkst du gerade, Lucifer?“ wispert Alciel.

Mao auf Lucifers anderer Seite verspürt so etwas wie einen leisen Stich der Eifersucht und rückt etwas näher an den Ex-Erzengel heran. Sein Griff um Lucifers Hand wird etwas fester. Besitzergreifend.

„Lucifer...“, nuschelt Mao gegen Lucifers Halsseite, was diesen sofort erschauern lässt. Mao grinst in sich hinein und leckt einmal sachte über diese offensichtlich empfindliche Stelle und wird mit einem erneuten Schaudern belohnt.

„Fliegen.“ Als Lucifers leise, gebrochene Stimme erklingt, ist es, nachdem dieser fast eine ganze Stunde geschwiegen hatte, wie ein Schock. „Ich denke ans Fliegen. Ich will wieder diese Freiheit spüren. Nur ich und der Wind und diese Welt. Ich will fliegen und diese Welt sehen. Ich will all das in echt sehen, was ich nur im Internet sehen kann. Zuerst konnte ich es nicht, weil ich mit Olba erst genug Energie sammeln musste und weil es wichtiger war, euch zu finden und mich an euch zu rächen. Dann ging es nicht, weil wieder die Energie fehlte und ihr mich hier quasi angekettet habt, und jetzt kann ich es vielleicht nie.“

Die tiefe, unstillbare Sehnsucht und all der Schmerz in seinen Worten beschert Mao eine Gänsehaut. Unwillkürlich drückt er seine Hand etwas fester und rückt noch näher an ihn heran.

„Ich habe dir versprochen, dass wir einen Weg finden. Vertrau mir doch.“

„Im Moment... jetzt... fällt mir das alles wirklich schwer...“ Lucifers Worte werden mit jeder Silbe schwermütiger.

„Entschuldigt“, für einen kurzen Moment rafft er sich noch einmal auf und zwingt sich zu einem schiefen Lächeln. „Wenn meinem Verstand der Input von außen fehlt, stürze ich ab.“

Er versucht es wie immer mit einem Witz zu relativieren, aber diesmal fällt niemand darauf herein. Mao lehnt sich nur schweigend enger an ihn und vergräbt dann seine Nase in diesem nach Honig und Flieder duftendem Haarschopf. Er ist sich leider nur allzu sehr bewusst, dass sie Lucifer noch vor fünf Tagen in seinem stillen Schmerz links liegen gelassen hätten. Er wäre Chiho hinterhergerannt und hätte versucht, sie zu trösten, und das hätte sie natürlich nur wieder in ihrem Verliebtsein bestätigt; Alciel würde wahrscheinlich den letzten, klitzekleinen Plastiksplitter aus den Ritzen der Tatami-Matten puhlen und dabei auf Lucifer schimpfen, und dieser hätte sich garantiert in seinem dunklen Wandschrank verkrochen und würde sich mit seiner PASTA-Handkonsole trösten.

Mao muss an all die Male denken, wo sie Lucifer mit Internetverbot gedroht hatten. Sie wussten, dass ihm das Internet sehr wichtig ist, aber sie ahnten nie, wieso.

Weil es sie nie interessierte.

Wir … ICH bin ein furchtbarer Freund. Ein furchtbarer König.

Er hätte ahnen müssen, dass sich hinter Lucifers obsessiven Benehmen etwas viel Tieferliegendes als das Offensichtliche verbirgt.

„Es tut mir leid, Lucifer.“

Lucifers einzige Reaktion besteht darin, dass er den Druck von Maos Hand erwidert.

Sekundenlang sitzen sie alle drei einfach nur schweigend zusammen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

„Ich war vielleicht wirklich etwas zu streng mit dir“, flüstert Alciel plötzlich, und er drückt Lucifer ein kleines bisschen fester an seine Seite. Er hat jetzt seine Antwort auf die Frage, wo Lucifer immer ist, wenn er diesen leeren Blick bekommt, und sie gefällt ihm nicht. „Es lag nie in meiner Absicht, dass du dich hier wie ein Gefangener fühlst. Ich verstehe, dass es etwas völlig anderes ist, wenn du freiwillig drinnen bleibst oder wenn ich Druck auf dich ausübe, weil ich fürchte, dass die Polizei dich erkennt. Ich weiß, dass das völlig übertrieben ist, und dass dich die Polizei höchstwahrscheinlich gar nicht sucht, und wenn, würden sie dich sowieso nicht einsperren, ich habe inzwischen genug Zeitungen gelesen, um das zu wissen, aber ich fühlte mich so einfach sicherer. Das war egoistisch von mir.“

Er hält einen Moment inne. Doch zum ersten Mal, seit sie auf der Erde sind, hat er das Gefühl, Lucifer wieder erreichen zu können, und dieses Geschenk möchte er mit etwas Gleichwertigem belohnen. Und so will auch er einmal schonungslos ehrlich sein.

„Ich glaube, ich war einfach nur einsam. Wenn Mao-sama nicht hier ist, fällt mir schnell die Decke auf den Kopf, und es ist einfach schön, Gesellschaft zu haben.“

Überrascht hebt Mao den Kopf.

„Ashiya, warum hast du denn nie etwas gesagt? Wenn ich das gewusst hätte...“ Er hält inne. Wenn er das gewusst hätte, was hätte er schon tun können? Er kann nicht noch weniger arbeiten, das ist nur ein Teilzeitjob, und sie brauchen jeden Yen.

Alciel wirft ihm einen langen, betrübten Blick zu.

„Wie könnte ich dir das sagen, Jakobu?“ Die Tatsache, dass er plötzlich nicht nur auf jede förmliche Anrede verzichtet, sondern ihn sogar mit seinem dämonischen Vornamen anspricht, beweist, wie aufgewühlt er wirklich ist. „Wie könnte ich dich zu allem Überfluss auch noch mit meinen dummen Problemen belästigen, wo du dich doch jeden Tag abrackerst, damit wir ein Dach über den Kopf und genug zu Essen haben? Nein, ich komme klar. Ich habe Lucifer, der mir Gesellschaft leistet. Auch, wenn es mich ärgert, weil er so viel Zeit mit diesem Computerkram verbringt. Aber nur, weil ich nichts davon verstehe“, fügt er leise an Lucifer gewandt hinzu, „habe ich kein Recht, es dir zu verbieten.“

„Ashiya“, stößt Mao verblüfft hervor. „Sag mal, bist du etwa eifersüchtig auf Lucifers Computer?“

Alciel gibt ihm darauf zwar keine Antwort, aber seine langsam sich Rot färbenden Wangen verraten ihn.

Mao grinst plötzlich bis über beide Ohren.

„Weil Lucifer ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkt als dir?“

Alciel schnauft hörbar und sieht interessiert zum Fenster hinaus.

„Ah, ich verstehe.“ In Maos Stimme schleicht sich sowohl ein neckender wie auch triumphierender Tonfall. „Und deshalb willst du so sehr, dass Lucifer dir im Haushalt hilft.“

Alciel versteift sich kurz, zieht es aber immer noch vor, zu schweigen, während Mao leise vor sich hinkichert.

„Ihr seid Idioten“, erklärt Lucifer da seufzend. „Alle beide.“

Alciel schnauft nur und murmelt ein „selber“.

Mao dagegen gluckst vergnügt.

„Mag sein“, gibt er zu und rutscht dabei ein wenig hierhin und dorthin, bis er sich bequem in Lucifers Gesicht vorbeugen kann. Seine eine Hand hält noch immer Lucifers, während die Finger seiner anderen Hand ihn am Kinn packen.

„Aber du liebst uns trotzdem, nicht wahr?“

Und bevor Lucifer auch nur überrascht blinzeln kann, hat Mao die letzten Zentimeter überbrückt und küsst ihn.

 

 

XXVII.

 

In der ersten Schocksekunde erstarrt Lucifer regelrecht, dann entgegnet er den Kuss für eine weitere und in der nächsten dreht er seinen Kopf beiseite.

„Was soll das, Mao-Baka?“ verlangt er atemlos und mit heftig klopfendem Herzen zu wissen.

Und was soll das bitteschön bedeuten, er liebt sie? Dieser Burgerbrater weiß doch gar nicht, wovon er da spricht. Er kennt den Herzschmerz nicht, der mit dieser Emotion einhergeht und der alles - auch die guten, die eigentlich so wertvollen Erinnerungen - so unbarmherzig wie eine Supernova zu Asche verbrennt.

Mao aber grinst nur schief und zuckt verlegen mit den Schultern.

„Ist etwas dagegen einzuwenden, wenn ich meinen Ehemann auf andere Gedanken bringen will?“

Auch wenn das zweifellos funktioniert hat, mustert ihn Lucifer erst einmal aus mißtrauisch verengten Augen.

„Wirklich? Oder willst du vielleicht nur ausprobieren, was du im Porno gesehen hast, Mao-sama?“

Die geballte Ladung Hohn im Suffix tangiert Mao nur peripher. Abermals zuckt er mit den Schultern.

„Na ja, vielleicht ein bißchen“, gibt er nonchalant zu. „Aber nur das gute Zeugs.“

„Das gute Zeugs...?“

Grinsend legt Mao seine linke Hand auf Lucifers rechtes Knie.

„Das hier...“, langsam wandert diese Hand den Oberschenkel hinauf und dann kratzen Maos Fingernägel über die Innennaht der Jeans. Lucifer erschaudert unwillkürlich, bleibt aber standhaft und funkelt ihn herausfordernd an.

Mao beobachtet ihn ganz genau, nach außen gibt er sich zwar sehr cool und verwegen, aber tief in seinem Inneren erzittert er regelrecht vor Aufregung. Es ist schließlich das erste Mal, dass er Lucifer derartig berührt.

„Und das...“ Jetzt schummelt sich Maos andere Hand unter Lucifers T-Shirt und streichelt sachte über seine Seite. Hm … Lucifers Haut ist so warm und weich … Mao würde sich am liebsten ganz dicht an ihn schmiegen, um noch viel, viel mehr von dieser Wärme, von all dem Leben zu erhaschen.

„Und vielleicht das...?“ Maos Stimme senkt sich zu einem kehligen Schnurren, als er sich wieder nach vorne lehnt und sachte an Lucifers Unterlippe nippt.

Der erstarrt mal wieder. Er fühlt sich zurecht überrumpelt, und noch während er schwankt, ob er das hier wirklich zulassen oder doch lieber abbrechen soll, sind Maos Lippen schon wieder verschwunden, doch nur, um eine Sekunde später über die empfindliche Haut an seiner Kehle zu geistern.

„Vertrau mir“, murmelt Mao, bevor er einen zärtlichen Kuss auf Lucifers Kehle drückt. Vorsichtig, auslotend, bittend, jederzeit bereit, sich zurück zu ziehen, sollte es nötig werden.

Unwillkürlich lässt Lucifer seinen Kopf in den Nacken fallen und stöhnt leise auf. Seine Augenlider beginnen unkontrolliert zu flattern, als ein weiteres elektrisierendes Kribbeln durch alle seine Nervenbahnen jagt. Normalerweise bekommt er Panik, wenn jemand seine Kehle berührt, aber diesmal … das Gefühl von Maos Lippen, die Art, wie sein warmer Atem über seine Haut geistert und das leichte Schaben seiner Zähne und die Nässe seiner Zunge … Lucifer fühlt sich, als würde er zerschmelzen.

Noch nie hat ihn jemand dort geküsst. Noch nie! Und noch nie hat ihn jemand so behutsam behandelt, als bestünde er aus kostbarem Meissner Porzellan.

Als wäre er wertvoll.

Aus seiner Kehle löst sich ein leises Wimmern, wofür er sich bestimmt geschämt hätte, wäre er noch genug bei Verstand, um es überhaupt mitzubekommen.

„Ja? Gefällt dir das?“ Mao hält kurz inne und wirft ihm einen verschlagenen Blick zu, bevor er seine Lippen direkt zurück auf Lucifers wild pochende Halsschlagader drückt. Wieder erschauert Lucifer so schön und dann noch einmal, als Maos Finger sachte über seine Rippen tanzen.

Haltsuchend verkrallt sich Lucifers linke Hand in Maos Shirt, während sich sein ganzer Körper Maos Händen, Lippen und Zunge entgegenbiegt.

Mao gibt ein zufriedenes Summen von sich. Er ist ja so empfindlich! Mao wird es ein Vergnügen sein, herauszufinden, ob es noch mehr solcher Stellen an diesem zierlichen Körper gibt.

Dann erinnert er sich plötzlich, dass noch jemand hier sitzt und wirft Alciel einen auffordernden Blick zu.

„Komm, Ashiya, mach mit.“

Das läßt sich dieser nicht zweimal sagen, schließlich hat er nur darauf gewartet, dass ihm sein König die Erlaubnis dazu gibt. Natürlich hätte er seinen Engel am liebsten nur für sich allein, aber wenn er schon teilen muss, dann am Liebsten mit seinem König. Und während sich Mao langsam an Lucifers Hals hinunter zu dessen Schlüsselbein küsst, stürzt sich Alciel begeistert auf diese köstlichen Lippen.

Seit sie sich heute Mittag eine ganze Stunde lang geküsst haben, brennt er darauf, diese kleine „Lehrstunde“ fortzuführen. Und weil er ein gelehriger Schüler war, weiß er inzwischen, wie er seinen Engel zu küssen hat, damit dieser schnell atemlos wird.

 

 

Lucifer weiß nicht, ob er sich jemals so gefühlt hat. Er weiß nicht, ob sich jemals jemand so sehr um ihn bemüht hat. Ob jemals jemand gefühlt jeden Zentimeter seiner Haut mit soviel zärtlichen Berührungen überschüttet hat. Da sind zum ersten Mal Finger auf seinem Körper, die nur geben wollen. Kein Drängen, keine Hast, kein Ziel außer dem, ihn geduldig zu erforschen.

Das ist nicht nur neu, sondern auch erstaunlich – immerhin gehören diese Finger Mao und Alciel.

Aber diese Finger hinterlassen eine völlig andere Flammenspur auf seiner Haut als alle anderen vor ihnen – keine, die ihn verbrennt, nur eine, die eine angenehme, kribbelige Wärme hinterlässt. Eine Wärme, die sich langsam einen Weg in sein Inneres bahnt und etwas in ihm zum Schwingen bringt. Sie streicheln und küssen nur, und auch wenn besonders Maos Hände öfter über seine Oberschenkel und Knie wandern, sparen sie seinen Schritt konsequent aus (natürlich haben sie noch Hemmungen, für sie ist das völlig neu und in dieser Situation ist er ihnen dafür sehr, sehr dankbar, denn so weit will er heute nicht gehen, nicht jetzt, nicht, wenn er wehrlos ist) und trotzdem fühlt sich Lucifer wahnsinnig erregt. Aber es ist anders. Es ist besser. Das ist nicht nur Lust.

Es fühlt sich an wie … fliegen. Da ist diese Verbindung mit … mit allem, wie diese Verbindung, die er spürt, wenn er sich von einer Luftströmung tragen lässt und der Wind durch seine Federn streicht, so zärtlich, so geduldig – genau wie diese warmen Hände.

Aber unter dem Element der Luft vibriert auch immer eine gewaltige Macht, das Unberechenbare, das Gefährliche, kann doch aus einem lauen Lüftchen binnen Sekunden ein gnadenloser Sturm entstehen – und dasselbe gilt für diese Hände. Sie gehören zwei potentiell gefährlichen Dämonen. Aber da ist diese seltsame Verbindung, dieses Gefühl von uneingeschränkter Nähe und daraus resultiert … Sicherheit.

Und für einen kostbaren Moment sind sie eins …

eins-eins-eins

und dieses Gefühl ist so überwältigend, dass ihm unwillkürlich das Wasser in die Augen steigt. Zum Glück hält er sie geschlossen, weil Alciel ihn gerade hingebungsvoll küsst. Trotzdem löst sich eine einzelne Träne aus seinem linken Augenwinkel und bahnt sich ihren Weg über seine Schläfe, wo sie von einem krallenartigen Finger abgewischt wird.

„Alles okay?“ Alciel hat ihren Kuss gelöst und mustert ihn nun besorgt.

Als Mao das hört, hört er damit auf, sich über Lucifers Bauchnabel zu lecken und hebt beunruhigt den Kopf.

Benommen blinzelt Lucifer hoch in Alciels Gesicht. Unwillkürlich kurven sich seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln und er hebt die Hand, um erst sachte über Alciels chitinverstärkte Wange und dann über sein spitzes Ohr zu streicheln.

Alciel. Sei blonder Iron-Scorpion. Der ruhige See, unter dem es brodelt. Maos Fels in der Brandung. Und sein … Lieblingsdämon.

Und nichts ist gefährlicher als solche Gedanken.

„Lucifer?“

„Hmmmm?“

„Du weinst. Ist alles in Ordnung? Oder sollen wir aufhören?“

„Alles gut.“ Lächelnd wickelt Lucifer eine von Alciels blonden Haarsträhnen um seine Finger. So ein wunderschönes Eisblond. Was Alciel wohl sagen würde, wenn er wüßte, dass ein Drittel der Engel genau diese Haarfarbe ihr eigen nennt? Neben Silberweiß ist es die häufigste Farbe. Aber niemandem steht sie besser als Alciel.

Langsam rutscht sein Blick zu Mao hinüber. Für einen Moment verliert er sich in diesen rubinrot schimmernden Augen und da ist es wieder - dieses Gefühl einer tiefen Verbindung.

Er dreht den Kopf, sieht in Alciels Goldflecken-Augen und spürt es hier ebenfalls.

Aus seiner Kehle löst sich ein leiser, zufriedener Summton.

„Mir geht’s gut. Es ist nur etwas viel. Ich fühle …“, er lauscht kurz in sich hinein und runzelt irritiert die Stirn, „... zuviel?“

„Sollen wir aufhören?“

Er denkt einen Moment darüber nach und nickt dann zögernd. Er fühlt sich immer noch den Tränen sehr nahe und möchte sich weitere Peinlichkeiten lieber ersparen. Außerdem – all diese warmen Emotionen machen ihm langsam wirklich Angst, er braucht Zeit, um damit klar zu kommen.

„Seid mir nicht böse.“

„Sind wir nicht, keine Sorge“, lächelnd setzt sich Mao wieder aufrecht hin und deutet dann mit dem Daumen über seine Schulter. „Und es wird sowieso langsam Zeit, dass du deinen neuen Futon einweihst.“

Lucifer sieht hinter ihn und bemerkt erst jetzt, dass ihre Futons schon fertig ausgerollt dort liegen. Beschämt muss er feststellen, dass er wohl so einiges mal wieder nicht mitbekommen hat. Er muss sich wirklich zusammenreißen, sonst kann das böse enden.

„Richtig“, stimmt Alciel seinem König zu. „Es wird Zeit. Ihr habt morgen wieder die Frühstücksschicht, Mylord.“

Mao schneidet eine Grimasse.

„Oh, stimmt. Na ja“, meint er dann auf seine unnachahmlich optimistische Art und Weise, „einen Vorteil hat diese Schicht: Chiho ist nicht da.“

Lucifer kann nicht anders, als bei diesem Namen verächtlich zu schnauben. Und sofort hat er wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden. Oje. Jetzt werden die zwei ihn bestimmt wieder zusammenstauchen, weil er es gewagt hat, ihre kostbaren Menschen zu beleidigen.

Doch zu seiner großen Überraschung zieht ihn Mao nur in eine feste Umarmung.

„Du bekommst einen neuen Laptop, versprochen.“

Lucifer sagt nichts, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, nicht in all dieser Nähe und Wärme dahinzuschmelzen.

 

XXVIII

 

Ein neuer Morgen bricht über dem Shibuya Bezirk in Tokyo an und taucht das Gebäude, das von seiner Besitzerin „Villa Rosa Sasazuka“ getauft wurde in sanftes Licht. Golden fällt dieses Licht durch das Fenster in die kleine sechs-Tatami-Matten-große Wohnung Nummer 201 und dort, an dem niedrigen Tisch, sitzen zwei Dämonen und ein gefallener Engel an ihrem gemeinsamen Frühstück. Es herrscht eine ausgesprochen friedliche, familiäre Atmosphäre.

„Noch etwas Tee, Mylord?“ fragt der blonde Dämon eifrig und hebt die Teekanne.

„Ja, bitte“, lächelnd hält ihm Mao seine Tasse entgegen. „Vielen Dank, Ashiya.“

Dieser schenkt ihm nach und wendet sich dann an den dritten im Bunde.

„Du auch, Lucifer?“

Der hat den Ellbogen auf den Tisch abgestützt, das Kinn in die Hand gelegt und starrt versonnen aus dem geöffneten Fenster. Bei Alciels Worten schreckt er auf.

„Was? Oh. Ja“, meint er zerstreut und schiebt ihm seine Tasse zu. „Ja, danke Alciel.“

Die daraufhin folgende, geradezu ohrenbetäubende Stille reißt den ehemaligen Erzengel aus seinem leicht dösigen Zustand. Er spürt die Blicke seiner beiden Freunde auf sich gerichtet und dreht verdutzt blinzelnd den Kopf.

„Huh? Was ist los?“

„Nichts.“ Alciel lächelt milde und füllt seine Tasse neu.

Mao schmunzelt hinter seiner eigenen Teetasse.

„Ich könnte mich daran gewöhnen.“

„Ja“, stimmt ihm Alciel aus tiefstem Herzen zu. „Lucifer so zufrieden zu sehen ist eine wahre Wohltat.“

„Ich meinte die Tatsache, dass er sich bedankt.“

„Ja, das auch.“

„Oi“, protestiert Lucifer vergrätzt. „Ich bin hier, wißt ihr? Ich höre euch.“

Grinsend langt Mao zu ihm hinüber und wuschelt ihm durchs Haar, zieht seine Hand jedoch sofort zurück, als Lucifer schmerzhaft das Gesicht verzieht.

„Sumimasen“, entschuldigt er sich zerknirscht. In seiner Begeisterung hatte er doch glatt Lucifers Kopfverletzung vergessen.

„Schon gut.“ Vorsichtig fährt sich Lucifer mit den Fingerspitzen seiner linken Hand über die heilende Wunde am Hinterkopf. Er ist heute völlig ohne Kopfschmerzen aufgewacht und hatte selbst nicht mehr daran gedacht. Und um die beiden zu beruhigen, schenkt er ihnen ein kleines, aber ehrlich gemeintes Lächeln und murmelt ein „es ziepte nur ein wenig, das ist alles.“

Die beiden atmen sichtlich auf und Lucifer wird es plötzlich ganz warm ums Herz. Überhaupt fühlt er sich seit dem Aufwachen ganz warm und entspannt. Auch, wenn er es hasst, durch Maos Wecker aus dem Schlaf gerissen zu werden oder erst einmal von links und rechts einen Ellbogen oder ein Knie in den Körper gebohrt zu bekommen, weil er nicht der einzige ist, der sich von dem Geklingel fast zu Tode erschreckt. Auch hat er das Gefühl, von beiden als Teddybär mißbraucht worden zu sein, aber die beiden waren so schnell auf den Beinen und er noch viel zu schlaftrunken, es könnte also auch nur ein Traum gewesen sein.

Kein Traum ist dagegen diese ungewohnte, träge Wärme, die sich tief in seine Seele hineingeschlichen hat. Er kennt dieses Gefühl nur von einer völlig anderen Situation her: wenn er sich mit ausgebreiteten Flügeln in einer warmen Luftströmung ziellos dahintreiben lässt. Wenn er nicht nur eins ist mit dem Wind, sondern einfach mit allem und sein Kopf so völlig leer ist, dass nicht einmal die dunklen Gedanken sich aus ihrem Hinterhof wagen.

Ja, so gesehen hat Alciel wohl recht: er ist zufrieden.

Warum auch immer. Denn eigentlich ist nichts in Ordnung: sein Laptop ist zerstört und damit sein Fenster zur Welt. Sein Arm ist immer noch gebrochen. Seine Flügel sind immer noch verloren. Und zu allem Überfluss sitzt er außerhalb seines sicheren Wandschranks mit Mao und Alciel zusammen am Frühstückstisch.

Nicht an seinem Katzentisch wie üblich.

Nicht für sich allein.

Das ist schon der dritte Tag in Folge.

Und es fühlt sich gut an.

Selbst in der Dämonenwelt hatte er solche erzwungenen Zusammenkünfte nur zähneknirschend ertragen.

Und jetzt genießt er es?

Was ist denn nur los mit ihm?

„Lucifer...“

Und er kann es nicht mehr auf seine Gehirnerschütterung schieben.

„Lucifer. Oi, Lucifer.“

Finger an seiner linken Wange und der sanfte Druck von Lippen auf seiner Nasenspitze reißen ihn aus seinen Gedanken.

„Huh?“

Er blinzelt verwirrt und starrt direkt in Maos rötlich glühende Augen.

„Da bist du ja wieder. Wo warst du eben mit deinen Gedanken? Ich sagte gerade, dass ich leider nicht mit ins Elektronikfachgeschäft kann, weil ich zur Arbeit muss, aber wir können die Hälfte der Strecke zusammengehen.“

Versonnen berührt sich Lucifer an der Nase. Hat Mao ihn da eben gerade … geküßt?

„Lucifer?“

„Was? Oh. Ja, ja, klingt gut.“

Mao und Alciel wechseln einen besorgten Blick. Dann schnalzt Mao einmal mit der Zunge und mustert ihn eindringlich.

„Du wirst mir doch nicht wieder schwermütig? Du weißt, dass du mit uns reden kannst, wenn dich etwas bedrückt.“

Lucifer zögert einen Moment. Er spürt, wie er verlegen errötet.

„Weil es unter Eheleuten nun einmal so üblich ist?“ versucht er sich in einen Scherz zu retten, doch Mao und Alciel bleiben todernst.

Und während Alciel nickt, kurven sich Maos Lippen zu einem kleinen Lächeln und er lehnt sich wieder zu ihm vor. Und plötzlich liegt seine Hand in Lucifers Nacken und er zieht ihn daran näher zu sich.

„Genau“, bestätigt er, bevor er seine Lippen auf Lucifers presst und sich den ersten Kuss des Tages stiehlt.

Lucifer spürt, wie sein Herz einmal kurz stockt, um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Etwas tief in ihm erzittert und drängt sich Mao regelrecht entgegen und sein Körper will dem folgen, doch noch bevor er einen Finger rühren kann, hat sich Mao wieder zurückgezogen.

Lucifers Kehle entringt sich sofort ein enttäuschtes Wimmern, was ihm einen überraschten Blick von Mao einfängt. Und dann, ganz, ganz langsam, breitet sich ein Grinsen auf Maos Gesicht aus und Lucifer ahnt Schlimmes. Und er soll recht behalten.

„Und ich glaube, wie bei einem richtigen Ehepaar, steht mir ein anständiger Abschiedskuss zu.“

Und bevor Lucifer auch nur daran denken kann zu protestieren, verstärkt sich Maos Griff um seinen Nacken und er hat ihn zu einem weiteren Kuss zu sich herangezogen. Er hat eindeutig dazugelernt, denn er hält sich gar nicht erst lange mit irgendwelchen Vorspielen auf und nutzt Lucifers Überraschung sofort aus. Kompromisslos schiebt er ihm seine Zunge in den Mund und hat ihn binnen der ersten Sekunde schon in ein leidenschaftliches Zungenduell verwickelt. Lucifer weiß gar nicht, wie ihm geschieht, aber das ist gut. Oh, so gut! Sein Herz rast und wieder ist da dieses Zittern in ihm. Leise in ihren Kuss hineinseufzend, krallt er sich in Maos T-Shirt und schmiegt sich in dessen Umarmung.

Reiner Luftmangel zwingt Mao schließlich dazu, diesen himmlischen Kuss zu lösen und dann stellt er überrascht fest, dass Lucifer irgendwie irgendwann auf seinem Schoß gelandet ist.

„Wow“, macht er leise. Zärtlich streicht er Lucifer die Haare zurück, die immer seine rechte Gesichtshälfte bedecken, um einen besseren Blick auf sein gesamtes Gesicht werfen zu können. Und es ist ein verdammt schöner Anblick. Lucifers Wangen überzieht eine aparte Röte und in seinen wunderschönen violetten Augen liegt ein grenzenlos verklärter Glanz. Ganz ähnlich diesem Glanz, den sie bekommen, wenn er vom Fliegen spricht.

Mao wird es ganz warm ums Herz. Unwillkürlich schließt er ihn in seine Arme und drückt ihn fest an sich. Er will ihn nie wieder hergeben.

Plötzlich durchbricht Alciels leise Stimme seine kleine Wohlfühlblase.

„Mylord, Ihr solltet Euch wirklich langsam fertig machen.“

Er klingt verdächtig angespannt und als Mao den Kopf in seine Richtung dreht und seinem ernsten Gesicht begegnet, fühlt er sich plötzlich unglaublich schuldig.

Doch nur für eine Sekunde.

Ah, verdammt, Alciel, du hast ihn den ganzen Tag für dich. Krieg dich wieder ein.

Aber er schluckt diese Worte herunter und zwingt sich zu einem fröhlichen Lächeln.

„Stimmt. Danke, Ashiya.“

Schweren Herzens schiebt er Lucifer von sich herunter. Dieser hat glücklicherweise inzwischen wieder etwas zu sich selbst gefunden und rutscht ab einem gewissen Punkt aus eigenem Antrieb zurück. Seine Wangen sind feuerrot und er kann ihm nicht in die Augen sehen, aber ehrlich gesagt, geht es Mao da nicht besser.

Mao begeht den Fehler, in Alciels Richtung zu sehen und wäre beinahe zusammengezuckt, so durchdringend ist dessen Blick.

Aber bevor die Stimmung endgültig zu kippen droht, klingelt es an der Tür.

Alle drei erstarren auf der Stelle und werfen sich verwirrte Blicke zu. Wer mag das sein, so früh am Morgen?

„Ich bin unschuldig“, erklärt Lucifer hastig. „Ich habe nichts bestellt.“

„Das hat auch niemand behauptet“, erwidert Mao beruhigend und ganz besonders sanft. Er fühlt sich schuldig. Wie oft müssen sie Lucifer schon auf diese Weise beschuldigt haben, wenn das das Erste ist, was ihm zu einem Überraschungsbesuch einfällt?

Es klingelt erneut, aber Alciel ist schon aufgestanden und unterwegs zur Tür und während er sie öffnet, erheben sich hinter ihm auch Mao und Lucifer, bereit, ihren frühen, unerwarteten Besuch gebührend zu empfangen – je nachdem, was dessen Begehr sein mag.

„Guten Morgen. Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung.“ Im Gang steht ein Mann in den späten Dreißigern in Anzug und Krawatte, der Alciel und Mao vage bekannt vorkommt. Doch erst, als er sich verbeugt und dadurch Chihos schmale Gestalt hinter ihm für einen Moment sichtbar wird, erinnern sie sich wieder, woher sie ihn kennen.

„Darf ich eintreten?“ bittet Sasaki Senichi mit einem neutralen Lächeln. „Ich muss mit Ihnen reden.“ Sein Blick fällt auf Lucifer. „Vor allem mit Ihnen, junger Mann.“

 

 

XXIX.

 

 

Chiho holt einmal tief Luft, verbeugt sich dann tief vor dem verdutzten Lucifer und rattert so schnell herunter, dass sich die Worte fast miteinander vermischen:

„Ich entschuldige mich aufrichtig dafür, dass ich deinen Laptop kaputt gemacht habe.“

Sie zögert und schielt zu ihrem Vater hinüber. Der mustert sie nur streng und macht eine auffordernde Geste. Sie verzieht das Gesicht, verbeugt sich aber dennoch gehorsam ein zweites Mal.

„Und ich entschuldige mich für all die gemeinen Sachen, die ich zu dir gesagt habe“, stößt sie widerwillig hervor. „Und dafür, dass ich dich geschubst habe.“

Das einzige, was sie wirklich aus tiefsten Herzen bereut ist ihre eigene Dummheit, sich gestern Abend heulend in die Arme ihrer Eltern geflüchtet zu haben und von ihnen so gut erzogen worden zu sein, dass sie ihnen am Ende sogar das mit dem Laptop gestand.

Trotzdem hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Vater sie noch vor seinem Dienstbeginn hierher fahren und sie zu dem hier zwingen würde.

Darüberhinaus -

„Sie kommt selbstverständlich für den Schaden auf“, hört sie ihren Vater sagen. Unwillkürlich ballt sie die Hände zu Fäusten, doch sie hält den Kopf eisern gesenkt und versucht, eine neutrale Miene zu ziehen, obwohl sie innerlich am Kochen ist. Das ist so unfair!

„Das ist wirklich nicht-“ beginnt Mao und sie wirft ihm einen dankbaren Blick zu. Aber ihr Vater bleibt stur und unterbricht Mao sofort.

„Ich bestehe darauf. Unsere Versicherung bezahlt zwar den Schaden, aber es wird eine Differenz zwischen dem Zeitwert und dem Neupreis geben. Und meine Tochter wird diese Differenz aus eigener Tasche bezahlen, damit sie aus ihren Fehlern lernt.“

Verärgert beißt sie sich auf die Unterlippe, zwingt sich aber wieder demütig zu Boden zu starren.

„Das ist wirklich nicht nötig“, versucht es Mao mit einem besorgten Blick zu Chiho hinüber erneut. Er weiß, wie wenig sie bei MgRonald's verdient.

„Ich bestehe darauf.“

„Ich wollte mir endlich mal ein Spitzenteil kaufen“, murmelt Lucifer alles andere als begeistert vor sich hin. Er weiß, dass er das unter diesen Umständen jetzt vergessen kann. Weder Mao noch Alciel werden es zulassen, dass er mehr von Chiho annimmt, als diese es sich leisten kann.

Doch er erhält unerwarteterweise Schützenhilfe von Chihos Vater persönlich.

„Kaufen Sie sich, was Sie möchten, junger Mann. Der Preis spielt keine Rolle. Meine Tochter hat Strafe verdient“, fügt er mit einem scharfen Blick zu Chiho hinzu.

Lucifer wirft erst Alciel und dann Mao einen zögernden Blick zu, doch ihren Mienen ist nicht zu entnehmen, ob sie derselben Meinung sind. Das ist gemein. Zum ersten Mal, seit er hier mit ihnen lebt, wollen sie ihn etwas frei entscheiden lassen - und dann ausgerechnet das?

Oder ist das ein Test? Muss er ihnen beweisen, dass er nett und verzeihend und selbstlos sein kann – dass er so sein kann wie sie, dass er sich integrieren kann? Wenn er jetzt nicht so handelt, wie sie es von ihm erwarten, werden sie ihn dann wieder fallenlassen wie eine heiße Kartoffel?

Bei dem Gedanken daran schnürt es ihm die Brust zusammen.

Er ist so tief in seine Gedanken versunken, dass er die Worte, die Mao mit Sasaki wechselt, gar nicht mitbekommt, aber er schreckt auf, als er Alciel sagen hört:

„Ich werde euch sicherheitshalber begleiten, Sasaki-san.“

Da bitte. Lucifer schluckt einmal trocken. Er wusste es doch.

 

 

Das zweite Mal innerhalb einer Woche sitzt er im Fond des Wagens der Sasakis und wieder genau zwischen Alciel und Mao, während Chiho wieder auf dem Beifahrersitz thront. Der einzige Unterschied ist wirklich, dass diesmal Herr Sasaki am Steuer sitzt.

Und genau wie damals ist Lucifer tief in seinem Kopf abgetaucht – wenn auch diesmal aus anderen Gründen. Er kann nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, wie ungerecht das ist. Noch vor drei Tagen hätte er diese kleine Bitch ausgenommen wie eine Weihnachtsgans und wäre nur durch Maos und Alciels Intervention zu stoppen gewesen. Er hätte sich notgedrungen gefügt und er hätte es gehasst. Er hätte Mao und Alciel dafür gehasst. Aus tiefsten Herzen. Sie hätten ihm Ketten angelegt und er hätte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Aber jetzt findet er sich in der unerträglichen Situation wieder, diese Ketten nicht nur stillschweigend zu erdulden, sondern sie sich auch freiwillig selbst anzulegen, weil er keinen Streit mehr riskieren will.

Das nennt man emotionale Erpressung und er hat sich diese Grube selbst gegraben. Warum fällt er eigentlich immer wieder in dieses Muster zurück?

Er ist so tief in seine düsteren, selbstquälerischen Gedanken versunken, dass er es erst gar nicht bemerkt, als der Wagen plötzlich stehenbleibt.

„Hanzō.“ Er reagiert nicht auf seinen japanischen Vornamen, aber auf Maos Stimme und seine Hand an seiner Wange. Er blinzelt einmal und stellt verblüfft fest, dass Mao schon aus dem Wagen geklettert ist und sich jetzt nur noch einmal zu ihm hineinbeugt.

Huh? Was? Sind sie schon da? Doch da bemerkt er, dass sie am Straßenrand stehen und niemand außer Mao den Wagen verlassen hat und begreift, dass sie auf dem Weg zum Elektronikfachgeschäft nur angehalten haben, um Mao bei MgRonald's abzusetzen.

„Mata ne“, verabschiedet sich Mao und ganz kurz flackert sein Blick verstohlen zu Sasaki und Chiho nach vorne. Und dann lehnt er sich noch weiter in den Fond hinein, streicht Lucifer über die Wange und gibt ihm einen Abschiedkuß.

Es ist nur Theater, aber für Lucifer fühlt es sich verdammt echt an.

Mao zwinkert ihm noch einmal verschmitzt zu, zieht ihm neckisch das Cap über die Augen und geht.

Dann fällt die Tür ins Schloß und der Wagen fährt wieder los. Chiho ist blaß geworden und zieht eine Schnute, und Herr Sasaki tut so, als hätte er nichts bemerkt.

Und Alciel … nimmt Lucifer Hand in seine und verschlingt ihre Finger miteinander.

 

 

Keine zehn Minuten später betreten sie ein großen Fachmarkt für Elektronik, angeführt von Herrn Sasaki, ihm folgen Alciel und Lucifer und Chiho trottet mit düsterem Gesicht hinterher.

Sie ist so nahe daran, ihrem Vater alles zu erzählen. Dass Urushihara vor vier Monaten diverse Geschäfte überfallen hat und dass er nicht nur mit Mao, sondern auch mit Ashiya zusammen ist. Das ist bestimmt nicht legal. Aber während sie Urushihara alles Schlechte der Welt wünscht, gilt das nicht für Mao (und Ashiya), also wird sie auch nicht verraten, dass Urushihara noch minderjährig ist. (Natürlich weiß sie es besser, aber in Urushiharas Papieren steht es nun einmal so.)

Und so hält sie ihre Klappe und macht gute Miene zum bösen Spiel. Denn wer weiß – wenn sie sich jetzt erwachsen verhält, erkennt Mao vielleicht doch noch, was er an ihr hat?

Er ist zwar leider nicht hier, um es live mitzuerleben, aber Ashiya wird ihm bestimmt alles erzählen. Er erzählt ihm immer alles. Also reißt sie sich am Riemen, versucht sogar eine neutrale Miene zu ziehen, auch, wenn ihr das sehr schwer fällt.

Sie ist immer noch wütend, aber auch enttäuscht und verletzt – warum musste Mao diesen Freak küssen? Ist es ihm wirklich egal, wie weh ihr das tut? War alles zwischen ihnen wirklich gelogen? Nein, entschieden schüttelt sie den Kopf, das kann nicht sein. Vielleicht will er sie nur schützen, so wie vor zwei Wochen, als er ihr vorschlug, ihre Erinnerungen an ihre Entführung durch Sariel zu löschen? Wenn es jemanden gibt, der geliebte Menschen von sich wegstößt, um sie zu schützen, dann ist das Mao Sadao. Ja, so muss es sein. Er möchte nur nicht, dass sie wieder zwischen die Fronten gerät. Wie konnte sie nur jemals an seiner Liebe zu ihr zweifeln?

Und so kommt es, dass sie, als sie die Computerabteilung betreten, schon wieder guter Laune ist.

Die aber noch einmal einen argen Dämpfer erhält, als sie sieht, vor welchem Regal Lucifer stehengeblieben ist und die Preise sieht.

 

 

Langsam läßt Lucifer seine Blicke über die ausgestellten Modelle wandern. Er weiß genau, was er will, aber er wagt es kaum, diesen Laptop auch nur anzusehen – der Preis ist wirklich einschüchternd. Also konzentriert er sich auf die mittelklassige Ware. Dabei ist er sich jeder Sekunde der bohrenden Blicke der anderen bewusst. Es dauert nicht lange, dann hat er sich entschieden, aber als er die Hand ausstreckt, um danach zu greifen, fällt ihm Alciel in den Arm.

„Oi, komm schon“, seufzt Lucifer. „So teuer ist der nicht.“

Aber Alciel starrt ihn einen Moment lang einfach nur an und schüttelt dann leicht den Kopf.

„Du mißverstehst da etwas, Hanzō-chan. Kauf dir, was du willst.“

Hanzō-chan? Lucifer steht normalerweise so gar nicht auf seinen japanischen Vornamen und -chan geht bitte schon mal gar nicht, aber so, wie Alciel es betont, fährt ihm ein wohliger Schauer über die Wirbelsäule und in der ersten Sekunde überhört er daher glatt, was Alciel ihm noch sagt. Doch dann blinzelt er ihn aus großen Augen an.

„Wie bitte? Hast du mir eben wirklich einen Freifahrtschein erteilt?“

„Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken, als Mao das mit Sasaki besprochen hat? Sie haben sich auf ein Limit von 60.000 Yen geeinigt. Alles, was darüber liegt, bezahlen wir selbst. Und da wir dein Geld noch nicht angerührt haben, kannst du ruhig nochmal dieselbe Summe drauflegen. Aber ich würde dir raten, nicht alles auszugeben und wenigstens die Hälfte zu sparen.“

Lucifers Augen leuchten auf.

„Kann ich mir dann auch noch eine richtige Spielekonsole kaufen plus ein paar Spiele?“

„Natürlich. Wenn es Multiplayer-Games sind.“

Im ersten Moment glaubt Lucifer, sich verhört zu haben.

„Du... willst mit mir zocken?“

Alciels Wangen überzieht plötzlich eine leichte Röte und für einen Moment weicht er Lucifers Blick aus, doch dann nickt er zögernd und lächelt verlegen.

„Nur, wenn es dir recht ist...“

Lucifer ist für eine Sekunde tatsächlich wie gelähmt, dann blinzelt er einmal und umarmt den anderthalb Köpfe größeren Dämonen spontan.

Das ist ein sehr unschickliches Benehmen, doch ausnahmsweise ist das Alciel einmal egal und er drückt ihn ganz fest an sich.

 

 

XXX.

 

Erschöpft lässt sich Mao Sadao auf die unterste Treppenstufe sinken. Er fühlt sich ausgelaugt, aber das ist normal und wird sich schnell wieder geben. Es kostet viel Energie, sich drei Kilometer weit von Dach zu Dach zu teleportieren. Er hätte wirklich daran denken sollen, als er sich heute von Sasaki-san mitnehmen ließ, dass er ohne sein Fahrrad so gut wie aufgeschmissen ist. Natürlich hätte er den Heimweg mit dem Bus bestreiten können – aber das dauerte ihm zu lange. Er wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Zum Glück ist sein Magiekern noch gut aufgeladen, so dass er auf seine Teleportationskräfte zurückgreifen konnte. Heimlich. Über die Dächer, damit man ihn nicht sah. Und in kleinen Etappen, weil er sehen muss, wohin er sich teleportiert – er landet ungern mitten in einer Mauer. Und das alles nach einer Doppelschicht, zu der er sich dummerweise überreden ließ.

Früher hätte er sich über diesen Zusatzlohn wirklich gefreut, doch heute empfindet er das Ganze nicht nur rückblickend als verschwendete Lebenszeit.

Das ist ein völlig neues Gefühl für ihn.

Aber er musste ständig an Lucifer denken und daran, wie er diese Zeit am Burgergrill oder hinter dem Verkaufstresen viel besser nutzen könnte. Mit ihm und Alciel. Wie gerne würde er das von gestern Abend noch einmal wiederholen. Es fühlte sich so gut, so aufregend und warm an, als sie ihren Engel mit Zärtlichkeiten überschütteten, und als dieser langsam unter ihnen dahinschmolz, schmolz auch etwas in ihm, und er will mehr, viel mehr davon. Ob das dieses Gefühl ist, das die Menschen Sehnsucht nennen?

Als er so auf der Treppe sitzt und langsam wieder zu Kräften kommt, weht aus dem halbgeöffneten Fenster schräg über ihm ein seltsames Geräusch zu ihm hinunter. Es dauert etwas, bis er es als Alciels Lachen erkennt. Es ist wieder dieses herzliche, ausgelassene Gelächter, das er in den letzten Jahren so selten gehört hat, so dass er schon ganz vergaß, wie schön es klingt. Und so bleibt er einen Moment lang einfach nur sitzen und hört zu. Und als sich dann auch noch Lucifers Gelächter dazumischt, kann er sich ein kleines Lächeln nicht mehr verkneifen.

Was auch immer die beiden dort machen – sie haben eindeutig viel Spaß.

Plötzlich von neuem Elan durchströmt, springt er auf und eilt die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf.

„Ich bin wieder zurück!“

Beschwingt tritt er durch die Tür und bleibt dann erstmal wie angewurzelt stehen.

Oh. Huh. Mao blinzelt einmal und dann ein weiteres Mal, doch das Bild verändert sich nicht.

Es ist nicht so sehr der mittelgroße Flachbildschirm, der plötzlich auf dem kleinen Katzentisch steht, oder die weiße Spielekonsole daneben, was ihn so überrascht– ehrlich gesagt, schenkt er all dem kaum einen Blick – sondern der Anblick seiner beiden Generäle, die nebeneinander auf dem Rücken auf den Tatamimatten liegen und ausgelassen lachen.

Er hat sie zwar schon gehört, aber das … von Lucifer ist er solch ein Benehmen gewöhnt, aber Alciel? Der pingelige, immer so überaus korrekte, auf seine Würde bedachte Alciel?

Und das Beste ist: er hat ihn noch nicht einmal bemerkt. Ein wenig pikiert darüber, übersehen zu werden, pellt sich Mao aus Jacke und Schuhen und versucht es dann erneut, diesmal etwas lauter:

„Ich bin zurück!“

Während sich Lucifer nur lässig auf die Seite rollt und ihm zuwinkt, springt Alciel sofort schuldbewußt auf die Füße.

„Oh, Mylord, verzeiht. Willkommen Daheim.“

Er macht einen hastigen Schritt auf ihn zu, bemerkt dann aber, dass er noch den Controller in der Hand hält, reicht diesen Lucifer und kommt Mao dann entgegen.

„Ich sehe, ihr habt Spaß“, kommentiert Mao belustigt und ignoriert entschlossen den leisen Stich der Eifersucht in seinem Herzen. Er hätte auch so viel Spaß haben können, wenn er nicht diese blöde Schicht hätte übernehmen müssen!

„Verzeiht, ich werde Euer Essen gleich auftischen.“ Alciel verbeugt sich mit hochrotem Gesicht und eilt schnell den einen Meter weiter zur Küchenzeile, wo er sofort beginnt, mit Töpfen und Tellern zu hantieren.

„Ashiya“, fühlt sich Mao sofort bemüßigt, ihn zu beruhigen, „bitte, nur keine Eile. Es muss nicht immer alles schon auf dem Tisch stehen, wenn ich nach Hause komme. Ich freue mich viel mehr darüber, wenn ich sehe, dass ihr euch so gut versteht.“

„Oi, Mao-Baka, du bist doch nicht etwa neidisch?“ ruft Lucifer da vergnügt. „Wir haben noch einen dritten Controller, komm her und spiel mit.“ Vielsagend deutet er auf einen einsam auf dem Tisch liegenden Controller.

Das läßt sich Mao nicht zweimal sagen.

„Hast du den ganzen Laden leergekauft?“ scherzt er, als er sich schließlich neben ihm niederlässt.

„Keine Sorge“, grinst Lucifer, während er sich wieder aufrappelt, „der Bildschirm und die Konsole waren Vorführmodelle, die waren supergünstig.“ Und dann fügt er verschmitzt, mit einem schnellen Blick zu dem Blonden in der Küche hinzu: „Ich kann doch nicht riskieren, dass mein Ehemann Alciel einen Herzinfarkt bekommt. Das wäre meinem anderen Ehemann Mao-sama bestimmt nicht recht.“

Maos Antwort besteht aus einem zustimmenden Brummen. Er hört ihm nur mit halben Ohr zu, während er versucht, aus den verschiedenen Knöpfen auf dem Controller irgendwie schlau zu werden. Warum sieht das so kompliziert aus? Es ist doch nur ein Spiel.

„Jakobu?“

„Hm?“ fragend blickt er auf und sieht sich plötzlich mit einem überraschend schüchternen Lucifer konfrontiert.

„Hier.“ Mit vor Verlegenheit hochroten Wangen reicht er ihm eine kleine Schachtel. „Für dich.“

Verdutzt nimmt Mao sie entgegen und seine Verwirrung steigert sich noch, als er erkennt, dass es sich um ein Smartphone handelt.

„War ein Angebot“, beeilt sich Lucifer zu versichern und fügt dann mit einem schiefen Lächeln und einem verlegenen Schulterzucken hinzu:

„Alciel hat dasselbe bekommen. Du kannst schließlich nicht immer nur mit diesem alten Klapphandy herumrennen. Und wenn ihr mir schon eine Spielekonsole gestattet, dann kann ich ruhig noch etwas für euch drauflegen, oder?“

Perplex starrt Mao erst ihn an und dann auf die kleine Schachtel in seiner Hand. Er hat plötzlich ein furchtbar schlechtes Gewissen. Aber es dauert nicht lange, und dann überwiegt die Freude. Wenn Lucifer ihnen gegenüber so großzügig ist, bedeutet das doch, dass der Bruch zwischen ihnen wirklich heilt, nicht wahr?

„Danke-“, beginnt er, doch in diesem Moment beginnt Alciel hinter ihnen laut zu greinen.

„Oh nein, wie konnte mir das nur passieren? Mylord, ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht.Ich war zu sehr abgelenkt und habe vergessen, den Reiskocher anzustellen. Es dauert noch eine halbe Stunde, bis das Essen fertig ist.“

Mao öffnet den Mund, doch Lucifer ist schneller.

„Dann komm wieder her und spiel mit uns, Alciel!“

 

 

 

Das Abendessen verläuft in einer genauso entspannten Atmosphäre wie das Frühstück – und diesmal gesellt sich sogar noch Lucifers ungewohnt vergnügte Stimmung dazu. Selbst sein offensichtliches Handicap in Form seines geschienten Unterarms und der eingeschränkten Nutzbarkeit seiner Hand scheint ihn diesmal nicht wirklich zu stören. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass Alciel ihm anstatt Stäbchen diesmal Gabel, Löffel und Messer gibt.

Mao jedoch verspürt bei diesem Anblick, wie Lucifer umständlich das Essen in sich hineinschaufelt, nur wieder ein schlechtes Gewissen. Und daher zieht er sich nicht wie sonst nach dem Abendessen mit einem Manga zurück – oder, was heute vielleicht eher der Fall wäre, greift zum Controller um sich mit seinen beiden Generälen wieder ein virtuelles Rennen zu liefern – sondern holt kurzentschlossen ihre Jacken und wirft sie ihnen zu.

„Kommt mit.“

„Ich auch?“ erkundigt sich Lucifer irritiert.

„Ja, Lucifer, gerade du.“

Lucifer runzelt die Stirn, zieht es aber vor, bei diesem Tonfall und unter diesem rotglühenden Blick lieber nicht zu protestieren. Dabei hatte er wirklich gehofft, dass sie weiter MarioKart zocken könnten, denn er hatte selten so viel Spaß. Wenn sie mit ihren Avataren mitfiebern zeigen sich Mao und Alciel mal ganz unverfälscht und lassen ihren Emotionen freien Lauf und es gibt nichts Faszinierendes als einen nach Herzenslust fluchenden Alciel oder einen heimtückisch kichernden Mao, wenn dieser wieder eine Bananenschale in den Weg seiner Gegner wirft. Wenn diese dämonische Seite unter ihrer angepassten, menschlichen Fassade hervorblitzt, fühlt sich das beruhigend vertraut an – vorausgesetzt, es richtet sich nicht gegen ihn.

„Wohin gehen wir, Mylord?“ fragt Alciel, während er gehorsam in seine Jacke schlüpft.

„Wir“, erklärt Mao mit unternehmungslustig blitzenden Augen und stemmt die Fäuste in die Hüften, „gehen jetzt ins Kino und sehen uns den schlimmsten Horrorfilm an, den sie zu bieten haben. Und wenn das nichts bringt, wechseln wir zu einem Porno.“

„Unser Budget...“ jammert Alciel automatisch, bis ihm Lucifers Geld wieder einfällt. Dann zieht er zwar immer noch eine Grimasse, klappt aber den Mund wieder zu.

Lucifer verdreht nur die Augen, wirft sich seine Jacke über die Schultern und trottet dann zu den anderen beiden hinüber zum Schuhschrank.

„Ich habe Lucifer ein Versprechen gegeben und es wird Zeit, dem Taten folgen zu lassen“, erklärt Mao derweil ernst. „Einen Versuch ist es wert und wenn es nicht klappt, hatten wir wenigstens einen schönen Abend zusammen.“

Lächelnd wuschelt er Lucifer durch die Haare.

Der seufzt nur ergeben.

 

 

XXXI.

 

„Es tut mir leid.“ Mao fühlt sich schuldiger denn je. Erst jetzt wird ihm bewusst, wieviel Hoffnung er in diesen Versuch gelegt hatte und wie bitter und schmerzhaft die Enttäuschung sein kann. Es fühlt sich schlimmer an als seine Niederlage gegen Emilia Justina. Schlimmer als die Frustration der ersten Tage und Wochen auf der Erde, als jede Stunde ein verzweifelter Kampf ums Verstehen war, wie diese Gesellschaft, ja, sogar wie dieser menschliche Körper funktionierte. Es ist fast so schlimm wie der Moment vor fünf Tagen, als Lucifer vor ihnen aus dem Fenster floh.

Ist das wirklich erst fünf Tage her? Es kommt mir vor wie ein ganzes Leben. Es ist so viel passiert in diesen fünf Tagen.

„Es tut mir leid.“ Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit ist Mao den Tränen nahe.

Alciel sagt nichts, seine Schuld schnürt ihm eindeutig die Kehle zu, aber seine Miene spiegelt all jene Gefühle wider, die auch Mao das Herz zerreißen.

Lucifer saugt nur lautstark den letzten Rest Cola mit dem Strohhalm aus seinem Pappbecher und zuckt nonchalant mit den Schultern.

„Ehrlich gesagt, habe ich nichts anderes erwartet“, erklärt er, während er den Müll dann in einem nahem Abfalleimer beseitigt. „Es war ein cooler Horrorstreifen. Und ein schöner Abend. Das alleine war es wert.“

Für seinen Geschmack sind das ungewohnte, viel zu tröstende Worte aus seinem Mund, aber wenn diese beiden Idioten jetzt in aller Öffentlichkeit in Tränen ausbrechen, wäre es noch peinlicher.

„Der Abend ist noch nicht vorbei.“ Entschlossen wendet sich Mao Richtung Treppe.

„Echt jetzt? Du willst das wirklich durchziehen?“

„Ja“, kommt es in einem Tonfall zurück, der keinen Widerspruch duldet.

Lucifer seufzt einmal tonlos auf und Alciel fühlt sich eindeutig nicht mehr ganz wohl in seiner Haut, doch sie folgen ihrem König gehorsam, als dieser die Treppe hinuntergeht, um sich an der Kinokasse wieder anzustellen. Als es zum Kartenkauf kommt, gibt es beinahe denselben kleinen Skandal wie vor zweieinhalb Stunden, als sie Tickets für den Horrorfilm kauften, weil sich auch hier der Verkäufer weigert, ein Ticket für den minderjährigen Urushihara herauszurücken, aber Mao regelt das – zum zweiten Mal an diesem Abend - schnell mit etwas Gedankenkontrolle.

Und dieser kleine Trick kostet ihn nicht mehr als ein müdes Augenblinzeln.

Lucifer erstarrt, als er das sieht. Beim ersten Mal hat er noch darüber gelacht, aber jetzt, ganz plötzlich, fühlt er sich plötzlich wieder so unendlich schwach.

Ohne seine Magie ist er genauso hilflos wie der arme Verkäufer eben – würde Mao sein Gedächtnis manipulieren, wäre er dem nicht nur wehrlos ausgesetzt, sondern könnte sich logischerweise auch nicht mehr daran erinnern.

Was … was ist, wenn er davon schon Gebrauch gemacht hat?

Bis eben war ihm der Verlust seiner eigenen Macht nur wie ein bohrender Stachel im Fleisch vorgekommen, der Schmerz darüber war etwas abgeflaut, als hätte man eine dicke Wolldecke darüber geworfen, aber jetzt trifft es ihn wieder mit voller Wucht. Er hat nicht nur seine Flügel verloren, sondern auch jede Widerstandsfähigkeit gegen dämonische Magie.

Er ist tatsächlich schwach und absolut hilflos.

Sogar noch hilfloser als die Menschen, denn diese stehen bei Mao immerhin unter Welpenschutz. Er manipuliert sie ungern und nur, wenn ihm nichts anderes mehr übrigbleibt.

„Urushihara?“

Nein, das würde ihm Mao nicht antun, oder? Jedenfalls jetzt nicht mehr. Oder?

„Hanzō.“

Nein, niemals. Er muß aufhören, so paranoid zu sein.

„Lucifer.“

Er zwingt sich zu einem Lächeln und nimmt die Karte entgegen, die ihm Mao auffordernd entgegenstreckt.

„Entschuldige.“ Er verzichtet darauf, sich zu erklären, denn er will nicht lügen. Glücklicherweise besteht Mao nicht auf einer Antwort. Er mustert ihn nur ernst und legt ihm dann eine Hand auf die Schulter.

„Ich bin zuversichtlich, dass es diesmal klappt“, verspricht er ihm dann.

Und Lucifer, erleichtert darüber, dass Mao seine geistige Abwesenheit so gründlich mißinterpretiert hat, nickt nur.

 

 

Es funktioniert nicht. Die Luft in dem kleinen, dunklen Kinosaal schwirrt nur so vor sexueller Energie, doch … es funktioniert nicht.

Wie erwartet sind die Zuschauer mehr mit sich selbst als mit dem schlüpfrigen Geschehen auf der Leinwand beschäftigt, aber – es funktioniert einfach nicht. Er spürt nicht dasselbe, elektrisierende Kribbeln wie damals, als er sich das letzte Mal in der Gesellschaft notgeiler Menschen aufhielt. Er spürt nur seine eigene, bittersüße Erregung, das heiße Aufwallen seiner Teenagerhormone, angestachelt durch das, was über die Leinwand flimmert und dem unanständigen Treiben der Menschen um ihn herum.

Das ist enttäuschend, aber Lucifer drängt dieses Gefühl mit aller Macht wieder zurück in die verräterische Ecke, aus der es gekrochen kam. Lieber konzentriert er sich auf die beiden Dämonen links und rechts neben sich, deren beginnende Unruhe ihm ein kleines Grinsen entlockt.

„Und?“ flüstert er ihnen zu. „Merkt ihr schon etwas?“

Hastig schüttelt Mao den Kopf, daß seine Haare nur so fliegen. Auch er ist ein wenig enttäuscht – ein Teil von ihm hatte gehofft, da er jetzt Lucifers Magie besitzt, dass er sich dann auch an der Lust nähren könnte. Er ist neugierig, wie sich das anfühlt.

Und allein dieser Gedanke ist wieder so egoistisch, dass er sofort wieder ein schlechtes Gewissen bekommt.

„Wirklich nicht?“ hakt Lucifer unschuldig nach, während er den Arm etwas ausstreckt und seine Fingernägel nachdrücklich über Maos Jeans kratzen. Lautstark zieht Mao die Luft durch die Zähne

und pflückt entschieden diese freche Hand von seinem Oberschenkel.

Seine Wangen brennen hochrot, doch das kann man zu seiner großen Erleichterung in der Dunkelheit nicht sehen. Er sagt nichts, denn er traut seiner Stimme nicht mehr.

Lucifer kann ein solches Biest sein! Am liebsten würde Mao ihn jetzt packen, gegen den Sessel drücken und ihn erbarmungslos besteigen, doch das sind dunkle Gelüste, denen er selbst in der Dämonenwelt nicht ohne Weiteres nachgab.

Lucifers Grinsen wächst in die Breite und für einen Moment kann Mao seine starken, weißen Zähne aufblitzen sehen, doch da hat sich der gefallene Engel schon dem anderen Dämonen auf seiner rechten Seite zugewandt.

„Und wie steht's bei dir, Alciel?“

Der hat schon seit einiger Zeit die Hände im Schoß verkrampft und starrt stur geradeaus. Direkt auf die Leinwand, aber es ist zweifelhaft, ob er wirklich etwas sieht.

Plötzlich tut er Lucifer furchtbar leid.

„Oi, Alciel“, wispert er ihm tröstend ins Ohr, „das ist völlig normal. Das beweist nur, dass du gesund bist.“

Alciel starrt nur weiterhin stur geradeaus. Lucifer wartet ein paar Sekunden und öffnet gerade den Mund, um noch etwas Aufmunterndes zu sagen, da strafft Alciel die Schultern.

„Dieser menschliche Körper ist ein Fluch. Bitte entschuldigt mich.“ Mit diesen Worten erhebt er sich und eilt durch die Sitzreihen dem Ausgang zu.

Lucifer und Mao werfen sich einen verdutzten Blick zu und folgen ihm.

 

 

Mit stoischen Gesichtsausdruck und ungewohnt steifen Bewegungen verschwindet Alciel in den Waschräumen. Mao und Lucifer folgen ihm bis vor die Tür und halten dann zögernd inne. Sie werfen sich unsichere Blicke zu und weichen dann ein paar Schritte zurück in den breiten Gang, um nicht allzu offensichtlich dort herumzulungern.

Da die Filme zur Zeit alle laufen, sind sie die einzigen hier, aber das macht die Sache eigentlich nur unangenehmer. Sie warten ein paar Minuten schweigend, dann seufzt Mao einmal tief auf.

„Einer sollte mal nach ihm sehen...“

Obwohl es seine Idee ist, macht er keine Anstalten, sich auch nur einen Zentimeter vom Platz zu bewegen.

Lucifer verdreht die Augen, rührt sich aber ebenfalls nicht.

„Geh schon“, fordert Mao ihn schließlich auf.

„Warum ich? Er ist dein General.“

„Weil ich es dir befehle, darum.“

Lucifer mustert ihn unter hochgezogenen Augenbrauen, seufzt dann einmal ergeben und zuckt mit den Schultern. Das erinnert ihn merkwürdigerweise an die Situation in Ente Isla, als Mao ihn vorschickte, das von der Heiligen Kirche beherrschte Gebiet zu erobern – weil er in Maos Augen als Engel am besten wisse, wie man mit den Priestern dort umgehe.

Nun, wie das endete, wissen sie alle und Lucifer kann nur hoffen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Todesmutig betritt er die Waschräume.

 

XXXII.

 

Alciel sitzt auf dem Toilettendeckel in einer Eckkabine und versucht verzweifelt, das steinharte Problem zwischen seinen Beinen wieder loszuwerden. Er versucht es mit Atemübungen. Und als dies nicht von Erfolg gekrönt ist, greift er zu seiner stärksten Waffe: er ruft sich das Bikini-Foto ihrer Vermieterin in Erinnerung. Doch damit erreicht er nur, dass sich ihm der Magen umdreht. Sein Problem bleibt davon völlig unbeeindruckt.

Verflucht.

Er hasst diesen menschlichen Körper!

Er hat sich gerade widerwillig eingestanden, dass ihm wohl keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als Hand an zu legen, als er hört, wie die Tür geöffnet wird und jemand hereinkommt.

Alciel hält den Atem an und erstarrt augenblicklich. Seine Gedanken rasen, aber außer ein panisches neineinein in Endlosschleife bringen sie nichts Konstruktives zustande.

„Alciel?“

Alciel spürt, wie ihm alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Ein völlig Fremder, ein Mensch wäre ihm lieber gewesen als er.

„Geh weg, Lucifer!“ Alciel hasst sich selbst dafür, wie krächzend seine Stimme klingt.

Durch seine Antwort hat er seine Position verraten, er kann das charakteristische Quietschen der Gummisohlen von Lucifers Chucks hören und dann klopft es an der Kabinentür.

„Oi, Alciel, brauchst du Hilfe da drin?“

Unwillkürlich rutscht Alciels Blick zum Türschloß, das sich glücklicherweise noch immer in der „geschlossen“-Position befindet. Nicht, dass es von außen zu öffnen wäre, aber sag das mal einer seiner Paranoia.

„Geh weg, du Quälgeist! Ich brauche deine Hilfe nicht!“ Argh – warum klingt er so quietschig wie ein Schulmädchen? Wie peinlich!

Und warum, warum nur verstärkt sich ausgerechnet jetzt der Druck in seinem Unterleib? Ihm entfleucht ein schmerzhaftes Stöhnen und er drückt sich verzweifelt beide Hände in den Schritt.

Hör auf – hör auf – hör auf!

„Alciel, komm schon, lass mich rein.“

Lucifers Stimme ist wie süßer Nektar, der ihm durch die Gehörgänge mitten ins Hirn träufelt und von dort übers Rückgrat in seinen Schoß fährt.

„Geh weg!“ knirscht Alciel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Frustriert schlägt er mit seiner linken Faust gegen die geflieste Wand und für einen kurzen, kostbaren Moment lenkt ihn der Schmerz in seiner Handkante tatsächlich ab.

„Mach auf, oder ich schreie.“

Alciel beißt sich auf die Unterlippe und hämmert erneut gegen die Wand neben sich.

„Ich schreie ganz laut. So laut, dass es jeder hört und alle angerannt kommen. Das gibt einen Skandal.“

Entsetzt reißt Alciel die Augen auf. Das ist das Letzte, was sie gebrauchen können. Beinahe automatisch steht er auf und noch ehe er sich besinnen kann, hat er schon das Schloß gedreht.

Sofort öffnet sich die Tür und dann steht Lucifer vor ihm.

„Hallo“, meint er leise und sieht ihm dabei unverwandt in die Augen, während er die Tür hinter sich wieder verschließt.

Alciel schluckt einmal schwer.

„Hallo...“ wispert er zurück und unterdrückt ein Schaudern. Noch nie hat er sich unter dem Blick dieser violetten Augen so unbehaglich und verwundbar gefühlt wie jetzt. Und noch nie hat er Lucifers spitze Zunge mehr gefürchtet. Und tatsächlich erwartet er nichts Geringeres als den Todesstoß für seinen Stolz, als Lucifers Blick langsam an ihm hinabwandert, um sich dann direkt auf seinem Schritt einzupendeln.

Alciel spürt, wie er hochrot anläuft und – zu seinem großen Schrecken und Blamage – wie sein verdammtes Glied erwartungsvoll zu zucken beginnt. Unter all den Stoffschichten kann man das zwar nicht sehen, aber er spürt es sehr deutlich und das genügt, um seiner Selbstachtung einen herben Schlag zu verpassen. Unwillkürlich zucken seine Hände wieder vor seinen Schoß, um ihn vor diesen scharfen, violetten Augen abzuschirmen.

Plötzlich gibt Lucifer so etwas wie einen tonlosen Seufzer von sich, dann schiebt er sanft, aber bestimmt Alciels Hände aus dem Weg und öffnet seine Hose.

Alciel ist wie erstarrt.

„W-was machst du da?“ stößt er schließlich mit zitternder Stimme hervor.

Anstatt einer verbalen Antwort, zieht ihm Lucifer kompromißlos die Jeans mitsamt Unterhose soweit herunter, bis Alciels intimste Körperteile völlig bloßliegen. Beschämt dreht dieser den Kopf zur Seite.

Was ist nur los mit ihm? Wieso will er sich nicht wehren?

Und dann zieht er abrupt die Luft durch die Nase, als er Lucifers warme, schlanke Finger an seiner heißen, pochendem Männlichkeit fühlt.

„W-was...? W-warum...?“

Und plötzlich spürt er eine flache Hand gegen seine Brust, die ihn kraftvoll nach hinten gegen die geflieste Wand drückt und dann umweht ihn dieser vertraute Duft von Flieder und Honig und eine wahnsinnig melodische Stimme gurrt in sein Ohr:

„Weil du es brauchst und weil ich es will.“

Und eine Sekunde später spürt Alciel etwas Feuchtes, Warmes, das seine gesamte Männlichkeit umschlingt und eine noch nie gekannte Woge der Lust schlägt über ihm zusammen. Sie ist so heftig, dass sie ihm glatt den Atem raubt. Ohne sein bewußtes Zutun landen seine Finger in Lucifers violettem Haar und krallen sich hilflos darin fest, während er seine Hüften instinktiv nach vorne stößt, hinein in diese berauschende Wärme. Doch da sind plötzlich Hände und Finger, die sich in seinen Hüftknochen krallen und ihn unbarmherzig gegen die Wand drücken, so daß er sich nicht mehr bewegen kann. Alciel gibt ein frustriertes Knurren von sich, das nahtlos in ein wollüstiges Stöhnen übergeht, als sich zu all der feuchten Wärme und Enge auch noch ein ihn verrückt machendes Saugen dazugesellt.

Er klingt wie ein Tier! Erschrocken beißt er sich in den Handrücken, um weitere dieser peinlichen Laute zu unterdrücken. Dann erinnert er sich daran, womit die öffentlichen Toiletten in Japan ausgerüstet sind, streckt den Arm aus und betätigt den Sensor an der Toilettenspülung, der die Musik einschaltet. Falls jetzt jemand diese Örtlichkeit betritt, hört man ihn wenigstens nicht mehr.

Ein geschickter Zungenschlag von Seiten Lucifers und Alciels ganzes Sein schrumpft auf diesen Bereich in seinem Schoß zusammen und all das, worauf er immer so stolz war – seine Rationalität, seine Beherrschung, sein gesamter Verstand löst sich plötzlich regelrecht auf. Alles, was noch zählt, ist diese Hitze, dieses elektrisierende Kribbeln, dieses Feuer, das durch seine Nerven in seinem Unterleib rast.

Und dann spürt er, wie nicht nur sein Sein, sondern auch seine Magie davon mitgerissen wird. Es ist, als würde sich sein Inneres nach außen stülpen. Ganz am Rande seines Bewusstseins fühlt er, wie er sich in seine wahre Gestalt zurückverwandelt, doch da ist es schon zu spät.

 

 

Er zittert am ganzen Körper und sein Herz – nein, seine Herzen - pochen ihm bis zum Halse und das Atmen fällt ihm schwer.

Nur ganz, ganz langsam findet er zurück ins Hier und Jetzt und das erste, dessen er sich bewußt wird, ist das Gefühl von Lucifers seidigem Haar zwischen seinen Fingern.

Es sind seine Finger.

Seine.

Sie sind groß, haben Krallen und sind mit Chitin verstärkt. Diese Krallen, die tiefe Wunden schlagen und Fleisch bis auf die Knochen zerfetzen können.

Sofort lockert er seinen verkrampften Griff um Lucifers Schädel und senkt schuldbewußt den Kopf nach unten. Er blinzelt ein paar Mal, doch sein Blick ist immer noch furchtbar verschwommen, mehr als Farbkleckse kann er nicht erkennen. Erst mit etwas Verzögerung spürt er auch die verräterische Nässe auf seinen Wangen.

„Oje“, hört er Lucifers Stimme und dann sind da warme, kleine Finger, die seine Hand aus diesem seidigen Haar pflücken und ein geschmeidiger, fester Körper, der sich gegen ihn schmiegt. Und dann wischen ihm diese warmen Finger zärtlich die Tränen von den Wangen.

„Alles in Ordnung? Habe ich dir wehgetan?“

Alciel schüttelt den Kopf, dass seine blonden Haare nur so fliegen und schnieft einmal lautstark. Nein. Nein zu beiden Fragen.

In seinem Inneren herrscht das absolute Gefühlschaos. Nichts ist greifbar und doch ist alles so schmerzhaft intensiv – wie eine unablässig blutende Wunde.

Es ist, als habe man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Er ist über tausendfünfhundert Jahre alt, aber so etwas hat er noch nie zuvor empfunden.

„Sch... schon gut. Alles gut. Ich bin ja hier.“

Da sind zierliche, aber starke Arme, die ihn halten, Hände, die durch sein Haar kämmen und über seinen Rücken streicheln und der vertraute Geruch von Flieder und Honig und diese sanfte, melodische Stimme und soviel Wärme und Alciel läßt nur zu gerne los.

Als er wieder zu sich kommt, findet er sich auf dem Toilettendeckel sitzend wieder, in all seiner zwei Meter zehn großen dämonischen Pracht und nackt unterhalb der Taille. Die Hose samt Unterwäsche schlackert um seine Fußknöchel. Zum Glück ist es hier beinahe genauso peinlich sauber wie bei ihnen Zuhause.

Und um sie herum dudelt immer noch Popmusik.

Das Gesicht an Lucifers Schulter vergraben, seinen Duft tief einatmend und ihn mit beiden Armen und gegabelten Schwanz fest umschlingend, genießt Alciel noch für ein paar kostbare, ruhige Sekunden dessen beruhigende Streicheleinheiten, bevor er mit einem tiefen Aufseufzer seine Umklammerung etwas lockert und den Kopf hebt.

„Gomen“, beginnt er, doch ein Blick in diese ernsten, ungewohnt warmen Augen lässt ihn alles vergessen, was er sagen wollte.

Lucifer streicht ihm das zerzauste, blonde Haar aus dem Gesicht, beugt sich etwas zu ihm herunter und gibt ihm einen zärtlichen Kuss. Alciel kann sich immer noch selber schmecken, was ihm beweist, dass sein kleiner Anfall nicht lange gedauert haben kann, auch, wenn es sich wie eine Ewigkeit angefühlt hat.

Es ist ein süßer, schöner Kuss und leider viel zu schnell vorbei.

„Ich gebe zu, deine Reaktion überrascht mich“, meint Lucifer dann mit einem Augenzwinkern. „Ich muss ja echt gut darin sein, wenn es dich so umhaut.“

„Es war überwältigend“, gibt Alciel unumwunden zu – das Offensichtliche hat er schließlich noch nie geleugnet, egal, wie beschämend es ist. Und weil es so beschämend ist, flüchtet er sich nur allzu gern in ein anderes Gefühl, das Lucifers Worte ebenfalls in ihm auslösen.

„Das war das allererste Mal für mich.“ Solche Sexualpraktiken sind in jenen dämonischen Kreisen, in denen er sich bewegt, einfach unbekannt. Es mag Clane geben, die das kennen, aber denen ist er auf dieser Ebene noch nicht begegnet. Selbst ihre willigen Groupies beschränkten sich nur auf den schlichten Akt. Lucifer dagegen...

Alciels Augen verengen sich unwillkürlich.

„Für dich aber offensichtlich nicht. Du hast wohl viel Übung darin?“

„Eifersüchtig?“ kommt es spöttisch zurück.

Alciel schnaubt nur, doch die Umschlingung seines Schwanzes um Luzifers Taille verstärkt sich etwas, während er seine Arme zeitgleich von seinem Körper zurückzieht. Kräftiger als eigentlich notwendig, drückt er auf den Schalter und die Musik verstummt. Das entlockt Lucifer ein amüsiertes Grinsen.

Zärtlich zupft er einmal an Alciels linkem, so schön großem und spitzem Ohr.

„Verwandle dich zurück, mein hübscher Iron-Scorpion und zieh dich wieder an. Ich warte draußen.“

Mit diesen Worten befreit er sich von Alciels Schwanz und schlüpft aus der Kabine.

 

 

Lucifer geht nicht weit, er macht am großen Waschtisch halt und überprüft kritisch sein Erscheinungsbild im Spiegel. Es läßt sich nicht leugnen – man sieht ihm an, was er eben getrieben hat. Grummelnd kämmt er sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar und verzieht kurz das Gesicht, als sich die Wunde an seinem Hinterkopf wieder meldet. Alciel hätte nun wirklich nicht so stark an seinen Haaren ziehen müssen, aber er kann ihm deswegen nun auch keinen Vorwurf machen, schließlich hat er es ja selbst initiiert. Und das bißchen Schmerz vergeht schnell, aber die Erinnerung an die Macht, die er während dieser Minuten über den großen Blonden hatte, die bleibt.

Sie ist ein dringend benötigter Schub für sein Ego.

Sex ist ein Machtspiel, das hat er schon vor Jahrtausenden gelernt, und es liegt an jedem einzelnen, was er daraus macht. Das letzte Mal hat er damit Geld verdient und es hat ihn angewidert. Nicht einmal der nette Nebeneffekt, dass er dadurch seinen Magiekern aufladen konnte und seine Flügel zurückbekam, hat dieses ekelhafte Gefühl vertrieben.

Und das liegt nicht an diesem menschlichen Körper mit seinen nervigen Teenagerhormonen.

Versonnen leckt sich Lucifer über die Lippen. Das ist das allererste Mal, dass er nach einem Blowjob nicht das Bedürfnis verspürt, sich den Mund auszuspülen und mit Lauge zu gurgeln. Dämonen schmecken gut. Vielleicht ist es aber auch nur Alciel, der gut schmeckt.

Vielleicht ist es aber auch nur sein blödes Herz, das seinen Narren an diesem großen Dämonen mit diesem komplizierten Charakter und wunderschönen, eisblondem Haar und den Goldflecken-Augen gefressen hat.

Nachdenklich streicht er sich über seinen geschienten Arm.

Es sollte alles so bleiben, wie es ist, fährt es ihm plötzlich durch den Sinn. So, wie Mao und Alciel jetzt sind, ist es doch völlig in Ordnung. Ich vermisse meine Flügel, aber wenn ich jetzt schon meine Magie zurück bekomme, ist all das andere schnell wieder vorbei. Und ich...

Nein, es ist zu spät, viel zu spät, es gibt kein Zurück mehr …

Aus dem Spiegel starrt ihm plötzlich ein müdes, uraltes Augenpaar entgegen. Zu alt für dieses Gesicht. Zu alt für diese Welt und auch zu alt für den blauen und roten Mond und Ente Isla.

Dann ist es egal, ob ich meine Flügel zurück erhalte, denn ich ertrage diesen Herzschmerz einfach nicht mehr.

„Lucifer...?“ plötzlich schlingen sich ihm von hinten zwei Arme um die Brust und ein großer, schlanker Körper presst sich von hinten an ihn.

Lucifer zuckt kurz überrascht zusammen. Er war so in Gedanken versunken, dass er ihn gar nicht gehört hat.

„Alciel...“

Ihre Blicke begegnen sich im Spiegel und Alciel schluckt einmal schwer, als er diese altbekannte Leere in diesen wunderschönen violetten Augen sieht. Einem Impuls folgend, drückt er ihn noch fester an sich. Sekundenlang stehen sie einfach nur da, bis Lucifer seine linke Hand hebt und seine Finger auf eine beinahe verzweifelt wirkende Art und Weise in Alciels Jackenärmel krallt.

„Was ist das hier, Alciel?“ flüstert er mit einer Stimme, die von weit, weit her zu kommen scheint.

„Was meinst du, Lucifer-chan?“

Lucifer erschauert bei diesem Kosenamen unwillkürlich. Das ist eigentlich respektlos, denn er ist hier der Ältere, von daher gehört sich das -chan einfach nicht, aber irgendwie bringt es sein Herz zum Schmelzen, wenn Alciel ihn so nennt.

„Wir spielen das hier nicht nur, oder? Ich meine, mal angenommen, wir kehrten heute in unsere Welt zurück, wären wir dann wieder nur Maos Generäle oder weiterhin solche sentimentalen Idioten wie jetzt?“

Alciel denkt einen Moment lang darüber nach und erklärt dann:

„Ich war eben ein sentimentaler Idiot, als ich in meiner dämonischen Gestalt war, also: nein. Ich zumindest werde wohl weiterhin dein sentimentaler Idiot sein.“

Er zögert einen Moment und sucht Lucifers Blick im Spiegel und hält ihn fest.

„Und was ist mit dir?“ will er dann leise, beinahe schüchtern wissen.

Um Lucifers Mundwinkel zuckt ein schmales Lächeln.

„Anders als ihr bleibe ich immer ich, egal, ob mit oder ohne Magie. Und ganz egal, ob himmlische oder dämonische Energie – nichts an mir hat sich je verändert außer der Farbe meiner Flügel.“ Jedenfalls nichts, was wichtig wäre. Er seufzt einmal tief und lehnt sich schwer gegen den Mann hinter ihm.

„Ich bin müde, Alciel.“

„Ja, es war ein langer Tag.“

„Nein, ich bin müde, Alciel.“

„Es war ein langer Tag“, wiederholt Alciel, der schon beim ersten Mal genau verstanden hat, was Lucifer meinte. Und es gefällt ihm nicht, aber er weiß auch nicht, was er Wirksames dagegen unternehmen kann. Außer ihm Halt und Trost zu spenden.

„Und du darfst müde sein, Lucifer. So lange du nie vergisst, dass morgen wieder die Sonne scheint.“

 

 

 

XXXIII.

 

„Ist das dein Ernst?“

Lucifer wirft einen erbosten Blick über seine Schulter und läßt grummelnd die Arme wieder sinken. Er war gerade im Begriff, sich das T-Shirt über den Kopf zu ziehen.

„Ja“, erwidert Mao nur schlicht und zieht hinter sich die Badezimmertür wieder zu. Und dann – schließt er sie ab. Es ist ein gutes, sicheres Schloß, seit Mao die Tür mit Hilfe seiner Magie repariert hat, aber in diesem Moment wünschte sich Lucifer, sein König hätte seine gestohlene Magie nicht für etwas Nützliches eingesetzt.

„Wir müssen reden“, erklärt Mao dann und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich habe Alciel noch nie so emotional ausgelaugt erlebt wie heute. Was ist da in den Waschräumen mit euch passiert?“

Lucifer zögert mit der Antwort und findet seine Fingernägel plötzlich ungemein interessant.

Mao zieht die Augenbrauen zusammen und schnauft einmal. Er hat nicht erwartet, dass es leicht wird, aber er mag es nicht, dermaßen im Dunkeln gelassen zu werden. Und von Alciel wird er nichts erfahren, weil der, sofort als sie Zuhause waren, seinen Futon ausgerollt hat und kaum, dass sein Kopf das Kissen berührte, erschöpft einschlief.

„Ihr ward fünfzehn Minuten da drin. Und als ihr rauskamt, wart ihr beide völlig neben der Spur. Und glaub nicht, dass ich nicht Alciels gerötete Augen bemerkt hätte. Ich war geduldig und wollte euch Gelegenheit geben, mir alles von euch aus zu erzählen. Aber jetzt ist meine Geduld zu Ende. Also, sag mir jetzt bitte, was passiert ist, Lord Lucifer.“

„Ich wollte gerade duschen“, protestiert dieser aus reiner Gewohnheit.

In Maos Augen erwacht ein düsteres Feuer, und er zieht nur auffordernd die linke Augenbraue in die Höhe.

Ergeben seufzt Lucifer auf.

„Es war alles nur ein wenig zu viel für ihn“, gibt er widerstrebend zu. Es ist wirklich nicht seine Sache, ihm das zu erzählen, also hält er sich so vage wie möglich. „Das ist alles ganz neu für ihn, und diese menschlichen Körper sind viel sensibler als eure Dämonischen, daran muss man sich erst einmal gewöhnen.“

„Blödsinn.“

„Was?“

„Blödsinn“, wiederholt Mao in scharfem Tonfall. „Wir sind nicht erst seit gestern in diesen Körpern. Wir hatten ein Jahr Zeit, uns daran zu gewöhnen. Was auch immer Alciel so aus der Bahn geworfen hat, es muss etwas anderes gewesen sein.“

„Hah! Er hatte eben noch nie zuvor einen richtigen Blowjob samt Orgasmus!“

„Dann musst du ja wirklich spektakulär gewesen sein.“

„Vielleicht war ich das.“

„In deinen Träumen vielleicht.“

„Ich war so gut, dass er sich mittendrin zurück verwandelt hat!“

Aha!“ Über Maos Miene huscht ein triumphierendes Grinsen. Jetzt hat er endlich seine Antwort. Wenn ein Kontrollfreak wie Alciel über seinen eigenen Körper derartig die Kontrolle verliert, erklärt das alles – auch, wieso er nicht darüber reden will.

Es erklärt sogar, wieso Lucifer ebenfalls so neben der Spur gewesen ist.

„War das alles, Mao-sama?“ funkelt ihn Lucifer schließlich an. Er ärgert sich über sich selbst, dass er in die älteste aller Fallen hereingestolpert ist. „Dann geh jetzt. Ich will duschen.“

„Das kannst du doch. Niemand hält dich ab.“

„Doch. Du.“ Herausfordernd funkelt Lucifer ihn an, und als das nicht fruchtet, deutet er vielsagend zur Tür.

Doch Mao grinst nur.

„Ich will auch duschen.“

„Dann warte, bis ich fertig bin.“

„Gerne.“

Draußen!

Doch Mao schenkt ihm nur einen betont unschuldigen Augenaufschlag.

„Du hast mich mißverstanden: ich will mit dir zusammen duschen. Das spart Wasser.“

Lucifer knurrt ungnädig und mustert ihn aus zusammengekniffenen Augen.

„Nur duschen?“

„Nein.“

„Das dachte ich mir.“ Und plötzlich zuckt ein verschlagenes Lächeln um Lucifers Lippen. „Mein armer Mao-sama.“

Seine Stimme senkt sich zu einem regelrechten Schnurren. Er tritt dicht an ihn heran und läßt seine Fingerspitzen frech über Maos Schritt tanzen.

„Hast du Druck? Hat dich der Porno so angetörnt? Konntest du dir keine Erleichterung verschaffen? Das erklärt auch, wieso du so komisch gelaufen bist.“

„Ich bin nicht komisch gelaufen.“

„Du Armer.“ Seine Stimme trieft nur so vor Ironie, und dann kehrt schlagartig dieses verführerische Schnurren zurück, während sich seine Finger umständlich an Maos Gürtel zu schaffen machen. Da er nur seine Linke gebrauchen kann, dauert es alles etwas länger, aber Mao denkt nicht daran, ihm zu helfen.

„Hat es dich angetörnt, da zu stehen und zu wissen, was Alciel und ich da machen? Hast du es dir in allen Einzelheiten ausgemalt? Wie ich …“ plötzlich drängt ihn Lucifer mit vollem Körpereinsatz an die Wand zurück, „ihn an die Kabinenwand drücke? Wie ich …“, untermalt von dem Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses, „seine Hose öffne … wie meine Hand langsam...“

Mao fängt diese freche Hand ab, bevor sie sich unter seine Jeans schummeln kann.

„Du hast wirklich ein Schandmaul“, tadelt er, hakt seine Finger unter Lucifers Gürtelschlaufen und zieht ihn mit einem Ruck zu sich heran. Und dann keuchen sie beide synchron auf, als sich ihre Unterleiber berühren.

Mao ist überrascht, beeindruckt und geschmeichelt über das, was er dort spürt.

„Bist du eifersüchtig, Mao-sama? Weil Alciel vor dir in den Genuß meiner Zunge kam? Oder törnt dich der Gedanke an? Willst du wissen, wie er geschmeckt hat?“ Lucifers Stimme ist plötzlich ganz rauh und kehlig, und Mao kann dabei zusehen, wie sich seine Pupillen vor Erregung weiten, bis von der Iris nur noch ein schmaler, violetter Ring übrigbleibt, während er sich langsam an ihm zu reiben beginnt.

„Lass Alciel da raus...“ murmelt er schwach. Inzwischen ist er so hart, dass es schmerzt. Wie von selbst graben sich seine Hände in Lucifers Hinterteil.

Es ist unglaublich, aber dessen Stimme senkt sich plötzlich um eine ganze Oktave und dieser Klang fährt Mao durch Mark und Bein.

„Wenn ich ihm das nächste Mal einen blase, werde ich dich danach küssen, dann wirst du wissen, wie er schmeckt.“

Lasziv leckt sich Lucifer über die Lippen und dieser Anblick ist die letzte Provokation, die das Fass zum Überlaufen bringt. Mit einem hungrigen Knurren presst Mao seine Lippen auf diesen sündhaften Mund und etwas in seinem Verstand setzt aus.

 

 

„Sag es“, fordert Mao knurrend und saugt sich gierig an Lucifers Hals fest. „Sag es!“

Er ist nackt. Sie sind beide nackt. Ihre Klamotten haben sie sich schon vor geraumer Zeit gegenseitig vom Körper gerissen und Alciel wird seine reine Freude an den vielen zerrissenen Nähten und durch Krallen zerfetzte Stellen haben, aber das interessiert im Moment weder Mao noch Lucifer.

Irgendwann während eines ihrer leidenschaftlichen Küsse hat Mao Lucifer auf den Waschtisch gehoben und jetzt, wo Mao in seine dämonische Form zurückgefallen ist – vollständig, was sein Aussehen betrifft, aber nur einen Bruchteil, was die Körpergröße angeht, denn soviel Verstand besitzt er noch, drei Meter sind einfach zuviel - ist diese Höhe einfach nur perfekt.

Aufstöhnend biegt Lucifer den Rücken durch und die Finger seiner linken Hand krampfen sich regelrecht um Maos rechtes Horn, während sich seine Beine noch fester um Maos Taille schlingen, als ihn eine erneute Welle der Lust überrollt.

„Mao-sama“, tropft es aus seinem halbgeöffneten Mund. „Satan Jakobu.“

Zufrieden grunzend verstärkt Mao den Druck seiner Finger um ihrer beider Erregungen wieder und treibt sie mit noch nicht ganz routinierten, aber schon ziemlich sicheren Bewegungen ihrem Höhepunkt entgegen, während er abwechselnd diese köstlichen Lippen verschlingt oder für noch ein paar aggressiv rot leuchtende Knutschflecken an Lucifers Kehle sorgt.

„Mylord“, bestätigt Lucifer noch einmal schwer atmend. Und Mao spürt einen leichten Zug in seinen Haaren, dort, wo Lucifers geschienter Unterarm auf seiner Schulter ruht und sich seine Finger in einer dunkelgrünen Haarsträhne verkrallt haben.

Und dann drückt Lucifer wieder den Rücken durch, er schnappt nach Luft und Mao verschlingt seine Lippen in einem letzten wilden Kuß, erstickt somit den sich anbahnenden Schrei.

In dem Moment, wo er kommt – wo sie beide kommen - spürt Mao es wieder: für diesen einen, kostbaren Augenblick sind sie wieder eins.

 

 

Kraftlos, mit heftig schlagendem Herzen und immer noch in unregelmäßigen Abständen wohlig erschaudernd, klammert sich Lucifer an Maos breiten, muskelbepackten Oberkörper. Dem ergeht es ehrlich gesagt nicht viel besser, aber zusammen mit seiner dämonischen Gestalt ist auch sein Selbstbewusstsein zurückgekehrt.

Und sein Stolz.

Und seine besitzergreifende Persönlichkeit.

„Wem gehörst du?“ knurrt er daher, kaum dass er der Sprache wieder mächtig ist und gräbt nachdrücklich seine Krallen in Lucifers Rücken. Zu den dortigen Kratzspuren gesellen sich dadurch noch ein paar neue dazu.

Lucifer zuckt nicht einmal zusammen.

„Mir selbst“, nuschelt er nur unbeeindruckt gegen Maos Schulter.

„Jetzt, in diesem Moment?“ hakt Mao grollend nach.

„Mir selbst. Immer nur mir selbst, Jakobu.“ Seit er den Himmel verließ, bestand darin für ihn nie ein Zweifel. Das Problem lag immer nur darin, die anderen auch davon zu überzeugen.

Mao scharrt kurz mit den Hufen und presst seinen Unterleib sehr nachdrücklich gegen ihn.„Wirklich?“

Lucifer gibt ein geduldiges Seufzen von sich. Das ist gemein, aber er wird nicht auf diese Provokation eingehen.

„Nur weil du mich deinen Namen und Titel stöhnen lässt, ändert das nichts daran, Mao-sama.“

Zum ersten Mal seit langem liegt kein Tropfen Ironie in diesem -sama.

Mao gibt ein glückliches Summen von sich, zieht seine Krallen aus Lucifers Rücken zurück und umarmt ihn stattdessen nur noch locker. Aber seinen Unterleib presst er weiterhin provozierend gegen ihn.

„Gut“, erklärt er aufgeräumt, „dann gehöre ich eben dir.“

Er grinst so breit, dass seine Fangzähne deutlich zu sehen sind, sehr stolz auf einen gewissen Körperteil, der seine Worte so eindeutig zu unterstreichen vermag.

Lucifer ist beeindruckt, doch er lehnt sich nur träge gegen ihn – Mao ist so schön warm und solide - und schüttelt leicht den Kopf.

„Manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um deinen Geisteszustand.“

Mao gibt nur wieder dieses zufriedene Brummen von sich. In den nächsten dreißig Sekunden verharren sie einfach nur in dieser Position, halten einander, schmiegen sich aneinander und genießen die Wärme und Nähe des anderen, während sich ihr Puls wieder beruhigt und ihr Verstand die Vernunft aus ihrem kurzfristigen Urlaub vom Bahnhof abholt.

„Ich liebe dich“, erklärt Mao plötzlich aus heiterem Himmel. In seiner Muttersprache, was den Worten nur noch mehr Bedeutung verleiht.

Er kann spüren, wie Lucifer in seinen Armen kurz erstarrt. Und dann hebt er den Kopf von Maos Schulter und blinzelt ihn überrascht, aber auch mit einer gewissen Vorsicht, an.

„Wow.“ Er weiß noch nicht recht, was er davon halten soll, also rettet er sich wieder in Zynismus. „Ich hätte früher aus dem Fenster springen sollen.“

„Und ich hätte das viel früher kapieren müssen“, kommt es todernst zurück. „Aber was weiß ein Goblin schon von der Liebe? Kannst du mir nochmal verzeihen?“

„Ich würde dich wohl kaum so nah an mich heranlassen, wenn dem nicht so wäre. Aber noch etwas mehr Abbitte wäre nett.“ Lächelnd legt ihm Lucifer die Arme um den Nacken und reckt sich ihm entgegen. Mao kommt ihm nur zu gerne entgegen. Schon viel selbstsicherer als noch vor zwanzig Minuten, presst er seine Lippen gegen Lucifers und schlüpft mit seiner Zunge in diesen köstlichen Mund.

Mao könnte ihn ewig küssen. Er liebt diese Art, wie Lucifer dann regelrecht gegen ihn schmilzt und er liebt dieses erregende Kribbeln, das dadurch dann in seiner Magengrube erwacht und ihm schnurstracks in die Lenden fährt.

Sie trennen sich erst wieder voneinander, als ihnen der Atem ausgeht.

„Ich würde gerne das mit dir machen, was diese Menschen mit dir machen durften“, platzt es dann plötzlich aus Mao heraus.

Lucifer starrt ihn einen Augenblick nur stumm an und schüttelt dann den Kopf.

„Ohne Magie keine Heilkräfte. Und ohne Heilkräfte bleibst du schön von meinem Hintern weg. Aber“, fügt er neckend hinzu, als Mao enttäuscht das Gesicht verzieht, „du kannst mich gerne an deinen heranlassen.“

Mao strahlt und nickt eifrig. „In Ordnung.“

Lucifer verschlägt es für einen Moment glatt die Sprache.

„Wow“, stellt er dann fest. „Du hast wirklich keine Ahnung, worauf du dich da einlässt.“

Mao grinst nur verschmitzt, löst die Umarmung und tritt einen Schritt zurück.

„Lass uns duschen“, meint er nur und streckt ihm vielsagend die Hand entgegen, um ihm galant vom Waschtisch zu helfen.

 

 

 

 

 

XXXIV.

 

„Das ist besser, oder?“

Innerhalb eines Atemzuges verwandelt sich Mao in einen Menschen zurück. Lucifer lässt seine Blicke an ihm hinunter und wieder hinauf wandern und nickt beklommen. Es ist nicht das erste Mal, dass er Mao in dieser Gestalt nackt sieht – immerhin gehen sie regelmäßig in den Onsen, aber trotzdem schlägt ihm das Herz plötzlich bis zum Halse.

Und das ist albern, wenn man bedenkt, dass sie vor nicht einmal fünf Minuten...

Lucifer sieht hoch in dieses jungenhafte Gesicht, diese vor Lust verdunkelten rötlichen Augen, sieht dieses erwartungsvolle Lächeln und plötzlich wird ihm klar, dass er das einfach nicht tun kann.

Er. Kann. Es. Nicht.

„Ich kann es nicht.“

„Huh?“

Oh, es tut so weh, zusehen zu müssen, wie dieses erwartungsvolle Leuchten erlischt und riesiger Enttäuschung Platz macht.

Lucifer ringt nach Worten und doch ist ein erneutes

„Ich kann es einfach nicht.“

alles, was herauskommt.

Mao blinzelt einmal, runzelt die Stirn und legt dann fragend den Kopf schief. In ihm beginnt es zu brodeln, doch noch beherrscht er sich.

„Was soll das heißen? Ich erlaube es dir. Wenn du befürchtest, du könntest mich verletzen, versichere ich dir, dass ich dir vertraue. Außerdem kann ich mich jederzeit heilen.“

„Das ist es nicht...“

„Was ist es dann?“

Betreten senkt Lucifer den Blick. Wie soll er ihm das nur erklären? Es ist so kompliziert, dass er es selbst kaum versteht. Er weiß nur, dass sich alles in ihm dagegen sträubt, und dass es ein riesengroßer Fehler wäre.

Maos eben noch so freundliche Augen verengen sich zu zwei roten Schlitzen, und er macht einen drohenden Schritt auf ihn zu.

„Was, Lucifer? Was ist los? Menschen sind in Ordnung, aber bei deinem König zickst du herum? Schau, ich bin jetzt auch ein Mensch. Genau wie sie. Genau wie diese fremden Kerle, denen du dich hingegeben hast.“

Unwillkürlich weicht Lucifer einen Schritt zurück, der Raum ist klein, es dauert nicht lange, bis er die Wand in seinem Rücken spürt. Plötzlich ist er sich seiner Nacktheit nur allzu deutlich bewusst.

Mao dagegen scheint es egal zu sein, dass er ebenfalls völlig nackt ist.

Mir musst du dich nicht einmal hingeben.“ Mao ist – wie Lucifer mit morbider Faszination feststellt – immer noch erregt, und er präsentiert sich wirklich ohne Scheu. „Ich schenke dir meinen Hintern, meinen königlichen Hintern und du lehnst ab? Ist es dir andersherum doch lieber?“

Touchez. Lucifer schluckt einmal schwer und versucht, sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen.

Mao stemmt die Fäuste in die Hüften und lehnt sich herausfordernd zu ihm vor.

„Ja? Liegen da deine Präferenzen? Ist es das?“

Endlich findet Lucifer seine Stimme wieder.

„Mao, ich kenne dich, seit du ein Kind warst. Ich habe Camio geholfen, dich großzuziehen.“

Ich kann dich nicht wie ein Sexobjekt behandeln. Ich sehe immer noch den kleinen, frechen Goblin vor mir.

„Du bist mein König.“

So sehr ich es hasse, aber ein Teil von mir wird dich immer als meinen König ansehen.

„Und deshalb kann ich dich einfach nicht unter der Dusche, als wärst du ein x-beliebiger Kerl … nicht, wenn es dein erstes Mal ist. Das erste Mal sollte immer etwas Besonderes sein, denn du wirst dich immer daran erinnern, und es sollte dann eine gute Erinnerung sein, eine gute Erfahrung, weil sie prägt, wer du bist.“

Ich habe dich aufgezogen, ich will nicht, dass du so verkorkst endest wie ich.

Verzweifelt rauft er sich die Haare.

„Und wieso, zum Henker, muss ich ein solch beschissenes Aufklärungsgespräch mit einem Dämonen führen, der Zuhause alles bespringt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?“

„Oi, wieso stellst du mich hier jetzt als einen Perversen hin? Ich bin durchaus wählerisch in der Wahl meiner Partner! Ich war es nicht, der sich von Menschen für Geld vögeln ließ!“

„Glaubst du, mir hat das Spaß gemacht?“

„Das weiß ich nicht! Ich hoffe nicht, aber es scheint dir weniger ausgemacht zu haben als jetzt das hier!“ Mao macht eine wedelnde Handbewegung, die sie beide und das Badezimmer mit einschließt. In seinen Augen erwacht ein altbekanntes Feuer. „Und das ist verdammt beleidigend! Ich bin immer noch dein König! Du hast mich zu respektieren!“

„Hier bist du nur ein Teilzeit-Burgerbrater, der sich nicht mal gegen ein Schulgör mit Monstertitten zur Wehr setzen kann!“ schleudert ihm Lucifer höhnisch entgegen.

„Ich sorge wenigstens dafür, dass wir Essen und ein Dach über dem Kopf haben“, zischt Mao zurück. „Ich sorge dafür, dass du es hier gemütlich hast. Dafür kann ich ja wohl etwas Respekt erwarten von jemanden, der sich von einem Halbengel wie Emilia besiegen ließ und uns dadurch den ganzen Krieg vermasselt hat!“

„Das war nicht meine Schuld!“

„Das ist es nie! Du bist nie an etwas schuld! Es sind immer die anderen. Weil du ein Erzengel bist und Engel immer Recht haben, nicht wahr? Du bist wie ein kleines, verwöhntes Balg. Du hast einfach nur Glück, dass du Alciel und mich hast. Ohne uns wärst du doch im Knast wie dein Kumpel Olba!“

„Er ist nicht mein Kumpel!“ schreit Lucifer ihn an. Wie kann er es wagen, so etwas zu behaupten? Wütend ballt er die Fäuste.

„Wär ja auch noch schöner!“ brüllt Mao zurück. Inzwischen lehnt er sich so weit vor, dass sich ihre Nasenspitzen fast berühren. „Er hätte dir sowieso nicht zurück in den Himmel geholfen“, seine Stimme senkt sich plötzlich zu einem heiseren Knurren. „ Und das weißt du. Olba und diese dämlichen Ente Islaner wissen ja nicht mal, dass das der blaue Mond ist!“

„Diese ganze degenerierte Engels-Bagage geht mir am Arsch vorbei! Eher lasse ich mich ans Kreuz nageln als dass ich je wieder zurückgehe!“

„Mit nageln kennst du dich ja aus!“

Lucifer starrt ihn sekundenlang nur an, dann platzt es regelrecht aus ihm heraus.

Du verdammter Goblin! Ich hasse dich, wenn du so bist!

Mao schnellt nur nach vorne, schlingt seine Arme um ihn und bringt ihn mit einem Kuß zum Schweigen. Es ist ein harter, kompromißloser Kuß, der keinen Widerstand duldet, aber Lucifer hat auch gar kein Interesse daran, sich zu wehren. Er stürzt sich mindestens genauso leidenschaftlich in diesen Kuß hinein wie Mao.

Gierig presst Mao ihn an sich. Seine rechte Hand vergräbt sich in einer dieser perfekten Hinterbacken, während seine andere in Lucifers Nacken landet und seinen Kopf an Ort und Stelle hält, damit er ihn weiterhin so küssen kann. In diesem Körper ist Lucifer nur einen halben Kopf kleiner als er und das ist einfach nur perfekt.

Lucifer im Kampfmodus ist einfach nur perfekt. Diesmal hatte er keine Angst vor ihm. Diesmal hat sein Kampfgeist gesiegt und Mao weiß nicht, ob es Lucifer aufgefallen ist, aber je hitziger ihr Streit wurde, desto erregter wurde er. Genau wie Mao.

Ihre Körper wissen, was sie wollen.

Plötzlich mischt sich der Geschmack von Eisen in ihren Kuss, doch Mao stockt nur für einen Moment, bevor er Lucifer das Blut von der Oberlippe leckt und ihn dann nahtlos weiterküsst. Das macht er jedes Mal, wenn er einen Blutstropfen schmeckt, so lange, bis das Nasenbluten aufhört.

Lucifers Blut schmeckt so köstlich wie seine Küsse. Ein Geschmack, der ihm mitten in den Schritt fährt. Und ehe er es sich versieht, drückt er Lucifer mit ganzem Körpereinsatz gegen die Wand.

„Warum müssen wir so sein?“ flüstert er atemlos gegen Lucifers Mund, wischt ihm mit dem Zeigefinger den letzten Blutstropfen von seiner Stupsnase und bewundert das intensive Glühen in diesen violetten Augen.

Er meint dieses Wechselbad aus Liebe, Haß, Wut und Eifersucht.

„Egal“, keucht Lucifer nur zurück. Er hat seine Finger in Maos dunklen Haaren vergraben und zieht ihn nun entschlossen wieder zu sich heran. „So lange es immer so endet...“

Er stürzt sich auf Maos Lippen, als gäbe es kein Morgen mehr.

Kurz bevor Mao genüßlich die Augen schließt, glaubt er, das altbekannte Schimmern von Lucifers violetter Aura und darin tanzende goldene Lichtreflexe wahrzunehmen, aber bevor diese Information wirklich sein Gehirn erreicht, versinkt seine gesamte Welt wieder in Nähe und Wärme und dem Gefühl, eins zu sein.

 

 

Sie sind wahnsinnig. Anders ergibt es gar keinen Sinn.

„Alciel wird...“ flüstert Lucifer und bricht dann aufjapsend mitten im Satz ab. Hilflos klammert er sich an Mao fest.

Der weiß genau, was er meint.

„Stillezauber“, erklärt er daher nur, knurrt dumpf und umschlingt ihn noch fester, während er sich mit dem nächsten Hüftstoß noch tiefer in ihn hineintreibt. Er spart sich jede weitere Erklärung, denn es gibt wirklich Wichtigeres als sich Sorgen um ihren selig schlummernden Iron-Skorpion zu machen. Mao hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, dass sie es hier hinter Alciels Rücken treiben. Er ist sein König, verdammt nochmal! Alciel wird es ihm gewiß verzeihen.

Jetzt und hier gehört Lucifer ihm. Ihm ganz alleine.

Und er … gehört Lucifer.

Es ist, als würde in ihnen ein Feuer brennen, das sich nur durch die Flammen des anderen nähren kann. Sie haben jeden Rest von Vernunft so schnell von Bord geworfen, dass es ihnen nicht einmal fehlt.

Und das, was von ihrem Verstand übrig ist, verbrennt mit jeder verstreichenden Sekunde heller in diesem Feuer - mit jedem von Maos Hüftstößen, mit jedem wollüstigen Aufkeuchen Lucifers, und je verzweifelter sich Lucifer mit Armen und Beinen um Mao schlingt als wäre er eine Boa Constrictor und mit jedem wilden Kuss.

Die Luft um sie herum knistert aufgeregt und Maos Aura leuchtet so tiefrot, dass sie schon fast schwarz wirkt, und ohne dass er es wollte oder bemerken würde, verwandelt er sich wieder in einen Goblin. Goldener Rauch wallt um Maos Hufe, wird zu goldenen Funken und dann zu goldenen Fäden, die sich Seilen gleich um ihre Körper schlingen, ein feines, goldenes Netz, das jede ihrer hektischen Bewegungen mitmacht. Und das gleichzeitig verhindert, dass Mao seine natürliche Körpergröße annimmt.

Und so vergräbt sich der ein Meter dreiundsiebzig große Dämonenkönig mit größtem Vergnügen und noch viel größerem Verlangen in den achtzehn Zentimeter kleineren Ex-Engel, mitgerissenen von diesem gewaltigen Mahlstrom, aus dessen Tiefen ihm – ihnen beiden - nur eine einzige Empfindung zuruft:

Eins.

Eins-eins-eins.

„Jakobu!“

Plötzlich durchfährt ein Zittern Lucifers gesamten Körper, er bäumt sich auf, wirft den Kopf in den Nacken und aus seiner Kehle löst sich ein wahrer Triumphschrei – melodisch bis in den letzten Ton, wild und lebensbejahend jubelt er seinen Höhepunkt in die Welt hinaus und reißt Mao mit über die Klippe.

Und kurz bevor Maos Welt in einem Feuerwerk explodiert, glaubt er das charakteristische Rauschen von mächtigen, schwarzen Schwingen zu hören.

 

 

 

Schluchzend klammert sich Lucifer an Mao fest. Er hat sie gespürt. Er hat seine Flügel gespürt. Sie waren da. Für einen winzigen, kostbaren Moment waren sie wieder da.

Jetzt sind sie wieder fort und das schmerzt schlimmer als je zuvor.

Doch Mao strahlt vor Freude.

„Ich wusste es doch“, grinst er selbstzufrieden, während er sie beide näher unter den Duschkopf und damit unter den warmen Wasserstrahl dirigiert und zwar möglichst so, dass Lucifers Armschiene nicht nass wird. Darum wird er sich auch noch kümmern. Im Moment begnügt er sich damit, beruhigend über Lucifers Hinterteil zu streicheln und dem Gefühl nachzuspüren, wie ein paar Tropfen seiner Magie in dessen Körper sickern. Es ist noch nicht viel, aber es hilft und es ist ein guter Anfang.

Die tiefen Krallenspuren auf Lucifers Körper sind jedenfalls schon verschorft.

Mao weiß nicht, wie lange das anhält und wie es sich auf den Knochenbruch auswirkt – das wird er später überprüfen.

„Es ist ein Fortschritt“, raunt er, während er mit seiner rechten Hand tröstende Kreise auf Lucifers nassem Rücken zieht. Oh. Erst als er seine Krallen sieht, bemerkt er, dass er wieder als Dämonenkönig hier steht. Betroffen verwandelt er sich zurück.

„Wir wissen jetzt, dass es funktioniert“, fährt er dann beruhigend fort. „Und wir wissen, was wir machen müssen. Das nächste Mal holen wir Alciel mit ins Boot. Und dann hast du deine Flügel schnell wieder zurück und alles ist wieder wie vorher.“

Daraufhin schluchzt Lucifer nur noch lauter auf und plötzlich ist da wieder diese Wand, von der seine Magie zurückprallt.

Verdammt nochmal!

Gut. Dann wird er sich eben in Geduld üben müssen. Mao unterdrückt einen tiefen Seufzer und drückt einen kleinen Kuss auf Lucifers nassen Haarschopf.

Und überhaupt – um seine Mundwinkel zuckt ein kleines Grinsen – hat er gar nichts dagegen einzuwenden, wenn sie noch ein paar Versuche benötigen.

 

 

XXXV.

 

Pling.

Das Geräusch ist so fremd und ungewohnt, dass Alciel augenblicklich beim Abwasch innehält. Es dauert eine Weile, bis er es dem Smartphone auf dem Fensterbrett zuordnen kann. Stirnrunzelnd wischt er sich die nassen Hände an seiner grünen Schürze ab und greift dann nach dem neuen Mobiltelefon – das in seinen Augen eine wahnsinnige Geldverschwendung war, aber nachdem Lucifer ihm einen kleinen Crashkurs in der Bedienung gab, muss er zugeben, dass so etwas durchaus praktisch sein kann.

Vorsichtig öffnet er den Messengerdienst, wie es ihm Lucifer gezeigt hatte. Und da steht:

Mao-sama:

-Du wirst heute mit unserem Kellerkind Sex haben.-

Erschrocken zieht Alciel einmal scharf die Luft ein und wirft einen sichernden Blick zu dem gefallenen Engel hinüber. Aber der sitzt, die wuchtigen Kopfhörer auf den Ohren, schon den ganzen Vormittag an seinem neuen Laptop.

-Was?- tippt er hastig.

Keine fünf Sekunden später blinkt die Antwort über den Bildschirm seines Smartphones.

-Ich befehle es dir.-

Alciel atmet einmal tief durch. Wieder fliegen seine Finger über den Touchscreen. Er unterhält sich nicht gerne per Textnachricht – ein Telefon ist zum telefonieren da! - aber bei diesem Thema versteht er, dass sein König seine Anweisungen nicht durch den ganzen MgRonald's rufen kann.

-Ihr meintet sicher, ich soll mit ihm spielen?-

-Nein, Ashiya. Sex. Ich meinte SEX.-

Alciel spürt, wie ihm das Blut aus dem Gesicht weicht. Oh nein. Oh nein oh nein oh nein. Mao-sama hat es doch bemerkt. Dabei hatte er doch versucht, sich nichts von dem anmerken zu lassen, was zwischen ihm und Lucifer in den Waschräumen des Kinokomplexes vorgefallen war. Ist sein König jetzt deswegen mit ihm verärgert? Ist das jetzt seine Art von Bestrafung?

Auf dem Bildschirm entsteht eine neue Nachricht.

-Ich will, dass das erledigt ist, wenn ich in 3 Stunden zurückkehre.-

Was?

Erschrocken schlägt sich Alciel die Hand vor den Mund und wirft dann einen nervösen Blick zu Lucifer hinüber. Der ist mitten in der Bewegung erstarrt und dreht sich nun langsam zu ihm um. Stirnrunzelnd schiebt er sich die Kopfhörer ein Stück zurück.

„Hast du etwas gesagt, Alciel?“

Der blonde Dämon zwingt sich zu einem beruhigenden Lächeln.

„Nein, alles in bester Ordnung.“

Für einen Herzschlag liegt der prüfende Blick dieser wunderschönen violetten Augen noch auf ihn, dann zuckt Lucifer nur mit den Schultern und dreht sich wieder um.

Alciel atmet einmal tief durch, schaltet sein Smartphone entschlossen aus und legt es dann zurück aufs Fensterbrett, um sich wieder seinem Abwasch zuzuwenden. Und während er die Frühstücksschalen mit Schwamm und Wasser traktiert, kommt er ins Grübeln, versucht, den Morgen und das gemeinsame Frühstück in Gedanken zu rekapitulieren.

Ach, hätte er doch nur besser aufgepasst.

Aber ehrlich gesagt, fühlte er sich beim Aufstehen ungewohnt müde und träge, irgendwie, als würde er völlig neben sich stehen. Das gab sich glücklicherweise nach der ersten Tasse Tee, aber logischerweise hat er bis dahin nicht allzu kritisch auf seine Umgebung geachtet.

Mao erschien ihm gut gelaunt und nichts, aber wirklich nichts deutete an, dass er ihm vier Stunden später so eine Nachricht schicken würde!

Wenn er sauer auf mich ist, wieso hat er dann nichts gesagt?

Nein. Alciel schüttelt den Kopf. Das passt nicht zu Mao-sama.

Er ist nicht wütend auf mich. Aber vielleicht auf Lucifer?

Langsam dreht sich Alciel um und mustert die schmale Gestalt des gefallenen Engels, der ihm noch immer den Rücken zuwendet und ganz in etwas versunken ist, das aus dieser Entfernung wie eine Tabellenkalkulation aussieht.

Je länger Alciel darüber nachdenkt, desto mehr Kleinigkeiten fallen ihm ein. Die nervösen Blicke, die Lucifer seinem König zuwarf, die Art, wie er manchmal errötete, wenn Mao das Wort an ihn richtete und vor allem, wie … fügsam er war. Kein einzige freches Wort wollte über seine Lippen kommen, nicht einmal ein kleines Grinsen oder ein herausforderndes Augenrollen. Aber das lag nicht an einer weiteren melancholischen Phase, dafür lag zuviel Leben in Lucifers Augen – und Alciel bildet sich langsam ein, das sehr gut beurteilen zu können.

Je länger Alciel darüber nachdenkt, desto mehr Parallelen fallen ihm auf - zwischen seinem eigenen, gestrigen Verhalten gegenüber Lucifer und der Art, wie Lucifer um Mao heute morgen herumtanzte. Zwischen den beiden ist eindeutig etwas vorgefallen. Etwas Bedeutsames.

Versonnen läßt Alciel seinen Blick über Lucifers Rückansicht wandern und stutzt dann verblüfft.

Was zum -

Hastig wischt er sich die nassen Hände an seiner grünen Küchenschürze ab und geht mit fünf großen Schritten zu dem gefallenen Engel hinüber. Mit einer einzigen schnellen Bewegung greift er nach dem Baumwolltuch und zieht es ihm vom Hals.

Lucifer gibt einen erschrockenen Laut von sich, zuckt zusammen, seine gesunde Hand fährt hoch zu seinem Hals, während er zu ihm herumwirbelt.

Große, violette Augen funkeln ihn vorwurfsvoll an.

Doch Alciel sinkt nur wortlos neben ihm auf die Knie und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf die dunklen Male auf dieser hellen Haut.

Sind das … Fingerabdrücke? Bei diesem Gedanken bleibt Alciel glatt das Herz stehen.

Nein. Mao-sama würde niemals...

Dann erinnert er sich an das, was vor sechs Tagen geschah und wird blaß.

„Was... was ist das, Lucifer?“ Mit zitternden Fingern deutet er auf die blauen Flecken. „Sind das...“ er schluckt einmal schwer. „Würgemale? War das etwa... Mao?“

Er ist völlig fassungslos. Er kann … er will es nicht glauben.

„Was? Nein!“ stößt Lucifer sofort hervor und legt schützend seine Hand auf die betreffende Stelle. „Hast du noch nie Knutschflecken gesehen? Baka!“

Irritiert runzelt Alciel die Stirn.

„Was sind Knutschflecken?“

Lucifer starrt ihn einen Moment lang einfach nur an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen, doch dann dämmert es ihm.

„Stimmt ja. Deine Haut wird durch Chitin geschützt. Da kennst du so etwas natürlich nicht.“ Einen Moment lang starrt er ihn nur nachdenklich an, dann hat er sich zu einer Entscheidung durchgerungen und in seine Augen schleicht sich ein verschlagenes Funkeln.

„Man nennt es auch Liebesmal, Alciel. Komm her, ich zeig dir, wie es geht.“

Und ehe es sich Alciel versieht, hat Lucifer ihn schon am Kragen gepackt und ihn zu sich herangezogen. Keine Sekunde später fühlt er, wie sich warme, weiche Lippen an seiner seitlichen Halslinie festsaugen und quietscht erschrocken auf.

Er zuckt zurück, kommt aber nicht weit, weil Lucifer ihn immer noch festhält. Und dann will er es auch nicht mehr, denn nach der ersten Schrecksekunde fühlt sich das sogar ganz... angenehm an.

„Lucifer...“ vorsichtig legt er seine Arme um diesen und legt unwillkürlich den Kopf zur Seite, um ihm noch mehr Angriffsfläche zu bieten. Er kann spüren, wie sich Lucifers Lippen während dieser ungewöhnlichen Zärtlichkeit zu einem selbstzufriedene Lächeln kurven, doch ausnahmsweise fühlt er sich dadurch mal nicht gekränkt.

„Das“, erklärt Lucifer schließlich und betrachtet den leuchtend roten Fleck stolz, „ist ein Knutschfleck.“

„Hm“, macht Alciel nur. Das wird er sich später genauer im Spiegel ansehen. Im Moment will er einfach nur diese Wärme und Nähe genießen. Und so schlingt er seine Arme fester um Lucifer und zieht ihn noch näher zu sich heran. Wohlig aufseufzend vergräbt er dann seine Nase in diesem violetten Haarschopf und atmet diesen Duft von Flieder und Honig tief in seine Lungen. Ohne sein eigenes Zutun schummelt sich seine rechte Hand unter das weiß-lila-T-Shirt und streichelt über diese warme, weiche Rückenhaut. Und dann berühren seine Finger eine frisch verheilte, lange Wunde, an der an einigen Stellen noch Schorf klebt. Und noch eine. Und noch eine. Dicht beieinander. Krallenspuren! Aus Alciels Kehle löst sich ein unwilliges Knurren. Und dann erinnert er sich wieder an das leichte, energetische Summen, das Lucifers Shirt heute ausstrahlte, als er es mit der anderen Schmutzwäsche in die Waschmaschine stopfte. Er dachte sich wirklich nichts dabei, weil Mao oft kleine Schäden repariert, wenn er genug Magie übrig hat (und davon hat er zur Zeit ja eine ganze Menge), aber jetzt zählt er eins und eins zusammen.

Knutschflecken. Krallenspuren.

Oh ja, zwischen den beiden ist eindeutig etwas vorgefallen, während er selig an der Matratze horchte. In seiner Brust beginnt es zu brodeln, wieder entweicht ihm ein Grollen und ihm wird plötzlich ganz heiß. Seine Finger verfärben sich schwarz und glänzend und seine Krallen graben sich nachdrücklich in Lucifers weiches Taillenfleisch, als er den Kopf etwas dreht und seine Lippen entschieden auf Lucifers seitlichen Nacken presst. Lucifer erschauert, als er spürt, wie diese spitzen Zähne über seine empfindliche Haut schaben und die Art, wie sich Alciels Krallen in seine Seiten bohren ist auch nicht angenehm, aber die Kombination mit Alciels dumpfen, eifersüchtigen Knurren jagt eine anregende Hitzewelle durch seinen gesamten Unterleib.

So ungerne er das zugibt – es ist genau dasselbe wie gestern bei Mao: diese Dominanz törnt ihn an.

Und dann liegen sie plötzlich engumschlungen auf dem Boden und Alciels geschickte Zunge plündert seine Mundhöhle und irgendwann sind Alciels Krallenfinger in seiner Hose und alles verschwimmt nur noch zu einem undeutlichen Potpourri aus Wärme, Nähe, Verlangen und Leidenschaft...

 

 

Es ist so ähnlich wie am Abend zuvor. Da ist wieder dieser chaotische innere Sturm, dieser Sog an seinem Magiekern, aber diesmal reißt es ihn nicht mit. Diesmal kann er auf diesen Wogen mitreiten. Er verliert nicht die Kontrolle. Es gelingt ihm sogar, die beginnende Verwandlung wieder umzukehren. Seine Krallen bilden sich zurück und ab sofort sind es nur seine menschlichen Fingernägel, die auf dieser hellen Haut rote Striemen hinterlassen.

Lucifers Körper ist heiß, als stünde er in Flammen und jedes Seufzen, jeder tiefe Atemzug und jedes Stöhnen ist wie süßer, unwiderstehlicher Honig, der sich von seinen Hörnerven direkt auf jede einzelne seiner Synapsen legt und seinen Verstand zu betäuben trachtet. Doch Alciel hält tapfer stand.

Lucifer dagegen verwandelt sich unter seinen Berührungen und Küssen in ein regelrechtes Kaleidoskop. In einem Moment anschmiegsam wie eine Katze – sogar leise schnurrend – und im nächsten ein willenloses, dahinschmelzendes Etwas, absolut knochenlos und nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen und dann plötzlich wird er zu einem wilden, hemmungslosen Raubtier mit blitzenden Augen und hochroten Wangen, das ihn mit Armen und Beinen umschlingt und zu Boden ringt. Alciel kann sich nicht entscheiden, welche Version ihm besser gefällt, sie haben alle ihren Reiz.

Er weiß nur, dass Lucifer vor Leben summt und das ist für ihn das schönste Geschenk.

 

 

Lucifer fühlt sich berauscht und wie auf Drogen – dabei macht Alciel gar nichts Weltbewegendes. Aber seine Küsse rauben ihm den Atem und seine zärtlichen Streicheleinheiten hinterlassen wieder diese wahnsinnig machenden Flammenspuren auf seiner Haut. Und wenn er sich dann an seinem Hals festsaugt … oder an seinem Schlüsselbein oder gar an seinen Brustwarzen – links und rechts und dann wieder links und nie lange genug, dass er sich daran gewöhnen könnte – dann wünschte er sich wirklich, er hätte ihm das nie gezeigt!

Seine Finger in seiner Hose sind ungeschickt – noch viel ungeschickter als Maos – aber sie machen ihn trotzdem wahnsinnig. Sein Puls schnellt in ungeahnte Höhen und wenn Alciels Finger so weitermachen, kann er für nichts mehr garantieren!

Und trotzdem erwischt ihn sein Höhepunkt völlig unvorbereitet.

Aufkeuchend wirft Lucifer den Kopf zurück, beißt sich auf die Unterlippe und biegt den Rücken durch. Seine Fersen graben sich tief in die Tatami-Matten, während seine gesunde Hand nach oben zuckt und sich haltsuchend in einer blonden Haarsträhne verkrallt.

Aus seiner Kehle löst sich etwas, das man mit viel Mühe und Fantasie als Alciels Namen interpretieren kann.

Dann fällt er kraftlos und schwer nach Luft ringend wieder zurück. Alciel fängt ihn auf und hält ihn, während er nur langsam wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrt.

Mit einem breiten Lächeln sieht Alciel zu seinem Engel hinunter. So schön... so wunderschön... Gedankenverloren hebt er die rechte Hand und berührt mit den Fingerspitzen seine Lippen. Sie sind nass und er denkt gar nicht darüber nach, als er sich die weiße Flüssigkeit von den Fingern leckt. Der Geschmack explodiert regelrecht in seinem Mund. Sofort steckt er sich die Finger bis zum Knöchel hinein, um auch ja nichts zu verschwenden. Unvergleichlich. Er ist auf der Stelle danach süchtig.

Erst mit einiger Verspätung trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Doch anstatt sich zu schämen, grinst er nur verschlagen auf Lucifer hinunter.

Der hängt noch immer völlig kraftlos in seinen Armen und beobachtet ihn aus halbgeschlossenen Augen träge. Da er noch immer schwer atmet, fehlt ihm die Luft zum Reden, doch um seine Mundwinkel zuckt ein wissendes Lächeln.

Wortlos beugt sich Alciel zu ihm hinab und presst seinen Mund vorsichtig gegen Lucifers. Es wird nur ein leichter, sanfter Kuss, und er währt auch nur kurz, denn Lucifer muss wirklich atmen. Aber es dauert nicht lange bis sich Lucifers Atmung normalisiert hat und dann kleben ihre Lippen wieder zunehmend länger aneinander.

 

 

„War das deine Rache für gestern?“ fragt Lucifer ihn fünfzehn Minuten später, als er wieder im Schneidersitz vor seinem Laptop sitzt.

„Vielleicht ein bißchen“, murmelt Alciel gegen diese schöne, blasse Haut.

Der blonde Dämon sitzt hinter ihm, hat ihm die Haare zur Seite gestrichen und küsst und leckt sich genüßlich über seinen Nacken. Die Haut färbt sich an dieser Stelle schon rot und es ist ein sehr erregender Gedanke, dass dort für die nächsten Tage sein Liebesmal prangen wird, versteckt von Lucifers Haaren – ein Geheimnis, das nur sie beide teilen. Und ein Geheimnis wird es bleiben, denn Alciel hat nicht vor, seinem König davon zu erzählen.

Seine Hände streicheln sich entweder über Lucifers flachen Bauch oder über dessen Knie. Sein plötzliches Kuschelbedürfnis überrascht niemanden mehr als ihn selbst. Er lässt sich normalerweise nicht so gehen, selbst während der Paarungszeit hat er nie länger als nötig bei seinen Partnerinnen gelegen – der Druck, unter dem er als Anführer und später als Maos General stand, war einfach zu groß. Und irgendwann wusste er gar nicht mehr, wie man sich entspannt. Selbst hier auf der Erde gab es immer etwas zu tun, das viel wichtiger war.

Aber jetzt … in diesem Moment, können ihm alle mal den Buckel runterrutschen – und zwar kreuzweise.

Uh … ob Lucifers Faulheit auf ihn abgefärbt hat?

Oi – aber wenn schon... um seine Lippen zuckt ein kleines Grinsen, als er sich an Maos Nachricht erinnert … er kann immer noch sagen, dass er hier nur Maos Befehl ausführt.

Ganz in diesem Gefühl der Nähe und Wärme versunken – und der Genugtuung, wenn er spürt, wie Lucifer unter einer seiner Liebkosungen unwillkürlich erzittert – leckt und knabbert er sich weiter über diesen schönen Nacken.

Irgendwann wirft er aber doch einmal einen neugierigen Blick über Lucifers Schulter auf diesen Bildschirm – es ärgert ihn schließlich schon ein wenig, dass er Lucifer so gar nicht davon ablenken kann.

„Was machst du da eigentlich?“

„Ich programmiere für dich eine App, mit der du eine Menge Zeit sparst.“

Alciel blinzelt überrascht. Im ersten Moment glaubt er wirklich, sich verhört zu haben.

„Huh?“

„Im Moment blätterst du jeden Tag die Werbeprospekte nach Angeboten durch. Wir haben allein sechs Geschäfte im näheren Umkreis, in denen du Stammkunde bist. Also sechs Prospekte, die du miteinander vergleichst. Das kostet dich pro Tag mindestens zwanzig Minuten. In Zukunft macht das diese App für dich.“ Genaueres erspart er ihm, denn Alciel will bestimmt nicht wissen, wo er sich dafür alles hineinhacken muss. „Du machst einfach eine Liste von den Sachen, die du brauchst und die App empfiehlt dir dann die entsprechenden Geschäfte.“

Wieder blinzelt Alciel, diesmal jedoch irritiert darüber, dass Lucifer all diese Dinge von ihm weiß. Bisher dachte er immer, das alles ginge ihm an seinem Engel-Alabasterarsch vorbei. Aber dieses kleine Biest hört und sieht wirklich alles, oder?

Er ist so stolz auf ihn.

„Das klingt praktisch. Ich wusste gar nicht, dass du so etwas kannst.“

„Alter, echt jetzt?“ Lucifer wirft ihm über die Schulter einen so gekränkten Blick zu, daß Alciel erst schmunzeln muss und ihm dann einen zärtlichen Kuss auf die Nasenspitze gibt..

„Entschuldige, aber du spielst so oft immer nur irgendwelche Ballerspiele, dass man dein Genie leicht vergisst.“

„Du hältst mich also für ein Genie?“

„Äh...“

„Zu spät, du hast es gesagt.“

Lachend dreht sich Lucifer wieder um. Und während seine Finger wieder über die Tasten fliegen – selbst mit Handicap ist er verdammt schnell – vergräbt Alciel nur sein Gesicht in diesem violetten Haar, schmiegt sich eng an ihn und genießt seine Nähe und Wärme.

Der Abwasch läuft ihm nicht weg, und sie haben noch viel Zeit, bis Mao nach Hause kommt.

 

 

 

XXXVI.

 

Als Mao nach Hause kommt, wird er wie immer von einem fröhlich lächelnden Alciel willkommen geheißen und sogar Lucifer – wie immer vor seinem Laptop hockend und die Kopfhörer auf den Ohren - brummt ein „willkommen zurück“ und hebt lässig die Hand. Er dreht sich nicht um, und obwohl ein solches Benehmen Mao sonst immer tierisch geärgert hat, stört es ihn heute nicht im Geringsten.

Der Tisch ist gedeckt, in der Wohnung riecht es nach Curryreis und Hühnerfleisch und die beiden wichtigsten Personen in seinem Leben sind hier – was kann er sich mehr wünschen? Zufrieden geht er in den Küchenbereich, um Alciel mit den Tellern zu helfen.

„Gebt mir noch fünf Minuten!“ ruft Lucifer, hebt die gesunde Hand und spreizt vielsagend die Finger.

Verblüfft starrt Mao ihn an. Wow. So kommunikativ heute? Erstaunlich.

Dann bemerkt er den warmen Blick, mit dem Alciel den Engel betrachtet und das stolze Lächeln, das um seine Mundwinkel zuckt.

„Er programmiert etwas, das mir das Einkaufen erleichtert.“

„Wirklich?“ stößt Mao erstaunt hervor. Unwillkürlich wandert nun auch sein Blick zu Lucifer hinüber. „Das ist lieb von ihm.“

Er versucht, aus Lucifers Haltung irgend etwas heraus zu lesen, gibt es aber schnell wieder auf.

„Und wie war es sonst?“ erkundigt er sich daher neugierig bei Alciel. „Hattet ihr Spaß?“

Alciel runzelt die Stirn. „Wir haben jetzt nicht MarioKart gespielt und viel gelacht, aber wir hatten eine angenehme Zeit.“

Mao verzieht kurz das Gesicht. Das ist mal wieder eine typische Alciel-Antwort – subtil scheint er heute bei ihm nicht weiter zu kommen.

„Hattet ihr Sex?“ fragt er schließlich ganz direkt, aber – mit einem sichernden Blick zum Katzentisch hinüber – mit gesenkter Stimme.

Alciel erstarrt mitten in der Bewegung und nickt dann errötend.

„Ja, Mylord.“

„Und ich nehme an, du lagst oben?“

„Mylord!“ zischt Alciel entsetzt auf und flüstert dann: „So weit sind wir nicht gegangen.“

Er klingt beinahe beleidigt. Als könne er nicht fassen, dass Mao überhaupt daran denkt.

Irritiert starrt Mao ihn an.

„Was habt ihr denn dann gemacht?“

Beflissen kramt Alciel im Besteckkasten. Er wagt es nicht, ihm in die Augen zu sehen und seine Wangen färben sich immer dunkler.

„Geküsst“, murmelt er gehorsam. „Gestreichelt. Und ich hab ihn mit der Hand...“ Er macht eine unbestimmte Geste, die mit etwas Fantasie sehr eindeutig eine gewisse Tätigkeit beschreibt.

Mao kann ihn nur fassungslos anstarren.

„Du sagtest, ihr hattet Sex“, stößt er dann vorwurfsvoll hervor.

„Das war Sex.“

„Nein, Alciel, das war kein Sex.“ Da er nicht schreien kann, benutzt er Alciels wahren Namen und legt soviel Tadel hinein, wie er kann. Doch der blonde Dämon begegnet seinem flammenden Blick tapfer.

„Da bin ich anderer Meinung.“

Mao stutzt.

Widerspricht er mir hier gerade? So hat er schon lange nicht mehr mit mir geredet. Nicht, seit wir auf der Erde sind.

Er hat das vermisst. Ein Untergebener, General und Freund, der zu allem ja und Amen sagt, kann für einen Dämonen, der insgeheim von Selbstzweifeln geplagt wird, auf Dauer sehr anstrengend werden.

Aber jetzt und hier kommt dieser neuerwachte Widerspruchsgeist ziemlich ungelegen. Seufzend fährt sich Mao mit gespreizten Fingern durchs Haar. Nach einem letzten sichernden Blick in Lucifers Richtung, tritt er dicht vor seinen General und erklärt eindringlich:

„Alciel. Als ich gestern mit ihm Sex hatte, floß für einen kurzen Moment etwas von meiner Magie in ihn. Seine Flügel waren so nah dran, sich zu manifestieren.“ Er macht eine entsprechende Geste und gibt dann zu: „Ich habe gehofft, wenn du auch mit ihm Sex hast, könnte sich das wiederholen.“

Obwohl er natürlich schon längst weiß, dass sein König mit Lucifer intim war, verspürt Alciel so etwas wie einen Stich in der Herzgegend, als er das hört. Vor allem der Gedanke, um welche Art von Intimität es sich genau handelte, läßt ihn einmal hart schlucken.

Und dann denkt er an sein kleines Geheimnis, dieses Liebesmal in Lucifers Genick und ihm wird etwas leichter ums Herz.

„Das hättet Ihr mir sagen müssen, Mylord“, erklärt er vorwurfsvoll.

„Du hast recht“, kommt es zerknirscht zurück. „Es tut mir leid.“

Alciel mustert ihn mit milder Nachsicht. Es gibt vieles, was ihm noch leid tun sollte, ganz zuoberst diese unsägliche Textnachricht, doch er ist bereit, das unter den Tisch fallen zu lassen.

„Es ist schön zu wissen, dass es funktioniert, aber müssen wir das wirklich übers Knie brechen? Er öffnet sich uns gerade, Mao-sama. Mehr noch als je zuvor. Er programmiert eine App für mich. Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber er tut es für mich. Niemand hat ihn darum gebeten. Wenn wir das jetzt überhasten, könnte das alles wieder zunichte machen. Wir müssen vorsichtig sein, Mao-sama.“ Er zögert einen Moment und fügt dann leise hinzu: „Ich will ihn nicht verlieren.“

„Ich auch nicht, Alciel.“ Mao nimmt ihm das Besteck ab und dabei berühren sich ihre Hände. Sekundenlang starren sie sich nur in die Augen.

„Was passiert hier mit uns?“ wispert Mao plötzlich.

„Ich weiß es nicht“, flüstert Alciel zurück, den diese Worte frappierend an Lucifers gestrige Frage erinnern.

„Ihr seid Idioten.“

Wah-?!“ Erschrocken fahren Mao und Alciel auseinander und wirbeln herum. Einen Meter von ihnen entfernt steht Lucifer mit ernster Miene, aber amüsiert funkelnden Augen.

Während Alciel theatralisch nach Luft schnappt und sich eine Hand auf die Brust legt, versucht sich Mao in einem schiefen Grinsen.

„Huh? S-seit wann stehst du schon hier?“

„Seit deiner Entschuldigung.“

„Lucifer!“ Alciel hat endlich seine Stimme wiedergefunden und springt aus reiner Gewohnheit in den verbalen Angriffsmodus. „Es gehört sich nicht, andere zu belauschen!“

Lucifer schenkt ihm nur ein süffisantes Lächeln. „Es gehört sich auch nicht, hinter meinem Rücken über mich zu reden und trotzdem macht ihr das ständig.“

Da hat er zweifellos recht, aber Alciel schnauft nur einmal und drückt ihm entschieden einen Stapel Teller in die Hände.

„Wenn du hier schon stehst, nimm die Teller und bring sie zum Tisch. Husch-husch.“

„Hai, Okaachan“, zwitschert Lucifer nur und fängt sich von Alciel dafür einen irritierten Blick ein.

Mao dagegen folgt Lucifer hinüber zu dem niedrigen Tisch. Während Lucifer die Teller verteilt, legt er das Besteck dazu, und als dann Alciel mit den Gläsern und Getränken kommt, fühlt es sich zum ersten Mal an, als wären sie eine richtige, kleine Familie.

 

 

XXXVII.

 

Triumphierend reißt Mao den Arm mit dem Controller in die Höhe, und während sein Avatar auf dem Bildschirm seinen goldenen Pokal überreicht bekommt und die entsprechende Melodie aus den Lautsprechern dudelt, schlingt er Lucifer einen Arm um die Taille, kippt ihn übermütig in die Waagerechte und drückt ihm einen wilden Kuss auf.

Nur ganz kurz, dann richtet er ihn wieder auf und während Lucifer noch um Atem und Gleichgewicht kämpft, diskutiert Mao schon mit Alciel, welche Rennstrecke sie als nächstes wählen sollen.

Lucifer wird davon ganz schwindlig.

So war es den ganzen Nachmittag über – unabsichtliche Berührungen, die schnell in ein zärtliches Streicheln übergingen. Hier und da mal ein flüchtiger Kuss. Einzeln gesehen nichts Weltbewegendes, aber stetiger Tropfen höhlt ja bekanntlich den Stein. Und am Abend, kurz bevor die Sonne untergeht und nach dreieinhalb Stunden MarioKart hat sich in Lucifer ein gewisser, erwartungsfreudiger Druck aufgebaut. Seine Hose ist ihm schon längst zu eng geworden und wenn einer der beiden ihn noch einmal küsst, kann er für nichts mehr garantieren.

Yep. Scheiß-Teenagerhormone.

Dass er unter diesen Umständen ständig verliert, ist nicht verwunderlich. Die beiden scheinen wirklich wild entschlossen zu sein, ihm heute noch seine Magie zurück zu geben. Und Lucifer weiß nicht, ob er das will.

Aber... oh, verdammt, er will das hier! Er will es unbedingt!

Und das ist ein Problem. Er benimmt sich zunehmend inkonsequenter. Erst gestern hat er trotz gegenteiliger Behauptung Mao an seinen Hintern herangelassen und bereut es nicht so sehr, wie er sollte. Und das ist so typisch für ihn, wenn er sich … verliebt hat.

 

 

Alles in Mao drängt dazu, sich auf Lucifer zu stürzen, ihm die Klamotten vom Leib zu reißen und sich ihm notfalls mit Gewalt aufzudrängen. Doch jedes Mal, wenn dieser dunkle Trieb zu stark wird, denkt er an Alciels Worte

Wenn wir das jetzt überhasten, könnte das alles wieder zunichte machen.

Seine Rechte Hand ist wirklich weise.

Und was noch wichtiger ist: er weiß, wie Alciel ihn ansehen wird, wenn er diese Worte nicht berücksichtigt und seinen Dickkopf durchsetzt – und er kann alles ertragen, aber nicht Alciels traurige, enttäuschte Augen.

Und wenn das Verlangen zu groß wird, wenn selbst die Ablenkung durch das Spiel nichts mehr bringt, dann kann er immer noch ins Bad gehen und sich - auch wenn das noch so frustrierend und demütigend ist - mit etwas Handarbeit Erleichterung verschaffen. Zumindest für die nächsten zwanzig Minuten.

Aber dieser Druck in seinen Lenden, dieser Drang ... Das ist schlimmer als die Paarungszeit Zuhause. Dort muß er sich wenigstens nicht krampfhaft zurückhalten – auch wenn er seine Partnerinnen wirklich sehr gewissenhaft wählt. Er ist der Letzte seines Clans und der Dämonenkönig, als solcher trägt er Verantwortung bei allem, was er tut – völlig wahllos Nachwuchs in die Welt zu setzen ist einfach nicht ratsam. Wenn eine Dämonin willig und stark war, wenn ein mächtiger Clan hinter ihr stand, wenn sie seinen Sprößling beschützen konnte, dann nahm er sie sich gerne. War sie willig, aber schwach – und das waren die meisten – schützte er sie mit seiner Magie vor einer Empfängnis.

Nie hätte er gedacht, dass er Sex mal mit etwas ganz anderem in Zusammenhang bringen würde oder dass den Großteil des Tages seine Gedanken nur um ein und dieselbe Person kreisen könnten.

Und nie hätte er sich vorstellen können, sich freiwillig derart zu kasteien.

Und dann ausgerechnet für Lucifer? Noch vor einer Woche wäre ihm das unmöglich erschienen ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er schon längst Opfer für ihn brachte. Er opferte seine Ruhe und seinen Frieden, als er ihn bei sich aufnahm. Er opferte sein kostbar erarbeitetes Gehalt, um ihn zu ernähren und ihm ein Dach über dem Kopf zu bieten. Genau genommen opferte er sogar seine Selbstachtung, weil er Ausreden für all das erfand und ein Teil von ihm das immer wusste. Dabei lag es doch schon immer auf der Hand: aus seiner kindlichen Bewunderung für den starken, ehemaligen Erzengel mit den schönen schwarzen Schwingen wurde schnell Verehrung und da war immer Liebe, auch wenn er das Gefühl nicht deuten konnte (was versteht ein Goblin schon von der Liebe?). Er musste erst ein Mensch werden mit all diesen starken Gefühlen, und ihn fast verlieren, um es zu begreifen.

Und ist es nicht erbärmlich, wieviel Porzellan er inzwischen nur wegen seiner Dummheit zerschlagen hat? Und all diese Stücke muss er jetzt unter vielen kleinen und großen Opfern wieder mühsam zusammenkleben.

Jemanden für sich zu gewinnen und ihn zu behalten ist wirklich verdammt anstrengend. Und nervenaufreibend. Und … argh...

eine undeutliche Entschuldigung murmelnd, legt Mao den Controller ab und flüchtet sich ins Bad.

 

 

Alciel wartet, bis sein König im Bad verschwunden ist und bis er das Klicken des Türschlosses hört, dann dreht er sich zu Lucifer um, schlingt ihm einen Arm um die Hüften und zieht ihn zu einem langen, süßen Kuß zu sich heran. Sein schlechtes Gewissen gegenüber seinem König hält sich in Grenzen. Lucifer gehört niemandem außer sich selbst und daher ist er der einzige, der dagegen protestieren darf. Außerdem bleibt das ihr kleines Geheimnis.

Er hat keine Ahnung, wo das hier endet, aber wenn das so weitergeht wie bisher, wird es echt seltsam, und er kann nur hoffen, dass sein König und er sich nicht um Lucifer balgen werden wie die Hausfrauen im Supermarkt um die letzte Thunfischdose. (Das hat er einmal miterlebt und das war beängstigend.)

Plötzlich spürt er geschickte Finger an seinem Gürtel herumnesteln und löst überrascht ihren Kuß.

„Was-?“ beginnt er, doch da blitzen ihn schon zwei violette Augen an.

„Hilf mal etwas mit“, zischt Lucifer. „Wir haben bestenfalls acht Minuten.“

Eine Sekunde lang starrt Alciel ihn nur verdutzt an, dann nickt er hastig und unterstützt Lucifer hastig dabei, erst den Gürtel und dann die Hose zu öffnen. Lucifer leckt sich einmal über die Lippen und sinkt dann vor ihm auf die Knie.

Das ist so surreal! Aber Alciel bleibt nicht die Zeit, weiter darüber nachzusinnen, denn da hat Lcifer schon zielsicher seine steinharte Erregung aus ihrem Stoffgefängnis befreit, nur, um sie ohne zu zögern in den Mund zu nehmen.

Viel zu schnell! Alciel zuckt zusammen und unterdrückt ein überraschtes Aufkeuchen. Die Zeit sitzt ihnen im Nacken und das gibt seiner Erregung einen weiteren Kick. Und dann setzt Lucifer alles ein, was er hat und Alciel bleibt nichts anderes mehr übrig, als sich in diesem violetten Haarschopf – oder wahlweise Lucifers Schultern – festzuklammern, während in seinem Unterleib ein gewaltigen Feuer erwacht und sich jegliches bewusstes Denken in Nichts auflöst.

 

 

Von seinem ärgsten Druck befreit, tritt Mao aus dem Badezimmer. Er sieht Lucifer vor Alciel knien. Er hört Alciel erleichtertes Aufstöhnen und sieht Lucifer schlucken.

Mao reagiert rein instinktiv. Mit wenigen großen Schritten ist er bei ihnen. Lucifer hat Alciels bestes Stück gerade losgelassen. Der Geruch nach Samen, Speichel und Sex – herb und gleichzeitig auch irgendwie süß – trifft Mao mit voller Wucht, als er Lucifer am Kragen packt und zu sich in die Höhe zieht.

Bevor Lucifer auch nur ein entsetztes Japsen von sich geben kann, presst Mao schon seine Lippen auf dessen Mund und taucht mit seiner Zunge nach dem sämigen Inhalt. Lucifer hat noch nicht alles geschluckt und der Geschmack passt zum Geruch.

Er hat sich schon mit Lucifers Speichel vermischt und diese Mischung ist einfach nur der Wahnsinn!

Aufgrollend schaufelt Mao einen Teelöffel davon mit seiner Zunge in seinen eigenen Mund, löst sich von Lucifer und während er ihn mit einer Hand fest an sich drückt, packt er mit seiner anderen den noch immer leicht beduselten Alciel am Kragen und küsst auch ihn.

Er läßt ihn sich selber schmecken und es dauert nicht lange, dann wimmert Alciel leise auf. Noch ein letztes Mal umschlängelt Maos mit seiner Zunge Alciels, dann zieht er sich wieder zurück und widmet sich voller Begeisterung wieder Lucifers Mund.

Fünf Sekunden später liegt Lucifer auf den Tatami-Matten und Mao macht sich mit einem gierigen Glitzern in den Augen daran, ihm die Hose über die Hüfte zu zerren, um ihm dieselbe Behandlung zuteil werden zu lassen wie Lucifer soeben noch Alciel.

Und als Mao mit seiner selbstgewählten Aufgabe beginnt, kommt Alciel wieder zu Bewusstsein, fällt neben ihnen auf die Knie und verschlingt Lucifers erstes lustvolles Winseln mit einem leidenschaftlichen Kuß.

 

 

 

Was Mao an Erfahrung fehlt, macht er durch Engagement tausendmal wieder wett und seine Bemühungen werden schnell belohnt. Da Alciel ihn immer noch leidenschaftlich küsst, klingt Lucifers Schrei sehr gedämpft, doch dafür reagiert der Rest seines Körpers sehr viel heftiger: Lucifer bäumt sich regelrecht auf, seine Finger verkrallen sich in den Tatami-Matten und Maos Mund ist plötzlich noch voller. Seine Geschmacksknospen explodieren regelrecht.

Zufrieden grollend nimmt er seine Finger aus Lucifers Hinterteil, was diesen zittern und seufzen lässt – und es gibt ein höchst peinliches, aber auch sehr anregendes feuchtes Geräusch, als er auch Lucifers bestes Stück aus seinem Mund entlässt.

Mit immer noch vollem Mund, packt Mao Alciel am Kinn und zwingt ihn, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Er küßt ihn und stellt sicher, dass er viel von Lucifers Sperma in Alciels Mund verteilt, bevor er sich dann dem gefallenen Engel höchstpersönlich zuwendet und ihn sich selber schmecken läßt.

 

 

„Das war eklig“, meint Lucifer ein paar Minuten später in einem Tonfall, der seine Worte Lügen straft und nachdem er sich wieder daran erinnert hat, wie das mit dem Atmen geht. Angenehm ermattet liegt er zwischen Mao und Alciel und die beiden haben je einen Arm um ihn geschlungen. Es ist warm und gemütlich, und er könnte ewig so liegen bleiben.

Dass Maos Hand sich immer noch in seinem Schritt befindet, stört ihn nicht im Geringsten. Auch die könnte ewig dort liegen bleiben.

Jepp, Danke, Teenagerhormone.

„Sagte der Schluckspecht“, spöttelt Alciel zärtlich und vergräbt seine Nase noch tiefer in diesem violetten Haar. Seine Hand unter Lucifers T-Shirt liegt genau auf dessen Brust, über dessen Herzen, und er hat fasziniert verfolgt, wie sich dieses langsam beruhigte.

„Gut, okay“, gibt Lucifer murmelnd zu, „vielleicht komme ich nur nicht darauf klar, dass es Mao-sama war.“

Mao schnauft nur amüsiert.

„Gewöhn dich besser daran. Ihr schmeckt zu gut, um das nicht zu wiederholen.“

Alciel drückt sein Gesicht mit den brennenden Wangen nur noch tiefer in diese violetten, so schön duftenden Haare. Er zieht es vor, zu schweigen. Auch, wenn er seinem König da aus tiefsten Herzen zustimmt.

„Darf ich's das nächste Mal machen?“ Es ist keine Bitte, obwohl es wie eine Frage formuliert ist und Lucifer klingt nicht, als würde er darüber gerne mit sich diskutieren lassen.

Jepp, das entwickelt sich langsam zu einer Obsession bei ihm, und er schämt sich deswegen kein bißchen.

Mao grinst nur bis über beide Ohren und gibt ihm einen kleinen Kuß auf die rechte Wange.

„Gerne, du Schluckspecht“, neckt er ihn liebevoll. Dann kuschelt er sich behaglich an Lucifers Seite zurecht und nach einigem Sortieren hat er eine Position gefunden, in der er seine Arme und Beine sowohl mit Lucifers wie mit Alciels verschlingen kann – ohne dabei seine Hand von Lucifers Intimbereich fortzunehmen. Das ist der besitzergreifende Goblin in ihm.

Für die Dauer einiger Sekunden liegen sie einfach nur so da und baden gegenseitig in dieser Nähe und Wärme. Dann seufzt Mao einmal leise auf.

„Diesmal hat es nicht funktioniert...“

„Jakobu...“, beginnt Lucifer warnend.

„Weil wir es nicht richtig gemacht haben“, beendet sein König seinen Satz vorwurfsvoll. „So schön das hier ist, es ist nicht das Richtige. Wir können dir deine Magie nur auf dieselbe Art und Weise zurückgeben, wie du sie erhalten hast. Wir müssen dich richtig -“

„Das nächste Mal vielleicht“, unterbricht ihn Lucifer hastig. Aus irgend einem Grunde will er nicht, dass der Goblin, den er mit großgezogen hat, dieses Wort in Zusammenhang mit ihm ausspricht.

Und vor allem nicht in Alciels Gegenwart. Sein armer Iron-Skorpion ist jetzt schon hochrot im Gesicht, das kann er ganz deutlich spüren!

„Unser Engel hat recht“, meldet sich da unerwarteterweise besagter Iron-Skorpion zu Wort. „Wir sollten das nicht erzwingen.“

Lucifer nickt eifrig. Seine Hand tastet nach Maos in seinem Schritt. Vorsichtig verschlingt er ihre Finger miteinander.

„Sei nicht immer so ungeduldig, mein kleiner Goblin.“ Ohne sein bewusstes Zutun, hat seine Stimme einen ungewöhnlich sanften, zärtlichen Unterton angenommen. Ein Tonfall, der in Mao uralte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten weckt. An Nächte, in denen er noch ein Kind war und unter Alpträumen litt und wo ein gewisser Engel mit rabenschwarzen Flügeln ihn einfach nur in den Arm nahm, diese Flügel um sie beide faltete, so dass er sich in einer warmen, sicheren Höhle befand und ihm ein Schlaflied in einer fremden Sprache sang, bis er sich wieder beruhigte.

Die Erinnerung daran treibt Mao die Tränen in die Augen.

Wie konnte er all diese stillen, liebevollen Momente einfach nur vergessen?

In seiner Erinnerung ist immer Lailah mit den schönen weißen Schwingen präsent, der erste Engel, den er traf, diejenige, die ihn fand, rettete und gesundpflegte, und diejenige, die in ihm den neuen Dämonenkönig sah und dadurch diesen Wunsch in ihm nährte, Macht zum Wohle aller Dämonen zu erlangen. Dann gibt es da Camio aus dem Vogelclan, der ihn nach Lailah unter seine Fittiche nahm, ihn beschützte und erzog. Camio hat ihn auch das Kämpfen gelehrt, zumindest ein paar Grundtechniken, aber Lucifer war derjenige, der ihm die wirklichen Kampftechniken beibrachte, der ihn (und später auch Alciel) Schreiben. Lesen und Rechnen lehrte und der ihm darüberhinaus auch die seelische Stabilität schenkte, die er für seine Lebensaufgabe benötigte.

Und später bewies Lucifer, dass ein fauler und kreativer General einen undisziplinierten Haufen dummer Dämonen nur durch ein paar grundlegende Veränderungen in eine klar strukturierte, funktionale Armee verwandeln kann. Bis dahin konnte sich Mao gar nicht vorstellen, was etwas Bildung und fließendes, warmes Wasser innerhalb eines einzigen Jahrzehnts alles bewirken konnte.

Und er hatte das alles immer hingenommen ohne es zu hinterfragen. Und noch schlimmer: er hatte es als eine naturgegebene Selbstverständlichkeit betrachtet.

Argh... ich bin der arrogante Dämonenkönig vom Stamme Nimm!

Verzweifelt vergräbt er sein Gesicht an Lucifers Schulter.

„Ich werde geduldig sein“, verspricht er mit vor Emotionen ganz schwerer Stimme. „Und verdammt“, fügt er flüsternd hinzu, „ich wünschte, wir hätten diesen Blutschwur wirklich geleistet.“

Zu seiner großen Überraschung ist es Alciel, der darauf antwortet:

„Was nicht ist, kann noch werden, Mylord. Und wenn es so einen Blutschwur nicht gibt, erfinden wir ihn eben.“

„Idioten“, seufzt Lucifer nur.

 

XXXVIII.

 

 

Mao hat versprochen, sich in Geduld zu üben, aber leicht fällt es ihm nicht. Ihm gefällt, was sie haben, aber - er will mehr. Viel mehr. Andererseits war diese Ungeduld schon immer sein Problem. Das ist sein Goblinblut – er prescht immer vor und denkt später darüber nach. Jedenfalls ist das sein erster Instinkt. In seinem langen Leben gab es nur drei Personen, die den Willen und den Mut aufbrachten, ihn, wo nötig, zu zügeln: Camio, Lucifer und natürlich – vor allem – Alciel.

Auch jetzt ist es immer wieder der Gedanke an Alciel, der ihn einen Gang herunterschalten läßt.

Trotzdem waren die letzten beiden Tage für Mao ein ständiges, emotionales Auf und Ab. Die schönen Momente überwiegen natürlich – er liebt ihre gemeinsame Zeit, wenn sie zusammen zocken oder sich zusammengekuschelt ein Epos wie Der Herr der Ringe ansehen. Er liebt diese Wärme, diese Nähe und den intensiven Austausch von Zärtlichkeiten. Es könnte mehr sein, seit dem einen Mal hat Lucifer ihn nicht mehr an seinen Hintern herangelassen, aber er kann sich in Geduld üben. Er könnte Lucifer ja fragen, aber seit ihrem letzten Gespräch verspürt er plötzlich eine gewisse Scheu davor, also hält er lieber die Klappe und genießt, was er hat.

Das einzige, was stört, ist die Arbeit. Diese Stunden werden zunehmend zur Qual. Es gelingt ihm zwar irgendwie, nicht aus der Reihe zu tanzen und weiterhin ein freundlicher und kompetenter Angestellter zu bleiben – außer das eine Mal, wo seine Chefin ihn aus der Küche verbannte, weil seine Black Pepper Fries zu salzig gerieten – aber seine innere Unruhe bleibt vor allem Chiho nicht verborgen.

Das führt dazu, dass sie noch öfter um ihn herumscharwenzelt und glaubt, um ihn besorgt sein und ihn trösten zu müssen. Er will ihr nichts erzählen, denn das alles geht sie rein gar nichts an, aber manchmal entschlüpft ihm doch das eine oder andere. Vielleicht hat Lucifer doch recht, wenn er ihn ständig „Idiot“ nennt, denn sonst befände er sich jetzt bestimmt nicht in dieser Situation, dass ihm auf seinem heutigen Heimweg eine aufgeregt plappernde Chiho und eine grimmig dreinschauende Emi begleiten.

Warum ist Emi dabei? Er weiß es nicht. Aus irgend welchen ominösen Gründen lungerte sie vor dem MgRonald's herum und hat sich ihnen spontan angeschlossen.

Er kann sich schon denken, wie das endet, aber so gerne er beide vor den nächstbesten Bus stoßen würde, will er auch einfach nur, dass sie ihn endlich in Frieden lassen. Und das tun sie erfahrungsgemäß am Schnellsten, wenn er sich mit ihnen auf keine Diskussion einlässt. Er und seine beiden Generäle werden ihnen dann wohl eine Show liefern müssen, die so überzeugend wird, dass sie – oder doch zumindest Chiho - zukünftig freiwillig einen großen Bogen um ihn machen.

Nur … er hätte wissen müssen, dass das nicht so einfach wird.

 

 

„Ich bin zurück und habe Gäste mitgebracht“, ruft Mao schon mal als kleine Vorwarnung, als er das Devil's Castle betritt.

Er kann förmlich spüren, wie sich die Atmosphäre schlagartig abkühlt.

„Willkommen zurück, Mao-sama“, begrüßt ihn Alciel wie immer herzlich, bevor er sich dann, merklich eisiger, an den ungebetenen Gast richtet:

„Willkommen, Sasaki-san.“

„Was machst du hier?“ Lucifers Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen und funkeln die Fünfzehnjährige unheilverkündend an. Die Konsole und das Ballerspiel waren sofort vergessen, sobald Chiho die Türschwelle überschritt.

Bevor Chiho darauf antworten kann, tritt wie ein beschützender Schatten Yusa Emi hinter ihr durch die Tür. Auch sie bekommt Lucifers Todesblick zu spüren.

„Und Emi hast du auch mitgebracht“, ätzt er. „Natürlich.“

Die Rothaarige sagt nichts und mustert ihn nur kühl. Sie bleibt stehen und verschränkt drohend die Arme vor der Brust.

„Guten Abend, Yusa-san“, unterbricht Alciels übertrieben höfliche Begrüßung diesen unangenehmen Moment. Er stellt sich neben Lucifer und imitiert Emis Körperhaltung. Dann liefern sie sich ein Blickduell, in denen jeder von ihnen bemüht ist, den jeweils anderen mit mehr Verachtung und noch mehr Mißbilligung zu überschütten.

Mao unterdrückt ein Schaudern. Die beiden sind unheimlich.

Chiho dagegen bleibt von all dem völlig unbeeindruckt, schenkt Lucifer ein schüchternes Lächeln und reicht ihm eine Bentobox.

„Ich möchte mich mit dir vertragen. Ein Friedensangebot, wenn du so willst.“

Er wirft Mao einen schnellen, fragenden Blick zu und nimmt auf dessen Nicken hin, das Geschenk entgegen.

„Danke“, quetscht er widerwillig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es gibt keinen Grund unhöflich zu sein, darauf wartet sie ja nur, also wirft er auch einen Blick hinein.

„Du hast dir viel Mühe gegeben“, lobt er sie dann. Es sieht gut aus, das muss er schon zugeben. Er zeigt ihr sein bestes Zahnpastalächeln und trägt die Box dann hinüber zum Tisch, wo schon das Abendessen auf Mao wartet. Auf Mao, wohlbemerkt. Es konnte ja keiner ahnen, dass er diese beiden Weiber wieder mit anschleppt.

„Es macht dir doch nichts aus, wenn ich es zu den anderen Sachen stelle? Es sieht so lecker aus, ich finde, jeder sollte etwas davon abbekommen.“

Ihr Lächeln verrutscht nur für einen Sekundenbruchteil.

„Nein, natürlich nicht“, zwitschert sie dann.

Wortlos stellt er das Bento auf den Tisch. Er wird vorsichtshalber keinen Bissen davon anrühren, aber Mao und Alciel wird es nicht schaden, ihre (seine!) Magie wird sie vor jedem Gift bewahren, das sie dort hinein gemischt hat. Und das weiß sie auch. Garantiert. Deshalb protestiert sie auch nicht.

„Das ist eine gute Idee, Hanzō“, lobt ihn Alciel da, hört auf, Emi mit seinen Blicken zu erdolchen und geht zu den Küchenschränken, um noch zusätzliche Teller zu holen. Eine kleine Spitze gegen Mao kann er sich dann aber doch nicht verkneifen:

„Für so viele Gäste reicht unser Essen nicht.“

„Dann ist es ja gut, dass ich noch etwas übrig habe.“ Plötzlich steht ihre Nachbarin mit einem Topf Udon auf der Türschwelle.

Unwillkürlich stöhnt Lucifer auf. „Und die nächste. Dann ist die Bude ja voll.“

„Suzuno, willkommen.“ Mao scheint richtig erleichtert darüber, sie zu sehen. Und warum auch nicht? Sie hat sich schon oft genug als ausgleichender Pol in solchen aufgeheizten Runden bewiesen. Und wäre es in der kleinen Wohnung nicht schon so voll, hätte auch Lucifer nichts gegen ihre Anwesenheit einzuwenden. So aber fühlt er schon das erste Unwohlsein und den Beginn pochender Kopfschmerzen.

„Kamazaki-san“, begrüßt Alciel sie höflich und seufzt dann einmal tief, während er den nächsten Teller aus dem Schrank fischt.

„Kommt Suzuki-san auch noch?“ erkundigt sich Lucifer spitz.

Emi mustert ihn kühl.

„Nein“, schnarrt sie. „Warum sollte sie?“

„Weil man das bei euch nie wissen kann. Ihr tretet immer in Rudeln auf.“

„Das nennt man soziale Gemeinschaft. Aber so etwas kennst du natürlich nicht.“

„Können wir uns bitte alle nur ruhig hinsetzen und essen?“ schlägt Mao hastig vor und eilt an ihnen vorbei, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Dabei berührt er wie zufällig Lucifers Handrücken – eine kleine, um Verzeihung heischende Geste, die bei diesem allerdings nur bedingt verfängt.

Er hatte sich auf einen gemütlichen Abend gefreut! Vorzugsweise mit anschließenden Knutschereien und Kuscheleien, wie es zwischen ihnen langsam zur Tradition wird.

Betrübt lässt Lucifer seinen Blick über das lecker riechende und schön angerichtete Essen wandern, genau wissend, dass er nichts davon genießen können wird. Wenn er so deutlich nur Chihos Speisen ablehnt, könnte das Mao sauer aufstoßen, also muss er wohl auf alles verzichten. Hoffentlich lassen diese gefräßigen Nimmersatte wenigstens ein paar Reste übrig, die er sich später als Mitternachtssnack einverleiben kann.

Oi – was denke ich denn da? Kommt ja gar nicht in Frage, mich für irgend jemanden hier zu verbiegen! Nein, ich esse, was ich will und wenn sie dann beleidigt ist und Mao das unangenehm ist, schert mich das nicht.

Wie es sich in den letzten Tagen eingebürgert hat, setzt sich Lucifer an eine Seite des Tisches und Mao und Alciel jeweils an die Seiten links und rechts neben ihm. Ihre ungebetenen Gäste quetschen sich überall dazwischen. Und natürlich setzt sich Chiho genau zwischen Mao und ihn.

Diese Bitch!

Crestia nimmt den Platz auf Alciels anderer Seite ein und die Heldin platziert sich natürlich an der letzten freien Tischseite, also genau gegenüber Lucifer.

Und dann beginnen sie zu schnattern. Zuerst versucht Lucifer, sie auszublenden, aber sie sind zu laut. Schon nach der Hälfte seines Nikujagas muss er die Gabel fortlegen und massiert sich aufseufzend die Stirn.

Da Mao gerade von Chiho vereinnahmt wird und Alciel in ein Gespräch mit Crestia vertieft ist, bemerkt das natürlich keiner seiner beiden „Ehemänner“. Ungehalten runzelt er die Stirn, doch dann hat er eine geniale Idee.

Er schnappt sich einfach seine Kopfhörer, stöpselt sie aus der Konsole und zieht sie sich über die Ohren.

Ah. Himmlische Ruhe!

Warum ist er nicht schon früher auf diese Idee gekommen? Das hätte ihm viele Kopfschmerzen erspart. Doch anders als sein leiser Seufzer bleibt diese Aktion nicht unbemerkt – er fängt Maos irritierten Blick und Alciels Stirnrunzeln auf und erinnert sich wieder: stimmt, früher hätte er sich dadurch eine Menge Ärger eingebrockt, aber heute kann er solch ein unhöfliches Benehmen wagen.

„Ihr seid zu laut“, erklärt er trotzdem. „Davon bekomme ich Kopfschmerzen.“

Sofort nimmt Alciels Miene einen besorgten Ausdruck an und dann greift er nach Lucifers rechter Hand – die ziemlich nutzlos auf dem Tisch ruht – und verschränkt ihre Finger miteinander. Und Mao schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. Für einen kleinen Moment hofft Lucifer, sie würden diese Schnattergänse jetzt wegschicken, aber so viel Glück hat er leider nicht.

Also seufzt er noch einmal leise, packt die Gabel mit der linken Hand etwas fester und isst weiter.

 

 

Es dauert eine Stunde, bis die Störenfriede endlich wieder abziehen. Zugegeben, Crestia Bell ist ihnen immer ein willkommener Gast, aber die beiden anderen definitiv nicht. Und diese Stunde war eine besonders lange Stunde. Eine Stunde, in der Alciel immer wieder spürte, wie sich Lucifers Finger in seinen verkrampften, wo er zusehen konnte, wie sich dessen Schultern immer mehr verspannten und wie dessen Miene immer hölzerner wurde. Auch wenn ihn ihr Geplapper durch die Kopfhörer nur noch gedämpft erreichte, kratzt allein ihre Anwesenheit schon an seinen Nerven. Er fühlt sich eben nicht wohl mit so vielen Personen auf engem Raum, das hat Alciel inzwischen verstanden. Außerdem dreht sich selbst ihm der Magen um, wenn er zusehen muss, wie Chiho ihren Dämonenkönig umgarnt. Nichts an ihrem Benehmen hat sich geändert, gar nichts! Und je reservierter Mao reagiert, desto hartnäckiger wird sie.

Fehlt nur noch, dass sie ihm auf den Schoß springt.

Von daher ist es wirklich schon eine körperliche Erleichterung, als die drei endlich gehen.

Doch der Sturm lässt nicht lange auf sich warten.

Sobald Mao die Tür hinter den dreien geschlossen hat, legt Lucifer seine Kopfhörer beiseite und erhebt sich. Im Gegensatz zu Mao und Alciel hat er ihre Gäste nicht zur Tür hinausgeleitet und allein die Tatsache, dass er jetzt vom Tisch aufsteht, verheißt nichts Gutes.

Anklagend deutet er mit dem Finger auf Mao.

„Warum hast du sie hier angeschleppt?“

Mit einem verlegenen Lächeln reibt sich Mao über den Nacken. „Das war keine Absicht. Emi hat sich uns ungefragt angeschlossen.“

„Ich rede nicht von Emi. Ich meine Fräulein Monstertitte.“

Entschuldigend zuckt Mao mit den Schultern und wirft Alciel einen kurzen Blick zu, als erwarte er von diesem Schützenhilfe. Doch der zuckt mit keiner Wimper.

„Sie kam mit einem Friedensgeschenk.“ Abermals ein Schulterzucken. „Hätte ich sie wieder fortschicken sollen?“

„Ja. Absolut: ja. Das hättest du tun sollen.“

Lucifer macht zwei Schritte nach vorne und Mao nur einen und schon stehen sie sich gegenüber. Alciel blinzelt verblüfft. Wow, diese Wohnung ist wirklich klein. (Er weiß das natürlich, aber nie erschien sie ihm kleiner als jetzt.)

„Du bist so nachtragend. Sie hat es wirklich gut gemeint.“ Mao versucht die Situation zu entschärfen, indem er einen neckenden Tonfall anschlägt, aber damit erreicht er bei Lucifer nur das Gegenteil.

„Du bist mein Ehemann!“ braust dieser auf.

„Huh? Was hat das jetzt damit zu tun?“

„Sie versucht, sich zwischen uns zu drängen, und durch deine Gutmütigkeit ermunterst du sie auch noch dazu. Habe ich nicht Recht, Alciel?“

„Du hast Recht, Lucifer“, stimmt dieser ihm zu. Er will zwar nicht in diesen Streit hineingezogen werden, aber wo der Engel Recht hat, hat er nun einmal Recht.

„Ich kann doch nicht einfach unhöflich zu ihr sein. Das geziemt sich nicht. Nicht wahr, Ashiya?“

Auch Mao hat Recht.

„Das stimmt, Mylord.“

„Natürlich kannst du das!“ widerspricht ihnen Lucifer sofort. „Du musst es sogar, sonst kapiert sie es doch nicht!“

Das kann länger dauern. Seufzend schnappt sich Alciel die nur halbvolle Mülltüte und geht hinüber zum Schuhschrank.

„Ich geh den Müll rausbringen. Streitet euch ruhig weiter, aber macht nichts kaputt.“ Er bezweifelt, dass die beiden ihn überhaupt gehört haben. Hastig schlüpft er in seine Schuhe und schnappt sich seine Jacke.

„Siehst du das nicht?“ hört er Lucifer fauchen, kurz bevor er die Tür hinter sich schließt. Vor dem Rest verschließt er lieber die Ohren, aber ihre lauten Stimmen begleiten ihn noch auf den Weg nach unten. Wenigstens verhindert der Verfälschungszauber, dass er die Gemeinheiten versteht, die sie sich an den Kopf werfen.

 

 

„Sie hat dich nicht aufgegeben! Hör also verdammt nochmal auf, so nett zu ihr zu sein! Sie ist deine Kollegin, nicht deine Freundin, oder?“ Aufgebracht piekst Lucifer Mao mit dem Zeigefinger in die Brust. „Oder?

Hastig weicht dieser einen halben Schritt zurück, um diesem Zeigefinger zu entkommen.

„Huh? Bist du etwa … eifersüchtig?“

„Lenk nicht vom Thema ab, Mao-sama!“

„Du bist eifersüchtig.“ Über Maos Gesicht breitet sich ein so breites Grinsen aus, dass seine beeindruckenden Fangzähne aufblitzen. Seine Stimme senkt sich zu einem schnurrenden Schmeicheln. „Oi, Lucifer, mein General, mein süßer Engel. Dazu gibt es doch gar keinen Grund.“

Er macht wieder einen Schritt nach vorne und will nach ihm greifen, um ihn an sich zu ziehen, doch Lucifer schlägt seine Hand nur mit einem erbosten Schnauben beiseite.

„Ach, hör auf. Ich weiß genau, wie das läuft. Wenn ihr nicht bekommt, was ihr wollt, holt ihr es euch entweder mit Gewalt oder sucht euch jemanden, der eure Bedürfnisse befriedigt.“

Mao reibt sich seine schmerzende Hand und blinzelt ihn erst verdutzt und dann gekränkt an.

„Wovon redest du da?“

„Aber nicht mit mir!“ Lucifer spürt ein Kitzeln an der Nase und wischt sich das Blut nachlässig ab. Er ist viel zu wütend, um das richtig zu registrieren. „Ich bin kein Werkzeug, das du aus dem Regal holen kannst, wann immer du es brauchst und nachdem du es benutzt hast, wieder zurücklegst! Da lache ich mir lieber wieder ein paar fremde Menschen an, die sind ehrlicher, denn von denen bekomme ich wenigstens Geld dafür!“

Mao knurrt bei diesen Worten unwillkürlich auf. Jegliche Besorgnis über Lucifers Nasenbluten wird von seinem aufbrodelnden Zorn davongespült. Immer wenn er an diese Menschen denkt und daran, dass sie seinen Engel angefasst haben, dass sie ihre kleinen, unnützen Zipfel in ihn hineingesteckt haben, rastet etwas in ihm aus.

„Wie viele pro Nacht haben es dir denn besorgt? Und was kostet eine Nummer bei dir überhaupt? Ich bin sicher, das kratze ich auch noch zusammen! Wenn du es also willst, kann ich dich auch bezahlen!“

„Du kannst dir mich gar nicht leisten, du Teilzeit-Burgerbrater!“

Schichtleiter, bitteschön! Mit guten Chancen auf stellvertretenden Geschäftsführer!“

„Glückwunsch! Bleibst trotzdem ein armer Schlucker! Dein Stundenlohn ist mickrig im Gegensatz zu meinem!“

„Ich darf wenigstens Essensreste mit nach Hause bringen! Aber wer will deine Essensreste schon haben?“

„Deine machen dick! Deshalb hat Alciel dir auch verboten, sie mitzubringen! Außerdem schmecken sie nicht!“

„Woher willst du das wissen? Das war vor deiner Zeit hier!“

„Von irgend etwas musste ich auch leben, als ich mit Olba hier ankam!“

„Olba“, wiederholt Mao dumpf und ballt unwillkürlich so stark die Hände zu Fäusten, dass sich ihm seine Krallen schmerzhaft in die Handballen graben.

„Ja, Olba. Der hat sein Essen wenigstens immer mit mir geteilt. Ihr habt mich anfangs ja immer nur mit Instant-Nudeln abgespeist! Ohne Fleisch! Ihr wißt, wie sehr ich Fleisch liebe! Vor allem das von dummen, arroganten Dämonenkönigen!“

Mao verschlägt es für eine Sekunde glatt den Atem.

„Weißt du, was dieser dumme, arrogante Dämonenkönig mit deinen Flügeln macht, wenn du sie wiederhast?“ kontert er dann drohend. „Ich rupfe dir jede Feder einzeln aus! Dann warte ich, bis sie nachgewachsen sind und fange wieder von vorne an!“

Wage es und ich vollende, was die blöde Heldin begonnen hat und schneide dir auch noch dein anderes Horn ab!“ Lucifer greift nach besagtem Horn und zieht daran. Dass er damit Maos Kopf zu sich herunterreißt, hat er allerdings nicht bedacht. Und Mao läßt sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen. Mit Schmackes prallen ihre Münder aufeinander und bevor es sich Lucifer versieht, hat er Maos Zunge schon wieder in seinem Mund.

 

XXXIX.

 

Alciel wartet, bis es hinter der Tür still geworden ist und zählt dann von sechzig rückwärts, bevor er sie öffnet und die Wohnung betritt.

„Mao-sama. Lucifer. Lebt ihr noch?“ ruft er scherzhaft.

Niemand antwortet. Aber er hört allerlei verdächtige Geräusche. Schmunzelnd zieht er sich Schuhe und Jacke wieder aus, räumt alles ordentlich fort und betritt dann den Wohnbereich.

„Huh?“

Er stockt mitten im Schritt und blinzelt ein paar mal heftig. Doch an dem Bild vor seinen Augen ändert sich nicht.

„Nicht in meiner Küche!“ stößt er dann anklagend hervor.

Doch seine beiden Mitbewohner scheren sich nicht um seine Worte. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Nachdem sich der erste Schock gelegt hat, sieht Alciel mit einer gewissen morbiden Faszination zu, wie sein König Lucifers Mund regelrecht verschlingt. Der sitzt auf der Küchenanrichte, die Beine fest um Maos Hüften geschlungen und die Finger seines verletzten Arms krallen sich ungeschickt in dessen Rücken, während er mit seiner anderen Hand Maos Horn in festem Griff hält und den Kuss auf diese Art steuert.

Maos leises Grollen und Lucifers lüsternes Keuchen fahren ihm mitten in den Unterleib.

Aber das ist nicht alles. Bei weitem nicht.

Er spürt und sieht Maos vertraute magische Aura – tiefrot, erdrückend, mächtig – und wie seine eigene Magie darauf antwortet und plötzlich ist da ein goldenes Funkeln und es fühlt sich an, als würde ein goldenes Netz ausgeworfen, in dem er sich wie ein Fisch verfängt und verheddert und da ist wieder dieser Sog ...

„Mein“, grollt er und stürzt sich auf sie und plötzlich sind sie

-eins-eins-eins-

und der Iron-Skorpion in ihm erwacht.

 

 

„Mein“, knurrt Mao mit rotglühenden Augen, nicht im Geringsten bereit, seine Beute herzugeben.

„Mein“ grollt Alciel entschlossen zurück. Maos Präsenz ist einschüchternd und ein Großteil von ihm will sich einfach nur vor ihm in den Staub werfen und gehorchen, doch der Iron-Skorpion in ihm schüttelt alles ab, was ihn bisher zurückhielt – Rationalität, Vorsicht, Selbstaufopferung – und bäumt sich angriffslustig auf.

„Mein“, erklärt er noch einmal entschieden und sein gegabelter Schwanz ringelt sich höchst besitzergreifend um Lucifers schmale Hüften. Herausfordernd starrt er seinem König in die Augen.

Der starrt nur unheilvoll zurück.

Ihre Instinkte schreien nach einem guten Kampf um diese Sache ein für allemal zu klären, doch die Verbindung zwischen ihnen ist stärker. Sie fühlen einander so nahe – wie können sie da gegeneinander kämpfen? Diese goldenen, im Takt ihrer Herzen pulsierenden Fäden sind unbarmherzige Fesseln und erinnern sie ständig an diese eine, unumstößliche Tatsache:

Sie sind eins.

„Unser“, entscheidet Mao, während er seine Krallen in Lucifers (noch) jeansverpacktes Hinterteil gräbt und diesen fest an sich presst.

„Unser“, bestätigt Alciel sofort, während er Lucifer am Kinn packt und seinen Kopf zu sich dreht.

„Idioten“, keucht dieser nur gerade noch, bevor Alciel ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss für eine sehr, sehr lange Zeit zum Schweigen bringt.

 

 

Fünf Minuten später liegen ihre Klamotten wild verstreut in der Wohnung herum – und vor allem Lucifers tragen eindeutige Krallenspuren – und die Luft um sie herum flirrt und flackert in den Farben rot, grün und golden.

Sie befinden sich mitten im Auge eines Wirbelsturms und können es daher nicht sehen, aber sie fühlen es. Es ist Wärme und Verbundenheit ohne sie dabei ihrer Individualität zu berauben, es ist ein Netz, das sie aneinanderfesselt, aber zugleich auch Halt und Sicherheit verspricht.

Es ist die Wurzel, aus der sich alles andere speist.

Aufjapsend klammert sich Lucifer mit Armen und Beinen an Mao – zwei Meter geballte Muskelkraft und vor magischer Macht nur so strotzend - vor sich fest, während sich Alciel hinter ihm mit einem weiteren kraftvollen Hüftstoß bis zum Anschlag in ihm vergräbt und sich dann mit einem triumphierendem Grollen in seinem Nacken verbeißt. Im letzten Moment erinnert er sich, dass Lucifer kein Iron-Skorpion ist und sein Nacken nicht von Chitin geschützt wird. So hinterläßt er zwar ein paar beeindruckende Zahnabdrücke, aber es fließt kein Blut. Schuldbewusst leckt er über die malträtierte Stelle. Lucifer erschauert wohlig und keucht leise auf.

Mao knurrt nicht weniger selbstzufrieden, stemmt seine Hufe, auf der Suche nach festem Stand, tief in die Tatami-Matten, schlingt seine Arme fester um seine beiden Generäle und verschlingt dieses Keuchen mit einem wilden Kuss. Er spürt Lucifers pochende Männlichkeit an seiner eigenen, steinharten Erregung, er spürt, wie sie bei jedem von Alciels Stößen gegeneinander reiben und dieses wahnsinnig machende Gefühl entschädigt ihn ausreichend dafür, dass er Alciel den Vortritt gelassen hat.

Alciel, genau wie sein König in seiner vollen dämonischen Pracht, aber aus Rücksicht auf den Größenunterschied zwischen ihm und Lucifer noch in seiner menschlichen Größe, läßt sich Zeit, obwohl all seine Instinkte ihm etwas anderes zurufen. Er will das hier genießen, bis zur letzten Sekunde auskosten. Zum ersten Mal in seinem Leben ohne Hast und im vollem Bewusstsein, ist er bestrebt, nur zu geben - so, wie es sein Engel verdient.

Und so treibt er sie alle drei mit quälend bedächtigen, aber dafür umso tieferen Stößen langsam, aber sicher zum ersten Höhepunkt dieses Abends. Seine Krallen hinterlassen tiefe Furchen in Maos mächtigem Bizeps und als Antwort zerfetzen dessen Krallen ihm die Schultern - doch das macht nichts, denn sowohl Maos wie auch seine Wunden heilen sofort.

Lucifers Körper zwischen ihnen glüht wie eine kleine Sonne.

Als sich Alciel besonders kraftvoll in ihn hineinrammt, reißt sich Lucifer plötzlich mit einem heiseren Stöhnen von Maos gierigen Lippen los und dreht den Kopf.

„Alciel...“ Der Klang dieser Stimme jagt Alciel ein heißer Schauder über den Rücken. Nur allzu bereitwillig folgt er dieser Einladung, presst seinen Mund auf Lucifers und taucht tief nach seinem Geschmack. Zuerst schmeckt er nur Mao, aber schnell kristallisiert sich wieder Lucifers süchtig machender Eigengeschmack heraus.

Mit einem dumpfen, besitzergreifenden Aufknurren saugt sich Mao derweil an Lucifers Kehle fest. Der unterbricht seinen Kuss mit Alciel plötzlich, wirft den Kopf nach hinten und schreit seinen Höhepunkt in einer Tonlage hinaus, wie Alciel es noch nie von ihm gehört hat. Mao kommt nur einen Sekundenbruchteil später und dann Alciel.

Und in diesem Moment, wo er sich tief in seinem Engel verewigt, hört er ein Rauschen, spürt, wie weiche Federn seine Wange streifen, doch als er überrascht die Augen aufreißt, sieht er nur aus dem Augenwinkel eine einzige, schwarze Feder einsam und verlassen zu Boden trudeln.

 

 

Nach Atem ringend und angenehm ermattet, liegen sie nebeneinander auf dem Fußboden und versuchen, von ihrem Rausch zurück in die Wirklichkeit zu kommen. Hing vor fünfzehn Minuten noch der Geruch von Kartoffeln, Schweinefleisch und Gemüse in der Luft, wurde dieser schnell von dem herb-bitteren Aroma von Schweiß, Samen und ganz einfach nur Sex verdrängt.

Nasenbeleidigend für jeden Unbeteiligten, aber für sie eine Mischung, die sich wie eine warme, samtweiche Decke um sie legt.

Versonnen spielt Mao – jetzt wieder in seiner menschlichen Form - mit der rabenschwarzen Feder herum, bewundert ihre Biegsamkeit und wie sie, wenn das Licht im richtigen Winkel fällt, in allen Violett-Schattierungen aufschimmert. Wunderschön. Er kann es gar nicht erwarten, diese wunderschönen Schwingen wieder zu sehen.

„Noch nicht genug“, murmelt er nachdenklich. „Aber wieder ein Fortschritt. Wir sind auf dem richtigen Weg.“

Lächelnd steckt er sich die Feder hinters linke Ohr, dreht sich dann zur Seite und beugt sich über den auf den Rücken liegenden und ihn müde anblinzelnden Engel. Zärtlich wischt er ihm eine verirrte Träne aus dem Augenwinkel.

Er hasst es, ihn so leiden zu sehen.

Aber allmählich begreift er, wo das Problem wirklich liegt.

„Du blockierst.“ Langsam lässt er seine Hand dann über Lucifers nackten Oberkörper wandern. Wie roter Nebel fließt seine Magie über die blasse Haut, perlt aber von ihr ab wie Wasser vom Lotus. „Ich kann dir zwar mehr von meiner Magie geben als letztes Mal, aber ab einem gewissen Punkt machst du dicht. Warum sabotierst du dich selbst?“

Lucifers Miene verdüstert sich zusehends.

„Ich sabotiere mich nicht“, knurrt er dumpf. Aber insgeheim weiß er, dass Mao recht hat. Trotzdem...

„Ich will meine Flügel zurück.“

Mao wirft einen hilfesuchenden Blick zu Alciel hinüber, der auf Lucifers anderer Seite liegt und dessen Hand hält.

„Ashiya, hilf mir hier.“

Alciel pustet sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen und schenkt seinem König ein kleines Lächeln. In seinen Augen liegt ein glasiger, verklärter Glanz, der Mao verrät, dass er immer noch nicht ganz bei ihnen ist.

Das ist irgendwie niedlich.

„Nur Geduld, Mylord. Es wird sich alles ergeben. Etwas erzwingen zu wollen hat noch nie etwas gebracht.“

Okay, doch nicht ganz so niedlich. Mao schneidet eine gequälte Grimasse.

„Das ist nicht sehr hilfreich, Alciel.“

„Mylord“, kommt es etwas spitz zurück, „ich nehme nicht an, dass Ihr ihn vergewaltigen wollt, oder?“

„Was? Natürlich nicht!

„Dann zeig Geduld, Jakobu.“

Zwischen ihnen seufzt Lucifer langgezogen auf.

„Ihr wißt schon, dass ich hier liege und alles hören kann, was ihr Idioten sagt, oder?“

Mao gluckst leise und gibt ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze, nur, um sich dann an seiner Seite anzukuscheln. Seine Hand ruht dabei genau über Lucifers Herzen. Er mag es, wenn er spürt, wie es pocht. Es erinnert ihn daran, dass er lebt. Dass er da ist. Es ist dieses kräftige, gleichmäßige Pochen, dass ihn als kleinen Goblin vor seinen Alpträumen beschützt hat. Wie konnte er das nur in all den letzten Jahrhunderten vergessen?

Und ehe er es sich versieht, ist sein Kopf seiner Hand gefolgt und bald presst er sein Ohr gegen Lucifers Brust und lauscht hingerissenen dessen Herzschlag, während er sich der Länge nach an ihn schmiegt. Zielstrebig schiebt er einen Arm unter Lucifers Rücken hindurch, während er seinen anderen über ihn schiebt, bis seine Hand auf Alciels Schulter landet.

„Meine beiden Lieblingsgeneräle“, murmelt er glücklich, während er sie beide so gut wie es in dieser Position eben möglich ist, umarmt. „Könnt ihr mir verzeihen, dass ich vergaß, wie wichtig ihr beide für mich seid?“ Er kann hören, wie sich Lucifers Herzschlag sprunghaft beschleunigt und lächelt an dessen Brust. „Vor allem du, Lucifer.“ Von einer vollkommen untypischen Schüchternheit ergriffen, schielt er nach oben in Lucifers Gesicht. „Kannst du diesem dummen Goblin vergeben?“ Und dann platzt all das aus ihm heraus, was er seit diesem unglückseligen Tag tief in seinem Herzen verschlossen hatte – so tief, dass es ihm selbst lange Zeit gar nicht bewusst war. Bis zu jenem Moment, wo Lucifer vor ihm aus dem Fenster floh, und er ihn dann reglos und blutend im Hof liegen sah.

Und selbst dann drang die Erkenntnis nur tröpfchenweise zu ihm durch.

„Als mich die Nachricht ereilte, dass du von Emilias Hand gestorben wärst, konnte und wollte ich es nicht glauben. Anfangs wollte ich dich suchen, wirklich, das musst du mir glauben. Aber wir befanden uns mitten in einer Schlacht. Und kaum war die eine zu Ende, gab es schon die nächste. Und je länger es dauerte, desto weniger wollte ich dich suchen. Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte keine Gewißheit haben. Denn so lange konnte ich hoffen. Und dann kämpften wir gegen Emilia und wir waren von den vorherigen Kämpfen noch so erschöpft, also gewannen sie und ihre Freunde schnell die Oberhand. Und plötzlich war da diese Furcht, dass sie, wenn sie mich besiegt hätten, nicht aufhören würden. Als nächstes würde Alciel fallen und das konnte ich nicht zulassen. Also öffnete ich das Tor und floh mit ihm ins Unbekannte. Ich konnte Alciel nicht auch noch verlieren.“

Er bemerkt erst, dass er weint, als ihm Lucifer die Tränen von den Wangen wischt. Und als er dann all die Wärme und Liebe in diesen violetten Augen sieht, stockt ihm schier der Atem.

„Es war meine Schuld“, erklärt da Alciel mit zitternder Stimme und drückt Lucifers Hand so fest, als befürchte er, er könne weggehen und verschwinden. „Ich habe Mao-sama immer geraten, sich ganz auf den Krieg zu konzentrieren. Ich hatte Angst davor, wie er beim Anblick deiner Leiche reagieren würde. Und dann, hier auf der Erde, sprach ich nicht von dir, also sprach er auch nicht von dir. Es erschien mir besser so – immer vorwärts schauen, keinen Blick zurück werfen, nicht daran denken. Aber ich glaube, ich spreche auch in Mao-samas Namen, wenn ich sage: uns brach es das Herz, als wir dich plötzlich wiedersahen. Auf der Seite unseres Feindes, wild entschlossen, uns zu vernichten, so voller Hass, dass du nicht einmal vor der unschuldigen Sasaki Chiho Halt machtest. Sie als Lockvogel zu benutzen, ihr zu schaden, um uns zu schaden, das war deiner nicht würdig. Das warst nicht du.“

„Alciel...“ Lucifer zieht seine Hand aus seinem Griff, aber nur, um auch ihm die Tränen von den Wangen zu wischen. Alciel schnieft einmal laut und vergräbt dann sein Gesicht an Lucifers Schulter.

„Doch, das war ich“, hört er Lucifer sagen, und er kann wieder dieses bitter-süße Lächeln hören, „so war ich schon immer. Bis dahin gab es nur keinen Grund, euch diese Seite von mir zu zeigen.“

Alciel denkt lange darüber nach.

„Wir kennen uns schon so lange und doch waren wir nie offener und ehrlicher zueinander als in den letzten Tagen“, meint er dann mit einem erstaunten Unterton.

Mao gibt ein zustimmendes Brummen von sich und kuschelt sich noch enger an Lucifer. Der wiederum gibt ein amüsiertes Schnaufen von sich.

„Ich sage es gerne immer wieder und mit aller Nachdrücklichkeit: ihr seid Idioten.“

„Hah“, lachend drückt Mao seine beiden Generäle erneut an sich. „Aber du liebst uns trotzdem, nicht wahr?“

 

 

XL.

 

Penetrantes Weckerschrillen reißt sie aus ihrem Schlaf.

Jeder von ihnen zuckt erschrocken zusammen, unsanft herausgerissen aus süßen Träumen. Es folgt Deckenrascheln und hektische Bewegungen, irgendetwas bufft Lucifer in die Seite (eine Hand, ein Ellbogen oder ein Fuß) und der Wecker verstummt.

Och, nööö... Lucifer brummt verschlafen, dreht sich auf die Seite und krallt seine Finger mit traumwandlerischer Sicherheit in den weichen Stoff eines T-Shirts und schmiegt sich enger an den dazugehörigen, warmen und starken Körper neben sich.

„Nich'“, nuschelt er, das Gesicht in ein nach Nachtschweiß und anderen Dingen müffelndes Shirt gepresst. Gleichzeitig schlingt er eines seiner Beine um eine schmale Taille. „Bleib, A'ciel.“

Der blonde Dämon gibt einen ungnädigen Grunzer von sich, schließlich hat er noch nicht mal die Augen geöffnet und wird schon von einem Oktopus umschlungen. Aber bevor er sich zu irgend etwas (den Oktopus fortschieben und aufstehen oder doch lieber umarmen und liegen bleiben?) aufraffen kann, spürt er, wie ihm jemand durch das zerzauste Haar streicht.

„Bleib liegen“, hört er Maos amüsierte Stimme. „Heute bin ich dran mit dem Frühstück. Es ist Eierkuchen-Tag.“

„Stimmt nicht“, widerspricht ihm Alciel und öffnet träge ein Auge. „Das ist erst übermorgen.“

Maos leises, perlendes Lachen fließt über ihn hinweg.

„Es ist Eierkuchen-Tag, wenn ich sage, es ist Eierkuchen-Tag.“

Er streicht Alciel noch ein letztes Mal über den Kopf und schlendert dann, vergnügt summend, ins Badezimmer.

Lucifers Umschlingung wird etwas stärker, als befürchte er, Alciel könne ihn trotzdem verlassen, aber dieser hat das gar nicht vor. Es ist zu warm. Zu gemütlich. Und nur ein Narr würde freiwillig unter dem Gewicht eines halb auf ihm liegenden, anschmiegsamen Engels hervorkrabbeln, um sich in aller Herrgottsfrühe an den Herd zu stellen. Träge schlingt er seine Arme um Lucifer und zieht ihn richtig auf sich.

Ah ja, erleichtert grollt er auf, Druck auf genau den richtigen Stellen. Er weiß nicht, wieso seine morgendliche Schwellung nach all dem Sex in den letzten Tagen ihn immer noch so quälen kann. Aber er freut sich, als er spürt, dass es dem gefallenem Engel genauso ergeht.

Er muß die Augen nicht öffnen, er findet Lucifers Lippen mit traumwandlerischer Sicherheit. Der erste Kuss des Tages ist träge und nein, er schmeckt nicht, aber das ändert sich schnell, je mehr Speichel zwischen ihnen ausgetauscht wird. Hm... genüßlich lässt Alciel seine Hände unter Lucifers T-Shirt wandern. Seine Haut ist so schön warm und seidig. Versonnen tasten seine Finger über neue, halb verheilte Schrammen, Spuren eines leidenschaftlichen Abends und einer noch leidenschaftlicheren Nacht, während ihre Zungen einander weiter zärtlich umschmeicheln.

Lucifer ist warm und ein sehr solides Gewicht auf seinem Körper und Alciel fühlt sich ihm so nahe, dass es regelrecht schmerzt. Doch er kann nicht genug davon bekommen.

Wie Mao aus dem Badezimmer zurückkommt, bemerken sie gar nicht, dazu sind sie zu sehr miteinander beschäftigt.

Alciel entscheidet, dass da eindeutig zu viel Stoff im Weg ist. Hastig zerrt er diese störende Jogginghose herunter und dreht sie dann so, dass er oben zu liegen kommt. Zwei Sekunden später landet die Jogginghose zerknüllt irgendwo neben ihnen, dicht gefolgt von Alciels Hose und zwei Shirts.

 

 

Maos Augenbrauen zucken kurz, als er die eindeutigen Geräusche hinter sich hört, doch er lässt sich nicht stören, holt die Eier aus dem Kühlschrank und stellt sie dann zu den anderen Zutaten auf die Anrichte.

Er dreht sich erst um, als dieses charakteristische Aufknurren an seine Ohren dringt.

Mit verschränkten Armen lehnt er sich mit dem Rücken an den Kühlschrank und sieht seinem blonden General dabei zu, wie dieser seinen anderen General leidenschaftlich erobert.

Um Maos Lippen spielt dabei ein kleines, stilles Lächeln. Da ist keine Eifersucht mehr in seinem Herzen, nur ein tiefes, allumfassendes Gefühl der Wärme.

Fasziniert sieht er dabei zu, wie langsam der schwarzschimmernde Chitinpanzer über Alciels Körper kriecht, wie seine Hände zu Krallen und seine Ohren spitz und lang werden und wie zu guter Letzt sein gegliederter und gegabelter Schwanz aus seiner Wirbelsäule wächst – kurzum, wie er sich innerhalb zweier Hüftstöße in einen Iron-Skorpion verwandelt ohne dabei an Körpergröße zuzulegen – wow, du hast dich wirklich immer unter Kontrolle, Alciel, oder?

Alciels Magie ist ein kleines, grünen Elmsfeuer, das über seine chitinverstärkte Wirbelsäule flackert, doch da ist kein Gold zu sehen.

Mao kann es aber spüren. Da ist wieder dieses warme, kribbelnde Gefühl, mit den beiden auf einer tiefen, normalerweise unbewussten Ebene verbunden zu sein.

Mao atmet einmal tief durch und schließt andächtig die Augen, um sich ganz auf dieses Gefühl zu konzentrieren. Ihm wird bewusst, wie einsam er bisher doch durchs Leben wanderte. Er war nie allein, aber einsam. Selbst die Freundschaft und der Zusammenhalt zwischen ihm und seinen beiden Generälen war nur ein schwacher Ersatz zu dem, was er jetzt fühlt.

Es fühlt sich an, als wäre er bisher blind und taub durch sein Leben gestolpert, als wäre alles bisher farblos gewesen oder – langweilig.

Langweilig, huh?

Was war doch gleich Lucifers Antwort, als er ihn vor so langer Zeit fragte, wieso er den Himmel verließ: es war langweilig.

Hatte er damit unabsichtlich eine tief verborgene Wahrheit ausgesprochen ohne sich dessen bewusst zu sein?

Lucifers wollüstiges Keuchen bringt ihn zurück in die reale Welt.

Völlig unbeeindruckt von Alciels Verwandlung klammert sich der Engel mit Armen und Beinen gleichermaßen an den blonden Dämon über ihm und kommt ihm gierig bei jedem Stoß entgegen. Genau, wie er es immer bei Mao macht.

Und auch ihre Münder kleben dabei unablässig aneinander.

Wow. Das ist wirklich eine Drehung um hundertachtzig Grad, die Lucifer hier innerhalb von weniger als einer Woche vollzogen hat. Vom distanzierten, vor Berührungen zurückschreckenden Kellerkind zu einem geradezu nach Körperkontakt lechzenden … Nymphomanen.

Natürlich muss er zugeben, dass dieser Anblick etwas geradezu verdorben erregendes an sich hat und definitiv nicht spurlos an ihm vorübergeht – wie könnte dieser Anblick von zwei in leidenschaftlichen Verlangen umeinander geschlungenen Körpern auch nur an irgend jemanden spurlos vorbeigehen?

Aber er spürt nicht mehr diesen zwingenden, animalischen Trieb, seine Besitzansprüche geltend zu machen. Nicht, dass er sich in den letzten Stunden hoffnungslos verausgabt hätte – nein, eindeutig nicht, schmunzelnd sieht er kurz an sich hinab - aber als er aufwachte, hatte sich eine Idee, ein Plan in ihm manifestiert. Und in Anbetracht dessen ist es erstaunlich leicht, sich für später aufzusparen. Im Moment genügt ihm nur die Vorfreude und dieses warme Gefühl in seinem Herzen.

Plötzlich geht sein Blick ins Leere, als er sich an etwas erinnert und seine eben noch fröhliche Miene macht einer tiefen Nachdenklichkeit Platz.

 

 

Mao hat sich selbst zwar beim Aufstehen versprochen, heute mal vernünftig zu sein und nach einem ganz normalen Frühstück ganz normal zur Arbeit zu gehen – kurz gesagt: diesmal keinen Sex - doch seine Gedanken sind anderer Meinung. Sie drehen sich zwar nicht darum, in wie vielen Schattierungen die Farbe Violett schimmern oder wie glockenhell ein Lachen klingen kann, auch nicht darum, wie wunderbar erregend allein die Erinnerung an guten Sex ist, aber sie drehen sich um Lucifer. Sie drehen sich so unablässig um ihn wie Planeten um die Sonne.

Aber es sind sorgenvolle Gedanken, die ihm den Tag und vor allem die Vorfreude auf seinen Plan zu verderben drohen.

Letztendlich hält er es nicht mehr aus. Er muss diese Gedanken jetzt oder nie loswerden – und nie ist keine Option.

Und ja, die irritierten Blicke, die ihm Alciel von der Spüle aus zuwirft, als er sein rotes MgRonald's Poloshirt samt Hose wieder fortlegt und schnurstracks – nur mit seiner Shorts bekleidet - ins Badezimmer geht, sind ihm durchaus bewußt, aber gleichzeitig auch sowas von egal. Er hat ein Ziel vor Augen.

Etwas Magie aus dem kleinen Finger und das Schloß ist offen. Ohne zu zögern tritt Mao ein. Draußen im Wohnbereich war er noch Mao Sadao, ein einundzwanzigjähriger Mensch, doch einen Schritt weiter ist er wieder Satan Jakobu, amtierender Dämonenfürst (in seiner zwei Meter großen Version und stößt damit schon fast an die Deckenleuchte).

„Ernsthaft jetzt?“ zwischen Belustigung und Verärgerung schwankend, dreht sich Lucifer zu ihm um, nimmt die Zahnbürste aus dem Mund und mustert ihn von oben bis unten und wieder zurück.

Und dann wieder etwas hinunter. Sein Blick pendelt sich auf Maos Körpermitte ein.

„Oh, ich verstehe“, meint er dann und legt die Zahnbürste fort. Um seine Lippen spielt ein verschlagenes Lächeln.

Mao verschließt nur wortlos die Tür hinter sich und mustert ihn durchdringend.

Irritiert runzelt Lucifer die Stirn.

Ein Augenblinzeln später findet er sich überraschend mit dem Rücken an der gefliesten Wand wieder. Seine Oberarme schmerzen von Maos brutalem Griff und Mao ist ihm so nah, dass er nicht nur seine Wärme spüren kann, sondern auch dessen Erregung, die ihm vielsagend gegen den Oberbauch drückt.

Er kann Maos Miene nicht lesen, sie ist völlig versteinert, aber seine roten Augen brennen sich ihm bis tief in die Seele. Er kann spüren, wie die Luft um sie herum vor dunkler Macht vibriert und sich verdichtet, bis ihm das Atmen immer schwerer fällt.

Er ist zu nah!

Doch etwas, was vor ein paar Tagen noch richtige Panikattacken ausgelöst hat, besitzt nun eine anregend sexuelle Note, die stärker ist als seine beginnende Unruhe. Es fällt ihm irgendwie schwer, einen halbnackten Mao mit einer offensichtlichen Schwellung in der Unterhose als Gefahr einzustufen.

Sekundenlang starren sie sich nur herausfordernd in die Augen, dann entspannt sich Maos Miene plötzlich wieder, er lässt ihn los und weicht mit einem kleinen Seufzer einen halben Schritt zurück.

„Dann habe ich mich wohl geirrt“, murmelt er leise. Plötzlich verdunkelt eine merkwürdige Traurigkeit seinen Blick.

Lucifer mustert ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Was sollte das eben darstellen, Jakobu?“

„Tja... nun“, druckst dieser mit einem schiefen Lächeln herum und kratzt sich hinter seinem Hornstumpf und trotz seiner beeindruckenden Gestalt wirkt er plötzlich wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose erwischt wurde. „Ich hatte da so eine Theorie, was dein … Nasenbluten betrifft.“

Das kommt völlig unerwartet und es dauert tatsächlich ein paar Momente, bis Lucifer sich wieder erinnert. Um so etwas Unwichtiges macht er sich Gedanken?

Zunehmend röter werdend fährt Mao fort:

„Vielleicht, dachte ich, hat das auch irgend etwas mit allem zu tun, was hier gerade noch so mit uns passiert. Du hattest schließlich immer Nasenbluten, wenn ich in meiner richtigen Gestalt war. Das hattest du aber nicht, bevor ich dir deine Magie stahl. Und, ehrlich gesagt, macht mir das Sorgen. Vielleicht ist es eine Reaktion auf meine Macht, also dachte ich mir, ich provoziere eine Situation, die den anderen ähnelt und schaue mal, ob deine Nase wieder zu bluten anfängt.“

Er holt einmal tief Luft und fügt dann leise und nach einem kurzen Zögern und beschämt gesenktem Blick, hinzu:

„Aber wenn es nichts mit meiner Macht zu tun hat? Ich spüre keine Angst bei dir, es muss also etwas anderes sein. Was ist, wenn etwas Ernstes dahintersteckt? Eine Krankheit, die ich unbewußt verstärke? Du bist jetzt mehr ein Mensch als vorher, du kannst krank werden. Und... sterben.“

Wärme durchflutet Lucifers Herz, als er das hört. Sein kleiner Goblin, sein König, sein Mao-sama hat sich wegen solch einer Lappalie wirklich Sorgen um ihn gemacht?

„Mao...“

„Ich war wirklich überzeugt, es liegt nur an der Macht, die ich in meiner wahren Gestalt ausströme. Du hast es nicht bei Alciel. Es muss also an mir liegen. Ich dachte mir, ein bißchen Machtgehabe ...“

„Mao-sama...“

„Es muss an mir liegen!“

„Satan Jakobu.“ Lucifer streckt sich, legt seine Hände um Maos Wangen und zwingt ihn so, ihn anzusehen.

„Beruhige dich. Es ist nichts, hörst du? Gar nichts. Ich hatte das im Himmel schon. Immer wenn ich so richtig wütend wurde, bekam ich Nasenbluten. Nicht, dass es groß auffiel, denn wenn ich so zornig wurde, war ich schnell von Kopf bis Fuß im Blut meiner Feinde getränkt. Es hörte erst auf, als ich die dunkle Energie der Dämonenwelt absorbierte. Jakobu – es ist nicht deine Schuld. Ich war nur jedes Mal wütend, verstehst du?“

Mao blinzelt ein paar Mal.

„Das ist alles?“ fragt er dann hoffnungsvoll.

Lucifer verbeißt sich ein Lachen. Das ist zu niedlich!

„Ja.“

„Oh, der Hölle sei Dank.“ Mao entringt sich ein wahrer Stoßseufzer. Dann lacht er einmal kurz und trocken auf.

„Du hast Recht: ich bin ein Idiot. Wir kennen uns so lange und ich weiß nicht einmal das von dir. Ein schöner König und Freund bin ich.“ Er wirft ihm einen zutiefst beschämten Blick zu. „Kannst du deinem dummen Dämonenkönig noch einmal verzeihen?“

Lucifer streckt die Hand aus und fährt mit den Fingerspitzen die Konturen von Maos beeindruckenden Brustmuskeln nach. Um seine Lippen spielt ein verschmitztes Lächeln, als er den Kopf hebt und ihn von unten her anblinzelt.

„Du bist richtig süß. Kein Wunder, dass Fräulein Monstertitte dir verfallen ist. Ja“, schnurrt er dann, während seine Hand langsam Maos Sixpack hinunterwandert, „ich verzeihe dir. Und ich möchte dich für deine Aufmerksamkeit und Sorge belohnen.“ Grinsend kratzt er mit den Fingernägeln über die deutliche Wölbung der Shorts. Mao über ihm zischt leise auf.

Lucifer grinst noch etwas breiter. Was soll er sagen? Er liebt es, Mao zu verführen.

„Was soll es sein, Jakobu? Mein Mund oder mein Hintern?“

Sekundenlang starrt Mao nur auf ihn hinab, während sich seine Pupillen langsam weiten.

„Das hier“, erklärt dann, sinkt völlig überraschend vor Lucifer auf die Knie und öffnet den Gürtel seiner Jeans.

Etwas verwirrt runzelt Lucifer die Stirn. Sein Hintern also, aber warum geht Mao dafür vor ihm auf die Knie? Es sei denn … er spürt, wie es ihm heißkalt den Rücken hinunterrieselt.

„Mao... -sama?“

„Weiter so.“ Über Maos Miene huscht ein schalkhaftes Grinsen, als er ihm aus seinen dunklen Augen einen glitzernden Blick zuwirft. „Ich höre das gerne aus deinem Mund.“

Aber Lucifers Antwort besteht nur aus einem überraschten Japsen, gefolgt von einem lustvollen Stöhnen, als Mao seine Lippen um seine Männlichkeit schließt und dann unter Beweis stellt, was er in den letzten Tagen alles gelernt hat.

Und er ist sich der Symbolträchtigkeit dieses Moments durchaus bewusst – deshalb hat er ihn ja gewählt – er, der mächtige Dämonenkönig, kniet in all seiner halbnackten Pracht, freiwillig vor seinem General und befriedigt ihn oral.

Deutlicher geht es ja wohl nicht.

Und während er sich also völlig im Geschmack seines Engels verliert, ihn herzhaft vernascht und seine großen Hände genüßlich den dazugehörigen Hintern durchkneten, lauscht er auf jedes noch so kleine Geräusch, jedes tiefe Atemholen, jedes Zischen, Keuchen und Stöhnen und nimmt es als Hinweis, wie er Lucifer noch mehr, noch konsequenter zum Wahnsinn treiben kann.

Und irgendwann – und für sein Empfinden viel zu schnell – kommt dann ein langgezogenes

„Oh, Mao-sama...“,

gefolgt von einem kräftigen Ziepen in seinem Skalp, als sich Lucifers Finger krampfhaft in seinem Haarschopf verkrallen und dann kann er nur noch schlucken und schlucken und verdammt – wie kann er nur so gut schmecken?

Vollauf zufrieden mit sich, leckt Mao ihn sauber und auch ja keinen köstlichen Tropfen zu verschwenden, zieht Lucifer wieder ordentlich an, erhebt sich, schlingt seine Arme um diesen immer noch bebenden, schmalen Körper und küsst ihn. Langsam, ohne Hast, sehr sanft und zärtlich, also genau auf diese Art und Weise, die Lucifer immer in seinen Armen zum Schmelzen bringt.

„Ich liebe dich, das weißt du, oder?“ flüstert er dann gegen diese köstlichen Lippen und sieht tief in diese noch ganz verklärten, violetten Augen.

„Ich liebe dich wirklich.“

Lucifer holt einmal Luft, als wolle er darauf antworten, doch Mao hat noch nicht alles gesagt, was er loswerden wollte.

„Seit Jahrhunderten.“ Ein zärtlicher Kuß auf eine freche Stupsnase und ein vergnügtes Augenzwinkern. „War nur zu blöd, um das zu kapieren.“

Lucifer nickt nur einmal stumm. Jede Antwort wäre auch vergebens, denn Mao hat seine Lippen schon wieder in Beschlag genommen. Dieser Kuss ist noch liebevoller, noch süßer und lässt Lucifer mit brennenden Wangen und wild pochendem Herzen zurück.

Ein Anblick, der Mao ein sanftes Lächeln entlockt.

„Wenn du deine Flügel zurückhast … flieg nicht ohne uns weg, hörst du?“

„Was?“

„Du sagtest, du willst die Erde sehen. Nimm uns mit. Vergiß uns nicht.“

Noch ein letzter, liebevoller Kuß, diesmal auf Lucifers Stirn und Mao verläßt das Bad.

Er lässt einen völlig perplexen Lucifer zurück.

 

XLI.

 

Der Pavillon ist schon besetzt, er sieht die schmale Gestalt Crestia Bells in ihrem bunten Kimono schon von Weitem, aber Lucifer betritt ihn dennoch.

Aufrecht und gerade sitzt sie auf der Bank und liest in einem ihrer dicken Wälzer, doch als er die Stufen hinaufgeht, hebt sie den Kopf und schenkt ihm ein ehrliches Lächeln. Sie ist eine gefährliche Inquisitatorin der Heiligen Kirche, eine ausgebildete Attentäterin, und sie kann innerhalb einer Sekunde zu seiner erbitterten Feindin werden, aber er mag sie. Ihre Ernsthaftigkeit, mit der sie alles angeht, erinnert ihn frappierend an sich selbst. Früher. Vor einer Ewigkeit.

Und genau wie er vor so langer, langer Zeit, hat sie begonnen, die richtigen Fragen zu stellen. Er hofft nur (für sie), dass sie mit den Antworten besser umgehen kann als er damals.

„Guten Morgen, Hanzo-kun.“

„Guten Morgen, Cres – Suzuno.“ Er sieht ihren warnenden Blick gerade noch rechtzeitig und verbessert sich mitten im Wort. Dann hört auch er die Nachbarn im Garten herumwerkeln. Stimmt, es ist besser, kein Risiko einzugehen.

Der Pavillon ist nicht groß, aber es gibt genug Platz für sie beide, trotzdem entscheidet er sich dazu, sich direkt neben sie zu setzen.

„Es ist selten, dich an der frischen Luft anzutreffen, Hanzo-kun.“

„Oh, weißt du, Al... shiya lebt gerade seinen Putzfimmel aus und hat mich quasi rausgejagt.“

Genau genommen meinte er: Ich habe in den letzten Tagen meine Hausarbeit mehr als genug vernachlässigt, das ist beschämend. Also bitte, nimm dir einen von Maos Mangas und setz dich in den Pavillon. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du da bist.

„Es ist schön, dass ihr euch zusammengerauft habt. Paare sollten sich nicht immer nur streiten.“

Lucifer brummt nur zustimmend, setzt sich bequem hin – für ihn bedeutet das, sich die Schuhe von den Füßen zu streifen und die Beine auf der Sitzbank auszustrecken (manchmal ist es doch von Vorteil, so klein zu sein) – und schlägt dann den Manga auf.

Ein paar Minuten lang sitzen sie einfach nur schweigend nebeneinander, vertieft in ihre Lektüre. Es ist ruhig und friedlich. Nur ab und an wird die angenehme Stille durch das Rascheln einer Seite, den Stimmen der Nachbarn, Vogelgezwitscher oder dem Klingen des Windspiels am Eingang unterbrochen.

„Wie geht es deinem Arm?“ erkundigt sich Crestia plötzlich, ohne jedoch den Kopf zu heben.

„Er heilt“, erwidert er, blättert eine Seite um und liest weiter.

„Und die Gehirnerschütterung?“

„So gut wie weg.“

Zehn Sekunden ist es zwischen ihnen wieder still, dann streicht sie sich eine schwarze Haarsträhne zurück hinters Ohr und meint leichthin:

„Es ist sicher schwer, auf einmal so verletzlich zu sein.“

Lucifer zuckt nur gleichmütig mit den Schultern.

„Eigentlich nicht. Ich meine, es ist nicht so schlimm. Es hat sich eigentlich nichts geändert, außer, dass es schneller vorbei sein kann.“

Das Schlüsselelement ist der Schmerz. Es ist immer der Schmerz, vor allem, wenn man mit durchbohrter Brust auf einem Schlachtfeld liegt und die Magie gerade mal ausreicht, einen am Leben zu erhalten. Wenn die Schmerzen zu groß sind und ewig andauern, weil man bei vollem Bewußtsein an seinem eigenen Blut erstickt ohne wirklich daran ersticken zu können, wünscht man sich nichts sehnlicher, als den Tod herbei.

Von daher hat die Sterblichkeit durchaus ihre Vorzüge.

Sie mustert ihn einen Moment lang, und er kann förmlich sehen, wie der Groschen fällt.

„Oh“, macht sie dann ehrlich betroffen. „Das wußte ich nicht.“

Er schenkt ihr nur ein dünnes Lächeln.

„Du hast hoffentlich daraus gelernt, dass es niemals eine gute Idee ist, unter den Blicken der eigenen Ehemänner sein Verlangen mit anderen Männern zu stillen.“

Er stutzt und hebt aufhorchend den Kopf. Ihre Stimme klang ganz neutral, aber sie zeigt wieder dieses schrecklich wissende Lächeln.

Er versucht, sich an irgend etwas zu erinnern, was sie an dem Abend gesagt hat, als er aus dem Krankenhaus kam, aber seine Erinnerungen an diesen Tag sind sehr lückenhaft.

„Ich rechnete ehrlich gesagt nicht damit, dass es die beiden irgendwie kümmert“, erklärt er schließlich, immer vorsichtig darauf bedacht, dort ausweichend zu antworten, wo es nötig ist, aber dennoch genug zu erzählen, damit ihre Neugier befriedigt wird.

„Ihre Wut hat mich daher kalt erwischt.“ Er zögert einen Moment. „Du weißt doch genau, wie gemein sie zu mir waren. Kannst du es mir dann verübeln, wenn ich mir woanders Trost suchte und mir dann ein Sprung aus dem Fenster als das kleinere Übel erschien?“

Nachdenklich zieht sie die Stirn kraus und mustert ihn durchdringend.

„Ich habe die beiden noch nie so in Panik erlebt wie an diesem Tag“, meint sie schließlich. Und dann schnippt sie ihm unvermittelt mit den Fingern gegen die Stirn.

„Jag uns nie wieder solch einen Schrecken ein, Hanzo-kun.“

„Autsch.“ Schmollend reibt er sich über die schmerzende Stelle, doch dann grinst er und zieht sein Halstuch etwas zur Seite, um ihr stolz seine Blutergüsse zu präsentieren.

„Keine Angst, wie du siehst, stehe ich wieder in ihrer Gunst.“

Sie blinzelt ein paar Mal und errötet dann dezent.

„Du bist wahrlich ein Dämon. Es ist unschicklich, vor einer Dame damit zu prahlen. Schäm dich, Lucifer“, fügt sie dann so leise hinzu, dass nur er es verstehen kann. Doch um ihre Mundwinkel zuckt es verräterisch, als sie sich etwas von ihm fort dreht und sich geflissentlich wieder ihrem Buch zuwendet.

Es ist wirklich ein sehr dicker, alter Wälzer. Neugierig lehnt er sich zu ihr hinüber.

„Was liest du da eigentlich?“

„Oh, Emilia hat mir aufgetragen, nach eurem Blutschwur zu suchen.“

Er rollt genervt mit den Augen. War ja klar, dass die ehrenwerte Heldin nicht so schnell aufgibt.

„Da drin wirst du nichts finden. Es ist ein sehr, sehr alter Schwur.“ Der gar nicht existiert, fügt er in Gedanken hinzu.

„Doch, hier ist etwas.“ Vielsagend tippt sie mit dem Zeigefinger auf eine entsprechende Stelle auf der aufgeschlagenen Seite. „Ein alter Schwur, den man dem ersten Dämonenkönig Sataniel höchstpersönlich zuschreibt. Hier steht, mit diesem Schwur habe er die Mutter seines Kindes an sich gebunden.“

Das Hochzeitsgelöbnis?

„Tatsächlich?“ Wirklich daran interessiert, ob es sich tatsächlich um das Gelöbnis handelt oder ob nur ein selbstherrlicher Priester wieder irgendeinen Blödsinn verzapft hat, lehnt er sich über ihre Schulter. Zuvorkommend hält sie das Buch so, dass sie beide ohne Verrenkungen hinein sehen können.

Es ist wirklich sehr alt. Das Pergament ist dünn und vergilbt und die Tinte fast verblasst. Er erkennt die Sprache sofort und schon nachdem er die ersten Zeilen überflogen hat, spürt er, wie er eine Gänsehaut bekommt. Er hätte die Archive der Heiligen Kirche schon vor Jahrtausenden in Schutt und Asche legen sollen.

„Es ist in einer sehr alten Sprache geschrieben und ich weiß nicht, ob ich es richtig übersetzt habe. Manche im Konzil vertreten die Ansicht, das sei die Sprache der Engel, aber wieso sollte der erste Dämonenfürst Sataniel die Sprache der Engel sprechen?“ In ihre Stimme hat sich ein lauernder Unterton geschlichen, und der Blick, den sie ihm zuwirft, ist voller falscher Unschuld.

„Du bist doch ein Engel...?“

Innerlich seufzend zieht er das Buch etwas näher zu sich heran.

„Das ist kein Blutschwur“, erklärt er dann.

„Doch, ganz sicher.“

„Ah … nein. Das ist einfach nur ein Liebesgedicht.“

„Sataniel war ein Dämon. Die sind nicht der Liebe fähig. Das ist ein Blutschwur.“

„Aber...“

„Ein Blutschwur.“ wiederholt sie mit ernstem Blick und in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt – und in dem zugleich ein gewisser, warnender Unterton mitschwingt.

Und plötzlich begreift er. Niemand kann das lesen, aber wenn sie vor das Konzil tritt und so felsenfest wie eben ihre Meinung verteidigt, wird es nie jemanden geben, der ihr erfolgreich widerspricht. Es ist völlig egal, was dort steht. Es könnte auch ein Gulaschrezept sein.

Er spürt, wie es um seine Mundwinkel amüsiert zu zucken beginnt, zwingt sich aber, eine neutrale Miene beizubehalten.

„Kannst du es übersetzen?“ bittet sie ihn dann in einem überraschend sanften Tonfall. „Für mich. Nicht für die Kirche. Oder für Emi. Nur für mich.“

Uh. Dieser Blick. Dieses Lächeln. Er kann ihr einfach nichts abschlagen.

„Na gut, aber es reimt sich natürlich nicht in der Übersetzung und einige Worte gibt es nicht in dieser Sprache, aber ich gebe mein Bestes.“ Er holt einmal tief Luft und fährt mit dem Zeigefinger die verblassten Schriftzeichen nach. „Also: Ich sitze hier im Licht des blauen Mondes und starre auf das Land zu meinen Füßen. Ist dies hier meine Bestimmung? So fern von dir zu sein? Oh, Geliebte, wie konnte es so weit kommen, wann haben wir uns verloren? Wo ist all die Hoffnung hin? Versprachst du mir nicht, mit der Ankunft unseres Lichtbringers würde sich alles ändern? Und sieh, was geschah: wir sind uns nie ferner gewesen als jetzt.“

Er versucht, möglichst neutral zu klingen, kann aber nicht verhindern, dass seine Stimme bei den letzten Zeilen merklich brüchiger wird. Hastig klappt er den Wälzer zu und schiebt ihn ihr wieder zu.

„Er hat sie wohl sehr vermisst“, meint sie nach einem Moment des Schweigens, während ihre Finger nachdenklich die im Ledereinband eingestanzten Ornamente nachfahren.

Lucifer schweigt nur und nimmt Maos Manga wieder zur Hand. Er hat gerade mal eine Seite gelesen, da flüstert sie:

„Bedeutet Lucifer nicht Lichtbringer?“

Er schluckt einmal schwer, antwortet aber nicht.

„Besonders die alten Schriften erwähnen den Lichtbringer sehr häufig. Und immer in Zusammenhang mit der dritten Generation.“

Er hat Mühe, nicht zusammen zu zucken. Tief vergrabene Erinnerungen erheben ihr bleiches Haupt, doch er trampelt sie erfolgreich wieder zurück in den Matsch vergangener Zeiten.

Sein beharrliches Schweigen und seine zunehmend steinerne Miene verraten Crestia Bell, dass sie lieber das Thema wechseln sollte. Aber einen Versuch will sie noch wagen.

„War Sataniel ein gefallener Engel wie du?“

Diesmal denkt er darüber nach. Diese Erinnerungen sind ungefährlich. Sie schmerzen, aber sie besitzen keine Macht mehr über ihn. Technisch gesehen war Sataniel tatsächlich ein gefallener Engel – jedenfalls, wenn man einen Gefallenen dadurch definiert, dass er vom blauen auf den roten Mond umsiedelte, sprich: vom Himmel in die Dämonenwelt. Wenn man diesen Begriff allerdings anders definiert und den schmerzhaften Wechselprozeß von himmlischer zu dämonischer Energie als Grundlage nimmt, dann: nein. Sataniel gingen Ignoras Experimente immer zu weit, er weigerte sich bis Zuletzt, von der himmlischen Energie zu kosten. Er war immer noch mehr Mensch als Engel, als er zum roten Mond flog und es dauerte Jahre, bis er die schwarze Energie der Dämonenwelt absorbierte.

Er kann sich nicht einmal daran erinnern, ob sein Vater überhaupt Flügel hatte. Geschweige denn Engelsflügel.

Er kann sich nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern.

Er erinnert sich nur an die lauten Streitereien zwischen seinen Eltern und den blutigen Krieg zwischen den Engeln (angeführt von Ignora) und den Dämonen (angeführt von Sataniel) danach. Und dass jeder an ihm zerrte. Er war noch ein Kind. Er war ihr Kind und sie zerrieben ihn unbarmherzig zwischen den Fronten ihres selbst heraufbeschworenen Krieges.

„Sataniel war...“ Er zögert einen Moment und gibt sich dann einen Ruck. Sie hat eine ehrliche Antwort verdient. „Sataniel stammt aus dem Himmel, aber er stand immer nur auf seiner eigenen Seite. Er hatte eine Familie, aber er zog die Dämonen ihnen vor. Nein, ein Gefallener wie ich war er nicht.“

Sie nickt einmal ernst und gibt sich mit dieser Antwort zufrieden. Aber er kennt sie gut genug, um zu wissen, dass sie die Sache weiterverfolgen wird. Dann wird sie ihn irgendwann mit ihren Rechercheergebnissen erneut konfrontieren. Diese Fähigkeit, selbst zu denken und ständig zu hinterfragen, ihre Hartnäckigkeit und ihre Bereitschaft, alles einmal Gelernte ständig neu anzupassen, erinnert ihn stark an sich selbst.

„Wie soll er lauten?“ überfällt er sie, bestrebt, auf das ursprüngliche Thema zurück zu kommen.

„Was?“ völlig aus dem Konzept gebracht, blinzelt sie ihn perplex an.

Er verbeißt sich ein Grinsen. Hah. Jetzt hat er sie mal kalt erwischt.

„Dieser Blutschwur.“

Eines muss er ihr lassen: sie hat mit diesem abrupten Themenwechsel keine Probleme.

„Oh, ist doch eindeutig. Hier drin steht es doch, schwarz auf weiß“, vielsagend klopft sie mit den Fingerknöcheln auf das Buch und dichtet dann mit tragender Stimme:

„Trink von meinem Blute und du bist mein, trink ich von deinem, bin ich dein und zusammen mögen wir unbezwingbar sein.“

Lucifer gluckst amüsiert.

„Hast du dir vor Kurzem einen Dracula-Film angeschaut?“

Sie runzelt kurz nachdenklich die Stirn und versucht es erneut:

„Trink von meinem Blute und du bist mein, trink ich von deinem, bin ich dein, mögen unsere Leben auf immer verbunden sein?“

„Wo bleibt die Romantik?“

„Dämonen können nicht lieben.“

„Oh. Richtig.“

Sie schenkt ihm ein herzliches Lächeln und erhebt sich geschmeidig.

„Danke. Du hast mir sehr geholfen.“ Unter dem Eingang dreht sie sich noch einmal zu ihm um. „Oh, und ich werde Emi sagen, dass ihr mich jede Nacht wach haltet.“

„Tun wir das?“

„Nein. Ich sage es ihr trotzdem. Ihr seid unersättlich. Euer Benehmen ist unziemlich und höchst beschämend. Erst gestern habe ich dich mit Mao auf dem Korridor gesehen, in höchst eindeutiger Position und seitdem hat die Wand hinter eurer Waschmaschine einen Riß.“ Sie lügt ohne rot zu werden.

„Diese Bruchbude hat in jeder Wand mindestens einen Riß“, grummelt Lucifer und zieht dann eine Augenbraue hoch. „Auf der Waschmaschine, huh? Während des Schleudergangs, nehme ich an?“

„Natürlich.“

Sie ist köstlich.

„Emi hätte dir nie einen Fernseher schenken dürfen“, bemerkt er lachend.

Sie lächelt nur und winkt ihm fröhlich zu.

„Mata ne, Hanzo-kun.“

„Ja, man sieht sich, Suzuno-chan.“

 

 

 

Lächelnd blickt Alciel auf Lucifer hinab. Da liegt er: wie hingegossen auf der Sitzfläche, als gehöre ihm dieser Ort ganz allein. Ein Bein angewinkelt, das andere hängt zur Hälfte vom Sitz, genau wie sein geschienter Arm. Seine Fingerknöchel berühren den Bretterboden, Maos Manga liegt auf seiner Brust, als habe er bis eben noch darin gelesen.

Gedankenverloren betrachtet Alciel Lucifers blasses, absolut entspanntes Antlitz. Zum ersten Mal fällt ihm auf, dass die Spuren seines Sturzes vollständig verschwunden sind. Dafür sind jetzt leuchtend rote Knutschflecken auf seinem Hals dazugekommen – dort, wo das Halstuch verrutscht ist, kann Alciel sie ganz deutlich sehen. Da, und der, direkt unter seinem rechten Ohr, der stammt von ihm. Der ist keine sechs Stunden alt.

Lächelnd beugt sich Alciel zu ihm hinab und küsst diese einladend leicht geöffneten Lippen.

Ohne Vorwarnung hat er plötzlich Lucifers Zunge in seinem Mund und seine Hand in seinem Nacken. Warme, schlanke Finger halten seinen Kopf unbarmherzig an Ort und Stelle, während diese freche Zunge seine Mundhöhle kompromißlos plündert.

„Wow. Huh. Schuft“, stößt er dann atemlos hervor, als Lucifer ihn schließlich wieder freigibt.

„Huh? Du hast doch damit angefangen. Für wen hältst du mich? Dornröschen?“

Alciel blinzelt verdutzt. „Wer ist Dornröschen?“

„Echt jetzt? Du kennst Dornröschen von den Gebrüdern Grimm nicht? Das ist eine Prinzessin, die von einer bösen Fee verzaubert wurde. Sie fiel in einen hundertjährigen Schlaf und nur der Kuss eines tapferen Prinzen konnte sie retten. Dafür musste er sich aber durch eine meterdicke, dichte Rosenhecke schneiden. Das ist jedenfalls die geschönte Version. In der Originalversion hatte dieser Perverse nichts Besseres zu tun, als die komatöse Schönheit zu vergewaltigen und...“ er hält inne, als er Alciels entsetzte Miene sieht. „Öh, nicht, dass ich dir unterstellen will, dass du so etwas vorhast. Ich meine, hast du ja auch nicht nötig, du musst nur fragen, das weißt du ja.... ahem....“ peinlich berührt hält er inne. Er spürt, wie seine Wangen zu brennen beginnen und starrt höchst fasziniert auf seine Armschiene.

Alciel mustert ihn ein paar Sekunden lang einfach nur (weniger wegen dieser Worte, aber völlig hingerissen von diesem Anblick).

„Komm“, meint er dann und hält ihm auffordernd die Hand entgegen. Zögernd nimmt Lucifer das Angebot an und lässt sich von ihm auf die Füße ziehen.

„Bringen wir den Manga zurück. Und dann müssen wir zu MgRonald's. Mao-sama hat mir eine Nachricht geschickt. Er möchte, dass wir ihn abholen. Er hat eine Überraschung für uns.“

 

 

 

 

XLII

 

„Die sind heiß...“

In Chiho krampft sich alles zusammen, als sie die Worte ihrer Kollegin Keiko neben sich hört. Mit einem verzerrten Lächeln reicht sie der Kundin die Bestellung.

„Oi. Fräulein, ich wollte eine Schokomilch. Das hier ist Erdbeer.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung.“ Chiho verbeugt sich, hochrot im Gesicht und beeilt sich, ihren Fehler wieder auszubügeln. Doch auch dabei wandert ihr Blick immer wieder hinüber zu dem Tisch in der Ecke.

„Sauladen“, murrt die Mutter, während sie die Schokomilch an das quengelnde Kind an ihrer Hand weitergibt und dann mit diesem verschwindet.

„Vielen Dank, dass Sie MgRonald's gewählt haben“, leiert Chiho mit der vorgeschriebenen Abschiedsverbeugung herunter. Ihre Augen huschen wieder zur Ecke.

„Mensch, Chiho, was machst du denn?“ zischt Keiko vorwurfsvoll.

„Es tut mir leid“, murmelt Chiho abwesend. Da es zur Zeit keine weiteren Kunden gibt, die bedient werden wollen, wagt sie einen etwas längeren Blick. Dort sitzt Mao, zusammen mit Ashiya und … Chiho schluckt einmal schwer … Urushihara.

Warum nur? Er hat jetzt einen neuen Laptop und eine Spielekonsole noch dazu – warum also, warum ist er hier? Er sollte in der Wohnung sitzen und der nerdige Computer-Freak sein, wie er es immer ist. Unwillkürlich ballt sie die Hände zu Fäusten. Womit erpresst er den armen Mao nur? Liegt es wirklich nur an Maos Schuldgefühlen?

Die drei scheinen viel Spaß zu haben, stellt sie verbittert fest.

Aber als Mao Lucifer auch noch mit den Fritten zu füttern beginnt, wird der Anblick zuviel für sie. Und sie bleibt nur hinter dem Verkaufstresen stehen, weil ihre Chefin gerade aus ihrem Büro tritt und sie keinen Ärger mit ihr riskieren will.

 

 

„Mao...“ Hier, an Maos Arbeitsstelle, verzichtet Alciel klugerweise auf dem ehrenvollen Suffix – sama, und obwohl seine Stimme nur ein Raunen ist, steckt sie doch voller Vorwurf.

Doch sein König schenkt ihm nur ein vergnügtes Grinsen.

„Lass sie ruhig alle schauen, Ashiya.“ Für einen kurzen Moment ist er abgelenkt und dies nutzt Lucifer aus, um nach der Fritte zu schnappen, mit der da so neckisch vor seinem Mund herumgewedelt wird. Ob Absicht oder nicht, seine Zähne kratzen dabei über Maos Finger, aber der kichert nur und gleich darauf noch etwas lauter, als Lucifers freche Zunge das Salz von seinen Fingern leckt.

Alciel blinzelt verdutzt. Er weiß nicht wieso, aber das sieht unheimlich erotisch aus. Tapfer reißt er sich von diesem Anblick los und starrt auf seine eigenen Black Pepper Fries. Gerne würde er Lucifer auch einmal so füttern, aber er hat verstanden, dass dies hier eine Show für Chiho sein soll, also hält er sich zurück. Außerdem tröstet ihn das Gewicht von Lucifers Hand auf seinem Oberschenkel - vor allem, wenn dessen Finger wie jetzt sanft über seine Jeans kratzen. Außerdem ist es der geschiente Arm, das bedeutet, er ist schwerer, nachdrücklicher. Ein Gewicht, das man unmöglich ignorieren oder vergessen kann.

Mao seinerseits hat unheimlich viel Spaß. Erstens verbringt er gerne Zeit mit seinen beiden Generälen und zweitens ist Flirten amüsanter als er dachte. Außerdem hat Lucifer auf der Stelle verstanden, was er mit dieser Einladung bezweckte und sofort mitgespielt. Und bei ihm wirkt alles so natürlich – jede noch so kleine Geste, jeder Augenaufschlag, jedes Lächeln sitzt einfach perfekt. Er hat von der ersten Sekunde an den Takt angegeben und alles, was Mao tun muss, ist, sich von ihm bei diesem Tanz führen zu lassen. Es ist eine grandiose Show für alle hier, aber es ist eben nicht nur Show. Darunter verbergen sich echte Gefühle. Es ist alles echt – die Art, wie Lucifer manchmal den Kopf schieflegt und ihn anblinzelt, wie er ihn anlächelt und das sanfte Schwirren in seiner Stimme, seine Hand an Maos Wange, wie er sich zu ihm hinüberlehnt und ihn sanft auf die Lippen küsst … uh.

Mao blinzelt überrascht.

Aber da läßt sich Lucifer schon wieder auf die Sitzbank zurückfallen und zwinkert ihm zu. Mao spürt, wie er errötet.

Er wirft einen unsicheren Blick zu Alciel hinüber, doch der knabbert nur mit völlig unbewegter Miene an seinen letzten Fritten. Mao fühlt sich sofort schuldig. Armer Alciel. Es ist nicht fair, dass er hier das fünfte Rad am Wagen spielen muss. Mao beschließt, sobald sie wieder Zuhause sind, ganz besonders nett zu ihm zu sein.

„Ich liebe euch beide“, erklärt Mao leise in Dämonensprache.

Um Alciels Lippen zuckt ein kleines Lächeln, und er nickt einmal knapp, als Zeichen, dass die Botschaft angekommen ist. Doch dann runzelt er unwillig die Stirn und schnalzt tadelnd mit der Zunge, erinnert seinen Dämonenkönig daran, dass sie hier gefälligst japanisch zu reden haben.

Lucifer lacht nur dieses sanfte, glockenhelle Lachen, das sie jetzt immer öfter zu hören bekommen und zwinkert ihm vergnügt zu.

Mao wirft einen unauffälligen Blick zum Verkaufstresen hinüber. Chiho starrt zu ihnen herüber und der Ausdruck in ihrer Miene ist mörderisch. Neben ihr steht Kisaki Mayumi und auch der Rest der Belegschaft hat sich irgendwo in der Nähe postiert und beobachtet sie verstohlen.

Es ist eben das erste Mal, dass ihr geschätzter Schichtleiter Mao Sadao sich wie ein Gast hier niederlässt und dann auch noch mit zwei heißen Kerlen im Schlepptau – jepp, sie sind heiß, alle beide, du hast so verdammt absolut recht, Keiko.

Vielleicht ahnen sie aber auch, dass er etwas im Schilde führt – Menschen haben manchmal einen Riecher dafür.

Nervös leckt sich Mao einmal über die plötzlich sehr trockenen Lippen.

„Ich ...“, beginnt er, muss sich einmal räuspern und beginnt dann erneut. „Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen.“

Sofort richten sich ein violettes und ein goldbraunes Augenpaar auf ihn.

Mao spürt, wie er unter diesen ernsten Blicken zu schwitzen beginnt. Es sind nicht nur ihre Blicke. Er fühlt die Blicke aller im Raum auf sich gerichtet.

Er nimmt all seinen Mut zusammen.

„Ich war heute in der Pause beim Juwelier.“

Und während Alciel ein langgezogenes „Maoooo...“ seufzt und in seinem Kopf wieder der Abakus rattert, greift Mao in seine hintere Hosentasche und holt ein kleines Etui heraus. Vorsichtig legt er es vor sich auf den Tisch.

Seine Finger zittern. Warum zittern seine Finger?

Mao räuspert sich ein weiteres Mal, setzt sich aufrecht hin und greift dann nach Lucifers linker Hand.

„Urushihara Hanzo“, beginnt er mit lauter – aber zu seiner Verlegenheit auch sehr, sehr belegter - Stimme, die man bis in die letzte Ecke des Schnellrestaurants hören kann. Lucifer hebt den Blick und Mao versinkt sofort in diesem wunderschönen Violett.

„Sadao?“ Erst Lucifers leise, sanfte Stimme holt ihn zurück ins Hier und Jetzt.

Oh Hölle – er hat ihn angestarrt, nicht wahr? Ihn einfach nur angestarrt. Wie peinlich!

Mao räuspert sich hastig und ruft sich die Worte in Erinnerung, an denen er in den letzten Stunden gefeilt hat. Sie müssen wahrhaftig sein und dürfen zugleich ihre menschliche Tarnung nicht gefährden.

„Hanzo ...“, oh, wie gerne würde er ihn jetzt bei seinem richtigen Namen nennen können, „... ich habe es dir nie gesagt, aber als wir uns das erste Mal begegneten, blieb mir glatt der Atem stehen.“ Wunderschöne, große, rabenschwarze Flügel. Durchdringende, violette Augen. Und eine Aura, die soviel Macht ausstrahlte, dass er nur eines wollte:

„Nichts war mir Wichtiger, als dich an meiner Seite zu wissen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Du bist schön, du bist stark, verdammt witzig und unheimlich klug.“

Lucifers Augen weiten sich bei dieser Aufzählung ein wenig, während eine leichte Röte seine Wangen hinaufkriecht.

Mit seiner freien Hand öffnet Mao das Schmucketui und dreht es so, dass er und Alciel den Inhalt sehen können.

„Hanzo. Ich zweifle nicht daran, dass wir beide uns schon seit unserem vorherigen Leben versprochen sind.“ Damit meint er ihr Leben in der Dämonenwelt. Mao holt ein letztes Mal tief Luft und sieht tief in diese violetten Augen – beziehungsweise dieses eine, denn das andere wird wie immer vom Haar verdeckt.

„Also bitte ich dich jetzt, hier und heute, und alle mögen meine Zeugen sein: Urushihara Hanzo – willst du auch ganz offiziell mein Ehemann werden?“

Lucifer sieht Mao an, dann den Ring und dann wieder Mao.

„Scheiße, verdammte“, stößt er dann hervor. „Ich dachte schon, du fragst nie. Ja, zur Hölle, ja!“

Mao strahlt übers ganze Gesicht, als er den Ring unter dem Beifall seiner Vorgesetzten und Kollegen auf Lucifers Ringfinger schiebt.

Er weiß gar nicht, wieso ihm so ein großer Stein vom Herzen fällt – es war schließlich von Anfang an klar, dass Lucifer nicht ablehnen würde – dies hier ist eine Inszenierung, um Chiho ein für allemal loszuwerden.

Lucifer hebt sich die Hand vor Augen, um den Ring genauer zu betrachten. Gold und Silber mit einem roten und einem grünen Stein – die Farben von Maos und Alciels Magie – und um die Steine herum eine Gravur in der Form des Unendlichkeitszeichen. Es sind vier Worte in Dämonensprache: Jakobus und Alciels Schatz.

Lucifer kann die Magie dahinter spüren – ein warmer, schwerer Anker, der sich mitten in sein Herz senkt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, selber keine Magie mehr zu besitzen, diese aber so deutlich spüren zu können.

Das ist kein Theater. Nichts davon.

Er blinzelt sich die störenden Tränen aus den Augen und sieht wieder in Maos überglückliches Gesicht.

Aber wenn er sich nicht schleunigst auf etwas anderes konzentriert, fängt er wirklich noch an zu heulen. Und daher wendet er sich an Alciel neben sich und zeigt ihm den Ring.

Dieser fühlte sich in den letzten Minuten unangenehm ausgeschlossen und zeigte eine sehr beherrschte Miene und eigentlich will er diesen Ring gar nicht genauer betrachten, aber ihm bleibt nichts anderes übrig, so nachdrücklich, wie Lucifer ihm seine Hand vor Augen hält.

„Alciel, lies die Inschrift“, murmelt Lucifer dann auch noch in Alciels kaum bekannter Muttersprache und der blonde Dämon gehorcht automatisch.

Und versteht.

Und dann umarmt Lucifer ihn und Alciel spürt, wie ihm das Wasser in die Augen steigt, als er die Geste erwidert. Doch er weint nicht, nein, nicht in der Öffentlichkeit, da bleibt er standhaft. Das ist nur ein Staubkorn, das ihm ins Auge geriet.

 

 

„Marko!“ ruft Kisaki Mayumi zu dem glücklichen Paar hinüber. „Ich spendiere dir eine Woche Urlaub für deine Hochzeitsreise!“

„Vielen herzlichen Dank, Kachō-san!“

Neben der Managerin erklingt ein leises Wimmern.

„A-aber, Mao-san...“

Kisaki Mayumi wirft ihrer jüngsten Angestellten einen mitleidigen Blick zu. Die Kleine ist wirklich völlig aufgelöst. Schon kullern ihr die ersten Tränen über die Wangen, doch insgeheim ist Kisaki Mayumi froh, dass damit diese tragische, einseitige Teenagerromanze endlich ein Ende findet. Sie mag Chiho (jeder mag Chiho), aber ihre ständige Bewunderung für Mao, dieses penetrante anschmachten, ging jedem hier auf den Sender.

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, fährt es der Managerin durch den Kopf, als sie der inzwischen hemmungslos schluchzenden Fünfzehnjährigen ein Tablett mit drei Eisbechern in die Hände drückt.

„Chiho-chan, sei ein Schatz und serviere das dem glücklichen Paar und seinem Begleiter doch bitte als Aufmerksamkeit des Hauses.“

Chiho sieht aus, als wolle sie protestieren, doch sie überlegt es sich unter Kisakis strengem Blick noch einmal anders und trottet gehorsam mitsamt Tablett zu dem Tisch hinüber.

Das ist so unfair! Ihr Mao-san … ihr Sadao... warum nur?

Warum?

Was hat dieser verdammte Parasit, was ich nicht habe?

Oh, ich wünschte, Emi hätte ihn umgebracht.

Und dann, der nächste Gedanke:

Das war gemein, richtig gemein. Direkt vor meinen Augen.

Ihr schmerzt das Herz in der Brust, als würde es von vielen winzigen Krallen in unzählige kleine Stücke zerfetzt. Schniefend wischt sie sich mit dem Handrücken über Augen und Gesicht und zwingt sich zu einem Lächeln.

Bewahre Würde, Chiho, Würde.

„Ich gratuliere“, sagt sie mit zitternder Stimme, als sie die Eisbecher auf die Mitte des Tisches stellt. „Eine kleine Aufmerksam von Kisaki-san.“ Sie vermeidet es geflissentlich, Mao in die Augen zu sehen. Ihre Schuhe sind viel interessanter.

„Danke, Chiho.“ Bei Maos Stimme hätte sie fast den Kopf wieder gehoben. Aber nur fast.

„Cool, Eis! Karamelle gehört mir!“ Natürlich stürzt sich diese kleine Pest sofort auf das Eis.

„Benimm dich, Hanzo“, tadelt Ashiya automatisch. Er klingt überraschend – sanft?

Ja, natürlich, erinnert sie sich, er ist ja auch mit Urushihara verheiratet.

Das ist so unfair. Wieso reichte ihm Ashiya nicht, wieso musste er ihr auch noch ihren Mao wegnehmen?

„Chiho – ist noch etwas?“ Maos ruhige Stimme reißt sie aus ihren Gedanken.

Erschrocken hebt sie den Kopf und senkt ihn schon nach dem ersten, flüchtigen Blick in seine rötlichen Augen wieder.

„Oh. Was? Nein, ich … gratuliere...“, murmelt sie nochmal, dreht sich um und schlurft, leise vor sich hinschluchzend, zurück zu den anderen.

 

XLIII

 

„Woah. Mao – was machst du da?“ Erschrocken quietscht Lucifer auf, als Mao ihn plötzlich hochhebt und dann mit ihm die Treppe hinaufeilt. Rein instinktiv klammert er sich an seinem Nacken fest und hält ganz still, obwohl alles in ihm danach drängt, sich aus dieser peinlichen Situation zu befreien. Aber er hat auch keine Lust, es Emi gleichzutun (oder Maos Lüge vor einer Woche wahr werden zu lassen) und die Treppe hinunter zu fallen.

Mao grinst nur übermütig. „Ich trage meinen Ehemann die Treppe hinauf.“

„Mein Arm ist kaputt, nicht mein Bein.“

Oben vor der Wohnungstür wartet schon Alciel auf sie. Bei ihren Anblick zieht er belustigt die linke Augenbraue hoch.

„Mylord, es heißt aber: die Braut über die Schwelle tragen.“

„Oi, Alter, ich bin keine Braut!“

„Gut, Ashiya. Bitteschön.“ vielsagend drückt ihm Mao ein überraschtes Bündel Ex-Erzengel in die Arme.

„Was bin ich? Ein Sack Kartoffeln?“ beschwert sich Lucifer lautstark und klammert sich schnell an Alciels Schultern fest.

Mao schließt inzwischen die Tür auf und öffnet sie ihnen zuvorkommend – und grinst dabei von einem Ohr zum anderen.

„Kein Sack Kartoffeln“, erklärt Alciel völlig ernst, während er ihn über die Türschwelle trägt. „Du bist mein Schatz.“

Lucifer rollt nur belustigt mit den Augen. „Gollum.“

Und Alciel, der den Herrn der Ringe erst vor zwei Tagen mit ihnen zusammen gesehen hat, lacht dieses herrliche, von Herzen kommende Lachen, das nicht nur Mao so an ihm liebt.

Lucifer denkt ernsthaft darüber nach, sich weiter in Alciels Armen herumtragen zu lassen – das ist gemütlich, warm und Alciel ist so stark und groß, er fühlt sich richtig beschützt. Doch Alciel stellt ihn leider schon im Eingangsbereich wieder auf seine eigenen Füße und beginnt sofort, sich selbst aus der Jacke zu pellen und die Schuhe auszuziehen und dann beides ordentlich wegzulegen. Manchmal ist er wirklich sehr pingelig. Lucifer fängt Maos Blick auf, und dann zwinkert dieser ihm zu und schüttelt sich endlich selbst auch die Schuhe von den Füßen. Innerlich seufzend folgt Lucifer dem Beispiel der beiden.

Und dann fühlt er sich plötzlich von Mao an der Taille gepackt, in die Waagerechte gekippt und schwindelig geküßt.

„Wow“, haucht Lucifer atemlos.

Mao grinst nur, lässt ihn los und geht hinüber zu dem niedrigen Tisch. Alciel werkelt schon in alter Manier in der Küche herum und kocht Tee. Lucifer steht noch eine Weile benommen in der Gegend herum, bis er sich dazu aufrafft, sich zu Mao zu setzen.

Niemand von ihnen sagt ein Wort und das einzige Geräusch ist das Klappern von Porzellantassen, die aus dem Schrank geholt werden und das Rauschen des Wasserkochers. Es ist eine angenehme Stille, doch sie trägt auch eine gewisse verlegene Note, als wüsste keiner von ihnen, was er jetzt sagen oder tun solle.

Lucifer nutzt die Zeit, um sein klopfendes Herz zu beruhigen und ganz einfach nur herunterzukommen. Egal, was viele von ihm auch denken mögen, er fühlt sich überhaupt nicht wohl, wenn er im Fokus der Aufmerksamkeit steht, und im MgRonald's fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller. Es war nötig und es hat Spaß gemacht, aber es hat ihn auch ausgelaugt. Er ist froh, wieder in dieser kleinen Bruchbude zu sein. Wieder mit seinen beiden Lieblingsdämonen allein zu sein.

Versonnen betrachtet er den Ring an seinem Finger und hält seine Hand dann ins Sonnenlicht, das durch das Fenster hinter ihm hereinscheint. Die Steine schimmern geheimnisvoll und erinnern ihn an die Farben von Maos und Alciels Magie.

„Sehr hübsch, nicht wahr?“ sagt Mao neben ihm sehr selbstzufrieden, der ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hat. „Und alles echt. Gold, Silber, Smaragd und Rubin.“

„Und sicher sehr teuer“, wirft Alciel ein, als er zu ihnen kommt und vor jeden von ihnen eine Tasse abstellt. Dann setzt er sich zu ihnen an den Tisch.

Tadelnd schnalzt Mao mit der Zunge.

„Für Lucifer sollte uns nichts zu teuer sein, Ashiya.“

„In der Tat, Mylord“, stimmt dieser ihm überraschenderweise ohne Umschweife zu.

„Deshalb gibt es erstmal auch nur einen Ring. Na gut“, räumt Mao dann seufzend ein. „War eh unverschämtes Glück, dass ich einen mit den passenden Steinen fand. Aber ich habe die anderen gleich mit in Auftrag gegeben. Ich habe lange überlegt, ob ich für die nicht nur Amethyst-Steine nehmen soll, aber dann dachte ich mir, was soll's, wie Crestia so schon sagte: wir gelten als die unheilige Trinität, also warum nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Und so habe ich einen Ring mit Amethyst und Rubin und einen mit Amethyst und Smaragd bestellt. Ich weiß noch nicht, was wir dann als Gravur nehmen, das war eine spontane Idee und ich finde, die Inschrift auf Lucifers Ring sollte einzigartig bleiben. So einzigartig wie er.“ Lächelnd lehnt er sich zu Lucifer hinüber und haucht ihm einen Kuß auf die Wange.

Der errötet verlegen und murmelt:

„Das mit der Magie war eine nette Idee.“

„Ja? Fand ich auch“, um Maos Lippen zuckt wieder dieses selbstzufriedene Grinsen. Er rückt um die Tischkante herum und schlingt ihm vertraulich einen Arm um die Hüften. „Wie fühlt es sich an? Ich habe dabei ganz fest an dich gedacht und daran, wie sehr wir dich lieben.“

Lucifer denkt einen Moment darüber nach. Doch seine Konzentration wird schnell gestört, denn Mao streicht ihm die Haare zurück und küßt und knabbert sich hingebungsvoll über seine seitliche Halslinie.

„Wie ein Anker in meinem Herzen, der eine goldene Magiesignatur trägt“, bringt er schließlich kichernd heraus. „Laß das, Jakobu.“ Er versucht, ihn sanft wegzudrücken. „Sei nicht so aufdringlich.“

Mao gehorcht widerstrebend, läßt seinen Arm aber da, wo er ist – nämlich um Lucifers Taille.

„Golden?“ wiederholt er dann und legt sein Kinn auf Lucifers Schulter ab, während er einen langen Blick mit Alciel tauscht. „Dabei ist keiner von uns golden.“

„Und doch“, führt Alciel nachdenklich aus, „besitzt die Magie, die wir jetzt zusätzlich zu unserer eigenen besitzen, genau diese Farbe. Sie ist etwas eigenes. Sie vermischt sich nicht mit unserer. Aber sie...“ er runzelt die Stirn, „... kann sie lenken.“

„Ja, ich habe das Netz auch gesehen.“

Lucifer hört ganz genau zu. Vor allem das mit dem Netz klingt interessant. Er wird das nächste Mal darauf achten, ob er so etwas sieht.

„Diese Magie wird aus Lust gewonnen, kein Wunder also, wenn sie eine völlig andere Farbe besitzt“, erklärt er dann. „Und sie vermischt sich nicht mit eurer, weil sie mir gehört. Inzwischen dürfte sie euren Magiekern völlig korrumpiert haben, ihr werdet das Gold also nie wieder los.“ Plötzlich grinst er bis über beide Ohren. „Hah. Das heißt, ihr werdet mich nie wieder los.“

„Wollen wir auch gar nicht“, schnurrt ihm Mao ins Ohr. „Oder Alciel?“

„Nein, Mao“, kommt die ernste Antwort. „Das wollen wir nicht.“ Mit diesen Worten lehnt sich Alciel zu Lucifer hinüber, gibt ihm einen schnellen Kuß auf die Wange und erhebt sich dann geschmeidig, um sich in der Küche um den Tee zu kümmern.

Lucifer erschauert wohlig und Mao, der das spürt, zieht ihn fest in seine Arme.

„Jetzt spürst du es, nicht wahr?“ flüstert er, während er ihm das Haar aus dem Gesicht streicht. Eindringlich blickt er in diese schönen, violetten Augen. „Verstehst du jetzt, wie sehr wir dich lieben? Und dass wir dich nie wieder im Stich lassen werden? Egal, was passiert?“

„Egal, was passiert?“ wiederholt Lucifer mit ungewohnt dünner Stimme.

Und bevor Mao darauf antworten kann, bestätigt Alciel aus der Küche – und seine Stimme duldet keinen Widerspruch mehr:

„Egal, was passiert, Lucifer-chan.“

 

 

Eine Stunde später haben sie den Tisch samt leeren Teetassen an die Wand geschoben – sie brauchen Platz – und pellen sich gegenseitig unter vielen Küssen, Liebesschwüren und Streicheleinheiten die Kleider vom Leib.

Es ist genau das, worauf Mao den ganzen Tag schon gewartet hat. Es ist das, worauf er hingearbeitet hat. Die Magie brodelt begierig und bald schon flackert seine tiefrote Aura um ihn herum auf, sein Haar wird grüner und länger, ihm wachsen Hörner, spitze Ohren und Fangzähne. Sein gesamter Körper wird muskulöser, die Schultern breiter und seine Gesichtszüge markanter. Mehr läßt das Netz nicht zu.

Während er sich an Luzifers Kehle festsaugt, wirft Mao einen prüfenden Blick über Lucifers nackte Schulter zu Alciel hinüber. Braune Augen mit leuchtend goldenen Flecken funkeln ihn unter wildem, eisblondem Haar an und dann stürzt sich der Iron-Skorpion mit angelegten großen Ohren begeistert auf Lucifers Nacken.

„Wow. Ich sehe es.“

Fasziniert hebt Lucifer seinen linken Arm, um den sich neben Alciels Schwanz auch lange, dünne Goldfäden gewickelt haben. Sie schlingen sich um ihn und Alciel und Mao gleichermaßen und er spürt, wie der goldene Anker in seinem Herzen sich als Antwort darauf leicht erwärmt. Diese Wärme breitet sich in seinem gesamten Brustkorb aus und fließt dann tiefer, wo sie sich in seinem Unterleib mit der üblichen Lust vermischt.

Er beißt sich auf die Unterlippe, um nicht unwillkürlich laut aufzustöhnen. Er will die beiden so sehr, dass es schmerzt.

Scheiß Teenagerhormone.

Ach, hör auf, dich selbst zu belügen.

Er sieht in Maos feurige Augen, erkennt darin sein eigenes, brennendes Verlangen und gibt auf. Wie er schon zu Alciel sagte: er war immer er selbst. Ein höherer Testosteronspiegel ändert gar nichts daran.

Und dann verschlingt Mao seine Lippen in einem wilden Kuss und seine Gedanken lösen sich in Nichts auf.

 

 

Mein, schreit der Goblin in ihm triumphierend, verdrängt für einen Moment sogar wieder dieses eins-Gefühl der Verbundenheit.

Zufrieden aufgrollend vergräbt sich Mao bis zum Anschlag in seinem General. Lucifer wimmert in ihren Kuss hinein und schlingt seine Arme und Beine noch fester um den muskulösen Körper vor ihm. Alciel hinter ihm küsst sich derweil hingebungsvoll von Lucifers Genick zu seiner nackten Schulter. Er hat die Arme um Lucifers Hüften geschlungen und Mao kann seine Hände zwischen ihren Körpern spüren – glattes Chitin – wie sie sich routiniert um Lucifers Erektion kümmern.

Lucifer küssend, seine Zunge in ein leidenschaftliches Duell verstrickend, so treibt Mao sie mit zielstrebigen Hüftstößen langsam, aber sicher ihrem Höhepunkt entgegen - nicht zu vergessen auch Dank Alciels tatkräftiger Unterstützung.

Ihre Bewegungen synchronisieren sich auf geradezu unheimliche Art und Weise und je weiter sie auf der Zielgeraden vorankommen, desto stärker wird dieser Sog.

Um sie herum flimmert und flackert es grün, rot, gold und allmählich schleicht sich auch ein schwaches Violett hinein.

Ja. Verdammt. Ja!

Unwillkürlich verdoppelt Mao seine Anstrengungen.

Er spürt, wie sich etwas aus seinem Magiekern löst und langsam über diese goldenen Fäden aus ihm herauströpfelt. Und diesmal ist da keine Wand, die das verhindert.

Ein Dutzend wilder Hüftstöße später weht ein Schrei durch das sechs-Tatami-Apartment, gefolgt von einem dumpfen Knurren, violetter Rauch leuchtet auf, verdrängt kurzfristig alle anderen Farben und … verliert dann wieder an Intensität.

 

 

Sie hören das charakteristische Flügelrauschen, wieder trudelt eine Feder zu Boden, doch weiter geschieht – nichts.

Aber Mao ist nicht enttäuscht. Er hat damit gerechnet. Das ganze ist noch nicht vorbei.

Er kann spüren, wie sich der Sog auf den dritten in ihrer Runde verlagert und wechselt mit Alciel bereitwillig den Platz.

 

 

Lucifer bebt und zittert am ganzen Körper und sein Verstand schwimmt noch in völlig anderen Sphären, aber als Alciels Hände auf seinen Hüften ihn in die richtige Position dirigieren, handelt er rein instinktiv. In ihm ist ein Brennen und Sehnen und sein Magiekern ist ein einziges großes, schwarzes Loch, das gefüllt werden will.

Unter ihm stöhnt Alciel lustvoll auf, als er sich auf ihn sinken lässt.

Keuchend starrt Alciel zu ihm auf und der Anblick, der sich ihm bietet, verschlägt ihm glatt den Atem. Das Licht in diesen Augen, die ihn hinter einem Vorhang violetter Haare anstrahlen, besitzt eine Intensität, die ihm direkt in den Unterleib fährt.

Und dann beginnt nicht nur die Luft um Lucifer herum violett zu glühen, sondern auch seine Haut. Und dann lehnt er sich etwas nach vorne, stützt sich mit seiner geschienten Hand auf Alciels Brust ab, sieht ihm tief in die Augen und beginnt, sich zu bewegen.

Aufstöhnend schließt Alciel die Augen und ergibt sich ganz diesem wilden Ritt. Plötzlich sind da Finger, die über seine spitzen Ohren streicheln, ein geschnurrtes „Alciel...“ und weiche Lippen, die sich gegen seine pressen. Und Alciel ertrinkt in einem wirbelnden Orkan aus Wärme, Vertrauen und einfach nur Liebe, und er schluchzt und weint, denn sie sind wieder eins, diesmal stärker als jemals zuvor und

oh, Lucifer, ich liebe dich sosososo sehr, bitte bleib, bitte bleib, bitte verlass mich nie nie wieder

und plötzlich sind diese köstlichen Lippen wieder fort. Der letzte, tiefe Stoß, Lucifer auf ihm bäumt sich auf, wirft den Kopf in den Nacken und da erklingt er wieder, dieser Schrei, doch diesmal tiefer, als käme er direkt aus seiner Seele, es ist der perfekte Ton, ein Ton, der Brücken und Mauern einstürzen läßt - es ist, erkennt Alciel wohlig erschaudernd - der Schrei des höchsten Erzengels.

Und mit dem dumpfen Geräusch, das eine enorme Luftverdrängung begleitet, entfalten sich zwei riesengroße, mächtige, rabenschwarze Schwingen.

 

 

 

Epilog

 

Ah.

Glücklich schließt Lucifer die Augen und spürt dem Gefühl nach, wie sich der Wind unter seinen Federn fängt und ihn auf diese Weise vor sich hertreibt. Warm scheint ihm die Sonne ins Gesicht, pur und klar und ja, seine Haut spannt sich und brennt, das gibt einen (temporären) Sonnenbrand, aber nichts könnte ihm gleichgültiger sein. Wie stets trägt er nur ein T-Shirt, Jeans und Chucks, aber ihm ist trotz der dünnen Luft hier oben nicht kalt. Seine Magie umhüllt und wärmt ihn.

Und er ist so weit oben, da muss er auch auf keine zivilen Flugzeuge mehr achten. Und da er zu klein fürs Radar ist, muss er auch keine Militärmaschinen fürchten. Er ist sowieso viel zu schnell für sie.

Ein kräftiger Flügelschlag und er gleitet über den obersten Rand einer Amboßwolke dahin.

Spielerisch streckt er den rechten Arm nach unten – jenen Arm, der vor einer Woche noch gebrochen war, jener Arm, aus dem sie mühevoll die Titanschrauben herausgepuhlt haben – und läßt seine Fingerspitzen durch die staubkorngroßen Eiskristalle pflügen.

Er fühlt sich frei.

Er zieht die Hand zurück, macht eine Rolle nach oben, gefolgt von einer Pirouette, katapultiert sich dann mit einem kräftigen Flügelschlag fünf Meter höher und streckt währenddessen die linke Hand nach oben und der Sonne entgegen, um das Funkeln und Gleißen des wertvollen Rings an seinem Finger besser bewundern zu können.

Sein Herz singt.

Und ehe er es sich versieht, löst sich aus seiner Kehle ein lauter Jubelschrei.

„Lucifer!“

Aus dem Augenwinkel sieht er eine Rauchwolke und rote Magie, dann schlingen sich aus dem Nichts heraus von hinten zwei muskulöse Arme um seine Taille. Zufrieden brummend drückt sich Mao – in seinen menschlichen einhundertdreiundsiebzig Zentimetern, aber dafür voll ausgestattet mit Fangzähnen, Hörnern, spitzen Ohren und Hufen - an seinen Rücken und schmiegt seine Wange gegen diese schönen, rabenschwarzen Federn. Sofort trudeln sie ein paar Meter abwärts, bis es Lucifer gelungen ist, sich in dieser Umarmung umzudrehen.

„Jakobu!“ ruft er tadelnd.

Mao grinst nur verschmitzt zurück und bewundert einen Moment lang einfach nur diese mächtigen, rabenschwarzen Schwingen, mit denen Lucifer sie beide in der Luft halten kann. Obwohl er selber die Teleportation vorzieht, breitet er nun doch auch seine großen, fledermausartigen Flügel aus.

Langsam läßt er seinen Blick über den Himmel um sie herum schweifen.

Normalerweise fliegt er nicht so hoch, aber es ist wirklich schön hier. Diese wattigen Wolken erscheinen ihm wie ein sich in die Endlosigkeit erstreckendes, flauschiges, weiß-graues Meer. Man könnte vergessen, dass es dort unten noch etwas anderes gibt. Fast, als wären sie ganz alleine im Universum.

Lächelnd senkt er den Kopf und hascht nach Lucifers Mund. Sie küssen sich. Sanft, bedächtig, voller Zärtlichkeit und … Liebe.

„Komm“, meint er dann und greift nach Lucifers Hand. Für einen Moment fängt sich dabei das Sonnenlicht in seinem eigenen gold-silbernen Ring mit den zwei Steinen.

„Alciel wartet auf uns.“

Auf dem ganzen Weg nach unten lässt er Lucifers Hand nicht mehr los.

 

 

Als sie alle drei an diesem Abend in einer durch Felsen gut geschützten Ecke am Sunayama Beach sitzen und der Sonne dabei zusehen, wie sie rot-orange im Ozean versinkt, zieht Lucifer seine beiden Ehemänner ganz fest an sich und breitet dann seine mächtigen Flügel um sie aus, um sie vor dem kalten Ostwind zu schützen. Es ist der erste Tag ihrer einwöchigen Hochzeitsreise, und Lucifer fühlt sich zum ersten Mal in seinem jahrtausendealtem Leben wirklich rundum glücklich und zufrieden.

 

 

Ende

yay, zum Ende wurde es kitschig. Sorry

 

Und ja, natürlich sind sie nur symbolisch verheiratet, aber mehr brauchen sie nicht.



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