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Die letzte Ehre

von

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5. Vater sein – Herrscher bleiben

Die Abendsonne tauchte den Himmel in ein oranges Rot. Shen hatte sich in den Palast zurückgezogen und schaute von der mittleren Etage auf den Hof hinab.

Der Wahrsagerin fiel auf, dass er recht schweigsam geworden war. Zuerst hatte sie sich vorgenommen, ihn nicht anzusprechen, doch als dies den ganzen Tag so weiter ging, rang sie sich doch dazu ein Gespräch mit ihm zu suchen.

„Du siehst so nachdenklich aus“, begann sie hinter ihm.

Shen schien ihre Gegenwart nicht zu überraschen und drehte sich gar nicht erst zu ihr um.

„Mich beschäftigt viel“, meinte er bedächtig. „Dann muss ich viel nachdenken.“

Die Ziege trat zu ihm ans Fenster und versuchte zu ergründen, wohin Shen die ganze Zeit hinsah.

Unten im Hof stand Fantao mit Meister Kroko und Meister Ochse. An der Mauer prangerte immer noch Meister Krokos Bildnis und jetzt daneben war ein Neues, diesmal von Meister Ochse, gemalt worden. Auch dieses hatte mehr Muskeln als das Original, was Meister Ochse sofort an sich überprüfte.

„Was missfällt dir daran?“, erkundigte sie sich.

Shen seufzte. „Bei Fantao habe ich gehofft, dass er mal ein großer mächtiger Krieger werden würde. Doch anscheinend habe ich mich geirrt und er wird eher ein großer Künstler. Ich hätte ihn gleich Bingwen* nennen sollen.“

Die Ziege schmunzelte. „Er ist nun mal ein farbenliebender Pfau. Um ehrlich zu sein, dürfte es einem nicht verwundern. Aber er hat Geschick in seinen Bewegungen. Er wird bestimmt seinen eigenen Kampfstil mal entwickeln. Genauso wie Zedong.“

„Zedong ist gut, genauso gut wie sein Bruder“, stimmte Shen ihr zu. „Nur von Jian könnte ich mehr erwarten. Er spielt lieber auf seinem Instrument, als sich um sein Training zu kümmern.“

„Er ist farbenblind wie seine Mutter“, ergänzte die Wahrsagerin. „Er versucht mit Musik sich die Welt zu verschönern.“

„Mag sein“, murmelte Shen. Dann senkte er den Blick. „Nur um Shenmi mache ich mir am meisten Sorgen. Sie hegt überhaupt kein Interesse am Kung Fu, oder an anderen Kampftechniken.“

Er zuckte zusammen, als er den Huf der Ziege auf seinem Arm fühlte. „Du wünschst dir zu sehr, dass sie so wird wie du, hab ich nicht recht?“

Shen wich von ihr weg. „Unsinn! Sie soll nur das Kämpfen lernen. Das ist alles. Aber bis jetzt zeigt sie keine Anzeichen dafür es mal richtig intensiv zu versuchen.“

Die Ziege seufzte schwer. „Shen, früher oder später wird jeder von ihnen irgendwann seinen eigenen Weg gehen. Du kannst sie nicht ewig an deine Vorstellungen anbinden.“

Der weiße Pfau schüttelte den Kopf. „Nein, es ist viel mehr als das. Sie muss es lernen. Sie kann nicht ewig ein hilfloses Kind bleiben…“

Die Augen der Ziege weiteten sich. Shen hatte unerwartet den Kopf gesenkt und den Flügel davorgehalten.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Es geht schon“, wehrte er ab. „Ich fühl mich heute nur etwas erschöpft. Ich… ich bin einfach nicht so für diese…“

„Vaterrolle.“ Sie lächelte.

„Äh… ja. Yin-Yu konnte mit ihnen immer besser umgehen. Ich selber musste mich um die Stadt kümmern und…“

„Papa!“

In diesem Augenblick tauchte Zedong hinter ihnen auf.

„Shenmi ist in den Dreck gefallen. Ich glaube sie braucht ein Bad. Und Fantao sowieso.“

Damit machte der kleine Pfau wieder kehrt und Shen blieb mit seinem kleinen Problem allein zurück. Am Ende war sein bittender Blick auf die Ziege gerichtet.

„Bitte, könntest du das machen?“
 

Mit einem etwas unguten Gefühl, zog Yin-Yu sich ins Nachtquartier zurück. Sie hatte lange in den alten Kinderkisten von Xia und Sheng herumgewühlt und war dabei so viele alte Erinnerungen durchgegangen, dass ihr mehr der Kopf wehtat als die Flügel.

Sie sah sich um. Sie befand sich in ihrem ehemaligen Schlafzimmer. Natürlich mit nur einem Bett. Xiang hatte immer alleine geschlafen, und das gleiche hatte er auch von seiner Familie erwartet. Für jeden ein Einzelzimmer. Mit verschlossenen Türen. Jede Nacht hatte er ihre Türen abgeschlossen. Nie durften sie ihre Zimmer um diese Uhrzeiten verlassen.

Yin-Yu vergewisserte sich nochmal, dass die Türe nicht abgeschlossen war, was eigentlich Blödsinn war. Wer sollte schon die Türen abschließen? Dennoch ging sie auf Nummer sicher.

Irgendwie wünschte sie sich, die anderen wären mitgekommen. Aber sie wollte Xia und Sheng nicht zumuten wieder an diesen Ort zu kommen.

Gedankenverloren zog sich um. Ihre Kleidung befand sich immer noch im Kleiderschrank. Anschließend legte sie sich ins Bett. Eine Weile hing sie noch ihren Erinnerungen nach. Dann fiel ihr Shen wieder ein. Zu gerne würde sie ihn jetzt neben sich haben.
 

Müde schlurfte Shen in sein Schlafzimmer. Die Ziege hatte zwar das Baden der zwei Kleinen übernommen, dennoch war er völlig ausgepowert. Sich mit kleinen Kindern zu beschäftigen war noch anstrengender als mit einer Armee zu trainieren. Erschöpft ließ er sich ins Doppelbett fallen.

„Shen, sieh es ein“, murmelte er zu sich selbst. „Du wirst auch nicht jünger.“

Dann wickelte er sich in die Bettdecke und schlief sofort ein.

Es war kaum eine Stunde vergangen, als…

„Papa?“

Schlaftrunken setzte Shen sich im Bett auf, als er die Stimme von Shenmi erkannte.

„Was ist?“

Das weiße Pfauenmädchen stand neben seinem Bett und sah ihn schüchtern an.

„Kann ich bei dir schlafen?“

Müde rieb Shen sich übers Gesicht. „Warum schläfst du nicht bei deiner Schwester?“

„Sie schnarcht.“

„So, tut sie das?“

Seufzend legte Shen sich wieder hin und drehte sich auf die Seite. „Na dann, komm rein.“

Sogleich hüpfte die Kleine aufs Bett und krabbelte zu ihm unter die Bettdecke. Shen bekam kaum etwas mit, so leer war noch sein Kopf vom Tag. Er spürte nur noch, wie sich etwas an seinen Hals klammerte.

„Papa?“

„Mmm?“

„Bist du immer noch sauer?“

„Mm-mm.“ Es klang wie ein dumpfes Nein.

Wie im Unterbewusstsein wanderte sein Flügel auf die leere Bettseite und wünschte sich Yin-Yu würde jetzt hier sein.
 

Yin-Yu schreckte auf. Hatte sie geträumt? Ein merkwürdiges Gefühl war über sie gekommen, wie ein düsterer Schatten. Hastig richtete sie sich auf und ihr erster Blick galt der Tür.

Erschrocken hielt sie den Atem an. Die Tür stand einen Spalt offen. Seltsam. Sie hätte schwören können, dass sie sie zugemacht hatte.

„Hallo? Ist da jemand?“

Schnell verließ sie das Bett, ging zur Tür und schaute in den Gang.

Alles blieb ruhig.

Doch dann… Ein leichtes Schaben war über den Marmorboden geschlittert.

„Huan? Sind Sie das?“, fragte sie zaghaft.

Als sie keine Antwort erhielt, zog sie die Tür schnell wieder zu. Spielen ihr die Erinnerungen von damals jetzt einen Streich? Oder träumte sie sogar?

Schnell ging sie wieder an ihr Bett und zündete eine Kerze an. Das Licht, das nun den Raum erhellte, gab ihr ein besseres Gefühl der Sicherheit. Doch ohne es zu merken, trat das Licht jetzt auf mehrere kleine Augen, die hinter ihrem Rücken lauerten.

Es vergingen noch weitere drei Sekunden – dann erfüllte ein Schrei die Luft.
 

*Bingwen - Meister der Kunst



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