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Libertalia

von

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Etwas Blaues

Es war zehn Uhr nachts auf Mêlée Island. Es war immer zehn Uhr nachts auf Mêlée Island. Jedes Mal, wenn Kiara in ihre Heimat zurückkehrte war es dunkel und grau, die Straßen wie leergefegt und der Vollmond schien hell, wenn er sich hinter den bauschigen Wolken zeigte. Sie wanderte durch die bläulichen Gassen von Mêlée Town. In den Fenstern der alten Fachwerkhäuser flackerte warmes, gelbes Licht. Hineinsehen konnte sie jedoch nicht.
 

Ihre Schritte trugen sie über die Pflastersteine zum Hauptplatz, wo die große Uhr im Turm der Festung ihren Verdacht bestätigte. Eine Ratte kreuzte ihren Weg, doch sie erschrak nicht mehr. Zu häufig war ihr der kleine Nager bereits begegnet. Wo sie auch hinsah, alle Häuser waren hell erleuchtet, als wäre die kleine Stadt mit Leben gefüllt. Auf die Straßen drang kein Laut hinaus. Lediglich das Rauschen des Meeres war zu hören. Der Hafen lag nah.
 

Man hatte die Stadt auf einem Vorsprung am Rande eines Bergs erbaut. Zusammen mit dem Klippen die steil ins Meer führten, schaffte man die perfekte, natürliche und unumgängliche Umrandung, welche kaum eine Möglichkeit für Flucht bat.
 

Kiara wägte ab, ob sie runter zur Scumm Bar gehen sollte. Aber dann fiel ihr ein, dass sie noch zu jung war um Alkohol zu trinken, also machte sie sich auf den Weg durch das Tor des Walls in Richtung Gouverneursvilla. Vorbei an dem Krämer, der Kirche und dem Gefängnis. Nie hatte sie so viele erleuchtete Fenster gesehen. Die hohen, bunten Bleiglasfenster des Gotteshauses waren dabei besonders beeindruckend. Es schien als würde die ganze Insel eine riesige Party feiern. Und sie war nicht eingeladen.
 

Das große Herrenhaus im georgischen Stil abseits der Stadt wirkte merkwürdig deplatziert. Kein Weg führte zu den Eingangstreppen hinauf, überall wucherte ungebändigt das Gras und die Klippen krochen unangenehm nah an das Gebäude heran.
 

Ein glatzköpfiger Mann saß am Abgrund, den Blick stur auf das Meer gerichtet. Vorsichtig trat Kiara heran, um ihn nicht zu erschrecken. Sie erkannte, dass er Haken anstelle seiner Hände hatte und sie einen blauen Papageien in seinem Schoß hielten. Sie war sich nicht sicher, ob Vögel völlig starr auf ihrem Rücken liegen sollten.
 

„Ist er tot?“, hörte Kiara sich fragen.
 

„Nein, er schläft nur“, meinte der Mann unbekümmert, ohne sich umzudrehen.
 

„So einen hab‘ ich hier noch nie gesehen“, sagte sie.
 

„Ist ein North Blue Blauling“, erwiderte der Mann.
 

Kiara stutzte. „North Blue? Was macht er hier in der Karibik?“
 

„Sehnt sich nach den Fjorden.“
 

Sie wusste, wo es dem armen Vogel sicherlich gut gefallen würde. Besser jedenfalls als ihr, so viel war sicher. Wobei selbst die weißen Schneelandschaften von Avalugg Island einen solchen Ex-Papageien vermutlich nicht mehr beeindrucken konnten.
 

„Weißt du, ich wollte nie ein Pirat werden. Aber die Augenklappe und die Haken… da bin ich irgendwie in dieses Milieu gerutscht“, seufzte der Glatzkopf. „Eigentlich wollte ich immer Maler werden.“
 

„Sei doch einfach beides?“, schlug Kiara vor. Sie verstand nicht, was ihn aufhielt. Etwa der triviale Fakt, dass er keine Hände besaß? Das hielt sie für keinen gerechtfertigten Grund, seine Träume aufzugeben. Wo ein Wille, da auch ein Weg. Davon war sie fest überzeugt.
 

Als Kiara sich umdrehte, erkannte sie, dass die Tür zur Villa sperrangelweit offenstand. Zwar erinnerte sie sich nicht daran, dass die Tür jemals mitsamt Riegel abgeschlossen wurde, jedoch war sie auch nie so einladend. Einige Männer kamen mit Schatztruhen, Skulpturen und Armen voller Kleidung aus dem Anwesen heraus. Sie unterhielten sich in einer Sprache die Kiara nicht verstand und ignorierten die Piratin völlig, während sie lachend an ihr vorbeiliefen.
 

Ein Zettel am Türrahmen verkündete: “Anmeldeliste zur Plünderung!“ Je stärker sie sich auf die Namen konzentrierte, desto verworrener wurden die Buchstaben. Als sie erneut die Überschrift lesen wollte, hatte sie das Gefühl, dass dort “Ein Stück vom Glück“ oder irgendein anderer Quatsch stand. Der nächste Schwall Leute kam aus der Tür und Kiara versuchte sich behutsam an ihnen vorbei zu quetschen.
 

Im Salon sah es aus wie immer. Die Wände waren mit Portraits bereits verstorbener Familienmitglieder geschmückt, aber bis auf einen detailverliebt verzierten Mahagonitisch, einem prachtvoll geformten Ottomanen-Sofa, einigen Pflanzen und einer Ecke zum Schachspielen lud nichts zum Verweilen ein.
 

Als Kind hatte sie Spaß an dem vielen Platz gehabt. Sie rannte von einer Wand zur nächsten, machte Turnübungen und tanzte durch den Saal. Je älter sie wurde, desto karger und kahler kam der Raum ihr vor. Traurig war die Welt der Erwachsenen. Wichtige Abendveranstaltungen wurden hier gehalten, zur Knüpfung von Handelskontakten, zum Sehen und Gesehen werden. Beinahe hätte sich ein schnöder Neureicher bei einem solchen Bankett mal mit ihr verlobt, doch sie hatte ihn eiskalt abblitzen lassen.
 

Kein Stimmengewirr erfüllte jetzt noch den Salon, kein Klirren von Gläsern und Besteck oder Kratzen am Geschirr. Stattdessen hallten Schluchzer von den Wänden wider. Auf dem Ottomanen kauerte die Gouverneurin, das Gesicht von roten Locken umhüllt, tief in ihren Händen vergraben. Der Diamant an ihrem Ehering war matt und verblasst.
 

Kiara trat erschrocken einen Schritt zurück. Das war das erste Mal, dass sie ihre Mutter weinen sah. Völlig überfordert stand sie da, stocksteif und wusste nicht, was sie tun sollte. Warum weinte sie? Wegen der Plünderung? Wegen ihr? Oder wegen…
 

Mit einem Mal machte Kiara auf ihren Absätzen kehrt und rannte aus dem Haus. Die Klippe war verschwunden, stattdessen stand sie mitten im Dschungel. Über den Baumkronen sah sie die Lichter im Hafen in der Morgendämmerung. Ihre Füße trugen sie in Windeseile den geschwungenen Weg den Hügel hinunter nach Puerto Pollo. Der helle Sandstein der orangen bedachten Fachwerkhäuser glitzerte im frühen Sonnenlicht. Je weiter sie rannte, desto größer und höher kamen ihr die Gebäude vor. Oder wurde sie kleiner? Sie rannte am Theater vorbei, dessen eigenwilliges Glockenspiel gerade zur vollen Stunde schlug, über die kleine Brücke am Bach, stolperte beinahe im matschigen Sand vor dem Restaurant und stürmte die krumm und schief gepflasterten Steintreppen hinunter zum Frachthafen, wo das Schiff ihres Vaters ankerte.
 

Auch hier trugen Männer Truhen und Säcke vor sich, schwer bepackt schafften sie die Ladung Stück für Stück über den Landungssteg auf die Galeone. Kiara band sich die Haare zu einem Zopf und schnappte sich einen blauen Gehrock, welcher auf einem Fass drapiert lag. Sie hob eine Kiste und wankte damit zum Deck hinauf. Dieses Mal würde er sie mitnehmen. Ob er wollte oder nicht.
 

„Hat jemand meinen Mantel sehen?“, fragte die Stimme ihres Vaters.
 

Ihr Herz raste. Wenn er sie sah, würde er sie wieder an Land absetzen. Eilig sprang sie durch die Ladeluke unter Deck und versteckte sich hinter den Vorräten. Wie lang könnte sie hierbleiben? Ab wann lohnte sich eine Rückfahrt nicht mehr? Zwei Tage? Drei? Das sollte sie aushalten. Dieses Mal würde er nicht einfach so verschwinden und nie wieder auftauchen. Dieses Mal wollte sie seine Abenteuer miterleben und nicht nur von ihnen lesen.
 

Er konnte sie nicht abwimmeln, sie war genauso ein Pirat, wie er! Sie hatte fechten gelernt, Leute bestohlen und Schätze ausgegraben. Ihre Mutter hatte sie sogar einmal aus dem Gefängnis von Phatt Island freikaufen müssen. Aber auch nur, weil sie gerade so nicht zwischen den Gitterstäben hindurch gepasst hatte.
 

„Ist hier jemand?“, hallte es in das Lager hinunter.
 

Verflixt! Jetzt doch noch nicht! Das Schiff war nicht einmal losgesegelt. Wenn sie ihre Anwesenheit nicht leugnen konnte, dann musste sie ihn wohl oder übel überzeugen.
 

„Bitte, gib mir nur eine Chance! Ich verspreche, du wirst es nicht bereuen! Ich hab‘ gelernt auf mich aufzupassen! Ich bin kein Kind mehr!“
 

„Na zum Glück, sonst könnte ich mir nie verzeihen“, erwiderte eine andere Stimme viel zu nah an ihrem Ohr.
 

Ein Ruck fuhr durch Kiara und sie riss die Lider auf. Überrascht starrte sie in die dunklen Augen des Rothaarigen. Dieser runzelte die Stirn und sah sie mit einer Mischung aus Belustigung und Sorge an.
 

„Huh? Was?“, nuschelte sie und musste sich der Kontrolle ihres Körpers erst wieder Gewahr werden.
 

„Du sprichst im Schlaf“, bemerkte Shanks, die eigene Stimme noch tief und rau. Ein Zeichen, dass er selbst ebenfalls gerade erst erwacht sein musste. „Hast du schlecht geträumt?“
 

Zerstreut drehte sich Kiara auf den Rücken und rieb sich durch das Gesicht. „Ich weiß nicht. Es war… sehr wirr.“
 

Flüchtig wanderte ihr Blick zu ihrem blauen Armeemantel, welcher über der Stuhllehne hing. Er sei nicht schlecht, wenn man Pirat spielen wollte, hatte Shanks damals zu ihr gesagt. Sie hatte es trotzig sofort dementiert. Aber plötzlich fühlte sie sich ertappter denn je.
 

Mit etwas Schwung setzte sich der Rothaarige auf und ächzte leise, während er die verblienen Gliedmaßen ausgiebig streckte. „Du träumst in letzter Zeit öfter, kann das sein?“
 

„Ich träume jede Nacht“, bemerkte Kiara und zog die verrutschte Decke wieder bis an die Nasenspitze.
 

„Oh? Aber du bist erst seit einigen Nächten so gesprächig.“
 

„Ich dachte, du schläfst wie ein Stein. Wieso kriegst du das mit?“ Nun war sie hellwach und begab sich ebenfalls in Sitzposition. „Und was erzähle ich überhaupt?!“
 

Er musterte sie mit einem verschwiegenen Lächeln, welches wohl so viel wie ein gedehntes ‘Tja‘ ausdrücken sollte.
 

Eine gemeingefährliche Fingerspitze bohrte sich in seine Seite und stupste ihn wiederholt und erbarmungslos. „Rede!“
 

Amüsiert über die klägliche Foltermethode lachte Shanks auf und rang sie mit einem Arm zurück in die Matratze. Das Gewicht seines Oberkörpers reichte aus um sie festzupinnen. Die heimtückischen Finger hielt er gleich mit fest. „Was krieg ich dafür?“, schmunzelte er.
 

„Die Erkenntnis mich morgens nicht zu reizen.“ Kiara wandte sich und versuchte Shanks von sich runter zu stoßen. Ein zweckloser Versuch sich zu befreien. Mit etwas Mühe könnte sie es schaffen die Hände aus seinem Griff zu lösen. „Und ‘nen Arschtritt.“
 

Sein Gesicht neigte sich noch etwas näher zu ihr herunter, das Grinsen wurde breiter. „Klingt nach Meuterei.“
 

„Erst sobald es diese Kabine verlässt“, entgegnete Kiara trocken.
 

Erleichtert füllten sich ihre Lungen wieder mit ausreichend Luft, als Shanks entschied sie genug getriezt zu haben und sich von ihr runter rollte. Eine Hand behielt er trotzdem in seiner und zog sie in eine Umarmung. Seine Brust drückte sanft gegen ihren Rücken.
 

„Du diskutierst jede Nacht mit jemandem.“ Shanks blies amüsiert die Luft aus. „Die gleichen Sprüche wie Luffy. Nimm mich mit; Ich bin erwachsen; Ich kann auf meinen eigenen Beinen stehen.“
 

Kiara presste die Lippen zusammen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sich diese Träume häuften. Geschweige denn, dass sie ihre Meinung offenbar laut kundtun musste. Er hatte Recht, sie klang dabei wie ein Kind. Peinlich, dass er anscheinend jedes einzelne Wort hörte.
 

„Wem willst du was beweisen?“, fragte Shanks an ihrem Ohr.
 

„Keine Ahnung“, log sie eilig. „Ich vergesse zu schnell, was überhaupt im Traum vorkam.“
 

„Nicht im Traum, sondern in der Realität.“
 

Mit einem Mal fühlte sich Kiara auf eine merkwürdige Weise durchschaut. Erzählte sie im Schlaf mehr als er preisgeben wollte? Oder war er einfach so gut darin, ihre Lügen zu erkennen? Sie überkam immer häufiger das Gefühl für ihn wie ein offenes Buch zu sein, selbst wenn sie nichts sagte. In den meisten Fällen verdankte sie dies wohl ihrer Mimik, zwecks Abwesenheit eines Poker Faces.
 

Lasch zuckte sie mit der Schulter und seufzte tief. „Wer weiß? Vielleicht mir selbst.“ Möglicherweise war diese Annahme gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Unsicher wandte sie den Blick zum Rothaarigen. Ob er sich mit der Antwort zufriedengab?
 

Er küsste sie flüchtig auf die Wange. „Ich finde, du machst dich gut. Als Pirat. Du lernst schnell. Und du baust deine Fähigkeiten stetig weiter aus. Die Gegner, die vor uns liegen, werden alle nur noch stärker, dennoch ist es wichtig, dass du dein eigenes Tempo gehst und dich nicht übernimmst, weil du glaubst mithalten zu müssen.“
 

Kiara verdrehte hilflos die Augen. Noch stärker? Die kleinen Fische überforderten sie schon. Wollte er sich am Ende etwa mit einem dieser übermächtigen Kaiser anlegen? Sie seufzte. „Da kommt noch einiges auf uns zu, oder?“
 

Ein Funkeln blitzte in Shanks‘ entschlossenen Augen auf. „Der Spaß fängt gerade erst an.“



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