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Break on through

von

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Prolog

Vor 10.000 Jahren, als viele Teile der Welt noch von der Steinzeit regiert wurden, gab es eine Insel - fernab der großen Kontinente und ihrer Zivilisationen: Atlantis. Ein grünes Paradies inmitten des Ozeans. Strahlender Stern des Atlantiks, der mit einem Meer aus Blumen gesegnet war, dass seine Schönheit Mensch und Tier zugleich verzückte. Seine Bewohner - ein friedliches Volk, das unter seinem Herrscher, König Eisenherz, einen gütmütigen und friedliebenden Monarchen gefunden hatte. Sogar die Pangäsanen - eine Minderheit, die über ein Floß nach Atlantis gekommen war - schätzten den König, der jeden seiner Untertanen denselben Großmut zuteil werden ließ. Das Volk und die Liebe zu ihrem König hallte bis in die prächtigen Palastmauern wider, dass seine Kinder - Prinz Darets und Prinzessin Eoweli - von Kindsalter ein ruhiges und liebevolles Zuhause erfahren durften. Niemand zweifelte, dass der rechtmäßige Erbe dem Beispiel seines Vaters Folge leisten würde. Prinz Darets besonnene Art bescherte dem jungen Thronerben weit vor seiner Krönung den Respekt und das Vertrauen seines künftigen Volkes. Als der Prinz das achtzehnte Lebensjahr erreichte, sehnten die Bewohner die bevorstehende Hochzeit herbei, auf welche die offizielle Übergabe der Krone folgen sollte. Das Königreich wurde mit weiß-blauen Bannern geschmückt. Die Fahne des Palastes - eine blaue Schlange auf gelbem Hintergrund - wehte im seichten Wind des Frühlings. Die Straßen wurden geputzt, die Marktstände beiseite geräumt, um der zükunftigen Braut den Weg zu säumen. Springbrunnen wurden mit Blumen verziert, aus den Fenstern der Inselbewohner hingen weiße Leinentücher, welche die neue Königin willkommen hießen. Es war der einzige Tag des Jahres, an dem das Volk seine Arbeit niederlegte und von ihrem Zuhause für Gesundheit und Glück des jungen Brautpaars betete. So trug es sich zu, dass die Straßen von Atlantis menschenleer und nur die Gesänge der Vögel zu hören waren. An einem Tag wie diesem, voller Freude und Zuversicht, sollte bald das Schicksal sein mächtiges Schwert über Atlantis schwingen und das Reich in eine neue Geschichte führen, die es in seinen Grundfesten erschüttern würde.

"So wartet doch, Prinzessin Eoweli", rief eine der Hofdamen und eilte der übermütigen Prinzessin hinterher, die bereits die Gärten des Palastes angesteuert hatte und mit ausgebreiteten Armen auf ihren Vater zulief. Die Prinzessin von Atlantis war schneller als ihre Dienerin, die noch immer die goldene Nadel in der Hand hielt, um damit die letzten wirren Haare in Eowelis Frisur zu stecken. Die lange blaue Strähne hing der jungen Prinzessin genau auf der rechten Wange und baumelte dort wie ein Pendel hin und her.

"Vater", lachte sie und umarmte den König von hinten, der daraufhin den Kopf drehte und seine Tochter anlächelte.

"Nicht so stürmisch, mein Kind", König Eisenherz saß auf einem der Korbstühle und kümmerte sich um die letzten königlichen Dekrete, bevor er das Zepter an seinen Sohn weitergeben würde. "Du weißt, ich bin nicht mehr der Jüngste", sagte er und tätschelte sich den Rücken, "deine lebhafte Natur ist zu viel für einen alten Vater wie mich."

"Ihr übertreibt mal wieder, Vater", sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, während hinter ihr die Hoftdame an der letzte Strähne hantierte, "ich wollte nur meinen Dank ausdrücken. Dass Ihr mir endlich erlaubt, die Palastmauern zu verlassen und auszureiten. Wie sehr ich diesen Tag herbei gesehnt habe."

"Nun", entgegnete ihr Vater und nickte, "bedanke dich lieber bei deinem Bruder. Er war es schließlich, der damit einverstanden war, dich heute mitzunehmen."

"Wenn ich ihn denn zu Gesicht bekommen hätte", schmollte die Prinzessin. Es war Tage her, dass sie mit ihrem Bruder gespeist, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte. Den ganzen Tag traf er Vorbereitungen für die baldige Krönung, führte Gespräche mit dem Adel oder war ausgeritten. Dabei wollte sie die letzten Tage mit ihm genießen, bevor die Pflichten des Königs ihn gänzlich von ihr entrissen.

"Darets", sagte König Eisenherz und schloss dabei die Augen, "nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Du solltest ihm seine Abwesenheit nicht verübeln. Bald wird er König dieser Insel und hat wichtige Entscheidungen zu treffen. Ich weiß, wie viel dir dein Bruder bedeutet und dass es dich traurig stimmt, weil er dir nicht mehr die Aufmerksamkeit geben kann, die du dir wünscht. Aber anstatt dich zu grämen, solltest du den heutigen Tag genießen. Später wird die Zeit kommen, in der du als Prinzessin an der Seite des Königs stehen wirst. Als seine Schwester hoffe ich, dass du ihn - nach meinem Ableben - unterstützen und ihm gegenüber loyal sein wirst."

"Mach`dir darüber keine Sorgen", Eoweli mochte es nicht, wenn ihr Vater von dessen Tod sprach, "ich werde immer auf seiner Seite stehen." Damit gab sie ihrem Vater einen weiteren Kuss auf die Stirn und sauste aus den Gärten in Richtung der Stallungen. Sie hob leicht den Rock ihres weißen, leicht fallenden Kleides an, dass die Spitzen nicht den Rasen berührten, bevor sie über einen Baumstamm sprang und schliddernd vor ihrem Bruder landete, der bereits ihrer beiden Pferde aus den Stallungen geholt hatte. Breit grinsend stand sie vor ihm, während er nichts von seiner Ruhe ablegte. Darets Ausgeglichen- und Besonnenheit war das genaue Gegenteil ihres Charakters. Auch der König fragte sich desweilen, von wem sie diese Lebhaftigkeit geerbt hatte, war seine Frau doch von graziler und schüchterner Natur gewesen.

"Lange hätte ich nicht mehr auf dich gewartet", sagte Darets und überreichte ihr die Zügel des Schimmels. Eoweli bauschte die Backen auf. "Woher sollte ich wissen, dass du schon vorgegangen bist? Außerdem: wozu die Eile? Der Tag ist noch jung."

"Für dich vielleicht", ein leichter Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen, bevor ihn seine Mimik wieder zur Kontrolle ermahnte. Er schwang sich aufs Pferd und blickte ungeduldig zu der Jüngeren herab, dass sie es ihm gleich täte. Die junge Prinzessin verkniff sich weitere Spitzeleien und stieg auf ihren geliebten Schimmel. Liebevoll strich sie ihm über den Hals.

"Bist du auch so gespannt wie ich?", fragte sie das Tier, welches mit einem Schnauben ihr zu antworten schien. "Wozu hätte ich denn sonst reiten lernen müssen, wenn ich nicht einmal über die Palastmauern hinaus darf?" Wie oft hatte sie gehofft, weit über das Herrschaftshaus blicken zu können. Augen wie ein Adler zu besitzen, dass sie den Horizont des Ozeans erfassten.

"Weil du sonst nicht wüsstest, womit du deine Freizeit ausschmücken könntest", ihr Bruder gab dem Pferd einen leichten Klaps.

"Du bist gemein", murmelte Eoweli und zog die Zügel fest zu sich heran, "dabei wollte ich mich heute ganz besonders gut benehmen, damit du es nicht bereust, mich zu deinem vorköniglichen Ritual mitgenommen zu haben."

"Ich zieh´dich doch nur auf, kleine Schwester", er ritt dicht neben ihr, dass er vorsichtig über die aufwendig geflochtene Hochsteckfrisur fuhr, "ich weiß doch, dass es die einzige Gelegenheit ist, dir unser Königreich zu zeigen. Heute, wo das Volk für meinen Segen betet."

"Und für deine Braut", hob Eoweli wissend den rechten Arm.

"Und für meine Braut" wiederholte Darets stoisch.

"Wie sieht sie eigentlich aus? Ich habe gehört, dass die Menschen aus dem Kontinent meist rote Haare haben und eine Haut wie eine Bronzestatue."

"Ammenmärchen", entgegnete ihr Bruder, "die Pangäsanen sehen schließlich auch nicht so aus."

"Wie sieht sie dann aus?"

"Darüber wurde nicht gesprochen."

Eoweli blinzelte: "Du weißt nicht, wie deine zukünftige Braut aussieht?", sie fuhr sich übers Kinn, "naja, das Aussehen ist nicht entscheidend. Solange sie nett ist-" Doch die Eisesstarre ihres Bruders ließ sie aufschreien, "waaaas?!", sie orderte ihr Pferd an stehen zu bleiben, "deine Hochzeit findet morgen statt und du weißt gar nichts über sie?

"Ich kenne ihren Namen. Mehr brauche ich nicht zu wissen."

"Aber-"

"Nichts aber", er sah sie eisig an, "in meiner Position sind solche Details nicht von Belang. Wichtig ist, dass sie unsere Handelsbeziehungen zum Kontinent stärkt."

"Wie schrecklich", flüsterte die Prinzessin und senkte ihr Haupt. Ihr Bruder hielt ebenfalls an und drehte seinen Kopf zu Eoweli. Seine gelben Augen sahen sie versöhnlich an: "Zerbrich' dir nicht den Kopf darüber. So gesehen ist das heute auch dein Tag. Erfreue dich lieber an dem Ausflug."

"Du hast recht, entschuldige", sie nickte ihm zu. Den Blick nach vorne zu den Palasttoren konnte sie nur erahnen, wie viel Schönheit dahinter verborgen lag. Die Prinzessin kannte lediglich die Bilder der Palastflure, von denen selbst ihr Bruder behauptete, dass sie nicht die wahre Schönheit Atlantis' einfangen konnten. Es hatte Eoweli immer mit Neid erfüllt, bloß die Tochter des Königs zu sein. Eine Position, in der die Mauern einem goldenen Käfig glichen. Einem behüteten, wohl wahr, aber bis auf den alljährlichen Blick von den Balkonen, wenn dem Volk die Tore geöffnet wurden, wusste sie nichts von der Außenwelt. Umso heftiger schlug ihr Herz als die Wachen ihre Schwerter zu sich ran zogen, eine Verbeugung taten und die Tore öffneten. Ihre Hände begannen zu zittern, dass sie die Zügel umso fester umklammert hielt. Bereits die ersten Schritte raubten ihr den Atem. Hinter den Mauern erstreckte sich ein langer Pfad, der von hohen, prächtigen Bäumen geleitet wurde. Dieser Pfad führte in die Innenstadt. Eoweli erkannte an jeder Ecke die bevorstehenden Feierlichkeiten. Einerseits von Freude erfüllt, versetzten ihr die Worte ihres Bruders noch immer einen Stich in der Brust.

Darets führte sie wortlos durch die Stadt. Entlang des Hafens und den kleinen Häusern, den Ständen und Springbrunnen. Sie ritten durch das Viertel der Pangäsanen, die sich auch in ihren Hütten zurückgezogen hatten. Anders als in den restlichen Vierteln der Insel lebten die Pangäsanen rustikaler als ihre Nachbarn. Statt marmorierter Bauten, bevorzugten sie Holzhütten, was diesem Teil der Stadt eine Exotik verlieh, die Eowelis Herz hüpfen ließ. Sie versuchte jede Kleinigkeit in sich aufzunehmen. Jedes Detail in ihrem Geist festzuhalten. Während ihres Ausflugs hielt Darets mehrmals an, stieg vom Pferd und sammelte die jeweiligen Gegenstände ein, die für das Ritual unabdingbar waren. Er zupfte Blätter von den Bäumen, pflügte Blüten vom Wegesrand und sammelte die Erde vom Pfad. Schließlich erreichten sie die Küste, Darets nahm einen spitzen Gegenstand, den er in seinem Umhang verstaut hatte und klopfte etwas Gestein ab. Eoweli schaute auf den Atlantik. Es gab nur Wasser und den Himmel, und die Prinzessin fragte sich, wie weit sie von dem Kontinent entfernt waren. Dann setzten sie ihre Reise fort und ritten zum Strand, dem wohl schönsten Ort auf der Insel. Der Geruch von Salzwasser war hier besonders stark. Die junge Prinzessin sprang von ihrem Pferd und schritt vorsichtig auf den Sand zu. Zwischen den Sandalen schlichen sich einzelne Krumen, die ihre Zehen kitzelten. Der Sand war weiß und weich wie ihre Kissen. Die Wärme, die er ausstrahlte, breitete sich bis in ihr Innerstes aus. Sie schloss die Augen und ließ die Brise durch ihre Haare wehen. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, bevor sie sich ernst zu ihren Bruder umdrehte, der sie aus dem Augenwinkel zu beobachten schien.

"Bruder", hauchte sie, "versprichst du mir, mich nicht an irgendeinen fremden Adligen zu verheiraten?"

"Eoweli", er kam auf sie zu und hob ihr Kinn an, dass ihre Augen einander musterten. Auf den ersten Blick waren es dieselben goldenen Iris'. Schließlich schüttelte er müde lächelnd den Kopf. "Mach' dir keine Gedanken darüber. Schließlich bist du doch noch ein Kind."

"Bin ich gar nicht", sie funkelte ihn böse an. Schließlich wurde die junge Prinzessin bald sechzehn Jahre und käme damit in ein heiratsfähiges Alter. Auch wenn sie noch keine richtige Vorstellung hatte, was sie von einem Mann erwartete. Gerade als sie ihm all die Gründe aufzählen wollte, weshalb sie sehr wohl kein Kind mehr war, drang ein eigenartiges Geräusch zu ihnen durch. Wie ein Klopfen, nur intensiver. Darets drehte sich in Richtung der Höhle, die sich nur unweit von ihnen befand.

"Was war das?", erneut drang ein Klopfen zu ihnen durch.

"Es klingt, als wäre jemand in der Höhle."

"Aber-"

"Ich weiß. Den Bewohnern ist es verboten, heute durch die Insel zu wandern. Kaum vorstellbar, dass sich jemand nicht an die Gesetze hält. Dieser Verstoß gleicht einem Verrat." Darets ließ seine rechte Hand über seine Hüfte wandern. Der Knauf seines Schwertes lag auf seinen Fingern. Seine Reaktion beunruhigte sie. "Und wenn es wieder diese Wassermutanten sind, von denen Vater berichtet hat." Sie schüttelte sich.

"Nein", antwortete er trocken, "nicht in diesem Teil der Insel. Diese Kreaturen können nicht über Sand laufen. Zumindest diese nicht." Er hob seinen freien Arm, während er die andere in seinen Umhang verschwinden ließ. "Eoweli. Du bleibst hier und wartest."

"Aber-"

"Keine Widerrede. Ich komme, sobald ich geklärt habe, was dort vor sich geht."

Sie biss sich auf die Lippen. Ihr Bruder schritt auf die Höhle zu. Kaum eingetreten, war er auch schon aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Ihr gefiel es nicht, dass ihr Bruder sie hier alleine zurückgelassen hatte. Zumal sie der Gedanke erschreckte, dass dort Kreaturen auf ihn lauern könnten, denen er als einzelner nicht gewachsen war. Ihre Beine zitterten - und trotzdem: sie musste ihm folgen. Ganz gleich, was er zu ihr gesagt hatte, sie musste ihn in Sicherheit wissen. Langsam näherte sie sich der Höhle. Schwüle Luft kam ihr entgegen. Zunächst war alles von Dunkelheit erfüllt, als sie jedoch den Mut fasste, weiter zu schreiten, blendete sie ein Funkeln. Sie blinzelte und starrte auf die Wände. Dutzende Steine leuchteten in blauen und roten Tönen. Schöner als jeder Diamant, den sie gesehen hatte. "Einfach atemberaubend", sagte sie.

"Eoweli!", die aufgebrachte Stimme ihres Bruders riss sie aus ihren Träumereien, "ich sagte dir doch, du solltest draußen auf mich warten."

"Denkst du, ich lasse dich einfach so gehen", entgegnete sie und stemmte die Hände in die Hüften, "ich habe mir auch Sorgen gemacht."

"Völlig unnötig", Darets hatte von seinem Schwert gelassen, "hier scheint niemand zu sein. Obwohl-", er drehte seinen Kopf als suchte er etwas. Bevor Eoweli etwas sagen konnte, spürte sie es auch. Eine Präsenz.

"Sieh' mal", murmelte die Prinzessin und zeigte rechts neben ihrem Bruder. Sie kam auf ihn zu und zusammen blickten sie auf einen großen Stein, der an eine der Steintafeln im Palast erinnerte. Darin waren zwei weitere Steine eingefasst. Der eine war türkis und mit seltsamen Zeichen versehen, der andere leuchtete rot und besaß eine spiralförmige Gravur.

"Endlich." Die Stimme ließ Eoweli und Darets gleichzeitig aufschrecken.

"Wer ist da!", fand der Ältere als erster die Fassung wieder.

"Eure Bestimmung. Sie ist nah", sprach die Stimme, die weder männlich noch weiblich zu sein schien, wenn sie überhaupt menschlich war. Kommt zu mir, meine Diener. Nehmt euer Schicksal an.

"Glaub' ihm kein Wort", knurrte Darets. Doch Eoweli hörte ihn kaum noch. Die Stimme hatte sie eingenommen, dass sie starr auf den roten Stein blickte. Es war als spräche er zu ihr. Das Verlangen, ihn zu berühren, stieg ins Unermessliche. Das Rauschen der Stimme ihres Bruders verebbte. Auch Darets kämpfte gegen die unsichtbaren Kräfte. Beide erlagen der Stimme, die sie wie eine Mutter in den Schlaf wiegte. Doch statt zu schlafen begann sich der Raum zu drehen. Farben verschmolzen miteinander. Die Stimme hämmerte in ihren Köpfen. "Kommt und seht, was noch keinem Menschen gewährt wurde" Eowelis Hand berührte den roten Stein. Ein grelles Licht blendete ihre Augen. Es war als würde sie in die Tiefe gerissen werden. Ihr Körper wurde magnetisch angezogen. Sie stolperte und fiel nach vorne. Zwei starke Armen hielten sie fest. Ihr Bruder stand vor ihr. Sein Blick war wirr. Die Standfestigkeit war ihm entglitten.

"Was ist passiert?", murmelte Eoweli. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht mehr in der Höhle waren.

Die fremde Stimme, ausgebrochen aus Raum und Zeit, die seit Jahrhunderten unbemerkt existiert hatte, hatte nun ihre rechtmäßigen Diener gefunden. Zwei Seelen, die das Herzstück Atlantis' widerspiegelten, waren dazu auserwählt, durch den Schleier zu treten. Eine Welt zu sehen, die über tausende von Jahren koexistierte, nur für die Menschen verborgen blieb. Eine Welt, die von Wesen mit besonderen Fähigkeiten bewohnt wurde. Magier, Krieger, Ungeheuer und Drachen. Sie lebten auf der anderen Seite - in Zivilisationen, welche die Menschheit so noch nicht gekannt hatte. Viele von ihnen lebten in großen Stämmen, andere wiederum hatten riesige Paläste erbaut. Elfen, geflügelte Wesen - ihre fortschrittliche Lebensweise war den Erben von Atlantis fremd. In rauschender Geschwindigkeit, die kaum ein Geist auszuhalten vermochte, überquerten sie die Länder und Reiche - die Wüsten und Steppen. Sie sahen die Wälder und Gebirgsketten. Magie erfüllte die Luft, schwingende Flügel ließen Stürme entstehen. Diese Kraft blendete die Geschwister, entriss sie ihrer Wurzeln. Immer wieder sprach die Stimme zu ihnen. Sprach von Schicksal, Bestimmung und Geschenk. Dass sie die Macht erhielten, das Tor zur anderen Seite zu öffnen - und es wieder zu schließen. Der türkis-farbene Stein, Orichalcos, entschied sich für Darets. Mit ihm war es dem künftigen Herrscher von Atlantis möglich, das Tor zur anderen Welt zu schließen. Der rote Stein, Kinnavaritis, hatte die Schwester auserkoren. Dieser öffnete das Tor zur anderen Welt. Beide Kräfte vereint konnten die Welten miteinander verschmelzen lassen oder sie auf ewig voneinander entreißen. Ein unabdingbares Bündnis zwischen den Menschen und denjenigen, welche die andere Welt als ihr Zuhause bezeichneten - ganz gleich, welchen Weg sie wählten sollten.
 

Mit einer Wucht wurden die Geschwister zurück in ihre Welt geschleudert. Die Steine hatten sich von ihrer Tafel gelöst und lagen nun auf dem Schoß ihres rechtmäßigen Besitzers. Eoweli verlor das Bewusstsein, nachdem sie durch das Portal gerissen worden waren. Sie bemerkte nicht, dass ihr Bruder sie auf Händen nach draußen getragen hatte, dort auf sein Pferd gestiegen und mit den Zügel des Schimmels in den Palast geritten war. Die Prinzessin schlief an seiner Brust, während Darets eigener Herzschlag in seinen Ohren hallte. Erst am späten Abend erwachte die Prinzessin und sah sich erschrocken im Zimmer um. Sie lag in ihrem Bett, weiche Laken umhüllten ihren fröstelnden Körper.

"Hast du dich erholt?", die Stimme ihres Bruders erschreckte sie. Darets saß neben dem Bett, die Hände ineinander verhakt blickte er ernst zu seiner jüngeren Schwester herunter. Trotz der Dunkelheit sah sie das Glühen seiner Augen. Nur langsam nickte sie. "Es ist nur...mein Kopf. Er fühlt sich...seltsam an. Das...das war kein Traum - oder?"

Er deutete auf ihren Hals. "Diese Steine. Sie weichen uns nicht mehr von der Seite. Ich hab sie provisorisch in Ketten gefasst, damit wir nicht all zu viel Aufsehen erwecken. Es war ohnehin schwierig, Vater davon zu überzeugen, dass dein Zustand auf eine Überreizung zurückzuführen ist."

"Was hast du ihm gesagt?"

"Dass dich der Ausritt zu sehr angestrengt hat und du auf dem Heimweg eingeschlafen bist." Sie konnte sich König Eisenherz' Skepsis vorstellen. Die Prinzessin sah zu sich herunter. Der rote Stein funkelte schwach, doch seine Aura war überdeutlich. Als wollte sie das Schmuckstück erneut von dieser Welt entreißen. Es ergriff sie ein schaudern. Nicht, weil sie sich davor fürchtete. Vielmehr einem ungestillten Verlangen gleich. Sie hatte so viel gesehen. Mehr als sie sich jemals erträumt hatte. So viele Wunder, die Natur, die Wärme, die Wesen, die ihnen nicht feindlich gesonnen schienen (auch wenn ihr Blick mit Vorsicht auf ihnen geruht hatte). Die Reise durch das Portal hatte sich wie Tage, nein Wochen angefühlt. Dabei waren keine fünf Minuten vergangen - wie sie von ihrem Bruder erfuhr, der die nachfolgenden Stunden in kurzen Sätzen beschrieb.

"Dieser Ort fühlte sich in meinem Inneren wie ein Stück Heimat an", schwärmte die Prinzessin, "als wären wir dorthin zurückgekehrt, wohin wir gehören. Meinst du, wir könnten-"

"Schluss damit", Darets krallte die Finger ins Laken, "du musst eines verstehen: dieser Ort ist nichts für Menschen. Sie haben dort nichts zu suchen - begreifst du?"

"Sie sagten uns doch selbst, dass sie uns Einlass gewähren. Dass es ihr Geschenk ist - als Zeichen der Freundschaft. Stell' dir nur einmal vor, was das für unser Volk bedeutet. Wir könnten ein ganz neues Leben führen."

"Eoweli", Darets Stimme begann leicht zu knurren, "das Volk darf niemals davon erfahren. Wenn dieses Wissen in die falschen Hände gerät - kannst du dir vorstellen, was für eine Katastrophe entstehen könnte? Es ist zu gefährlich. Wir müssen dieses Geheimnis für uns behalten." Er tat einen tiefen Atemzug. "Ich bitte dich, du musst mir vertrauen. Nicht einmal Vater darfst du davon erzählen."

"Ich verstehe das nicht", Wehmut packte sie.

"Meine kleine Schwester", er erfasste ihren Arm, bemüht, sanft zu ihr zu sprechen, "ich verspreche dir, ich werde dem Königreich Atlantis den Fortschritt bringen, den es verdient hat. Unser Wissen wird nicht nutzlos gewesen sein. Nur appelliere ich an deine Vernunft und an dein Vertrauen in mich - überlass' dieses Wissen mir. So ist es besser für uns alle."

"Also schön", seufzend resignierte sie, "du hast recht, Bruder. Du kannst auf meine Unterstützung bauen. Ich werde niemandem von unserer Entdeckung berichten."

"Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann", er lächelte und ließ von ihrer Hand, "ruh' dich noch etwas aus", damit erhob er sich, "morgen ist ein wichtiger Tag." So wie er sprach, klang es als wäre er mehr für Eoweli von Belang, doch sie wollte nichts darauf erwidern. Ihre Kräfte waren schwach und sie wollte ihrem Bruder nicht noch mehr aufbürden als er es ohnehin schon getan hatte. Wieder einmal übernahm Darets die volle Verantwortung. Wie so oft legte sie die Schwierigkeiten in seine Hände. Nur diesmal ließ es sie mit Besorgnis zurück.

Nachdem König Eisenherz seine Krone dem rechtmäßigen Erben weiter gereicht hatte, schien es als riefe ihn seine Gemahlin zu sich. Der alte Herrscher erkrankte - und trotzdem hatte er die letzten Tage vor seinem Tod ein Lächeln auf den Lippen. Mit dem Wissen, sein Reich in gute Hände gelegt zu haben, war er schließlich eingeschlafen. Der Tod König Eisenherz' ließ einen siebentägiger Trauermarsch ausbrechen. Die Bewohner von Atlantis erwiesen ihrem ehemaligen König die letzte Ehre und schritten mit Tränen in den Augen zu den Palasttoren. Sie legten kleine, geflochtene Rosenkränze nieder und knieten vor den Mauern. Damit war nun endgültig das Zeitalter der einstigen Herrschaft vorüber. Die neue Regentschaft, die durch Darets neue Reformen erfuhr, erlebte schon bald einen Fortschritt, der Atlantis um hunderte von Jahren vorstoßen ließ. Das Reich erlebte einen nie da gewesenen Wohlstand. Außergewöhnliche Technologien erleichterten den Bewohnern das Leben. Ihr neuer König führte sie in neue Riten und Gesetze ein, die das Volk als ein von den Göttern gegebenes Geschenk bezeichnete, da niemand wusste, woher der Herrscher sein plötzliches Wissen erlangt hatte. Sie fragten auch nicht danach. Frieden beherrschte Atlantis. Die Untergebenen verehrten ihren König, der Wissen und Reichtum mit ihnen teilte. Das Leben schien perfekt. Zumindest für diejenigen, die im Sinne des Reiches agierten. Die sich anpassten und ihr auserwähltes Los widerstandslos akzeptierten. Individualität wurde in dem neuen Reich nicht akzeptiert. Jeder Bewohner hatte seine Aufgabe, sein von Geburt bestimmtes Schicksal. Freiheit wurde nur denjenigen gewehrt, die die Augen vor wahrer Freiheit verschlossen hatten. Die nicht nach Höherem strebten und schon gar nicht gegen die Meinung des Königs hetzten. Die Ruhe, die lediglich an der Oberfläche existierte, wurde bald von Gerüsten des Missmuts getragen. Diejenigen, die sich weigerten, mit dem Strom zu schwimmen, wurden Ausgeschlossene. Es formierte sich eine Gruppe von Rebellen. Die Pangäsanen, einst gleichgestellte Bürger des Reiches, wurden aus dem Herzen der Insel vertrieben und mussten ihr Dasein in den dunkelsten Ecken von Atlantis fristen. Der Frust der Minderheit wuchs und schließlich wurde er zur tragenden Säule des Widerstands.
 

Es war um die Mittagsstunde als Prinzessin Eoweli durch die Palastflure wandelte. Ihr Kopf schmerzte seit Tagen. Sie musste wohl ihre heimlichen Ausflüge auf die andere Seite für eine Weile einstellen. Ihr Blick wurde trüb. Anfangs nur in Maßen besuchte die Prinzessin nun des Öfteren jenen wundersamen Ort, der sie stets Lächeln ließ, sobald sie den Schleier durchschritten hatte. Die geografische Nähe zu ihrem Bruder erlaubte es ihr, die Macht seines Steins zu nutzen, ohne ihn davon in Kenntnis setzen zu müssen. Diese Gabe beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch Darets verreiste zuweilen. Von seinen morgendlichen Ausflügen wusste nur Eoweli, dass sie manchmal von ihrer Schwägerin aufgehalten und nach dem Aufenthalt ihres Bruders befragt wurde. Jedes Mal hallten die Worte von damals wider. Ihr Schweigen, das einem Schwur gleich kam. Es drückte wie ein Fels auf ihrer Brust. Vor allem seit Gerüchte den Palast erreicht hatten.

"Ich muss meinen Geist ausruhen", murmelte die Prinzessin und lief an einem der Diener vorbei, der Eowelis Selbstgespräche ignorierte und eine tiefe Verbeugung tat. Sie lächelte schwach, jede Regung ihrer Gesichtsmuskeln schmerzte. Wortlos zog der Diener in die entgegen gesetzte Richtung weiter als ein kleines, zusammen gefaltetes Stück Papier aus seinem Ärmel flog und direkt vor den Füßen der jungen Prinzessin landete. Der Diener schien nichts bemerkt und lief einfach weiter, doch Eoweli bückte sich hinunter und hob es auf. Mehrmals musste sie das Blatt auffalten, bis es seine wahre Größe erreicht hatte. Ihre Finger verkrampften. Die Zeichen und das Wappen - sie hatte von ihnen gehört. Das Symbol der Rebellenarmee. Mythos innerhalb der Schlossmauern, riss das Schriftstück sie aus ihrer Traumblase. Sie wollte nicht, dass die Gerüchte stimmten. Wenn nur ein Funken Wahrheit in ihnen lag, verschwand der Schutzwall aus absolutem Vertrauen und grenzenloser Loyalität, die sie ihrem Bruder geschworen hatte. Eoweli biss sich auf die Lippen. Konnte sie in all der Zeit wirklich so blauäugig gewesen sein? Oder hatte sie einfach nur weg gesehen, wie viele andere auch?

"Prinzessin", eine Wache verbeugte sich vor dem Eingang zu den Schlossgärten. Hastig knüllte sie das Blatt in ihre linke Faust und nickte der Wache zu, bevor sie kehrt machte und dem Diener folgte, der in den Ostflügel verschwunden war. Die Treppenstufen hinaufgestiegen, fand sie ihn am Eingang der Wäschekammer. Eoweli drehte ihren Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie niemand bemerkte. Die Wachen standen vor den Flügeltüren, die zu den Gemächern der Königin führten und zwei Waschfrauen huschten an ihr vorbei, die Arme voll mit frisch gewaschenen Laken. Im Winkel der Gemäuer fiel sie kaum auf.

"Amedessin", sprach sie den Diener laut seines Titels an, dass dieser sein Gesicht der Prinzessin zuwandte. "Ich glaube, das gehört dir." Die Faust lösend erstarrte der Diener. Sein Mund blieb halb geöffnet, er atmete schwer. Eoweli bedeutete den bleichen Mann, die Kammer zu öffnen. Mit zittrigen Fingern riss er die Klinke herunter. Sie traten ein. Die Tür fiel ins Schloss und der Diener fiel zu Boden. Er drückte die Stirn auf die kalten Fliesen, die Hände verfehlten nur knapp ihre Fußspitzen. Sein Wehklagen schnürte ihr den Magen zu.

"Prinzessin", schluchzte er, ohne sein Gesicht vom Boden zu heben, "es ist alles meine Schuld! Ich würde Euch und Eurer Familie niemals schaden wollen. Meine Treue zum Königreich...bitte, bestraft mich! Nur tut meiner Familie nichts. Meine Kinder-"

"Erhebe dich", sprach die Prinzessin und spürte, wie sie selbst zu zittern begann. Der Diener gehorchte und erhob sich taumelnd.

"Was weißt du darüber?"

Er wischte sich die Tränen von der Nase und antwortete: "Ich weiß nicht viel, ich schwöre. Meine Frau - ihre Familie gehört zu den Pangäsanen. Sie haben ihre Arbeit verloren. Wir mussten aus der Stadt, ich...ich wusste nicht-"

"Schon gut", versuchte sie ihn zu besänftigen, "du musst dich nicht rechtfertigen. Also stimmt es, dass sie vertrieben wurden."

"Die meisten von ihnen verließen freiwillig die Stadt. Aber einige wurden des Nachts aus ihren Häusern verjagt. Die Stadtwache kam schließlich zu uns. Sie nahmen uns alles, sie drohten meiner Frau...auf Grund meiner Arbeit im Palast haben sie uns eine Schonfrist gegeben, aber-", er ließ den Kopf hängen, "ich schwöre, wir haben nichts getan. Wir haben immer der Krone gedient."

"Nun gut", Eoweli schloss die Augen, "ich werde dich nicht verraten." Langsam blickte er auf. "Ihr-", blinzelte der Diener.

"Unter einer Bedingung", sie faltete die Hände vor der Brust, wie sie es bei ihrem Vater oft gesehen hatte, "du bringst mich zu ihnen. Ich will den Anführer der Rebellenarmee treffen."

Seine Augen weiteten sich. "Aber Prinzessin-" Doch Prinzessin Eoweli winkte ab. "Keine Widerworte! Dir bleibt keine Wahl als meinem Befehl Folge zu leisten." Für einen Augenblick schien er nicht glauben zu wollen, was sie ihm gesagt hatte. Schließlich verbeugte er sich: "Wenn der letzte Glockenschlag ertönt, werde ich zweimal an Eure Zimmertür klopfen. Ich kenne einen Weg durch den Palast, durch den Ihr Euch unbemerkt hinaus schleichen könnt. Von dort führe ich Euch zum Stützpunkt der Rebellenarmee."

"Ich danke dir", sagte Eoweli, doch der Diener schüttelte den Kopf.

"Ich bin es, der Euch ein Leben lang dankbar sein wird, Prinzessin. Eure Großherzigkeit werde ich Euch nie vergessen." Damit verließ sie die Wäschekammer. Zweimal ein- und ausgeatmet schritt sie durch den Flur. Ihr Herz raste, sie musste ihre Hände unter ihren Ärmeln verstecken, damit niemand das Beben sehen konnte.

Bis zum letzten Glockenschlag war es noch lang und die Prinzessin wusste nicht, wie sie die Zeit überstehen sollte, ohne aufzufallen. Sie musste ihrem Bruder aus dem Weg gehen, der als einziger misstrauisch werden könnte. Er konnte in ihrem Gesicht besser lesen als jeder andere. Glücklicherweise war er den Tag über beschäftigt - wie die meiste Zeit, dass sie lediglich zum Abendmahl eine gespielt fröhliche Miene aufsetzen musste. Darets, der seit Tagen angespannt wirkte, sah kaum von seinem Teller auf, geschweige denn war er gewillt, mit irgendeinem am Tisch Konversationen zu führen. Die Stunde rückte immer näher und Eoweli lief in ihrem Zimmer auf und ab. Noch lag ein Rest Zweifel in dem, was sie beabsichtigte zu tun. Ihr Handeln glich einem Verrat, ganz gleich, wie nahe sie dem Königshaus stand. Ihr war es nicht einmal gestattet, nach Mitternacht das Schlafgemach zu verlassen. Sie schlang die Arme um die Brust. Jetzt hatte sie noch die Möglichkeit, ihre Entscheidung zu überdenken; alles auf sich beruhen zu lassen. Vielleicht stellten sich die Ereignisse doch als plausible Notwendigkeit heraus. 'Nein', sie presste die Lippen zusammen. Sie brauchte Gewissheit. Eoweli musste mit eigenen Augen sehen, was hinter den Palastmauern vor sich ging. Als es zweimal an ihrer Tür klopfte, schüttelte sie ihre Gewissensbisse von sich.

"Seid Ihr soweit, Prinzessin?", der Diener verbeugte sich und überreichte ihr einen weißen Umhang, wie ihn die Dienerschaft bei Nacht zu tragen pflegte. Die junge Prinzessin warf sich den übergroßen Stoff über und nickte. Gemeinsam durchquerten sie die Flure. Vorbei an den königlichen Gemächern, schnürte sich ihre Kehle immer weiter zu. Frische Abendluft ließ ihren Kopf klarer werden als sie es endlich aus dem Palast geschafft hatten. Durch verwinkelte Gänge waren sie gelaufen, an müden Wachen vorbeigeschlichen, welche die zwei kaum bemerkt hatten. Die Keller hatten sie durchwandert, bis ein kleines Schlupfloch sie außerhalb der Mauern gebracht hatte. Ein kurzer Blick über den Felsvorsprung ließ alt bekannte Bilder aufflammen. Eoweli fasste sich an die Brust. Die Nacht hatte die Insel verändert. Dies war nicht das kleine Paradies, von dem sie in sehnsuchtsvollen Erinnerungen schwelgte. In Schwärze getaucht glich es einem düsteren Vorboten, der sie in die eigentliche Finsternis führte. Weit von der Innenstadt und seinen friedliebenden Bewohnern erreichten sie die südliche Grenze. Verwahrloste Gegenden, Hungerleider an den Häusermauern - Eoweli lief an ihnen vorbei als schlafwandelte sie bloß. Finstere Blicke versuchten durch ihre Kapuze zu gelangen. Sie wussten, dass sie nicht zu ihnen gehörte. Ihre Art zu gehen, sich zu bewegen - es verriet sie.

"Hier lang, Prinzessin", flüsterte der Diener, der sich dicht neben sie gestellt hatte, dass sie seine eigene unregelmäßige Atmung bemerkte. Sachte schob er sie durch die nächste Gasse, aus der ein eigenartiger Geruch kam. Metall und Abfälle schienen sich hier zu sammeln. Die junge Prinzessin hielt den Atem an, bis etwas ihre Beine kreuzte. Im letzten Moment drückte sie die Hand auf ihren Mund. Das Tier war schneller durch die Wand geklettert als sie hinterher sehen konnte. Sie schüttelte sich.

"Seht Ihr die mit Kreide gezogene Linie auf dem Boden?", der Diener zeigte auf das Ende der Gasse, "ab hier kann ich Euch nicht länger begleiten. Bitte verzeiht, aber...wenn sie wissen, dass ich Euch zu ihnen gebracht habe-"

"Ich verstehe schon", flüsterte Eoweli zurück.

"Geht solange geradeaus, bis Ihr ein Haus mit roten Laken vor der Tür entdeckt. Eine Luke führt direkt ins Hauptquartier. Ihr müsst vor dem linken Fenster stehen und dreimal mit den Fingerspitzen an die Fensterscheibe klopfen. Jemand wird Euch öffnen. Prinzessin", er neigte sein Haupt, "seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt?"

"Ich bin so weit gekommen", entgegnete Eoweli, "ich muss wissen, was sie wollen und warum sie so ein Leben führen müssen."

Der Diener nickte: "Ich werde hier solange auf Euch warten. Denkt an den Sonnenaufgang. Spätestens zum ersten Morgengruß müsst Ihr zurück auf Eurem Zimmer sein."

"Ja", damit drückte die Prinzessin seine Hand, bevor sie los eilte. Am Ende der Gasse angelangt wurden ihre Schritte schwächer. Sie war es nicht gewohnt, so lange und steinige Strecken zu laufen. Ihre Beine schmerzten, sie spürte, wie die Müdigkeit anklopfte. 'Noch nicht', sie rieb sich die Oberarme und vertrieb die Gänsehaut.

"Na, wen haben wir den hier?" Eoweli drehte sich zur Seite. An einer halb abgebrannten Hütte lehnten zwei Männer und grinsten schief.

"Wer hat sich in unser Gebiet verlaufen?", sprach ein großer, schlacksiger Kerl und schubste sich von der Mauer ab.

"Ein Städtler, keine Frage", antworte ihm ein kräftiger Kerl, dem beide Schneidezähne fehlten. Sie umkreisten die junge Prinzessin, die sich nicht von der Stelle regen konnte. Dabei schrie ihr ganzer Körper nach Flucht. Einer der Kerle fasste nach ihrem Umhang, während der andere sie weiterhin umkreiste.

"Ein hübsches Stück Stoff hat sie da", lächelte der Schlacksige und zog ein Messer aus seiner Hosentasche, "wer weiß, was sie alles darunter versteckt hält."

"Und selbst wenn", der andere hatte sie von hinten gepackt, dass die letzte Chance auf Flucht vertan war, "wir werden schon unseren Spaß bekommen." Eoweli versuchte ihre Beine zu bewegen, doch sie wurde nur ausgelacht.

"Wie süß", lachte der Kräftige und drückte sie noch fester an sich, "das Ding hier versucht sich zu wehren. Weißt du denn nicht, dass du in diesem Teil der Insel nichts zu sagen hast?"

"Dasselbe könnte man auch über dich sagen", mischte sich eine dritte Stimme ein.

"Wer war das?", rief der Schlacksige und brachte sich in Angriffsposition. Direkt hinter ihm, aus dem Wipfel eines Baumes, sprangen zwei Männer auf sie zu. Noch bevor er reagieren konnte, hatte der Größere ihm sein Messer entwendet und den Kräftigen einen Tritt ins Schienbein verpasst, dass er die Hände von Eoweli ließ und nach hinten kippte. Er wollte sich gerade aufrappeln, als sich der zweite breitbeinig hinter ihm stellte, die Hände in die Hüften gestemmt. Der Große jedoch zog ein Schwert und hielt es dem Schlacksigen vor's Gesicht: "Ihr zwei Taugenichts solltet besser in eure Rattenlöcher zurückkehren.

"S-schon verstanden", stammelte er und hielt zur Kapitulation beide Hände in die Höhe. Der Große zuckte lediglich mit den Schultern und beide Männer rannten los.

"Und nun zu dir", er drehte seinen Kopf und blickte auf das verdeckte Gesicht der Prinzessin, "jeder weiß, dass er zu dieser Stunde hier nichts verloren hat. Entweder du bist sehr dumm oder du suchst den Tod." Er streckte ihr sein Schwert entgegen, dass die Spitze ihre Kapuze berührte. Eoweli bewegte sich nicht, sie war noch in Schockstarre als er ihr die Kapuze vom Gesicht zog und seine Augen in ihre glasigen Seelenspiegel blickten. Ein eiskalter Blick begegnete ihr - selbstsicher, machtvoll und überlegen.

"Ein Mädchen", seine Stimme schien sie verspotten zu wollen, dass sie die Lippen zusammen presste, um nichts Unüberlegtes zu sagen.

"Anführer", sprach zum ersten Mal der andere, "seht nur - blaue Haare. Sie muss königliches Blut in sich haben. Vermutlich die Schwester des Königs."

"Ist das so?", er sah sie durchdringend an. Sie verfluchte es, seinen Blicken nicht ausweichen zu können. Der Mann vor ihr war ihr nicht nur um anderthalb Köpfe überlegen. Seine gesamte Haltung demonstrierte seinen Vorteil gegenüber der schwächlichen Prinzessin, die froh war, die Nacht auf ihrer Seite zu haben. So hatte er ihre glühenden Wangen nicht bemerken können, als er sie so verhohlen angesehen hatte.

"Bist du etwa eine stumme Prinzessin?", fragte er und klopfte sich mit dem Schwert auf die Schulter. Erst jetzt fiel ihr die sonderbare Kleidung auf. Der große, junge Mann trug braune Gewänder mit blauen und grünen Bändern um die Taille. Er besaß zu beiden Seiten Armschienen, in denen sich kleine, spitze Gegenstände befanden. Um seine Stirn hatte er ein dunkelrotes Band gewickelt, aus dem schwarze Federn an den Seiten hervor lugten. Noch nie hatte Eoweli einen Pangäsanen von Nahem gesehen. Seine Statur stand der eines Kriegers in nichts nach. Arroganz leuchtete in seinen blauen Augen, während er weiterhin keine Antwort erhielt.

"Was gedenkt Ihr, mit ihr anzustellen, Tiwaz?"

Er sah sie weiterhin durchdringend an. "Wenn dir dein Leben lieb ist, solltest du jetzt sprechen."

"Ich", Eoweli ballte die Hände zur Faust, "ich bin Prinzessin Eoweli. Ich bin hierher gekommen, um den Anführer der Rebellenarmee aufzusuchen."

"Prinzessin Eoweli", wiederholte ihr Gegenüber, "sucht nach dem Anführer der Rebellenarmee. Weiß Prinzessin Eoweli denn nicht, dass sie nach Ausgestoßenen sucht, die als der Kadaver des Reiches bezeichnet wurden? Oder hat man Euch als Todesengel zu uns geschickt?" Hinter ihr lachte sein Begleiter auf.

"Ich bin hier", antwortete Eoweli, "weil ich dem Anführer eine Frage stellen will." Sie trotzte seinen Blick, dass er daraufhin zu schmunzeln begann. "Sie will ihm also eine Frage stellen. Und dafür kommt sie extra aus ihrem goldenen Käfig...um mir eine Frage zu stellen. Und was passiert dann? Glaubt sie, sie kann danach einfach wieder zurück in ihr Schloss spazieren? Solch eine Naivität kann ich nicht einmal verurteilen."

"Ihr urteilt, noch bevor Ihr meine Frage gehört habt."

"Eine Prinzessin, die sich in unser Revier schleicht - wie soll ich sie denn sonst bezeichnen?"

"Vielleicht habt Ihr recht und ich bin ich einfach nur naiv", sie blickte zur Seite, "aber wie kann ich länger die Augen vor der Wahrheit verschließen? Wenn das naiv ist, dann bin ich es gerne. Oder dumm - wie auch immer, Ihr mich bezeichnen wollt. Aber ich werde keine Ruhe geben, bis ich eine Antwort bekommen habe."

"Dann stell' deine Frage", antwortete er ihr und ließ die Augen zu gefährlichen Schlitzen werden.

"Warum lehnt Ihr euch gegen das Königreich auf?"

"Das ist deine Frage?" Aber sie sah ihn nur auffordernd an. "Wie könnte jemand, der in einem Luftschloss lebt und von allen nur hofiert und verhätschelt wird, etwas von unseren Beweggründen verstehen?"

"Ihr weicht meiner Frage aus." Sie funkelte ihn an, mit aller Würde, die sie aufbringen konnte.

"Wir wollen unser Leben zurück", der Satz hallte durch sie hindurch, "unsere Freiheit, unser Recht selbstständig und offen zu denken. Das Königreich glaubt, uns mit seinem Reichtum und Fortschritt einwickeln zu können. Aber was bedeuten diese Dinge, wenn die Menschen nicht frei handeln und leben können? Sie bedeuten nichts. Den meisten ist es vielleicht gleich, wenn sie wie Marionetten an den Fäden gezogen werden. Uns Pangäsanen ist nichts heiliger als unser freier Wille, den wir mit aller Macht verteidigen."

"Aber habt ihr denn nicht immer in Frieden auf Atlantis gelebt?"

"Unter König Eisenherz mag es nicht immer Einigkeit gegeben haben, doch wir konnten immer auf unsere Freiheit appellieren. Der neue Herrscher preist den Frieden an, doch müssen meine Leute die Schmach und Gewalten der königlichen Armee erdulden. Weil wir unser aufgezwungenes Los der Knechtschaft abgelehnt haben. Weil unser Volk seine Bräuche ehrt, obwohl der König keine Randideologien duldet. Weil wir nur Frieden erhalten, wenn wir unsere Identität aufgeben. Diesen Frieden lehnen wir ab."

"Würdet Ihr eine neue Heimat wählen?"

Er lächelte, dass es seine Augen nicht erreichte. "Wie stellst du dir das vor? Wir haben nicht genug Boote, geschweige denn die richtige Ausrüstung. Die Leute würden verhungern, noch bevor einer von ihnen den Kontinent sieht."

"Und wenn es einen anderen Ort gäbe? Ganz in der Nähe?"

"Was soll das für einer sein?"

Ihre Hände berührten den Stein an ihrer Kette. "Ein Ort, an dem es mehr als grenzenlose Freiheit gibt."

"Vielleicht bei den Göttern "

"Ich meine es ernst. Ich würde Euch gerne zu diesem Ort führen. Vorausgesetzt ich kann Euch vertrauen."

"Du meinst, du könntest einem Pack Rebellen vertrauen? ... Hm, andererseits, warum sollte ich einer Prinzessin trauen? Ich denke, das ist nur gerecht, wenn beide Parteien misstrauisch sind."

"Ihr glaubt mir also?", sie blickte ihn perplex an.

"Von Glauben ist keine Rede. Aber, wenn sich die Schwester des Königs nicht einfach nur hierher verlaufen hat, denke ich, kann es nicht schaden, den Grund für ihren Besuch herauszufinden. Danach können wir entscheiden, was wir mit ihr anstellen werden." Damit sah er zu seiner Begleitung, die lediglich nickte.

"Ich will", dabei kam er näher an die Prinzessin heran, dass er sich leicht zu ihr herunter bückte, "dass zwei meiner Männer mit mir kommen. Nur für den Fall, dass es sich doch um einen Hinterhalt handelt."

"Glaubt Ihr, dass ich als Köder fungiere?"

"Sag' du es mir: würde der König seine eigene Schwester ans Messer liefern?" Eoweli schluckte. Ihr Bruder wäre nie im Stande, ihr etwas anzutun. Aber bis vor Kurzem konnte sie auch nicht glauben, dass Darets seine Untertanen zu solch einem Leben verbannen könnte.

"Einverstanden", sagte sie, die Frage ignorierend und sah sich um, "wir brauchen ein Boot. Ein Ruderboot sollte völlig ausreichen. Ich will es nicht auf dem Land machen."

"Anführer Tiwaz, wisst Ihr, wovon sie da spricht?"

"Wer weiß", er steckte sein Schwert zurück in die Scheide, "lassen wir uns überraschen."

"Seit wann handelt Ihr aus dem Bauch heraus?"

"Das Mädchen hier hat mich einfach neugierig gemacht. Und selbst wenn sie uns eine Falle stellen sollte", er verschränkte die Arme vor der Brust, "sind wir diejenigen, die im Vorteil sind. Also, Heron, ich denke, du solltest Alep Bescheid geben, dass er sich an unsere Anlegestelle begeben soll. Sie und ich", er packte sie bei der Schulter, "wir werden schon mal vorgehen."

Der Begleiter salutierte und zog dann ab.

"Es ist besser, du stülpst dir dein weißes Laken wieder über den Kopf. Mit diesen Haaren erregst du nur Aufsehen und am Ende muss ich dich wegen ihnen töten."

"Ihr seid ein richtiger Charmeur", brummte Eoweli, die sich von dem Anführer durch das Viertel schleifen ließ. Tiwaz lachte auf. Kein wirklich freundliches Lachen, aber besser als dieses falsche Lächeln, dass die Dominanz in seinen Augen nur noch stärker zur Geltung gebracht hatte und Eowelis Feuer entfachte, das sie nur schwer zu zügeln wusste.
 

Bis zu jener Anlegestelle war es nicht weit und als sie den Ort erreicht hatten, warteten schon zwei seiner Gefährten auf die junge Prinzessin und ihren Anführer. Argwohn lag in ihren Blicken, Misstrauen, das einzig durch die Anwesenheit ihres Anführers besänftigt werden konnte, ließ eine eisige Stimmung entstehen. Zweifel und Unsicherheiten kehrten zu Eoweli zurück. Die mächtige Stimme ihres Bruders ließ ihre Hände zittern. Sie umklammerte die Kette, an welcher ihr Stein mit seiner Wärme ihr gut zuzureden schien. Das Gefühl kannte sie. Es war Balsam für ihre Seele, als wüsste der Stein ganz genau, wie es in ihr vorging.

"Verzeih' mir, Bruder", flüsterte sie und stieg in das kleine, wackelige Boot. Der Letzte gab ihm einen Schubs, bevor er schließlich hinein sprang. Tiwaz und sein anderer Gefolgsmann bewegten die Ruder. Die rhythmischen Bewegungen beruhigten sie.

"Das genügt", sagte sie als Atlantis nur noch so groß wie der Mond über ihnen erschien.

"Und wenn sie uns reinlegen will?", sprach der zweite Ruderer.

"Auf dem offenen Meer?, entgegnete ihr Anführer, "wohl kaum. Wo sollten sich die Männer verstecken? Unter Wasser vielleicht? Bei dieser versnobten, wasserscheuen Stadtwache?"

"Aber", flüsterte der dritte, "was, wenn sie sich das Leben nehmen will? Und uns zum Sündenbock macht?"

"Warten wir es ab", seine Augen fixierten die Prinzessin, die ihre eigenen geschlossen hatte. Eoweli konzentrierte sich. Wärme umschloss ihren Körper. Dieses lieb gewonnene Gefühl. Der Stein begann zu leuchten, sie hörte die Stimme der Rebellen. Einer von ihnen schien verwirrt. Flüstern drang an ihr Ohr. Der Stein begann zu sprechen, gewährte ihren Wunsch, riss den Schleier nieder und zog das Boot auf die andere Seite.

"Was zum-?", Tiwaz war der erste, der sich umsah. Seine Begleiter lagen derweil kauernd auf dem Boden, die Hände über dem Kopf. Er gab ihnen einen Klaps, dass sie aufsprangen.

"Das-?", sprach der eine und riss seine Augen auf, "das ist nicht Atlantis."

Gegen den Willen ihres Bruders führte die Prinzessin die Männer der Rebellenarmee über das Land, das nur durch einen Schleier von ihnen getrennt war. Die neue Welt erstreckten sich vor den Widerstandskämpfern. Ehrfurcht erfasste die Männer, die so riesige Weiten noch nie erblickt hatten. Aus anfänglicher Skepsis wuchs Neugier, die ihn grenzenloses Staunen überging, vor dem sich nicht einmal der Anführer verschließen konnte. Prinzessin Eoweli zeigte den Pangäsanen die neue Welt. Erhabene Geschöpfe flogen über ihren Köpfen, die Männer erstarrten - die Furcht vor dem Unbekannten übermannte sie. Griffe von Schwertern wurden gestreichelt, doch die Prinzessin streckte ihren Arm aus. Ihre Unerschrockenheit faszinierte sie. Ihre Entschlossenheit steckte an. Selbst als eine menschenähnliche, geflügelte Gestalt auf sie zuschwebte, blieb die junge Prinzessin ruhig. Ihr Blick - voller Liebe und Respekt vor dem fremden Geschöpf. Prinzessin Eowelis Freundschaft zu jenen Wesen auf der anderen Seite reichte bis in die Tiefen der Welt, dass die Königin der Drachen ihr Haupt zum Gruße senkte und die Prinzessin willkommen hieß. Still beobachteten die Männer, wie Prinzessin und Drachenkönigin einander die Hände reichten. Wie sie Worte aus einer unbekannten Sprache miteinander austauschten. Mächtige Geschöpfe näherten sich ihnen, beäugten die Neuankömmlinge, die der Gnade der Drachenkönigin ausgeliefert schienen. Einer von ihnen legte sich vor die Füße der Prinzessin, die dem Geschöpf liebevoll über den Kopf strich. Eisblaue Augen sahen in das Antlitz der Prinzessin, die sich auf den Rücken des Tieres setzte und ihre Begleiter mit sich zog. Gemeinsam überflogen sie die Ländereien der anderen Welt. Sie erkannten Schönheit und Freiheit in ihnen. Die Prinzessin zeigte auf die Wälder und deren Lichtungen. Sie sprach von neuer Heimat, Hoffnung und einem Pakt. In den Köpfen der Rebellen stauten sich Bilder einer neuen Zukunft; keiner leichten, aber dennoch freien Zukunft. Rebellische Augen begannen zu leuchten - Farben der Erkenntnis spiegelten sich wider. Die Prinzessin im Blick erschien diese in jener Welt wie ein Farbklecks der Zuversicht, dass die Begleiter des Anführers ihr Haupt vor ihr senkten.

Eoweli hatte den Rebellen die Hände entgegen gestreckt. Die eigene Hoffnung hatte die junge Prinzessin zu ihnen geschickt. Der Wind begann sich zu drehen. Eine neue Möglichkeit offenbarte sich, die bald bis in die Schlossmauern von Atlantis durchdringen sollte.
 

Heißes Quellwasser rann über ihren Körper. Die Badehäuser des Königspalastes konnten durch erstaunliche Erneuerungen die Temperatur des Wassers aufrechterhalten. Allein in den riesigen Gemäuern hallten die Tropfen mehrfach durch den Raum. Die Prinzessin schloss die Augen, genoss die Ruhe, die nichts mit dem Sturm in ihrem Innersten gemein hatte. Seit sie zurück im Palast war, konnte sie ihre Gefühle kaum im Zaum halten. Ihr Herz raste, die Emotionen kochten über. Nicht nur, dass sie sich hinausgeschlichen und zu den Rebellen begeben hatte. Sie hatte ihr Versprechen gebrochenen - der Verrat war besiegelt. Die Hände vor's Gesicht gehalten floss das Wasser in ihre Innenfläche. Wie konnte sie ihrem Bruder jemals wieder unter die Augen treten? Angst überlappte sich mit Aufregung. Als sie den Männern ihre geliebte Welt gezeigt hatte, waren sie nicht feindlich gesinnt gewesen. Sie ließ die Arme sinken. Wie ihr Bruder damals, musste sie auch den Rebellen das Versprechen abnehmen, niemandem von ihren Fähigkeiten zu erzählen. Diesmal hatte man sie nicht verspottet. Ernsthaftigkeit lag in ihren Worten. Die Männer hatten sich sogar vor ihr verneigt - bis auf einen. Tiwaz. Eoweli hielt inne. Das Wasser floss über ihr Gesicht, ließ die Sicht vor ihr verschwimmen. Der Anführer der Rebellen, das Oberhaupt des Pangäsanen-Clans. Sein Blick ließ sie einfach nicht los. Wie er ihren eigenen stand gehalten hatte. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Es ärgerte sie, sein Antlitz nicht mehr aus ihrem Kopf zu bekommen. Sie wischte sich eine Strähne von der Schläfe. Dieser Kerl, der so alt wie ihr Bruder schien - wieso machte er sie nervös? Die Hitze wanderte weiter ihren Körper hinab, erfuhr Stellen, die sie nicht von sich kannte - nicht wusste, dass sie so sehr brennen konnten. Eoweli schüttelte den Kopf. Schob die Hitze auf die Quelle, die ihren Geist benebelte. Auf die Unterlippe gebissen stieg sie aus dem heißen Strahl, der sich über ihren Kopf ergoss. Ein neuer Wille flammte auf. Sie war fest entschlossen heute Nacht zurück zu kehren. Er war ihr noch eine Antwort schuldig. In eines der flauschigen Handtücher gehüllt lief sie aus dem Raum. Eines der Bademädchen kam auf sie zu, trocknete ihr Haar und brachte neue Kleider.

"Amedessa!", Eoweli streckte den Arm aus. Die Dienerin verbeugte sich.

"Teile dem Schneider mit, dass er neue Stoffe bringen soll. Keine weißen. Ich möchte Farbe an meinem Körper tragen."

"Jawohl", sie tat einen Knicks und lief so schnell sie konnte. Wenig später kehrte sie keuchend zurück. In den Händen bunte Stoffe und Kleider. Eoweli hatte sich währenddessen selbst eingekleidet. Sie klemmte die Stoffe unter ihren Arm und schritt zurück in den Palast. Auf dem Weg passte sie den Diener ab, der sie wissend anlächelte. Mit wenigen Zeichen gab sie ihm zu verstehen, dass er sie diese Nacht erneut aus dem Schloss bringen sollte. Er nickte, dass es kaum einer bemerkte und schritt an der Prinzessin vorbei. Diese verscheuchte die Aufregung, verschanzte sich für den Rest des Tages in ihr Zimmer und vertrieb sich die Zeit bis zur späten Abendstunde.
 

Wie in der Nacht zuvor klopfte der Diener an ihre Tür, schlich sich mit der Prinzessin an den Palastwachen vorbei und durchquerte mit ihr die Stadt. Diesmal kam sie zu jenem besagten Haus mit den roten Laken vor der Tür und klopfte mit den Fingerspitzen an die Fensterscheibe. Dunkle Augenpaare schoben sich durch das Schlüsselloch. Die Tür ging knacksend auf und ein alter Greis wies ihr den Weg. Der Unterschlupf der Widerstandskämpfer entpuppte sich als unterirdischer Gang, der mehrfach verwinkelt war und in die verschiedensten Teile der Insel führte. Wie ein Maulwurf waren sie fleißig am Graben gewesen. Es ging in die Tiefe, zu einer Höhle, die einst von riesigen, Menschen fressenden Bären besiedelt war und daher kein Bewohner von Atlantis den Weg dorthin auf sich nähme. Das perfekte Versteck. Der Greis geleitete sie bis an den Stützpunkt der Rebellen. Dutzende hatten sich in den Tiefen versammelt. Um ein Lagerfeuer standen verschiedenste Gruppierungen. Unter ihnen junge und alte Menschen, Pangäsanen und sogar ein paar Einheimische. Ihre Köpfe drehten sich zu dem neuen Gast, der seine Kapuze herunter gezogen hatte und in die Runde blickte.

"Prinzessin Eoweli ist das", flüsterte jemand.

"Ich hörte, sie sei es, die uns aus dem Unglück befreien kann", murmelte ein anderer.

"Unmöglich. Niemand im Palast stellt sich gegen den König."

"Aber sie soll eine neue Heimat gefunden haben-"

"Ja, sogar Anführer Tiwaz scheint überzeugt."

"Wenn sogar unser Anführer ihr glaubt-"

"Still jetzt!"

Aus den Reihen hatte sich Tiwaz erhoben und schritt auf die Prinzessin zu. Noch nie hatte sich die Aufmerksamkeit auf die Prinzessin gerichtet, dass sie leicht den Kopf neigte. Die Rebellen senkten ihre Stimme als ihr Anführer direkt vor der Prinzessin stehen blieb, die Arme verschränkte und erneut seine eiskalten Blicke auf sie richtete - für Eoweli noch ein Grund mehr, das Haupt zu senken.

"Du bist also zurückgekehrt", sagte er ganz selbstverständlich.

"Ich sagte doch", entgegnete die Prinzessin und versuchte ruhig zu klingen, "dass ich Eure Antwort ersuchen würde."

"Nun, ich kann nicht behaupten, dass meine Leute nicht ganz ohne Zweifel sind. Viele von ihnen fürchten sich vor dem Neuen. Dennoch sind die meisten von ihnen gewillt, den Pakt einzugehen. Sie haben akzeptiert, dass ihre Zukunft außerhalb von Atlantis stattfinden muss - wenn sie denn überhaupt noch eine Zukunft haben wollen."

"Ich verstehe", es erfüllte sie mit Trauer, dass es einige gab, denen nichts als die Hoffnung auf das Unbekannte geblieben war. Die keinen Platz auf der Insel hatten. Ihrem Vater hätte es das Herz gebrochen. Sie schluckte den Schmerz hinunter und fuhr fort: "Ich werde mit den Einwohnern...der Welt sprechen. Die fünf großen Clans müssen einer Umsiedlung zustimmen. Ich werde die nächsten Tage aufbrechen und ihre Erlaubnis einholen."

"Das klingt nicht gerade einfach", entgegnete Tiwaz.

"Ihr vergesst, dass sie nicht wie wir sind. Worte und Versprechungen zählen etwas in ihrer Welt."

"Was ist mit dieser Welt", er zwang sie, seinen Blick zu erwidern, "wessen Erlaubnis braucht es hier?"

"Es wird schwierig, das muss ich zugeben. Vorbereitungen müssen getroffen werden. Das könnte einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich werde es nicht vermeiden können, dass der König früher oder später davon erfährt...Deshalb braucht es Geduld und Euer Stillschweigen."

"Uns bleibt nichts anderes übrig. Ich frage mich nur", er hob den Kopf an, "was springt für dich dabei heraus? Was willst du? Die neue Zivilisation anführen? Als unsere Königin?" In der Höhle wurde es totenstill. Eowelis Brust verkrampfte. Die Rebellen starrten auf die junge Prinzessin, die sich ihrer königlichen Abstammung besinnte und sich aufrichtete. "Ich will nichts dergleichen. Ich bin keine Anführerin und schon gar keine König."

"Warum dann? Wieso riskierst du deine Stellung, wenn du nach nichts Höherem strebst?"

"Weil ich glaube, dass der Weg meines Bruders falsch ist. Das... Geschenk, das wir einst erhalten haben - es sollte für uns alle sein. Ich glaubte, mein Bruder würde das Richtige tun. Schließlich verstehe ich nichts von Politik oder davon ein Königreich zu regieren. Aber langsam kommen mir Zweifel, ob seine Entscheidung die Richtige war. Ich möchte den Menschen die Chance geben, diese Entscheidung selbst zu treffen. Es kann kein Urteil gefällt werden, noch bevor Entscheidungen getroffen wurden. Die Menschen sollen sehen und wählen können, ob sie mit oder ohne die neue Welt leben wollen." Noch immer hüllte Schweigen die Höhle ein. Seelenruhig knisterte das Feuer um die Rebellen. Eowelis Wangen standen in Flammen. "Aber", setzte sie an, "es gäbe schon etwas, das Ihr für mich tun könntet."

"Und das wäre?" sagte er so eisig wie sein Blick.

"Bringt mir bei, mit dem Schwert zu kämpfen."

"Das soll ein Scherz sein", er hob die linke Augenbraue hoch.

"Euer Volk beherrscht die Schwertkunst besser als jeder andere. Zumindest laut den Gerüchten."

"Das sind keine Gerüchte, doch ich muss entschieden ablehnen", er lächelte träge, "ich soll dir zeigen, wie man mit dem Schwert umgeht? Einer schwachen, kleinen Prinzessin? Dieses Unterfangen ist sinnlos, noch bevor es begonnen hat."

"Ich will, dass Ihr mir zeigt, wie man kämpft", beharrte sie darauf und spürte wie sie Wut packte. Auf diesen arroganten Mann vor ihr, der keinen Schritt von seiner Position weichen wollte.

"Du kannst mir keine Befehle erteilen", sagte er amüsiert über ihren Blick. Ihre Nasenflügel begannen zu beben. Sie wollte nicht nachgeben. Nein. Sie wollte kämpfen lernen, endlich aufhören, am Rockzipfel der anderen zu hängen. Wenn sie in der neuen Welt leben wollte - und dieser Gedanke existierte seit sie das erste Mal durch das Tor geschritten war - dann musste sie selbstständig handeln können. Die Prinzessin machte einen Schritt zur Seite, dass sie neben einen der Rebellen stand, zog ihm das Schwert aus der Scheide und streckte es dem Anführer entgegen. Ein Raunen ging durch die Höhle. Die ersten hatten ihre Fassung wiedererlangt und machten sich bereit, ihrem Anführer zur Seite zu stehen. Doch dieser blickte auf die Klinge vor seiner Nase. Er lächelte schief.

"Wenn du mir schon drohen willst", er griff nach der Klinge, "dann musst du es schon richtig machen." Seine linke Hand umfasste das Metall. Er drückte sie weiter herunter, dass die Spitze auf sein Herz zeigte. Blut sickerte aus seiner Handfläche. Tiwaz zuckte nicht einmal als die rote Flüssigkeit über das Metall floss. Mit aufgerissenen Augen starrte die Prinzessin darauf.

"Eines muss man dir lassen", sagte er als sie das Schwert sinken ließ, "ich dachte, du würdest in Ohnmacht fallen...vielleicht ist es doch nicht völlig vergebens."

"Ihr meint-"

"Noch weniger würde es mir gefallen, in deiner Schuld zu stehen."

Sie nickte - allmählich fingen ihre Entscheidungen an, sich richtig anzufühlen.

Die Stimmen im Untergrund wurden lauter. Gerüchte machten auf Atlantis die Runde. Unsicherheit und Neugier erreichte die Innenstadt. Über jene furchtlosen Pangsänen und ihrem Geheimnis. Geflüster schallte über die Marktstände. Die Tage zogen dahin, die Stimmen erhoben sich aus dem Untergrund, spalteten die Bewohner in ihren Prinzipien. >Das unbekannte Paradies< so nannte sich die neue Hoffnung derjenigen, die den Glauben an wahrer Freiheit nicht aufgegeben hatten. Die Zahl derer, die Zweifel an der Regierung hegten, wuchs. Es waren nicht mehr nur Geächtete - einfache Bürger fingen an, ihr Schicksal in Frage zu stellen. Die Säulen des Widerstandes festigten sich, spalteten die Insel, verunsicherten diejenigen, die sich ihrem Los ergeben hatten. Der Ruf der königlichen Getreuen nach Vergeltung erreichte den Königspalast. Der Großteil des Volkes, der ihrem König treu ergeben war, missbilligte die Märchen, welche einzig die vertriebene Minderheit verbreitet haben konnte. Sie riefen nach ihrem Herrscher, er möge den Zwiespaltern endlich Einhalt gebieten. König Darets erhörte schließlich seine Untertanen. Die Zeit des Handelns war gekommen. Die Zeit der Machtdemonstration für diejenigen, welche die neue Ordnung noch immer nicht akzeptiert hatten. Diese Demonstration mündete in einer Hinrichtung. Ein diebischer Rebell wurde Sinnbild alles Schlechtem, was den Widerstand definierte. Als Warnung stellten sie ihn an den Pranger. Die Worte des Königs hallten in der Stadt, die fordernde Menge schaute zu, wie der junge Mann an den Galgen gehängt wurde. Die Schreie der Mutter, die um Gnade winselte, überhörten sie. Nicht jedoch die Prinzessin. Die dem Treiben beiwohnen musste, während ihr Bruder das >Paradies< für Verleumdung erklärte, bevor die Klappe unter den Füßen des Mannes herunter gedrückt wurde. Eoweli konnte ihren Blick nicht abwenden als der Mann strampelnd seinen letzten Todeskampf kämpfte - und ihn schließlich verlor. Die Bürger schienen besänftigt, die Pangäsanen sammelten sich. Die Situation spitzte sich zu als die Widerstandskämpfer der Aufforderung, ihr Haupt zu senken, nicht Folge leisteten. Dass sie sich weigerten, vor ihrem König auf die Knie zu fallen, glich einem Hochverrat. Der Marktstand roch nach Rache und Blutdurst, während im Hintergrund das Weinen der Mutter weiter hallte. In einem plötzlichen Anflug erhob sich Prinzessin Eoweli von ihrem Stuhl, faltete die Hände und begann das Totenlied zu singen. Jener Gesang, der die Verstorbenen ins Totenreich geleiten sollte, ließ die Unruhen verstummen. Die Stimme der Prinzessin, mochte sie noch so laienhaft sein, erreichte beide Seiten. Die Pangäsanen senkten ihr Haupt, denn, wenn etwas Heiliger war als der König selbst, dann das letzte Geleit der Toten. Die Gemüter besänftigen sich - für den Augenblick, in dem die Mutter um ihr einziges Kind trauerte. Nicht aber für den König, der eine derartige Einmischung nicht vorausgeplant hatte.
 

Das Herz der Prinzessin wollte nicht aufhören wie ein Hammer an ihre Brust zu klopfen. Angst, Reue, Wut - all das packte sie.

"Schwägerin", die Stimme der Königin erklang vor ihr. Iona kam auf die junge Prinzessin zu. Ihr Blick verriet die Unsicherheit.

"Geht es dir gut?", Eoweli eilte herbei, "ist etwas mit deinem Kind?" Beide Frauen sahen auf den wohl geformten Bauch hinunter. Die Königin strich über den gewölbten Stoff und schüttelte den Kopf. "Uns geht es gut. Sie strampelt schon den ganzen Tag ganz aufgeregt." Ein sanftes Lächeln huschte über ihre Lippen.

"Sie", die Prinzessin machte große Augen.

"Nun ja", lachte Iona auf, "ich habe so ein Gefühl, dass es ein Mädchen wird."

"Ich freue mich schon darauf, meine Nichte zu sehen", die Worte lenkten von ihrer eigenen Unruhe ab.

"Wenigstens du", Ionas Blick wurde trüb.

Eoweli faltete die Hände. "Der König freut sich bestimmt noch mehr als ich."

Doch die Worte prallten an der Königin ab. "Seit Wochen meidet er mich. Er fragte noch nicht einmal nach dem Befinden unseres Kindes."

"Darets ist zurzeit sehr beschäftigt."

"Er würdigt mich keines Blickes. Als würde ihm mein Anblick missfallen. Er findet mich nicht begehrenswert"

"Sag' so etwas nicht", Eoweli schnürte es die Kehle zu, "mein Bruder möchte euch sicher nur schonen. Du trägst schließlich sein Kind, da möchte er, dass euch beiden auch nichts zustößt. Missdeute seine Ablehnung nicht. Mein Bruder zeigt nur sehr selten seine Gefühle. Vielleicht sind es nur deine Hormone, die dir einen Streich spielen wollen."

"Sein Desinteresse war schon vor der Schwangerschaft. Er sieht mich nicht wirklich. Seit ich neues Leben in mir trage ist es noch schlimmer geworden. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, Eoweli", sie schlug die Hände vor die Augen, "ich möchte den König glücklich machen. Aber ich weiß nicht, wie. Ich wünschte, er würde mich so ansehen wie dich."

"Wie mich?"

"Entschuldige", sie wischte sich die Tränen von der Wange, "ich habe mich falsch ausgedrückt. Aber im Gegensatz zu mir wendet er sich nicht von dir ab, wenn du mit ihm sprechen willst. Ich weiß, es ziemt sich nicht, dass ich so etwas von dir verlange, doch...möchte ich dich bitten, dass du mit deinem Bruder sprichst. Vielleicht sagt er dir, was für einen Fehler ich in seinen Augen begannen habe. Ich möchte mich mit ihm gut stellen. Er soll wissen, dass ich alles erdenkliche tun möchte, um seine Zuneigung zu verdienen. Auch für unser zukünftiges Kind."

"Iona", Eowelis Stimme wurde rau.

"Ich flehe dich an, Schwägerin!"

"Also schön", flüsterte die Prinzessin, "aber bitte, mach' dir nicht so viele Sorgen. Du musst dich schonen. Allein für die kleine Prinzessin da drin", sie mühte sich ein Lächeln ab, dass die Miene der Königin etwas aufhellte.
 

Ihren Bruder aufzusuchen, war das letzte, wonach sie strebte. Nicht nach den heutigen Ereignissen, die sie noch immer nach Luft schnappen ließen. Das Bild des baumelnden Mannes wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die Schreie der Mutter, die alles gegeben hätte um an seiner Stelle zu hängen. Und dann noch Darets. Die kalten Augen, der Blick als Eoweli gehandelt hatte. Sein Misstrauen konnte sie sich nicht leisten. Gerade jetzt, wo die Verhandlungen auf der anderen Seite kurz vor ihrem Abschluss standen. Der Tote am Strick ließ die Zuversicht schwinden. Was, wenn es noch mehr Tote gäbe? Noch mehr Gehänge und Geächtete. Wollte sie die Verantwortung eines Lebens, das nicht ihr gehörte, tatsächlich tragen? Stand es ihr überhaupt zu - sie, die bloß eine Prinzessin war? Eine Gesegnete, die zufällig auserwählt worden war, den Schlüssel zu anderen Welt zu tragen. Womöglich war sie doch nur das Anhängsel ihres Bruders. 'Darets', Eoweli wandelte durch den Flur. Sie wusste längst, wo ihr Bruder war. Langsam schritt sie die Stufen zum Untergeschoss herunter. Der König kniete vor den Ahnen. Seit Generationen verweilten die verstorbenen Herrscher unterhalb des Schlosses. Bilder zierten die Kapelle; Bilder ehemaliger Herrscher und deren Familien. Ganz hinten war ein Altar errichtet worden. Einmal im Monat war es Brauch, seine Ahnen aufzusuchen. Die Vorfahren um ihren Segen zu bitten. Regungslos verweilte Darets in seinen Gebeten. Stumm stand die Prinzessin derweil am Eingang und wartete geduldig. Ihre Brust zog sich zusammen. Der Anblick ihres Bruders, wie er ehrfürchtig die Toten beschwor, ließ das Bild des eiskalten Herrschers verschwimmen.

"Schwester", hallte das Wort durch den gesamten Raum, dass Eoweli zusammen zuckte. Er hatte sie bemerkt - wie hätte sie auch annehmen können, dass sie sich an ihn heran schleichen könnte. Eoweli tat eine leichte Verbeugung als ihr Bruder sich erhob und auf sie zu schritt.

"Verzeih', wenn ich dich gestört habe.", sagte sie und kratzte sich an den Unterarm, "ich wusste, dass dies die einzige Gelegenheit war, dich in Ruhe zu sprechen."

"Du willst mit mir sprechen?", seine Worte waren ruhig, sie klangen nur nicht sanft genug als dass sie seiner Ruhe trauen konnte. Eoweli nickte.

"Lass' mich", sie zwang sich zu einem Lächeln, "lass' mich dir die Haare waschen." Ein leichter Anflug von Verwunderung kam ihm über sein strenges Gesicht. Dann musterte er sie streng: "Soll das eine Art Entschuldigung für dein Fehlverhalten sein?" Seine Schwester verschränkte die Arme und schüttelte mit dem Kopf. "Ich kann es nur nicht mit ansehen, wie die Diener deine Haare schänden. Außerdem", ihre Stimme wurde schwach, "ist das letzte Mal sehr lange her." Das Schweigen ihres Bruders war erdrückend. Schließlich schloss er die Augen. "Also gut. Meine Pläne für heute hatten sich sowieso zerschlagen."

"Prima", lächelte Eoweli, und diesmal schwang ein Hauch Wahrheit in ihrer Mimik.

Durch den unterirdischen Gang gab es eine Abkürzung, welche direkt in die Badehäuser führte. Die junge Prinzessin beorderte ihren Bruder eines der alten Räume auszuwählen. Als es noch keine fortschrittlichen Technologien gab, hatten sie lediglich ein großes Becken und eine Waschschüssel zum Haarewaschen genutzt. Als Kind hatte Eoweli oft ihrem Bruder die Haare gewaschen. Für die junge Prinzessin war es damals die einzige Gelegenheit, den Älteren etwas Gutes zu tun. Ihr Bruder war ihr in so vielen voraus. Er war derjenige, der auf alles eine Antwort wusste, die Dinge regelte und Eoweli in so vielen Beziehungen das Leben erleichtert hatte. Ihr spezielles Ritual war eine Möglichkeit, sich erkenntlich zu zeigen. Die Geschwister hatten dieselbe Haarstruktur - eine schwer zu bändigende, lange Mähne, die einer besonderen Behandlung bedurfte. Obwohl sie längst aus dieser Rolle entwachsen war, wusste sie noch ganz genau, welche Mixturen sie verwenden und wie sie die einzelnen Zutaten perfekt ausbalancierte musste, damit sie das richtige Ergebnis erhielte. Darets saß vor dem Becken, die Hände auf dem Schoß gefaltet und beobachtete die Prinzessin, wie sie den Holzlöffel in der Schale rührte. Dabei war sie äußerst konzentriert, geradezu krampfhaft fokussiert. Schließlich stellte sie sich hinter ihn und zog das Haarband heraus.

"Hm, konnte ich es mir denken", murmelte sie und machte sich daran, lauwarmes Wasser in die Schüssel zu gießen, "deine Diener fürchten wohl, dich mit kaltem Wasser verärgern zu können. Anders kann ich mir dieses Ärgernis nicht erklären."

"Du hast es versäumt, sie in deine weise Haarkunst zu unterweisen", entgegnete er und legte den Kopf in den Nacken.

"Willst du mich schon wieder aufziehen, Bruder?"

"Deine Auffassungsgabe ist so messerscharf wie eh."

Sie knurrte ihn an, musste innerlich jedoch lachen. Es tat gut, ihren Bruder so zu erleben. Die Normalität hatte sie vermisst, das bekam sie nun schmerzlich zu spüren. Sie ließ das Wasser über seine Haare fließen. Dabei war sie so vorsichtig, als fürchtete sie, einen Tropfen zu verschwenden. Gerade als sie anfing sich wohl zu fühlen drang die Bitte ihrer Schwägerin zu ihr durch. Der Grund, weshalb sie hier zusammen waren.

"Weißt du", murmelte Eoweli und begann etwas der Mixtur auf ihre Hand zu verteilen, "wenn dein Kind deine Haare erbt, werde ich mich persönlich um seine Pflege kümmern. Als seine Tante ist es meine heilige Pflicht!" Vor ihr verkrampfte sich ihr Bruder. Eoweli begann derweil seine Kopfhaut einzureiben.

"Wieso schneidest du dieses Thema an?", Darets verpasste es aber auch nie auf den Punkt zu kommen.

"Wir haben noch nie darüber gesprochen."

"Und müssen es auch jetzt nicht", entgegnete er abgeklärt.

"Du sollst wissen, dass ich den künftigen Herrscher so lieben werde als wäre er mein eigenes Kind. Es war mir schon lange ein Bedürfnis, dir das persönlich zu sagen." Sie nahm einen Kamm zur Hand und fuhr einmal über sein gesamtes Haar.

"Das weiß ich", antwortete er, ein leichtes Seufzen drang in seiner Stimme durch.

"Die Königin fürchtet, dir könnte nicht viel an ihr und ihrem Kind liegen."

"Ich denke nicht, dass dich dieses Thema etwas anginge", entgegnete er wie eine Maschine.

"Deine Frau würde sich wünschen, wenn du-"

"Wenn ich was?" Eigentlich wussten beide die Antwort, ohne, dass es einer Frage bedurfte. Darets hatte nie aufgehört, die Ehe als ein notwendiges Bündnis anzusehen. Als Eoweli die junge Braut das erste Mal erblickt hatte, war sie davon überzeugt gewesen, dass ihr Liebreiz und ihre Schönheit auch ihren Bruder erreichen würde. Seine kühle, abweisende Art bewies das Gegenteil. Warum konnte ihr Bruder keine Liebe zu ihr empfinden? Ihren Vater und sie liebte er doch auch - selbst ohne seine Bekundungen konnte sie sich seiner Gefühle sicher sein. 'Und wenn er von meinem Verrat erfährt-", schoss es ihr so manches Mal durch den Kopf, dass ihr Körper zu zittern begann.

"Freust du dich denn gar nicht?", sie musste es ihn einfach fragen. Auch wenn ihr die Antwort womöglich das Herz brechen würde.

"Es ist mir nicht gleich."

"Das beantwortet meine Frage nicht."

"Du bist ist es doch, die vom Eigentlichen abschweift."

Sie goss ihm frisches Wasser über den Kopf.

"Du weißt, was du getan hast?", fragte er, obwohl er keine Antwort erwartete. Eoweli hielt inne. "Ich wollte nicht, dass noch mehr Unheil geschieht."

"Du hast meine Autorität untergraben."

"Das wollte ich nicht."

"Es spielt keine Rolle. Solch ein Verhalten wirft ein schlechtes Licht auf mich. Du solltest deinen Platz kennen."

"Ja", hauchte sie und spülte den Rest der Mixtur aus seinen Haaren. "Ich wollte nicht, dass noch mehr Menschen unseres Reiches hängen müssen."

"Sie gehören nicht zu unserem Reich, das haben sie mehrfach demonstriert. Das sind Barbaren, Eoweli. Verbrecher, die das Reich ins Chaos stürzen wollen. Ich weiß, so etwas verstehst du nicht. Darum halte dich zukünftig aus allem heraus, das deinen Horizont übersteigt." Eoweli ballte die Hände zur Faust. "I-ich", auf einmal wollte die Wahrheit aus ihr heraus sprudeln. Seine Worte hatten sie zutiefst gekränkt. Vor allem, da sie womöglich wahr gewesen wären, wenn sie nicht das Leben außerhalb des Palastes kennengelernt hätte.

"Schwester", er griff nach ihrem Handgelenk, dass sie die Faust lockerte, "ich kenne dein stürmisches Gemüt und lasse es dir dieses eine Mal durchgehen. Auch ich will unnötiges Blutvergießen vermeiden. Aber diese Entscheidung liegt nicht bei mir. Wenn sich Widerstand gegen den Frieden regt, werde ich dem Treiben nicht tatenlos zusehen. Das ist schließlich meins Aufgabe als König. Oder möchtest du mir widersprechen?" Seine Worte klangen wie eine versteckte Drohung. Wusste er etwa von ihrem Geheimnis? Nein, unmöglich. Darets hätte es niemals zugelassen, dass sie sich nach draußen schlich und schon gar nicht, dass sie ohne Zustimmung die andere Welt bereiste. Aber vielleicht wollte er nur Vorsicht walten lassen. Ihr Bruder zog schon immer alle Möglichkeiten in Betracht - auch wenn sie noch so abwegig erschienen. Das war eine seiner Stärken - auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

"Nein, Bruder", Eoweli erhob sich und holte ein Handtuch, womit sie seine Haare vorsichtig abtupfte, "wie du schon sagtest, steht es mir nicht zu, deine Vorgehensweise in Frage zu stellen."

"Gut", sagte Darets und schloss seine Augen, "es freut mich, dass du es einsiehst."
 

Aber sie sah es nicht ein.
 

"Nein. Nein. Nein!", mit einer einzigen Bewegung hatte Tiwaz mit dem Schwert pariert. Sie keuchte und ließ die Klinge die Erde küssen.

"Du bist unkonzentriert", sagte der Rebellenanführer und fuchtelte mit dem Schwert vor ihrem Gesicht. Ärger lag in seiner Stimme, er funkelte sie mit seinen tiefenblauen Augen an, dass Eoweli den Blick von ihm abwandte.

"Ihr habt recht", sie fasste sich mit der freien Hand an die Stirn, "ich...ich kann es einfach nicht vergessen", ihr Kopf blickte gen Himmel. Die sternenklare Nacht verriet nichts von dem aufkommenden Sturm, der in die Innenstadt zog. Ihre Lippen begannen zu beben. Sie presste den Mund zusammen. Weinen konnte sie jetzt nicht. Nicht vor ihm. Also schüttelte sie stattdessen den Kopf. "Ich will nicht, dass noch mehr Menschen sterben." Tiwaz ließ das Schwert sinken. "Willst du etwa aufgeben? Einen Rückzieher machen?"

"Ich...ich weiß nicht."

Er stieß einen Pfiff aus. "Es wäre nicht nur feige. Du entehrst damit die Verstorbenen, die eines sinnlosen Todes gestorben wären." Er kam einen Schritt auf sie zu. "Sie haben ihr Schicksal selbst gewählt. Um die Toten zu trauern bringt nichts, wenn du ihre Entscheidung damit in den Dreck ziehst." Eoweli neigte den Kopf. "Ihr habt recht. Jetzt aufzugeben, würde ihren Traum zu einem Witz erklären."

"Jeder hat zuweilen diese Schwäche", er selbst blickte hinauf in den Himmel. Seine Augen verengten sich. "Anfangs wollte ich nur meinen Vater rächen", sagte er als spräche er zu den Sternen, "der König hatte ihn ermorden lassen." Eoweli schluckte, schwieg jedoch. Sie wollte ihn nicht unterbrechen, da er zum ersten Mal Offenheit zeigte.

"Es ist einfach, sich seinen Emotionen hinzugeben. Doch es zeugt von Schwäche und mangelnder Standfestigkeit. Wenn ich Rache an meinem Vater nehme, und den König töte...oder jemanden, der ihm nahe steht, würde es nichts an meinem Verlust ändern. Stattdessen würde ich die einzige Möglichkeit verspielen, meinem Volk zur Freiheit zu verhelfen. Mein Vater hätte mich verachtet, würde ich meine Rache der Freiheit vorziehen." Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. Im Mondschein schienen seine Zähne zu funkeln. "Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich dir das überhaupt erzähle."

"Ich bin dennoch froh, dass Ihr es getan habt." Sie brachte sich in Position, in dem sie die Arme hob und das Schwert in Angriffsstellung brachte. "Noch einmal", forderte sie ihn auf. Das Funkeln kehrte in ihren Augen zurück.

"Wie rechtfertigst du nur diese vielen blauen Flecke?", fragte er und tat es ihr gleich.

Eoweli zuckte mit den Schultern. "Ich war noch nie das fromme Weib, das brav auf seinen Kissen ruhte." Sie holte aus. Ihr Gegenüber war schneller. Er stieß sie von sich, dass sie in letzter Sekunde seinem Angriff entkommen konnte. Seine Bewegungen waren schnell und präzise. Er hatte eine unglaubliche Kraft in seinen Armen, dass jeder Versuch, ihn abzuwehren, fehl schlug.

"Du bist zu schwach", rief er ihr zu und wandte nicht viel Gegendruck an, dass Eoweli ins Taumeln geriet. "Als Weib wirst du nie gegen einen Mann bestehen können, wenn du von Angesicht zu Angesicht kämpfst. Darum", er entwischte ihrem kläglichen Versuch, bückte sich und hatte sich hinter sie gestellt. Mit dem Schwert war er an ihrer Kehle, mit der anderen Hand packte er ihre Hüften und drückte sie eng an seinen Körper. Eoweli vergaß zu atmen.

"Darum", säuselte er in ihr Ohr, "musst du mit Schnelligkeit kontern. Dem Gegner eine List stellen und ihn von hinten angreifen." Sie hörte seine Worte wie ein dumpfes Rauschen. Sie spürte seine Statur hinter sich - groß, dominant und stark. Sogar sein Duft drang zu ihr durch. Irgendwie einnehmend.

"Hast du etwa angst?", grinste er. Dünne Luft trennte die Klinge von ihrem Hals. Eoweli interessierte das Schwert nicht. Die junge Prinzessin war viel zu sehr von seiner Präsenz eingenommen als dass die Waffe sie verunsichern könnte. Innerlich war sie erleichtert, dass er ihre Reaktion missdeutete. Sie verstand sie ja zuweilen selbst nicht.

"Noch mal", hauchte sie zurück, "ich höre nicht auf, bis ich einen Treffer erzielt habe."

"Vergiss' nicht, dass die Nacht sich bald dem Ende neigt." Er ließ von ihr.

"Dann schindet keine Zeit." Damit entwischte sie seinem Blick und holte zum Gegenschlag aus.

Trotz der Warnungen hörten die nicht Stimmen auf. Die Säulen im Untergrund erhoben sich aus dem Boden und rissen die frisch gepflanzte Erde ein. Weiter wuchs der Zweifel, der Zwiespalt der Gesellschaft nahm ungeahnte Züge an. Das >unbekannte Paradies< wurde mehr als nur ein Symbol der Rebellion - rot-gelbe Banner hingen aus den Fenstern der Unterdrückten, die ihren Platz in der Gesellschaft als verloren anerkannt hatten. Tumulte häuften sich. Diebstahl und Majestätsbeleidigung wurden aufs äußerste bestraft. Geheime Posten galt es aufzudecken. Um die neue Ordnung des Reiches wieder herzustellen wurden Maßnahmen ergriffen. Der König setzte nun nicht mehr auf Zeichen. Wachen postierten sich in der Innenstadt. Bewohner wurden bewacht, Grenzen der Vierteln streng kontrolliert. Wer den Rebellen Zuflucht gewährte, erfuhr die Härte des Königreichs - weit außerhalb der Öffentlichkeit, welche die weiteren Ausgrenzungen befürwortete, dass aus den Rissen des Zwiespalts tiefe Furchen entstanden. Hausdurchsuchungen waren die Tagesordnung. Die Pangäsanen wurden weiter in die Enge getrieben. Geleitet von ihrem einzigen Bestreben nach baldiger Freiheit setzten sie ihren Widerstand fort. Zeichen wurden ausgemacht, Codes zur Verschlüsselung angewandt, welche die Stadtwachen in die Irre leiten sollten. Die unterirdischen Tunnel wurden ausgefuchster, die Tricks der Pangäsanen hinterhältiger. Doch die Stadtwachen rüsteten weiter auf. Mit der Zunahme des Widerstands steigerte sich auch das Selbstbewusstsein der Patrouillien. Zwei Seiten, die einander bis aufs Blut nicht trauten - stießen an jenem Herbstabend aufeinander, dessen Ausgang den Verlauf der Geschichte bestimmen sollte.
 

"Unser Versteck! Wir sind aufgeflogen", rief ein junger Bursche aufgebracht als er zu seinem Anführer rannte, dabei hektisch mit den Armen ruderte und wie ein Verfolgter zu keuchen begann. Tiwaz stand mit seinem Vertrauten vor der Gasse, die das Armenviertel von der Hochburg Atlantis' trennte. Seine Miene blieb unverändert. Er hatte es kommen sehen. Nicht gerade heute, aber in absehbarer Nähe war es unvermeidbar gewesen. Irgendjemand redete immer. Die Lage, in der sie gezwungen gewesen waren mit den einheimischen Händlern zu kooperieren, musste sich früher oder später als fatal entpuppen. Aber sie hatten keine Wahl gehabt - um nicht verhungern zu müssen, hatten sie dieses Risiko eingehen müssen. Der junge Anführer blickte zu dem verängstigten Handlanger hinunter: "Bring' Alep die Kunde, dass er unverzüglich fünf Manner in die östlichen Tunnel schicken soll. Und beeil' dich."

"Jawohl!" Damit rannte er schon wieder los.

"Heliodan", Tiwaz wandte sich an den großen Kräftigen neben sich, "du und zehn weitere Männer - ihr kümmert euch um den westlichen Bereich. Zersprengt die Lager, wenn nötig. Torin schickst du an die Hafengrenze. Wir müssen schnellstmöglich das Hauptversteck räumen. Brennt die Hütte nieder. Wir werden uns neu formieren und uns zum ersten Glockenschlag in unserem Ausweichversteck sammeln."

"Zu Befehl."

"Sag' den Frauen, dass sie mit ihren Kindern in den Häusern bleiben sollen. Niemand, der nicht kämpfen kann, soll heute Nacht auf den Straßen herumlungern."

"Ich werde mich darum kümmern", verneigte sich der große Kräftige, "was ist mit Euch?"

"Ich werde hier bleiben."

"Meint Ihr nicht, dass es womöglich genau das ist, was sie wollen?"

"Vielleicht, aber ich kann noch nicht weg."

"Wegen der Prinzessin - oder?", der Kräftige zückte sein Schwert, "meint Ihr, sie hat uns verraten?"

"Das bezweifel ich. Dieser unkoordinierte Haufen von Stadtwache hat wohl einfach mal seine grauen Zellen angestrengt. Es wird ihnen nur nicht viel bringen. Wir sind bereits Ausgestoßene, und wenn sie unbedingt einen Kampf provozieren wollen, sollen sie ihn bekommen. Noch sind wir diejenigen, die die schärferen Klingen schmieden können", seine Augen bekamen etwas Wildes, "es wird Zeit, dass sie zu spüren bekommen, was es bedeutet, das wahre Kriegervolk zu bedrohen." Er griff aus den Armschienen ein halbes dutzend Klingen und warf sie ans Ende der Gasse. Stöhnen erklang. Die Wachen kamen aus ihren Verstecken, bereit zum Gegenschlag auszuholen.

"Diese verdammenten-", knurrte der Kräftige und brachte sich in Position.

"Hinter dir!", rief sein Anführer und stürmte derweil auf die Meute vor sich zu. Zwei Soldaten in Kampfmontur kamen ihm entgegen, während sein Hintermann sich um die anderen beiden kümmerte. Schnell wich Tiwaz den beiden Kurzschwertern aus, bevor er dem einen ins Schienbein trat, während der andere seine freie Faust zu spüren bekam. Der junge Anführer nutzte den Moment der Schwäche, entwaffnete den ersten und schnappte sich das Kurzschwert.

"Heliodan", rief er und stach auf die zweite Wache ein, dass dieser zu röcheln begann, "verschwinde! Los!"

"Aber-", parierte der Kräftige die beiden Schwerter vor sich.

"Du hast meinen Befehl gehört! Ich kümmere mich um sie", damit schnitt er die Kehle des zweiten durch.

"Jawohl", mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, drückte sein Vertrauter die Männer zu Boden und ergriff die Flucht. Doch das schien die Wachen nicht zu kümmern. Einer stieß einen schrillen Pfiff aus, dass über den Dächern ein weiteres Dutzend Wachen hervor kroch und sich zu den verbliebenen gesellte.

"So ist das also", murmelte Tiwaz und setzte ein schiefes Grinsen auf, "dann zeigt mir, was ihr zu bieten habt." Er rannte auf die erste Gruppierung zu, sprang über den Schmächtigsten und ließ seine Klingen tanzen. Dann verließ er die Gasse, dass die Wachen sich neu postieren mussten. Auf dem improvisierten Marktplatz kreisten ihn die Soldaten ein. Er musste schnell handeln, keine Zeit zum Kontern bieten, wenn ihm die Zahl an Wachen keinen Nachteil verschaffen sollten. Als die ersten auf ihn zustürmten, drehte er sich, dass die Schwerter zu rotieren begannen. Diese Choreographie kannte er von Kindesbeinen. Ein dritter kam von hinten, Tiwaz bückte sich, streckte sein Bein aus und ließ ihn zu Boden fallen. Zur selben Zeit verfehlte die Klinge des Gegners nur haarscharf sein Haupt, dass der junge Anführer nur einen Schritt nach vorne tätigen musste und die Klinge durch seinen Bauch rammte. Der Anflug des Erfolges war nicht von Dauer. Die restlichen Wachen kamen ihm brüllend entgegen, erhoben ihre Schwerter und lechzten nach Vergeltung. Wieder einmal war Tiwaz schneller. Wieder einmal nutzte er die unorganisiete Formation und ging zum Gegenschlag über. Er flüchtete aus dem Kreis, stach in den Rücken des einen und schleuderte den Linken an die Häuserwand.

'Noch fünf.'

"Verd-", ein Pfeil traf ihn an der Schulter, dass er kurz ins Taumeln geriet. Aus dem Augenwinkel entdeckte er den Bogenschützen, der sich auf dem Dach verschanzt hatte. Während er den Klingen vor sich auswich, warf er das Kurzschwert in Richtung Dach, dass kurz darauf ein Poltern erklang. Doch Tiwaz achtete nicht darauf. Sein Blut kochte. Allmählich verlor er an Tempo. Die Wunde begann ihn in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Jetzt konnte er nur noch auf sein Schwert vertrauen. Der scharfen Klinge, die ihn noch nie im Stich gelassen hatte. Metall schlug an Metall. Tiwaz stieß die Wache von sich, stach auf den Hintermann ein und kümmerte sich dann wieder um seinen Gegenüber. Schweiß trat ihm aus der Stirn als der Letzte nach hinten kippte. Er keuchte, griff nach dem Pfeil und zog ihn mit einem Ruck aus der Schulter. Ein Schlag von hinten schleuderte den jungen Anführer zu Boden - sein Schwert gut zwei Meter von sich. Starr blickte er auf seine leere Hand, bevor er sich auf den Rücken drehte und dem Angreifer in die Augen sah. Dieser grinste und kam gemächlichen Schrittes auf den Anführer zu, dass dieser sich erheben konnte.

"Deine Arroganz wird dir letztendlich den Kopf kosten", er bleckte sich die Zähne und zog sein Schwert aus der Halterung. "Welche Ehre wohl demjenigen zuteil wird, der den Anführer dieser Barbaren zur Strecke gebracht hat? Der König wird mich reichlich belohnen." Die Klinge zeigte auf Tiwaz, der sich nicht regte. Wenn er noch eine Chance haben wollte, musste er vorsichtig vorgehen.

"Und?", die Wache stellte sich direkt vor ihm, das beide nur noch eine Armlänge voneinander trennte, "noch irgendwelche letzten Worte?"

"Hier oben", eine fremde Stimme ließ die Köpfe nach oben schnellen als auch schon ein Lufthauch um ihre Nasen wehte. Die Spitze einer Klinge begann grell im Mitternachtsschein aufzuleuchten. Es vergingen Sekunde, dass das Schwert mitsamt seines Besitzers auf den Kopf der Wache zuflog. Die Klinge ging geradewegs durch die Kehle. Der Angreifer landete auf der Wache, dass beide zu Boden gingen. Etwas wackelig richtete sich der Angreifer auf, zog das Schwert aus dem Leichnam und drehte sich zu Tiwaz um. Dieser riss die Augen auf. Gelbe Seelenspiegel, die im Mondschein fast golden schimmerten, sahen ihn mit einer Intensität an, dass er am ganzen Leib Gänsehaut erfuhr. Die Haare zu einem geflochtenen hohen Zopf gesteckt, dass lediglich zwei Strähnen vor ihren Schläfen baumelten, schwang der Pferdeschwanz im seichten Wind ihrer Bewegungen hin und her. In der Dunkelheit war die blaue Mähne kaum mehr zu erkennen, dass er zweimal blinzeln musste, um sicher zu sein, auch wirklich die Prinzessin vor sich zu haben. Ihre alten Herrschaftskleider hatte sie abgelegt. Ein dunkelrotes Kleid mit allerhand bunten Bändern um die Hüften ließ sie wie eine Kriegerin aus fremden Ländern erscheinen. Bilder der anderen Welt erschienen wie Blitze vor seinem geistigen Auge. 'Dieses Mädchen, sie-' Er konnte nicht aufhören sie anzustarren. Prinzessin und Kriegerin verschmolzen zu einem Individuum. Ihr standfester Ausdruck wich einem besorgten Blick als sie auf seine Schulter sah.

"Ihr seid verletzt", sie näherte sich ihm. Erst jetzt bemerkte er ihr Zittern, welches sogar die Klinge beben ließ. Das Schwert zu Boden fallend stand sie direkt vor ihm.

"Ihr habt viel Blut verloren. Wir müssen wenigstens die Wunde abbinden." Derweil nahm sie eines ihrer Bänder und versuchte in ihrer hektischen Unbeholfenheit die Wunde zu verbinden. Trotz Schmerzen konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Da war sie wieder - die kleine, naive Prinzessin, welche von der grausamen Realität verschont geblieben war.

"Anders rum", sagte er und deutete auf die missratene Wickeltechnik, "da kannst du mir auch dein Diadem auf die Schulter drücken und es hätte dieselbe Wirkung."

"Charmant wie immer", grummelte sie und befolgte seine Anweisung, "ein einfaches Danke hätte mir genügt", murmelte sie und knotete die Enden zusammen.

"Nein."
 

*

Sie war dabei gewesen, sich für ihr eigenes, unbedachtes Handeln zu schelten als er auf ihr Selbstgespräch antwortete. Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme ließ sie aufblicken. Seine Augen ruhten streng auf ihr. In einer einzigen Bewegung hatte er sich von ihren Händen losgerissen und war auf die Knie gegangen.

"Was macht Ihr-" Ihr Stammeln verebbte.

"Mein Dank", seine Stimme war wie ein Brodeln, "würde bei Weitem nicht genügen." Sie wich einen Schritt nach hinten aus. Seine Mimik, die Art wie er vor ihr kniete - noch nie hatte sie ihn so gesehen. Ihr Herzschlag rauschte in den Ohren als er weiter sprach: "Mein Leben stand auf dem Spiel. Es ist eine Frage der Ehre, dass ich dieses Geschenk zu gleichen Teilen zurück zahle. Und wenn ich Euch ein Leben lang dienen muss... Prinzessin." Er neigte seinen Kopf, die linke Hand lag auf seiner Brust. Wieso tat er das? In Eoweli breitete sich ein stechender Schmerz aus. Die Mundwinkel begannen zu zucken, sie wandte sich von dem ehrfurchtsvollen Blick ab, der durch seine Augen nur noch mehr Ernsthaftigkeit erfuhr.

"Was habt Ihr, Prinzessin", er hörte nicht auf, sie anzusehen, "wie mir scheint, seid Ihr damit nicht zufrieden." Es kostete alles Kraft, ihn anzusehen. Wie ein wildes Flügelschlagen drückte ihr das Herz an die Brust. Sie würde es bereuen, dessen war sie sich sicher. Aber das eigene Schweigen wurde ihr zur Qual. Die junge Prinzessin schüttelte den Kopf. Erneut hatte sie die Dunkelheit auf ihrer Seite, dass ihre glühenden Wangen versteckt blieben. "Ich", hauchte sie, die Worte in ihrem Kopf wurden zu einem Manifest, sie konnte nicht länger schweigen, "ich wünschte nur, Ihr würdet mich nicht als Prinzessin sehen." Eoweli wusste nicht, ob er sie ansah - ihre Augen blickten zum Boden, zu der Klinge, aus der noch Blut tropfte.

"Was immer Ihr wünscht, Prinzessin", säuselte er, dass Eoweli erschrocken zu ihm hinunter sah. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen - eines, das zu dem Anführer der Pangäsanen passte.

"Äh, nein", fuchtelte die Prinzessin mit den Händen, "so habe ich das nicht gemeint. Ich...ich will damit nur sagen...also...ich, ich möchte-" Doch er hatte sie bereits am Arm gepackt, an sich gezogen und ihre Lippen mit seinen verschlossen. Die Augen weit geöffnet realisierte sie, was er getan hatte. Stille ummantelte sie, Wärme durchströmte ihren Körper in dieser ruhelosen, kalten Nacht. Langsam schlossen sich die Lider. Ihr Körper drückte sich von selbst an seinen. In diesem Moment waren der Tumult und der Angriff vergessen. Eoweli hätte niemals ahnen können, dass es etwas Leichteres als Schwerelosigkeit geben könnte. Erst als er sich allmählich von ihr löste, schien sie wieder zur Besinnung zu kommen. "Nun", sagte er und streifte dabei ihr Ohr, "für meine Prinzessin tue ich alles, was nötig ist. Ich kann natürlich auch-"

"Tiwaz!", Eoweli versuchte seinen neckenden Verlockungen auszuweichen, "du bist furchtbar. Selbst jetzt."

"Ich kann noch viel grausamer sein-" Kaum hatten sie sich aufgerappelt, hörten sie Rufe. Eine kleinere Gruppe von Rebellen war in Richtung Marktplatz geeilt, um ihrem Anführer beizustehen. Als sie den Leichenhaufen erblickten zuckten sie zusammen. Sie kennt

"Wie-", einer von ihnen sah zwischen dem Anführer und der Prinzessin hin und her. Der Zusammenhang wollte ihm einfach nicht klar werden.

"Wie sieht es in den restlichen Stadtteilen aus?", fragte stattdessen Tiwaz und war wieder vollkommen in seiner Rolle als Oberhaupt.

"Wir haben so gehandelt, wie Ihr es von uns verlangt habt. Die südlichen Tunnel sind zerstört, die Wachen haben es nicht mehr nach draußen geschafft."

"Und unsere Männer?"

"Wir haben zehn Tote zu beklagen, drei sind schwer verletzten, der Rest hat sich im Auschweichversteck versammelt."

"Die Zahl der Opfer ist gering", murmelte Tiwaz.

"Wie mir scheint", entgegnete ein anderer, "hatten sie es in der Nacht auf Euch abgesehen gehabt. Die Soldaten waren in der Unterzahl, selbst Alep berichtete, dass nur wenige Wachen zum Versteck gekommen sind."

"So ist das also", Tiwaz schüttelte den Kopf, "diese einfältigen Bastarde."

"Wir sind froh, dass Euch nichts geschehen ist, Anführer", die Rebellen verneigten sich.

"Beeilen wir uns, dass wir von hier verschwinden. Es gibt einiges zu bereden." Damit ließ er den Männern keine Gelegenheit, weiter darauf einzugehen.
 

Sie verließen den Marktplatz und steuerten eine abgelegene Hütte, nahe der Küste, an. Einer der Rebellen war vorausgeeilt. Als sie schließlich das Versteck erreicht hatten, waren die Insassen in ein hitziges Gespräch vertieft. Die Neuankömmlinge erblickend gingen ihre Laute in ein Flüstern über. Ihre Gesichter drehten sich zu Tiwaz und Eoweli. Sie näherten sich beiden und senkten ihr Haupt.

"Prinzessin", riefen sie im Chor ihren Namen. Die Rettung ihres Anführers hatte die Runde gemacht, der junge Rebell hatte die Heldentat der Prinzessin verbreitet. Obwohl niemand die wahren Hintergründe kannte, schienen sie von der jungen Prinzessin überzeugt. Jeder von ihnen war bereit, es dem Clanoberhaupt nach zu machen und ihr Leben für die Prinzessin zu opfern. Verlegenheit ergriff die junge Prinzessin, die solchen Zuspruch niemals angestrebt hatte. Die Hoffnungen der Widerstandskämpfer projizierten sie auf Eoweli, die sich nicht in der Position der Retterin wiedererkannte. Glücklich, den Menschen Hoffnungen zu schenken, fürchtete sie ebenso, dass die Erwartungen zu hoch werden könnten. Das >unbekanntee Paradies< wurde immer mehr zu einer Romantisierung. Auch für diejenigen, die sich anfangs mit ihrem Schicksal auf Atlantis abgefunden hatten.

"-wir haben keine Wahl", Tiwaz Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Die Stimme war entschlossen und endgültig. Seine Gegenwart ließ sie ruhiger werden. "Sobald der Palast von dem missglückten Attentat erfährt, werden sie aufrüsten. Wir müssen mit weiteren Angriffen rechnen und uns wappnen. Bis zur Wintersonnenwende müssen wir durchhalten - wenn nötig auch zu Gewalt greifen." Die Wintersonnenwende. Eoweli hatte die Übersiedlung in die Wege geleitet. Der letzte große Krieger-Clan auf der anderen Seite hatte sich auf einen Kompromiss geeinigt. Solange die Menschen ihren Teil nicht verließen, durften sie in ihrer Welt leben. Einen Anspruch auf weitere Ländereien wurde abgelehnt. Es hatte viel Überzeugungskraft gebraucht, die stärksten Wesen dieser Welt umzustimmen. Letztendlich hatte ihre Lage die Herzen dieser Krieger erweichen lassen. Nun mussten sie auf die Wintersonnenwende warten, die in jener Welt an einem Neujahrstag stattfände. Einem Tag, an dem in der gesamten Welt Frieden und Waffenstillstand herrschte. Anfangs voller Aufregung merkte Eoweli, wie viel Zeit bis dahin vergehen musste. Zeit, die vielen das Leben kosten würde - auf beiden Seiten. Immer deutlicher bekam die junge Prinzessin zu spüren, dass Chaos Atlantis bestimmte, solange zwei Parteien existierten. Unter ihrem Bruder würde es niemals Freiheit geben und mit Tiwaz als Rebellenanführen keinen Frieden.

Die Tage zogen dahin. Bunte Blätter tränkten das Reich. Die Prophezeiungen der Rebellen erfüllten sich. Konflikte waren unvermeidbar geworden. Verluste wurden vertuscht, die Särge in die Flüsse getrieben. Gebete schienen nicht gehört, das Flehen derjenigen, die auf ihre Flucht hofften, wurden zum Schweigen gebracht. Außerhalb der Innenstadt gab es keine Zivilisationen mehr. Es gab nur noch Hunger, Krankheit und ein erbitterter Kampf um die eigene Hoffnung. Ungeduld ergriff die ersten. Die Rufe innerhalb des Untergrunds wurden eindringlicher, dass die Prinzessin keinen Schlaf mehr fand. Das Schicksal der Vertriebenen ruhte auf den schwachen Schultern der Zuversicht. Geduld erwies sich als Zerreißprobe, an dessen Ende die Ungewissheit verweilte.
 

Hände umfassten ihre Hüften, hoben sie ein Stück weit an, dass Eoweli von selbst ein wenig nach vorne rutschte. Die dünnen Laken unter ihrem Körper schützten nur in Maßen vor dem steinigen Boden des Zeltes.
 

Seitdem die Hütten eine nach der anderen niedergebrannt worden waren, mussten die Pangäsanen auf improvisierte Zelte zurückgreifen. Gerade im Spätherbst erwiesen sich die zusammen geflickten Stofffetzen als unzureichende Schutzmauer. Schmerz erfüllte die Prinzessin immer wieder aufs Neue, sobald sie in die Armenviertel zurückkehrte. Die wehleidigen, klagenden Blicke der Vertriebenen im Rücken waren wie ein Stich durch das eigene Fleisch. Nur die sicheren Mauern, die Tiwaz Anwesenheit umgaben, lenkten sie von dem ausbreitenden Leid ab, welches ungeahnte Grausamkeit erfahren hatte. In seine Augen zu blicken, die Überzeugung und Selbstsicherheit ausstrahlten, gaben ihr die Kraft durchzuhalten, sich der Hilflosigkeit nicht hinzugeben. Sie tat es für die Menschen, die auf sie bauten und ihr Leben in ihre Obhut gelegt hatten. Sie war nie darum gebeten worden und trotzdem fühlte sie sich für deren Schicksal verantwortlich.
 

Seufzend wickelte sie die Beine um seine eigenen Hüften, dass er den Augenblick nutzte, ihren Anblick in sich aufzunehmen. Jedes Mal errötete sie, wenn die Blicke so schamlos auf ihr entblößtes Antlitz gingen. Sie genoss seine Aufmerksamkeit, wenn es sie auch immer noch in Verlegenheit brachte. Seine überlegene Statur über sich brachte sie aufs Neue aus den Bahnen. Schließlich beugte er seinen Rücken, das Gesicht wanderte zu ihrem Hals, küsste den Nacken, die Schulter. Die junge Prinzessin versuchte ihre Beine noch weiter zu verknoten als ihr Körper bereits von diesem brennenden Gefühl ergriffen wurde. Die erste Berührung, sobald er in ihr war, raubte ihr auch jetzt noch den Atem. Anfangs von einem leicht stechenden Ziehen bestimmt, fühlte es sich nun wie eine Explosion gesammelter Emotionen an, die von einem einzigen Lustgefühl dominiert wurden. Das Gesicht in die Kissen vergraben hieß sie jede weitere Bewegung willkommen. Ihr Atem ging stoßweise. Mit den Händen auf ihrer Taille packte er sie noch fester und gab den Rhythmus vor. Eoweli ließ sich treiben - von Tiwaz, seinen Bewegungen und ihrer ungezügelten Gier. In einer einzigen befreienden Kapitulation stieß sie einen Lustschrei aus, der wenig später von Tiwaz Knurren abgelöst wurde.

Kurz darauf lag sie in seinen Armen - erschöpft, glücklich. Doch die Freude währte nur kurz, bis die Sehnsucht zurückkehrte. Der baldige Aufbruch war allgegenwärtig. Fester drückte sie sich an ihn und lauschte seinen ruhigen Herztönen.

"Ich wünschte, ich könnte ewig hier liegen bleiben", flüsterte sie und versteckte das Gesicht unter den Büscheln ihrer Haare, dass er ihre glänzenden Augen nicht sehen konnte.

"Du weißt, dass ich dich genauso wenig gehen lassen will", sagte er und klang weniger wie der arrogante Clanführer, dessen Rolle er für sein Leben gern spielte, "bald", seine Worte besänftigen sie.

"Ja. Bald."
 

Auch Eoweli wurde fürweilen auf die Probe gestellt. Geduld war nie eine Stärke von ihr gewesen. Umso tiefer sie in dessen Strudel gerissen wurde, umso mehr kämpfte sie gegen ihre eigenen selbstsüchtigen Dämonen an. Der Gedanke war zum greifen nahe - einfach auszubrechen, mit Tiwaz aus Atlantis zu flüchten, die anderen dabei zurückzulassen. Doch dann dachte sie an all die Schicksale, an Tiwaz Worte, ihr Versprechen und die Stärke kehrte zu ihr zurück.
 

Langsam zog sie kleine Kreise um seinen Brustkorb. Sie fuhr über die Wunde, die gut verheilt war, dass keine Narben zurückbleiben würden. Diese hatte er zu genüge - am Rücken, zwischen der Wirbelsäule, zog sich ein einziger gerader Strich. Eine Verletzung aus Kindstagen, während eines gescheiterten Kletterausflugs. Und dann noch die gezackte Narbe, die knapp unterhalb seines Herzens platziert war - ein Erinnerungsstück, als er versucht hatte seinen Vater von den Wachen loszureißen. Sie wusste, dass er kein Mitleid von ihr wollte. Dass die Pangäsanen ihre Wunden wie Abzeichen trugen.

"Tiwaz", murmelte sie und tippte vorsichtig auf seine Brust, "was wirst du tun, wenn wir auf der anderen Seite sind?"

Er sah zu ihr herunter: "Ich sagte doch, ich würde meiner Prinzessin treu ergeben sein."

Eoweli funkelte ihn an. Es schien ihm Freude zu bereiten, sie zu ärgern. Irgendwann würde sie es ihm heimzahlen. Wenn sie seinen Blicken Paroli bot, war es schwer, Ironie von Ernsthaftigkeit zu unterscheiden.

"Die Frage ist also", er begann über ihren Rücken zu streichen, weil er wusste, dass es sie besänftigte, "was hast du vor?"

"Was ich vorhabe", wiederholte sie wie in Trance, "ich möchte die Länder bereisen, die Reiche erkunden. Noch mehr von dieser neuen Welt sehen. Nicht nur flüchtig, wie auf meinen Reisen. Ich möchte sie richtig kennenlernen. Am liebsten zu Fuß, als ein nie enden wollender Spaziergang." Sie sah hoch zu ihm und kniff die Augen zusammen."Verspottest du mich?"

"Abgesehen von der Vorstellung, dass du mehr als zehn Meilen überstehen würdest - nein." Tiwaz fasste nach einer ihrer Strähnen und wickelte sich diese um den Zeigefinger. "Ich konnte mir schon denken, dass es dich nicht in die künftige Siedlung verschlagen würde. Obwohl du bedenken solltest, dass die Leute eine führende Hand benötigen."

"Ich weiß", seufzte sie und verdrängte die Sorgen, die sie seit einigen Tagen nicht los ließen, "sie werden wohl wollen, dass du die Gruppe anführst. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, die Siedlung zu verlassen."

Er hielt inne. "In ihr auszuharren sehe ich als noch größeren Fehler an. Es stimmt, es braucht jemanden, der die Zügel hält. Aber wenn wir einfach nur in unserem Territorium verrotten, werden wir in einigen Jahren dieselben Probleme haben."

"Woran genau denkst du?"

"Diese Geschöpfe - sie sind uns in allem überlegen: körperlich, geistig. Gemessen an ihren Fähigkeiten können wir ihnen nicht annähernd das Wasser reichen. Das macht uns angreifbar, vor allem, wenn sich eine Gruppe doch dazu entschließt, uns wieder vertreiben zu wollen - egal, ob wir einen Pakt haben oder nicht. Wir dürfen uns auf diesem Versprechen nicht ausruhen. Zu viele Leben stehen auf dem Spiel. Wir verlassen unsere Heimat nicht, um uns von mächtigen Wesen kontrollieren zu lassen."

"Ich möchte nicht, dass unser Neuanfang von Zweifel und Neid bestimmt werden."

"Aber genau das wird passieren. Die Möglichkeit besteht, dass einige von ihrer Angst und Hilflosigkeit zerfressen werden. Darum stimme ich deiner >Wanderung< zu. Wir müssen viel lernen, es wird eine Menge Arbeit auf uns zu kommen. Vielleicht ist es das Beste Bündnisse mit schwächeren Clans zu schließen. Dass wir uns langsam steigern, bis wir im Ansatz ihr Niveau erreicht haben. Es wäre eine Schande, wenn wir das Schlusslicht der Kette bildeten. Es gibt nichts mehr das ich hasse als hinten auf zu liegen."

Eoweli musste kichern. Etwas anderes hatte sie von dem Anführer der Pangäsanen auch nicht erwartet. Ihre Reaktion nahm er mit hoch gezogener Augenbraue hin, bevor er sich auf sie rollte und nach ihren Handgelenken griff. Entschuldigend biss sie sich auf die Unterlippe - ihr Grinsen wollte dennoch nicht weichen. Erst sein durchdringender Blick ließ sie ernst werden. Die Unerschütterlichkeit in seinen Augen verlor nie an Intensität. Seinen Blick erwidernd hauchte sie: "Ich würde mit dir überall hingehen." Daraufhin ließ er von ihr, streckte seinen rechten Arm aus und schnappte sich eine seiner Klingen. Schweigend beobachtete sie, wie er noch das Stirnband zur Hand nahm und sich dann wieder Eoweli zuwandte.

"Wir Pangäsanen glauben", begann er ohne Umschweife, "dass in unserem Blut die Seele fließt und dass nach jedem Blutvergießen ein Stück der Seele schwindet. Darum darf ein Kampf auch nie sinnlos geführt werden." Er umschloss die Klinge mit seiner Faust, dass nur noch die Spitze hervorlugte. "Wenn Blut auf Blut trifft, treffen unweigerlich zwei Seelen aufeinander. Ihre Schicksale werden eins, dass sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen müssen, bis nur noch einer übrig ist", die Klinge ging durch die Innenfläche seiner freien Hand, "aber wenn sich Blut mit Blut vermischt", er griff nach ihrer Hand und schnitt sorgfältig über die reine Haut, dass sie kaum Schmerzen verspürte, "dann werden ihre Seelen eins. Natürlich ist es nur Volksglaube, aber die Bedeutung geht tiefer", er presste seine Wunde auf ihre, ohne seinen Blick von ihren Augen abzuwenden, "ein Seelenbund", fuhr er fort und machte sich mit der anderen Hand daran, das Stirnband um ihrer beiden Hände zu wickeln, "ist mehr als nur ein völkischer Brauch. Er besiegelt ein Versprechen - mein Versprechen, das ich dir damals gegeben habe."

"Tiwaz-" Doch er schüttelte nur den Kopf.

"Es bedarf keiner weiteren Worte."

Also nickte sie bloß, während ihre Hand das süße Brennen entgegen nahm. Sie wurde von ihren Gefühlen überrannt, dass sie keinen bestimmten Gedanken mehr fassen konnte. Also nickte sie ein zweites Mal, dabei verhakte sie ihre Finger mit seinen, dass der Druck sich bis in ihr Innerstes ausbreitete.
 

Zu dieser frühen Stunde ging sie mit einem sicheren Gefühl zurück in den Palast. Wie die letzten Mal begleitete er sie so weit wie es ihm möglich war und ritt dann Richtung aufgehender Sonne davon. Die Wunde unter ihrem Umhang versteckend schlich sie sich in ihr Zimmer, drückte sich an die Tür und lächelte. "Bald", flüsterte sie und spürte weiterhin dieses Kribbeln auf der Hand.

Als die Königin ihr Kind gebar schienen für einige Tage die Widerstände vergessen. Das Volk bejubelte den künftigen Nachfolger, die Insel erstrahlte in ihren Reichsfarben. Wie die Königin vorrausgesagt hatte, war das Königspaar mit einer Tochter gesegnet worden. Ein hellbrauner Schopf mit großen klaren Augen erblickte nach nur wenigen Stunden seine künftigen Untertanen. Die Menge schien besänftigt ob der frohen Kunde. Die Innenstadt wurde hergerichtet, Freude durchtränkte das Zentrum Atlantis'. Es wurde gefeiert, gelacht und auf das Neugeborene angestoßen. Hunger und Unterdrückung waren vergessen - zumindest für diejenigen, denen das Leid erspart geblieben war. Normalität erwies sich als Illusionskünstler. Wer dem Trugbild nicht erlag, wurde mit noch härterer Pein bestraft. Jene Gruppe an Ausgestoßenen nutzte derweil den Frieden, um sich auf ihr letztes entscheidendes Gefecht vorzubereiten. Die Pangäsanen trafen Vorkehrungen. Geheime Treffs wurden nur noch unter strengsten Voraussetzungen organisiert. Alles schien für den großen Tag bereit, dass nur noch die Zeit ihr Versprechen einhalten musste.
 

Es war früher Morgen, laute Stimmen nahe ihres Schlafgemachs lockten Eoweli aus dem Zimmer. Die junge Prinzessin war erst vor einer Stunde aus dem Pangäsanen-Viertel zurückgekehrt und gerade dabei gewesen, die verlorene Zeit mit Schlafen nachzuholen als die Laute zu ihr durchgedrungen waren. Die Augen gerieben öffnete sie die Tür. Nur wenige Schritte von ihr hatten sich zwei Palastwachen vor einer dritten Person gestellt, die zusammen gekauert auf dem Boden hockte. "Was ist hier los?", rief sie den Wachen zu, die daraufhin ihre Köpfe drehten. "Prinzessin", deuteten die Soldaten eine Verbeugung an, "wir haben einen Verräter in unseren Reihen ausgemacht." Sie traten ein Stück zur Seite, dass die junge Prinzessin einen Blick auf den Mann erhaschen konnte. Ihr stockte der Atem. Mit verzerrtem Mund, aus dem kein Wehklagen weichen wollte, sah der Diener zu Eoweli hinauf. "Dieser Diener", dabei zeigte der Eine mit der Speerspitze auf den Mann, "hat sich mit den Landesverrätern zusammen getan und die Barbaren mit Informationen gefüttert."

"Was veranlasst euch zu dieser Annahme?", fragte Eoweli und faltete die Hände, dass sie aufhören mögen zu zittern.

"Sein Weib ist einer von ihnen", antwortete der Linke, und der Rechte fügte hinzu: "Wir haben gesehen, wie er sich in den Palast geschlichen hat. Dabei trug er das hier bei sich." Er hielt ihr ein Schriftstück hin, dass Eoweli nur jenes Symbol der Rebellenarmee erkennen konnte. "Er ist ein Verräter, Prinzessin", wiederholte er und zückte sein Schwert, "Verrätern droht die Höchststrafe."

"Bitte", flehte der Diener und schüttelte den Kopf. Tränen rannen aus seinen Augen.

"Nein!", rief die Prinzessin, fuchtelte mit den Armen und stürmte auf den Diener zu, "ihr werdet diesem Mann kein Leid zufügen."

"Aber Prinzessin", die Wache vor ihr sah sie verduzt an, "Ihr wisst doch, dass Verrätern keine Gnade zuteil wird."

"Und ihr wollt ihn vor meinen Augen hinrichten?" knurrte sie ihn an, dass er einen Schritt zurück wich. Der andere Soldat schien ebenfalls nicht zu wissen, wie er handeln sollte. Er kannte die Regeln, war jedoch gezwungen, den Befehlen der Prinzessin Folge zu leisten. Eine Zwickmühle, die keiner diplomatischen Lösung weichen wollte.

"Macht den Weg frei, Prinzessin", ergriff der Linke schließlich das Wort als er sich seiner Pflichten bewusst wurde, "Ihr wisst, dass wir die Befehle unseres Königs befolgen müssen. Das gilt auch für Euch."

"Ihr", sie sah ihn eindringlich an, "werdet ihm kein Haar krümmen." "Prinzessin", hauchte der Diener hinter ihr, "tut das nicht." "Prinzessin Eoweli", die Wache richtete seine Waffe auf sie, "tretet bitte zur Seite." Doch die junge Prinzessin bewegte sich keinen Schritt, noch ließ sie die Arme sinken.

"Ich sagte, nein!"

"Was ist hier los?", die Stimme ließ die Beteiligten erstarren. König Darets schritt durch den Flur. Nur wenige Meter vor dem Geschehen hielt er inne und sah auf die Szene hinab.

"Mein König", riefen beide Wachen im Chor, "wir...wir haben den Verräter gefunden." Sie verneigten sich, dass ihre Gesichter fast den Boden berührten. Die Anwesenheit ihres Bruders ließen Eowelis Arme schwer wie Blei werden. Seine kalten Augen sahen erst zu ihr, dann zu der Dienerschaft.

"Was ist euer Problem", entgegnete er, dass jedes Wort wie eine Drohung klang.

"N-nun", stammelte einer der Soldaten, "d-die Prinzessin, Eure Hoheit. Wir wussten nicht, was wir tun sollten."

"Ihr wusstet nicht, was ihr tun sollt", wiederholte er, ohne irgendeine Emotion hinein zu legen, "Amedessin", er deutete auf den Diener, "steh' auf." Leicht wackelig leistete der Diener Folge. Sein Blick blieb auf den Marmorboden gerichtet.

"Verschwinde!", die Worte hallten mehrfach durch den Flur. Alle sahen sie zu dem König, der sein Anliegen kein weiteres Mal wiederholte.

"Sollte ich dich noch einmal im Palast erblicken, wird es keine Gnade geben. Weder für dich, noch für deine Familie."

"Ja, Mein König", verneigte er sich, "danke, mein König", und er rannte durch den Flur als wartete an dessen Ende das Licht der Götter.

"Abtreten", wandte er sich ohne Umschweife an die Soldaten, die sich verbeugten und wieder abzogen. Zurück blieben die zwei Geschwister. Eoweli versuchte aus den Blicken ihres Bruders etwas zu deuten, doch in seinen Augen las sie nur Hass und Abscheu - und es war Eoweli, die er so anblickte. Mit ruhigen Schritten kam er auf sie zu. Die Stille, der Blick und seine Bewegungen ließen sie Furcht spüren. Ihr Innerstes erstarrte.

"Ich", begann er, "hatte mich schon gefragt, wann du dich selbst verraten würdest."

Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Noch bevor sie ihren Mund öffnen konnte, hatte er sie an der Schulter gepackt und in ihr Zimmer geschleift. Er war grob, der Griff geradezu schroff, dass sie den Druck noch lange danach zu spüren bekäme. Darets knallte die Tür zu und starrte weiterhin zu ihr herunter.

"Meine eigene Schwester", er verschränkte die Arme vor der Brust, "nicht genug, dass du dich tagsüber heimlich auf die andere Seite schleichst - oder dachtest du, ich würde deine kleinen Ausflüge nicht bemerken?" Er wollte keine Antwort, denn er fuhr ungehindert fort: "Deine Naivität...nein...viel mehr deine Dummheit hat dich glauben lassen, dass du mir etwas vormachen könntest? Du solltest wissen, dass mir nichts verborgen bleibt. Du hattest es meiner Großzügigkeit und Geduld zu verdanken, dass ich nichts wegen deiner Ausflüchte unternommen habe. Doch dein Verrat", er zog das Wort in die Länge, "weißt du eigentlich, was du getan hast? Du hast dich mit Verbrechern eingelassen. Barbaren, die nichts als Unglück und Verderben bringen. Unser Land mit ihren Ideologien ins Chaos stürzen wollen", ein Lächeln huschte über seine Züge, dass es ihr eiskalt den Rücken runter lief. "Du glaubst doch nicht, dass sie dich wirklich respektieren? Du bist nur ihr Werkzeug, das sie für ihre selbstsüchtigen Zwecke missbrauchen. Und du fällst auf diese Scharade auch noch herein."

"Das ist keine Scharade", hauchte Eoweli.

Darets schnaubte. "Du beleidigst unsere Familie! Beleidigst unsere Traditionen! Widersetzt dich den Bräuchen! Verleugnest deine Herkunft, deinen Stand und lässt dich zu allem Übel von diesem Verbrecher entehren!" Eoweli schwindelte der Kopf. 'Woher-'

"Was hat er dir gesagt? Dass er dich liebt? Dir Flausen ins Ohr gesetzt? Dass ihr eine Zukunft hättet?"

"Bruder-"

"Nenn' mich nicht so", knurrte er sie an, "du hast deine Stellung aufs Spiel gesetzt. Für diesen verräterischen Bastard, der deine Unwissenheit für sich ausgenutzt hat, um dich nach Lust und Laune zu benutzen."

"Nein", eine Träne rann aus ihrem Auge, "du bist es, der unwissend ist." Sie konnte sich selbst kaum mehr unter Kontrolle bringen. Zu lange hatten die Gedanken an der Oberfläche gebrodelt. "Du glaubst, du schaffst Frieden? Wie kannst du es Frieden nennen, wenn die Menschen unglücklich sind und leiden? Du nennst mich naiv und unwissend. Das bin ich! Aber du bist nicht besser als ich. Ich habe deinen Weg verfolgt und ich meine, dass er falsch ist. Vater hätte nie gewollt, dass unser Volk-"

"Was weißt du schon, wie Vater dieses Land regiert hat", unterbrach er sie und erhob die Stimme, "du weißt gar nichts. Sonst hättest du ihnen niemals von der anderen Welt erzählt - diesem vermeintlichen >Paradies<." "Die Menschen hatten ein Recht, es zu erfahren."

"Und was dann?", er hob die Arme, "hast du jemals über die Konsequenzen deines Handelns nachgedacht? Was es bedeutet, sie auf die andere Seite zu bringen?"

"Sie wollen nur ein freies Leben."

"Das sagen sie. Aber was denkst du, wird passieren, wenn sie sich dort angesiedelt haben? Was es für die Wesen auf der anderen Seite bedeutet, wenn ein Volk, wie das der Menschen, in ihr Territorium eindringt. In welches Chaos du die andere Seite stürzen wirst. Nur weil du dich von einem romantischen Wort wie Freiheit hast leiten lassen."

"Wir haben die Steine von Orichalcos und Kinnavaritis erhalten, weil sie ein Geschenk an die Menschheit waren. Sie wollten, dass die Welten sich vereinen."

"Wenn sich die Welten vereinen, werden die Menschen - in ihrer Selbstsucht - dieselben Fehler wie in dieser Welt begehen. Die andere Seite wird in Chaos und Leid versinken. Sie werden die Welt nicht respektieren. Sie werden sie erobern und einnehmen wollen. Sie werden versuchen, die Geschöpfe zu kontrollieren und zu unterwerfen. Es wird kein Vertrauen und keine Nächstenliebe geben. Nur Hass, Neid und Furcht. So wie es die Menschheit seit hunderten von Jahren händelt. Wünscht du dir dieses Schicksal für die Geschöpfe, die uns ihren Großmut zuteil werden ließen?"

"Aber wir respektieren und wertschätzen diese Wesen doch auch-"

"Weißt du denn noch immer nicht, warum? Wir sind ein Teil von ihnen. Unser Blut, unsere Abstammung - in unseren Adern fließt die Quelle von Atlantis. Die Verbundenheit zu den anderen Geschöpfen hat mit unseren Vorfahren zu tun. Wir haben ihr Blut geerbt, nur deshalb akzeptieren uns die Steine und nur deshalb sind wir die einzigen, die die andere Welt akzeptieren können." In Eowelis Kopf begann es sich zu drehen. Zu viel schlug auf sie ein. Zu viele Emotionen, zu viele Gedanken.

"Ich möchte den Menschen eine Chance geben. Wir können nicht die Richter spielen, bevor sie ihre Wahl getroffen haben."

"Das kann ich nicht zulassen", entgegnete Darets und funkelte sie an, "deine Gefühle gehen mit dir durch. Du bist nicht mehr bei klarem Verstand."

"Wie kannst du das sagen!"

"Weil es die Wahrheit ist. Dieser Verräter hat dir so den Kopf verdreht, dass du nicht mehr objektiv denken kannst. Du bist noch zu jung und ohne Erfahrung. Kein Wunder, dass du glaubst, dass es Liebe ist."

"Was weißt du denn von Liebe", fauchte sie zurück, dass Darets Gesicht eine andere Farbe annahm. Es geschah so schnell, dass Eoweli es nicht bemerkte. Stattdessen spürte sie eine Hand, die nach ihrem Anhänger griff. Darets hatte sie zu sich herangezogen. Seine Nasenflügel bebten. So wie er den Anhänger festhielt, drückte es ihr die Kehle zu. Der Stein begann zu glühen, kurz darauf ließ er los und sah erst auf seine Hand, dann zu Eoweli. Diese konnte nicht glauben, was passiert war. Das war nicht ihr liebender Bruder, dieser hätte ihr nie etwas Böses gewollt. Der Mann vor ihr war der Prinzessin fremd. Schützend umfasste sie ihre Kette. Die Fassung wieder erlangend richtete sich Darets auf und sagte: "Du wirst dein Zimmer nie mehr verlassen. Wenn ich dich auch nur in der Nähe der Tür sehe, werde ich deine >Freunde< einen nach dem anderen den Kopf abtrennen lassen. Ich hoffe, meine Warnung genügt, dass du dich meinem Willen nicht noch einmal widersetzt", leer waren seine Augen als er sich von ihr abwandte und das Zimmer verließ. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, sackte die junge Prinzessin zusammen. Sie wollte nicht glauben, was er ihr erzählt hatte. "Tiwaz", flüsterte sie und fasste sich an den Bauch, "ich weiß, dass es nicht wahr ist. Wie glücklich du warst als ich es dir gesagt habe...ich werde einen Weg finden, mein Liebster. Für uns. Für alle."

Schweigen umhüllte fortan die Gerüchte. Das >unbekannte Paradies< verblasste in der Menschenmenge. Die Bewohner von Atlantis kehrten zur Tagesordnung zurück. Zumindest ihre Einwohner. Die Minderheit, noch immer von Sorgen und Unterdrückung geplagt, kämpften im Stillen weiter. Die Abwesenheit der Prinzessin ließ Unruhe in den Reihen entstehen. Niemand wusste, was geschehen war, noch was geschehen sollte. Der Herbst neigte sich dem Ende, die Nächte wurden länger. Der Tag der Entscheidung rückte näher, doch niemand brachte Kunde über Prinzessin Eowelis Verbleib. Jener Tag, als sie dem König gegenüber gestanden hatte, führte dazu, dass sie nicht nur an die Palastmauern gekettet war. Ihr eigenes Gemach hatte man zu ihrem persönlichen Käfig erklärt. Verschlossen blieb die Tür, außer die Diener brachten die Mahlzeiten aufs Zimmer. Es folgte dieselbe Prozedur - tagtäglich. Morgens, Mittags und am Abend brachte eine Wache einen Teller Speisen, stellte diesen hinter die Schwelle und schloss darauf wieder die Tür. Gespräche gab es keine. Nur Leere und Einsamkeit innerhalb des Schlafgemachs. Denn dort wusste der König seine einzige Schwester zu kontrollieren. Mit ihrem Stein jedoch verhielt es sich anders. Darum postierten sich Leibwächter vor der Tür, die jedes Geräusch von innen genauestens zu studieren hatten. Der Prinzessin war es kaum möglich, die Gefolgschaft ihres Bruders auszutricksen. Zu sehr nagte die Angst um die Pangäsanen und diejenigen, die sich freiwillig als Rebellen bezeichneten. Ungewiss blieb das Wohlergehen der Widerstandskämpfer, deren Sorge um die Prinzessin in Wut auf den König übergegangen war. Der bestehende Unmut vereinte sich mit diesem neuen Gefühl. Die Rebellen begannen sich von Neuem zu erheben. Proteste wurden neu belebt. Die Fahnen des Widerstandes wehten im stürmischen Wind des Spätherbst. Soldaten versuchten die Widerstände zu unterdrücken, doch schafften sie es nicht, ihren Willen zu brechen. Gewalt herrschte wieder auf beiden Seiten. Die friedliebenden Bewohner bangten erneut um ihre vom Los erwählte Zukunft. Die Stimme des Untergrunds schallte durch die gesamte Stadt und erreichte letztendlich den Thronsaal.
 

Sie hörte, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Das einzige Geräusch des Tages, das noch irgendwie von Bedeutung war. Nur heute war etwas anders. Die Dienerschaft hatte bereits das Mittagsmahl gebracht und für die Abendstunde war es noch viel zu früh. Eoweli erhob sich von ihrem Schreibpult. Sie hatte ein paar Skizzen angefertigt. Von ihren Lieblingsgeschöpfen. Ihre letzte Reise auf die andere Seite war vor einigen Wochen gewesen. Die Begegnung mit ihren Freunden war kurz und von leidvollen Bekundungen bestimmt. Die Angst, von den Wachen ertappt zu werden, war zu groß. Die junge Prinzessin konnte kaum mehr Mut schöpfen. Die ersten Tage hatte sie geglaubt, irgendwie aus dem Palast fliehen zu können. Ohne Unterstützung von innen erwies sich der Gedanke als bloße Phantasterei. Sie kam sich machtlos vor. Ohne Hilfe schien sie wert- und nutzlos. Und trotzdem: sie durfte keine Schwäche zeigen, niemals aufgeben. Das hatte sie versprochen.

Gespannt lauschte sie, wie der Schlüssel sich drehte. Unwillkürlich fasste sie sich an den Bauch. Sie hatte es ihren Kleidern und dem Desinteresse der Dienerschaft zu verdanken, dass ihre angedeuteten Rundungen bisher unbemerkt geblieben waren. Mit jedem voranschreitenden Tag wuchs die Sorge, dass sie entdeckt würden und die Konsequenzen, die daraus entstünden.

Nachdem das verheißungsvolle Klicken ertönte, passierte - nichts. Eoweli faltete die Hände und durchbohrte die Tür mit ihren angespannten Blicken. Die Tür bewegte sich kein Stück. Ebensowenig die Klinke. Was hatte das bloß zu bedeuten? Minuten vergingen. Die Prinzessin blieb regungslos, als könnte jeder Schritt eine Falltür unter ihr aufklappen lassen. Dann drückte sich die Klinke nach unten, die Tür wurde aufgeschoben und mit verschränkten Armen lehnte sich ihr Bruder an dessen Schwelle. Ihre Seelenspiegel blickten gespannt aufeinander.

"Wolltest du mich auf die Probe stellen", fragte die Prinzessin und ließ den Blick hinter ihren Bruder schweifen, "sehen, ob ich der Versuchung erliege und die Flucht ergreife? Ich muss dich leider enttäuschen." Noch immer bewegte sie sich kein Stück von ihrer Position. "Was willst du"?", hauchte sie. Seit ihres großen Streits hatte sie Darets nicht mehr zu Gesicht bekommen. Auch jetzt schien er nicht erfreut, sie zu sehen. Die kühle Distanz, die weit über ihre physische Entfernung hinausging, war auf beiden Seiten spürbar. Die vergangenen Wochen hatten den Schmerz ihres emotionalen Verlustes abstumpfen lassen.

"Ich will dir nur sagen", Darets schloss kurz die Augen, dass es seinen Worten mehr Ausdruck verlieh, "dass ich dich auffordere zu gehen. Nimm' dein Verbrecher-Pack, verschwindet aus Atlantis und kehrt nie mehr zurück." Die Augen weit aufgerissen wusste sie nicht, ob sie vielleicht nur träumte. "Bru-."

Doch er schüttelte bloß den Kopf. "Bis Mitternacht habt ihr Zeit, meine Insel zu verlassen. Außerhalb von Atlantis ist es euch gestattet zu flüchten. Denk' an meine Worte. Alles, was danach passiert, liegt in deiner Verantwortung. Also", er deutete hinter sich, "beeil' dich, bevor ich es mir noch anders überlege."

Ihr gingen so viele Fragen durch den Kopf, so viele Gedanken, die ausgesprochen werden mussten. Die Zeit im Nacken ließ sie schweigen. Stattdessen bewegten sich ihre Beine. An ihrem Bruder vorbei, dem sie einen dankenden Blick zuwarf. Sie wurde immer schneller und schneller, bis sie zu rennen begann - in Richtung Stallungen, dort, wo ihr Schimmel sehnsuchtsvoll auf sie wartete. Hastig auf dessen Rücken gesprungen, galoppierte sie zu den Schlosstoren, durch die Pforte, entlang des einzigen Pfades. Die Umgebung ignorierend hatte sie nur ein Ziel. Mit bloßer Willenskraft trieb sie ihr Pferd voran. Es gehorchte seiner Herrin, spürte es ihre Aufregung.

Den Wind im Nacken erreichte sie die Grenzviertel. Augen konnten nicht so schnell auf den Ankömmling blicken als Eoweli bereits zum Treffpunkt der Rebellenarmee angelangt war. Sie erblickte Tiwaz, wie er die letzten Holzscheite für den kommenden Winter mit der Axt spaltete.

"Tiwaz", rief sie und zwang ihr Pferd stehen zu bleiben. Der Rebellenanführer hielt in seiner Bewegung inne. Die Prinzessin vor ihm ließ Tiwaz die Axt fallen. Er kam auf sie zu, stellte sich neben ihr Pferd und half ihr herunter zu kommen.

"Prinzessin", raunte er, "geht es euch gut?"

Eifrig nickte sie. "Wir haben keine Zeit für Erklärungen", sie griff nach seinem Kragen und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, "Tiwaz, wir müssen gehen. Noch heute Nacht. Er...er hat mich gehen lassen. Wenn wir es vor Mitternacht schaffen zu fliehen, dann-"

"Ganz ruhig", er packte sie bei den Hüften. Sein eiskalter Blick ermahnte sie gleichmäßig zu atmen. "Du sagst, er hat dich gehen lassen? Und, dass wir fliehen können?"

Sie nickte, etwas zu stark, dass ihr der Kopf drückte. "Wir brauchen Boote. Die Leute - ich weiß nicht, wie vielen wir davon erzählen können...ich-" Sie merkte, wie alles zu viel wurde. Damit hatte sie nicht gerechnet. Diese eine Chance - sie durfte jetzt nicht versagen.

"Eoweli", die Stimme ihres Gegenübers riss sie aus dem Panikstrudel, "wir haben drei Boote, fünf können meine Männer bis Anbruch der Dunkelheit beschaffen. Überlass' das uns. Du solltest deine Kräfte schonen. Denk' daran, dass du noch nie so viele Menschen auf die andere Seite gebracht hast. Wenn du dich jetzt verausgabst-"

"Ja, ich weiß", gestand sie kleinlaut. Ihre Hände begannen zu zittern. Tiwaz ergriff sie und hielt sie sich an die Lippen.

"Wir können nur eine begrenzte Anzahl an Einwohnern mitnehmen - hundert, wenn überhaupt."

"Versucht so viele Menschen wie möglich auf die Boote zu bringen. Und vergesst nicht, ihr müsst sie mit einem Seil verbinden, damit ich alle mitnehmen kann. Und bitte", sie sah ihm tief in die Augen, "lass' die Schwachen und Kranken nicht zurück. Auch wenn deine Logik sich dagegen sträubt. Ich habe es ihnen versprochen."

"Dein Wunsch sei mir Befehl", entgegnete er ernst, "lass' mich jetzt meine Aufgabe tun. Vor dem letzten Glockenschlag sind wir von der Insel."

"Ja", diese Worte flossen in ihr Innerstes. Sie konnte nicht fassen, dass ihre Gedanken bald Wirklichkeit würden. Mit einem letzten Nicken Seitens Tiwaz orderte er einen seiner Männer an, bei Eoweli zu verweilen. Er selbst schnappte sich zwei seiner engsten Vertrauten und eilte mit ihnen durch die nächste Gasse. Alles, was der jungen Prinzessin jetzt blieb, war es abzuwarten. Erwiesen sich die letzten Wochen und Monate als qualvolles Ausharren, wurden die nächsten Minuten zur Folter ihrer eigenen Geduld. Allmählich breitete sich die Unruhe auch innerhalb des Viertels aus. Die Stimmung - kaum greifbar für die junge Prinzessin, welche mit ihrem eigenen Gefühlsbad zu kämpfen hatte. Erst als Tiwaz mit seinen Männern zurückkehrte, schien sich ihr Gedankenchaos zu beruhigen. Sie hatten die zwei Boote beschaffen können, sowie einige zusätzliche Materialien zur Stabilität, dass sie das Gewicht von über hundert Mann aushielten. Aus den Lagern wurde das Nötigste geholt - Verbände und Stoffe hielten die Frauen in ihren zittrigen Händen, während an ihren Rücken die Jüngsten mit einem Leinentuch befestigt wurden. Den Alten hatte man kleine Säcke voll Samen in die Hände gedrückt, die später für die erste Aussaat genutzt werden sollten. Eoweli wusste, dass jedes einzelne Samenkorn hart erkämpft worden war. Für die Pangäsanen, die kaum etwas von ihren eigenen Vorräten abgeben konnten, war diese Auslese eine halbe Frühjahrsration. Sie hoffte, dass die Erde der anderen Seite so fruchtbar war, wie man es ihr erzählt hatte. Mit dieser Ausbeute kamen sie zumindest über den Winter.

Immer wieder huschten Männer an ihr vorbei, deren Gesichter so zerwühlt waren, wie ihre Frisuren vermuten ließen. Sie bereiteten die Boote vor, ließen hier und da den Hammer schwingen. Die verbliebenen kümmerten sich um die Kranken und Verletzten. Dann wurden die Seiten der Boote mit straffen, dicken Seilen verbunden. Die Sonne war in der längsten Nacht des Jahres bereits hinter dem Horizont verschwunden als die Bewohner die Boote bestiegen. Das Mittlere der fünf betrat die Prinzessin. Nun war es also soweit. Ihr Herz sprang ihr vor Aufregung beinahe aus der Brust. Sie war erstaunt, dass kein Funken Wehmut sie ergriff. Keine Trauer darum, ihre Heimat zu verlassen. Ihr Zuhause, das ihr einst so viel Wärme und Liebe gegeben hatte. Hinter dem Schleier spürte sie eine ebenso mächtige Verbindung, dass die Trauer von einem Gefühl überdeckt wurde, die einer Heimkehr sehr nahe kam. Den Blick auf Tiwaz gerichtet, der eines der Ruder gepackt hatte, wusste sie, dass sie nichts mehr auf Atlantis hielt. Ihre Zukunft lag auf der anderen Seite.

In gleichmäßigen Bewegungen zogen die Männer die Ruder durchs Wasser, dass die Boote eine einheitliche Linie bildeten. Dieses Vorgehen kostete Zeit, führte aber auch dazu, dass keines der Seile reißen konnte. Um jeden von ihnen auf die andere Seite zu ziehen, brauchte Eoweli diese Art der Verbindung - eine unumgängliche Notwendigkeit, für die sie keine andere Lösung wusste. Die Hand auf die Brust gedrückt sah sie der kleiner werdenden Insel hinterher. Von hier wirkten die Lichter der Stadt wie kleine rote Punkte. Die junge Prinzessin blinzelte.

"Schneller", rief Tiwaz, dass es die anderen vier Boote erreichte. Eowelis Augen weiteten sich. "Das ist-", sie konnte ihren Satz nicht beenden. Ein Kloß hatte sich durch ihren Hals geschoben.

"Sie attackieren das Viertel", knurrte der Anführer und blickte auf den roten Fleck, der sich auszuweiten schien. Erste Rauchschwaden ragten empor.

"Warum?", Eoweli krallte die Finger in ihren Schoß.

"Weil sie es können", antwortete Tiwaz. Sie sah es ihm an - wie ihm dieser Anblick die Fassung raubte, "es war zu erwarten, dass sie das Viertel niederreißen würden. Sie scheinen gut vorbereitet...wir dürfen jetzt nicht schlappmachen, sonst-" Ein roter Streifen blendete ihre Augen. Der Feuerfpeil landete knapp vor ihrem Boot. Die junge Prinzessin erstarrte. Die gesamte Küste wurde ein flammendes Inferno. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie die Soldaten ausmachen, die sich ebenfalls zu einer Linie formiert hatten. Jemand blies in ein Horn, der Ton drückte sich in ihr Trommelfell. Wenige Augenblicke später schossen die Pfeile wie Hagelkörner auf sie hernieder. Die ersten Schreie ertönten. Säugling weinten, Flüche und Gebete wurden zu gleichen Teilen ausgestoßen. Panik ließ Eowelis Innerstes zu Stein erstarren. Sie konnte nicht aufhören auf die Pfeile zu blicken. Das erste Boot begann bereits zu kentern. Qualm ließ die Schreie im Keim ersticken.

"Links", rief einer der Männer. Ihr eigenes Boot begann zu wackeln.

"Nein", Eoweli wollte nicht begreifen. Kannte sie längst die Wahrheit, versuchte sie diese mit aller Macht abzuschütteln.

"Eoweli", Tiwaz Stimme drang zu ihr durch. Sie sah sein Gesicht nicht, aber seine Stimme ließ sie annehmen, dass er dicht an ihrem Ohr war, "du musst es tun! Jetzt!"

"I-ich", sie fasste sich an die Stirn. Eine warme Flüssigkeit rann ihre Schläfe hinab. "Ich kann nicht", keuchte sie, "er...er wird vor der Küste warten. Er wird sehen, wenn ich den Stein einsetze und es verhindern."

"Was?!"

"Du weißt, Darets Stein kann das Tor zur anderen Seite schließen. Ich brauche genug Abstand zu ihm, dass unsere Steine keine Verbindung schaffen können... Das weiß er."

"Dieser-", mehr hörte sie ihn nicht sagen. Die Schreie übertönten ihn. Todesschreie, die der Hoffnungslosigkeit erlegen waren. Sie presste die Lippen zusammen und blinzelte gegen die Tränen. Der Rauch machte es ihr unmöglich. Ihre Augen wandten sich von der Zerstörung ab. Eoweli konnte nur noch starr geradeaus blicken. Unaufhörlich schossen die Pfeile Feuer in die Boote. Ein präziser Schuss lenkte einen von ihnen direkt auf die junge Prinzessin, die sich nicht von der Stelle bewegte. Das Licht erstarb - ein dunkler Schatten bedeckte ihr Gesicht. Blaue Augen trafen ihre Seelenspiegel. Tiwaz hatte sich vor sie gestellt, für einen Moment schien es als wäre er zur Eissäule geworden. Er öffnete seinen Mund. Blut trat zwischen seinen Lippen hervor. Dann kippte er nach vorne, auf Eoweli, welche die Arme um ihn schlang. Ihre Hände ertasteten seinen Rücken. Mehrere Pfeile hatten ihn durchbohrt.

"Nein", flüsterte sie.

Ein Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. "Ich...sagte doch, dass ich-" Schweigen. Die Zeit hielt an.

"Tiwaz", ihre Atmung setzte aus, "nein", sie strich ihm über den Rücken. Doch er regte sich nicht. Sein Körper wurde immer schwerer, Eoweli drohte unter dem Gewicht umzukippen. "Nein", sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Die Lider halb geschlossenen schien es als wollte er sich nur kurz ausruhen. "Nein", sie rüttelte an ihm, "Nein!", ihr Schrei hallte durch die Nacht. Die Stimmen der anderen erstarben. Sie konnte nicht aufhören zu schreien. Nichts geschah, was ihrem Willen entsprungen war. Hitze floss durch ihren Körper, erreichte den Stein um ihre Kette. Der Ozean erzitterte. Rotes Licht trat aus der jungen Prinzessin heraus. Diesmal war es keines der Feuerpfeile. Es war Kannavaritis. Energie strömte aus dem roten Stein, riss die Raum-Zeit-Pforte auf, spaltete das Wasser unter sich. Stimmen nisteten sich in ihren Kopf ein. Die junge Prinzessin verlor das Bewusstsein, noch bevor das Leuchten des Steines erloschen war.

Wasser trat aus ihrer Lunge. Langsam erlangte sie das Bewusstsein zurück. Tiwaz Sie riss die Augen auf. Ihr Kopf war schwer. Zwang sie, auf dem Boden liegen zu bleiben.

"Prinzessin?", die Männerstimme ließ sie zur Seite blicken. Neben ihr kniete einer der Pangäsanen, "endlich seid Ihr erwacht."

"Alep", flüsterte sie und biss sich auf die Unterlippe. Vorsichtig half er ihr auf die Beine zu kommen. Kaum festen Boden unter den Füßen drohte sie bereits umzuklappen. Alep fing sie im letzten Moment auf. Die junge Prinzessin konnte nicht länger in sich halten. Tränen strömten aus ihren Blut unterlaufenen Augen. Unaufhaltsam flossen sie über ihr erhitzten Gesicht.

"Ich habe sie getötet", rief sie und schüttelte den Kopf, "ich-" Der Pangäsane nahm sie in die Arme. Getrocknetes Blut und Erde drückte sich in ihr Gesicht. Eoweli konnte nicht aufhören zu weinen. "Ich allein bin schuld! Ich hätte sterben müssen."

"Sch", Alep schüttelte den Kopf, "es ist nicht Eure Schuld. Ihr, Ihr habt uns gerettet."

"Ich habe alle getötet!", sie griff nach den zerfetzten Stoff seines Hemdes.

"Nicht alle", er packte sie noch fester, "die, die überlebt haben... Prinzessin! Ihr dürft jetzt nicht verzweifeln." Aber genau das wollte sie. Eoweli fühlte sich als hätte man ihr die Gedärme herausgerissen. Sie wollte auf der Stelle sterben. Nichts hatte mehr Bedeutung. Langsam griff Alep nach ihren Schultern, dass sie gezwungen war, in sein Gesicht zu blicken.

"Prinzessin", hauchte er. Selbst in seinem Blick sah sie Angst und Verzweiflung. Wie sollte es auch anders sein - hatte er das Oberhaupt seines Clans verloren, sowie den engsten Vertrauten in seinen Reihen. Tiwaz Das Bild des Pangsänen verschwamm vor ihren Augen.

"Ihr habt uns auf die andere Seite gebracht. Ich bitte Euch, Prinzessin. Ihr dürft jetzt nicht verzweifeln. Tut es für diejenigen, deren Leben gerettet wurde." Eoweli sah sich um. Etwa zwanzig Passagiere hatten es lebend aus dem Boot geschafft. Das Glucksen eines Säuglings ließ sie hellhörig werden. Im Kreis standen die Überlebenden; die meisten von ihnen waren schwer verwundet. Diejenigen, die glimpflich davongekommen waren, stützten die Verletzten. Erst jetzt sah sie die große Wunde an Aleps Schulter, die er mit seinen eigenen Kleiderfertzen verbunden hatte.

"Die andere Seite", wie im Traum sprach sie es aus. Sie konnte nicht fassen, dass sie die Pforte tatsächlich durchschritten hatten. In dieser Entfernung hätte es für Darets ein Leichtes sein müssen, Orichalcos' Siegel über ihren Stein zu legen.

"Prinzessin Eoweli", die singende Stimme hinter ihr, ließ sie zusammenzucken. Die Königin der Drachen, die erste ihrer Art, stand hinter der jungen Prinzessin und ihrem Gefolge. Dieses hatte nicht einmal die Kraft, sich vor der Drachenkönigin zu fürchten. Zu sehr kämpften die meisten gegen ihre eigenen Qualen an. Und wenn sie keine Wunden trugen, so schmerzte der Verlust ihrer Kameraden und Familien.

"Wie", Eoweli sah zu ihrer Freundin hinauf, "wie konnte ich nur so dumm sein. Wie konnte ich glauben", ihre Stimme erstickte im Tränenfluss. Die Königin der Drachen breitete ihre Schwingen aus und legte sie um die zerbrechliche Prinzessin.

"Diese Menschen", sagte sie und legte das Kinn auf Eowelis Kopf, "sie werden dafür bezahlen."
 

In jener Nacht breitete sich das Feuer über den gesamten Stadtrand aus. Niemand wurde verschont. Blut nährte das Feuer. Die königliche Armee tötete jeden Reichsfeind, bis nur noch das Knistern verbrannter Zelte zu hören war. Die Pangäsanen waren auf Atlantis besiegt, die Rebellenarmee endgültig geschlagen worden. Die Erinnerung lebten in den langsam erstickenden Rauchschwaden weiter. Die Pläne des Königs waren aufgegangen - zumindest zu Teilen. Was er nicht erahnen konnte - die Kräfte seiner jüngeren Schwester hatten durch den Verlust ihrer Liebe einen unerwarteten Ausbruch erlebt. Prinzessin Eowelis Verzweiflung hatte einen Riss innerhalb der Dimension eröffnet. Das Portal zur anderen Seite - es gab nun keinen Schleier mehr, der die Welten voneinander trennte. Der Riss zog sich über Kilometer am Atlantik entlang. Dem König war es nicht möglich, mithilfe seines Steins diesen Riss wieder zu versiegeln. Zu gewaltig war er, um ihn allein durch Orichalcos schließen zu können. Die Ruhe, die Atlantis aufsuchen sollte, währte nur kurz. Die Einwohner erfuhren von den sonderbaren Geschehnissen. Das >unbekannte Paradies< flammte neu auf. Noch stärker zerriss die Einigkeit der Insel. Immer mehr riefen nach der neuen Freiheit. Kämpfe und Widerstände gingen nun von den Einheimischen aus.

Die Ereignisse erreichten nicht die neue Siedlung auf der anderen Seite. Nachdem die letzten Überlebenden zu jener Lichtung gereist waren, hatten sie die Vergangenheit hinter sich gelassen. Ein neues Leben begann für die Flüchtlinge. Der Pakt mit den fünf großen Clans wurde durch den freundschaftlichen Händedruck besiegelt. Die neuen Bewohner bauten Stück für Stück ihre Siedlung auf. Normalität kehrte langsam ein. Nur die Prinzessin konnte die Mauern hinter sich nicht einreißen. Trauer blieb ihr ständiger Begleiter, die sie immer schwächer werden ließ. Von Kummer und Verzweiflung zerfressen, hinterließ es ein großes Loch in ihrem Innersten und ließ sie schließlich erkranken. Den toten Leib im Bauch erlag sie ihren inneren Blutungen. Unter krümmenden Schmerzen verliefen ihre letzten Stunden. In Einsamkeit, unter dem Schatten eines Laubbäumes, der ihre Schreie vom Wind abfangen konnte.

Epilog

"So trug es sich vor 10.000 Jahren zu. Niemand weiß, was mit dem Körper der Prinzessin geschah. Viele Gerüchte kursierten um den Verbleib ihrer Überreste. Ebenso das Schwert, das sie nach jener Nacht immer bei sich trug und von dem behauptet wurde, von ihm ginge eine seltsame Aura aus. Das Schwert des Anführers. Dasselbe Schwert, das 5000 Jahre später von einer Kriegerin Namens Ryoko geführt wurde, die im Namen derjenigen kämpfte, die gegen die Arroganz der menschlichen Rasse vorgingen. Nicht jeder, der die Chance nach wahrer Freiheit ergriff, ehrte das Geschenk seiner Vorfahren. Der Kampf um die Verbannung der Menschheit aus der anderen Welt forderte ihren Tribut. Dem Träger von Orichalcos gelang es, die angeschlagene Kriegerin zu besiegen. Ryoko starb, das Schwert blieb verschollen. Selbst mir blieb sein Aufenthalt verborgen. Jetzt, 5000 Jahre, später ist die Prinzessin von neuem wiedergeboren worden, um das Gleichgewicht der Macht wiederherzustellen. Die Steine warten aufeinander, sowie auf die Entscheidung ihrer Herren."
 

"Warum erzählst du mir das alles?"
 

"Weil ich in Euren Augen die Wahrheit sehen kann. Ich hörte, Ihr seid ein skeptischer Mann, der nichts auf Schicksal und Vorherbestimmung gibt. Doch selbst Ihr könnt die Wahrheit nicht länger leugnen."
 

"Mein Schicksal. Wenn das wirklich stimmt-"
 

"Ich sehe Euch Eure Frage an. Ihr zweifelt an Euren Entscheidungen. An Euren Gefühlen. Dass sie womöglich von der Unausweichlichkeit bestimmt wurden. Dass Ihr keine Wahl hattet als ihr zu begegnen. Dem Mädchen dort drüben, dass im anderen Zimmer liegt und keinen Augenblick an seinem Weg zweifelt. Sie kennt die Wahrheit, ebenso wie ihr, Seto Kaiba. Es liegt jetzt bei Euch, sie zu akzeptieren oder nicht."



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