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Willkommen im Bittersweet

von

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Jasmin

Jeden Wochentag kam der Schüler nach dem Unterricht ins Bittersweet, trank die Mischung des Tages, machte seine Hausaufgaben und blieb bis das Café geschlossen wurde.

Und jeden Tag wartete Reel sehnsüchtig darauf, dass die Ladentür aufschwang und ebendieser unauffällige Junge hineinkam und ihm ein Schmunzeln auf die Lippen zauberte.

„Heute war die Mischung etwas säuerlich“, stellte sein neuer Stammkunde kritisch fest.

„Dann war die Bergamotte zu viel. Ist notiert.“

„Warte. DU machst die Mischung jeden Tag?“ Ertappt gerieten Reels Gedanken etwas ins Stolpern, aber er verbarg seine Unsicherheit hinter aufgesetztem Selbstbewusstsein.

„Ja, und dich hab ich zu meinem Versuchskaninchen gemacht.“ Wieder schenkte sein Gegenüber ihm dieses wunderschöne, warme Lächeln, in dem keine Hintergedanken und nichts Gekünsteltes lag.
 

Langsam leerte sich das Café und auch Raven wechselte bereits in ihre Zivilkleidung.

„Schließt du heute ab? Ich muss noch die Steuer für diesen Monat machen.“

„Ja, mach dir keinen Stress.“ Dankbar verabschiedete sie sich mit einem Kuss auf Reels Wange und machte sich dann durch die Hintertür davon.

Die Uhr passierte ihre Öffnungszeiten und Reel reinigte gewissenhaft die Gerätschaften hinter dem Tresen.

„Oh. Ist ja schon wieder so spät. Ich muss raus, oder?“ Der Schüler sah betrübt auf seine Handyuhr und Reel blickte sich kurz nachdenklich um. Sein Versuchskaninchen war der einzige Gast, der noch hier saß, und Reel hatte noch einiges an Arbeit vor sich.

„Wenn du dich bereiterklärst meine heutige Tagesmischung mit weniger Bergamotte nochmal zu bewerten, kannst du noch bleiben bis ich abschließe.“ Das Gesicht des Jungen hellte sich erheblich auf und er zog bereitwillig von seinem Platz in der Ecke zu einem Barhocker am Tresen um.

„Ich bin übrigens Aiden.“

„Reel“, antwortete er und deutete subtil auf sein Namensschild.

„Ach so spricht man das aus. Ich hab mich schon gewundert.“

„Hör mir auf. Was ich schon für Verhunzungen meines Namens ertragen musste, geht auf keine Kuhhaut. Von 'Wheel' über 'Real' bis hin zu Absurditäten wie 'Räl' war alles dabei.“

„Na ein Glück hab ich dich nie mit Namen angesprochen.“

„Wieso? Wie hättest du mich denn genannt?“ Aiden rang kurz mit sich bevor er verlegen mit der Sprache rausrückte.

„Rell.“ Schon wieder musste Reel ganz unwillkürlich lachen. Sein Gegenüber war so ehrlich und unbedarft, dass es Reel einfach den Boden unter den Füßen wegzog und seine steinerne Fassade immer mehr zu bröckeln begann.

„Das geht ja geradeso noch. Aber bitte sag das trotzdem nie wieder.“

„Ist das dein richtiger Name? Oder eine Kurzform?“

„Beides.“ Aiden blickte ihn etwas irritiert an. „Mein vollständiger Name lautet Relakesch, aber den verwende ich nie. Alle nennen mich Reel und so stelle ich mich auch vor, wenn man mich nach meinem Namen fragt. Also ist 'Reel' in meinen Augen mein richtiger Name.“ Mit dieser Logik konnte Aiden nicht streiten. „So.“ Vorsichtig stellte Reel eine Tasse vor Aiden auf den Tresen. „Drei bis vier Minuten ziehen lassen und dann das Teeei rausnehmen.

Weniger Bergamotte und dafür eine Spur von etwas anderem. Mal sehen, ob du erkennst, was es ist.“ Aiden unterdrückte ein verlegenes Lachen.

„Ich glaube, du überschätzt meine Fähigkeiten als Geschmackstester.“

„Dann musst du die halt mal trainieren“, neckte Reel ihn mit einem Zwinkern und nahm einige Besteckstücke in die Hand. Betont lässig lehnte er sich mit der Hüfte gegen den Tresen und polierte das silbern glänzende Edelstahlbesteck. Verdammt, warum wurde er jetzt plötzlich so nervös? Er hatte doch gar keinen Grund dazu.
 

Angeregt unterhielten sich die beiden, während Aiden seine Meinung zu der Teemischung abgab und Reel das Café derart gründlich aufräumte, wie er es vermutlich seit über einem Jahr nicht mehr getan hatte. Irgendwann war er dann aber doch mit seiner Arbeit fertig – obwohl er sich wirklich Zeit gelassen hatte.

Er verschwand ins Hinterzimmer, wo er eilig in seine Zivilkleidung wechselte, sich seinen Rucksack und seinen Helm schnappte und dann schnellstmöglich wieder zu Aiden nach vorn kam.

Der staunte nicht schlecht, als er Reel nun nicht mehr in dem gewohnten Outfit eines Kellners – in Hemd, Stoffhose und Schürze – sah, sondern in einer zerrissenen, schwarzen Jeans, einem hellgrauen T-Shirt mit unzähligen Ziernähten und einer schwarzen, ausgewaschenen Sweatjacke, die von so viel dekorativem Metall geziert wurde, dass sie vermutlich über zwei Kilo wog.

Reel beobachtete ganz genau, wie sich Aidens Mimik ob seines Aussehens veränderte, doch er fand nicht die kleinste Spur von Abfälligkeit in seinem Blick – nur Überraschung und eine gewisse Faszination, was Reel viel mehr freute als er zugeben wollte.

Gemeinsam verließen sie das leere Café. Reel schloss die Tür hinter ihnen ab und rüttelte noch einmal prüfend an selbiger.

„Danke, dass ich noch etwas bleiben durfte. Und auch für das Gespräch.“

„Kein Ding. Es ist immer so schrecklich langweilig, wenn ich alleine Schließen muss, und du sahst so aus, als wolltest du lieber noch nicht wieder gehen.“ Aiden seufzte betrübt.

„Nein, eigentlich nicht. Aber da kann man nix machen. Was muss, das muss.

Danke jedenfalls. Bis morgen.“ Mit diesen Worten und einem unverblümten Lächeln verabschiedete der kleine Schüler sich und lief zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.

Reel sah ihm noch einen Moment lang mit einem unbewussten Schmunzeln auf den Lippen nach, bis der brünette Haarschopf um die Ecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand.

Verdammt. Er hatte sich grade in den Kleinen verknallt. Reel spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und verbarg seine Röte schnell in seinem Motorradhelm.
 

Am nächsten Tag wanderten Reels Augen fast schon im Minutentakt entweder zur Uhr an der Wand oder zur Eingangstür. Aiden hatte 'bis morgen' gesagt, also würde er heute wiederkommen, und Reel fieberte diesem Moment schon die ganze Zeit ungeduldig entgegen.

Als nun endlich das übliche lärmende Rudel an teuer gekleideten Bonzenschülern das Café betraten, trommelte Reel nervös mit den Fingern auf dem Tresen herum und starrte unentwegt zur Tür.

„Musst du aufs Klo, hast du zu viel Kaffee getrunken, oder kickt das Ritalin?“, riss Lamia ihn unsanft aus seinen Gedanken.

Sie war eine manipulative Schlange mit dem Gesicht eines Engels, aber Reel gegenüber legte sie ihr unschuldiges Getue stets ab. Er wusste wer und wie sie wirklich war und hatte keinerlei Probleme mit ihren Praktiken, also gab es keinen Grund ihm etwas vorzuspielen.

„Hast du nicht eine Bande Häschen, die du verschlingen kannst?“ Subtil deutete Reel auf einen Tisch, an dem soeben eine Gruppe von drei Jungs Platz genommen hatte und Lamia verhalten wartende Blicke zuwarf.

Sie seufzte einmal leise, wischte das vulgäre Grinsen von ihrem Gesicht und setzte ihr süßestes Lächeln auf. Mit federleichten Schritten schwebte sie nahezu durch den Raum und nahm die Bestellungen der gaffenden Jungs entgegen – strahlend wie ein Atomkraftwerk und mindestens genauso ungesund.
 

Endlich schwang die Tür erneut auf und ein unauffälliger Schüler, mit braunem Haarschopf schob sich ins Café. Sofort war Reels Unmut wie weggeblasen und er setzte bereits eine Tasse mit seiner heutigen Mischung auf.

Auch Aidens Trübsinn verflüchtigte sich, sobald er die schlanke Gestalt seines Lieblings-Baristas hinter dem Tresen erblickte. Von Weitem begrüßte er ihn mit einem offenherzigen Lächeln und einem schwachen Nicken, und setzte sich dann an seinen üblichen Stammtisch in der Ecke.

Nur wenig später stand Reel auch schon neben ihm und stellte die Teetasse auf den Tisch.

„Heute mal sehr experimentell. Also erschreck´ dich nicht beim Trinken.“

„Trinken auf eigene Gefahr?“

„Ja, so kann man es ausdrücken. Willst du noch irgendwas anderes? Raven hat einen hervorragenden Schokokuchen gebacken.“

„Verlockend. Aber ich fürchte, dafür reicht mein Kleingeld nicht.“ Etwas verdutzt blickte Reel auf den Schüler vor sich. Allein schon die Kleidung, die er grade trug, hatte vermutlich mehr gekostet, als der Inhalt von Reels gesamtem Kleiderschrank, aber die Schamröte in Aidens Wangen bezeugte den Wahrheitsgehalt seiner Worte.

„Du weißt aber schon, dass ich dir für den Tee nichts berechne, oder? Immerhin kann es gut sein, dass der gar nicht schmeckt. Darum bist du ja mein Versuchskaninchen.“ Überrascht sah Aiden zu ihn hoch. Ihm war zuhause auch aufgefallen, dass er am Vortag keinen seiner beiden Tees bezahlt hatte, aber er hatte es für einen Fehler von Reel gehalten und nicht für Absicht.

„Danke, dann nehm´ ich ein Stück“, gab er kleinlaut und mit einem verlegenen Schmunzeln zurück.
 

„Nawwww. Du stehst auf den Kleinen“, begrüßte ihn Ravens neckende Stimme, als Reel wieder hinter dem Tresen ankam.

„Na und? Er ist nicht so arrogant, wie die anderen vom Plec-Gym, und redet kein dummes Zeug.

Außerdem ist er irgendwie niedlich.“ Das Plectranthus-Gymnasium war die große Schule hier gleich um die Ecke, auf die höhergestellter Bewohner dieser Gegend ihre Kinder schickten.

Ebendiese neureichen Edelschüler machten einen erheblichen Teil der Einnahmen des Bittersweet aus – nicht zuletzt auch dank Ravens geschicktem Personalmanagements – das die leicht zu beeindruckenden Teenager immer wieder ins Café lockte.

Berechnend wählte Reel das größte Stück des Schokokuchens aus und drapierte es dekorativ auf einem Teller.

„Schreib ihm doch deine Handynummer mit Schokosoße auf den Rand.“

„Raven? Halt die Klappe!.“ Seine Schwester grinste ihn schelmisch an und auch auf Reels Lippen schlich sich ein verlegenes Schmunzeln. Kurz war er glatt versucht, ihren scherzhaften Rat zu beherzigen, aber er schüttelte die dumme Idee entschieden ab und verzierte den Tellerrand stattdessen mit kunstvollen Schnörkeln.
 

„Ich hab keine Lust mehr“, jammerte Lamia im Hinterzimmer, während sie nonchalant einen ganzen Liebesbrief mitsamt Umschlag an die Pinnwand heftete.

„Dann mach doch Schluss für heute. Wenn du willst, kann ich das Schließen übernehmen.“

„Echt jetzt?“ Mit großen Augen starrte sie Reel an. „Hat Raven dir was ins Essen gemischt oder bist du auf Drogen?“, feixte sie ob Reels ungewohnter Freundlichkeit.

„Halts Maul, oder ich nehm´ das Angebot wieder zurück.“ Das ließ Lamia sich nicht zweimal sagen. In Windeseile zog sie vor Reels Augen die weiße Bluse aus und schlüpfte stattdessen in ein bauchfreies, violettes Oberteil mit tiefem V-Ausschnitt.

„Wenn du so rumrennst, holst du dir was weg.“

„Und wenn du nicht aufhörst so dumme Sprüche zu klopfen, nenn ich dich bald nur noch 'Mama'.“ Trotzdem öffnete Lamia noch einmal ihren Spind und nahm einen dünnen, weißen Cardigan heraus. „Bye bye, Reel“, und schon verschwand sie durch die Hintertür.

Reel seufzte erleichtert auf. Ihm war es überhaupt nicht wichtig freundlich oder kollegial zu sein – das hatte er bei Lamia auch gar nicht nötig – er verfolgte zwei ganz spezielle Ziele mit diesem Angebot.

Zum Einen wollte er verhindern, dass Lamia mit Aiden ihre Spielchen trieb, und zum Anderen wollte er wieder ein bisschen mit den niedlichen Schüler allein sein.

Aber das brauche ja keiner zu wissen – schon gar nicht Lamia.



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