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Roter Mond

von

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Väter und Söhne

Der Gebäudekomplex lag am Rand des Viertels. Tatsächlich lag er so weit am Rand, dass Scott, wenn er ein Fenster gehabt hätte, von dort aus auf das Gebiet der Stray Dogs hätte hinabschauen können. Er hatte keins, also blieb ihm dieses Problem erspart. Dort drüben war es nicht trostloser als hier, aber die Dogs hätten auf die Idee kommen können, dass Scott ein wachsames Auge zu viel war. Was das bedeutete, musste ihm niemand erklären. Es gab nur wenig, was man heutzutage noch besitzen konnte, und wenn man ihm das Kostbarste davon wegnahm, blieb quasi nur noch der Weg in die Verwertungsanlagen. Der Begriff „jemanden zu Brei schlagen“, bekam auf diese Weise doch gleich eine ganz neue Wendung.
 

„Pass auf, dass du nicht über die Stufe stolperst. Und fass nichts an. Und tritt dir die Füße ab.“
 

Dass das Letzte ein Scherz gewesen war, ging Kael offenbar ab, denn er blieb doch tatsächlich an der Tür stehen und sah zu Boden.
 

„Da ist keine Fußmatte“, stellte er fest.
 

„Muss wohl geklaut worden sein“, knurrte Scott und schob den Jungen kurzerhand nach drinnen. Er schaltete das Licht an, das irgendwo oben in der Decke saß und mit greller Schonungslosigkeit sein Heim beleuchtete. Viel gab es nicht zu sehen. Ein Bett, einen Tisch, einen Fernseher. Das war’s. Seine wenigen Habseligkeiten waren in eingelassenen Schränken in der schmutzigweißen Wand verstaut, ebenso wie die Dusche, die nur zu bestimmten Zeiten des Tages funktionierte und für genau 242 Sekunden warmes Wasser spendete, bevor sie sich für die nächsten Stunden wieder abschaltete. Für alles andere gab es eine öffentliche Sammelstelle am Ende des Ganges. Ein Ort, den Scott nur dann aufsuchte, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
 

„Du bist ein Mann, du kannst in ’ne Flasche pinkeln“, hatte sein alter Herr dazu immer gesagt und Scott hatte das nie in Frage gestellt. Es gab Dinge, die prägten sich eben ein.
 

„Hast du Hunger?“ Scott wies auf den Replikator, der ebenfalls nicht viel mehr als ein Loch in der Wand war. Es gab eine Schüssel, einen Löffel und einen Knopf, mit dem man Nahrung anfordern konnte. Viel mehr brauchte diese Maschine nicht.
 

Kael nickte und tropfte dabei den Fußboden voll. Scott drückte an eine Stelle in der Wand und holte ein Handtuch aus der daraufhin aufgleitenden Schublade. Es war grau, zerschlissen und kratzig.
 

„Zieh dich erst mal aus, ich schau mal, ob ich was Passendes für dich finde.“
 

Eine weitere Schublade enthielt Scotts Reservekleidung. Viel war es nicht. Braune Hosen, weiße T-Shirts, Unterwäsche und Socken. Keine weitere Jacke, keine Schuhe. Der Junge würde ohne auskommen müssen.
 

„Ich habe die Sachen von Joe bekommen“, sagte der jetzt, während er sich aus den viel zu großen Sachen schälte und sie mangels einer anderen Möglichkeit auf den Fußboden legte.
 

Scott verkniff sich die Frage, wer Joe war. Je weniger er von dem Jungen wusste, desto besser. Womöglich würde er sich doch noch dazu entscheiden, ihn zu Geld zu machen. Dann war es besser, sich nicht emotional auf ihn einzulassen. Nicht, dass Scott das vorhatte. Aber in Ermangelung von Katzen, die einem zulaufen konnten …
 

„Hier, die sind trocken“, brummte er und warf Kael ein Hose und ein Shirt hin. Die Unterwäsche behielt er für sich. Danach holte er seine Schüssel heraus. Das Material hatte bereits einen Sprung. Er würde sich bald eine neue kaufen müssen, wenn er nicht direkt vom Boden essen wollte. Obwohl das den Geschmack vielleicht verbessert hätte.
 

„Willst du Pods dazu? Ich hab noch Nasi Goreng und irgendwas, von dem die Beschriftung fehlt. Könnte also Bratwurst mit Sauerkraut sein oder Wackelpudding oder Cheeseburger. Wenn du Glück hast.“
 

Scott drehte sich mit den Pod-Packungen in der Hand zu Kael um. „Also pur, Chinesisch oder das Überraschungs-Menu?“
 

Kael öffnete den Mund um zu antworten, als es auf einmal an der Tür klopfte. Scott verdrehte die Augen.
 

„Ich bin nicht zu Hause“, brüllte er die Tür an. Er hatte so eine Ahnung, wer da draußen stand.
 

„Du hast auch schon mal besser gelogen“, kam es prompt zurück. „Na los, lass mich rein.“
 

Scott stöhnte.
 

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil du ne Nervensäge bist. Außerdem hab ich Besuch.“

„Besuch?“
 

Man hörte ein helles Lachen.
 

„Das ist wirklich ne ganz miese Ausrede. Du hast niemals Besuch.“

„Heute schon.“

„Och, Scott, jetzt mach schon auf. Es ist kalt hier draußen.“

„Dann geh nach Hause!“

„Da ist es langweilig.“

„Lies ein Buch.“

„Hab ich schon.“

„Sieh fern.“

„Hab ich auch schon.“

„Dann lackier dir meinetwegen die Fußnägel. Meine Güte, Trix, es passt heute nicht.“
 

Für einen Moment glaubte Scott, die Schlacht gewonnen zu haben, aber dann verkündete die Stimme vor der Tür: „Wenn du mich nicht reinlässt, fange ich an zu schreien und behaupte, du hättest mich angefasst.“
 

„Na und? Du bist volljährig.“

„Ja, aber meinst du wirklich, das interessiert die Dogs, wenn sie die Chance haben, dich in die Finger zu kriegen.“
 

Scott biss die Zähne zusammen und knurrte. Dieses kleine Aas!
 

„Na schön“, bellte er und knallte die Schüssel so heftig auf den Tisch, dass der Löffel mit einem Scheppern heraussprang und auf dem Fußboden landete. „Du hast gewonnen.“
 

Er murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, das nicht für Kaels Ohren bestimmt war, bevor er zur Tür ging und den Öffner betätigte.
 

„Komm rein“, schnauzte er und zog seine Besucherin gleichzeitig nach drinnen. Immerhin hatte er heute gleich zwei Schmarotzer am Hals und Sauerstoff wuchs schließlich nicht auf Bäumen.
 

„Darf ich vorstellen? Das ist Kael. Kael, meine Nemesis.“
 

Die so eben Vorgestellte strahlte unter ihrer mit einem neonfarbenen Grinsen verzierten Maske von einem dunkelbraunen Ohr zum anderen. An den Seiten hatte sie ihre Haare abrasiert. Der Rest ringelte sich in einer Flut pinkfarbener Dreadlocks bis zu ihrem Rücken herab. Violette Strumpfhosen, neongrüne Shorts und ein mindestens eine Nummer zu kleines Top in einem derart grellen Gelbton, dass man mit Sicherheit einen Waffenschein dafür brauchte, vervollständigten das Outfit. Daneben muteten die schwarzen Militärstiefel fast schon normal an.
 

„Uh, Scott“, gurrte sie und legte den Kopf schief, sodass sich die pinke Haarpracht gefährlich zur Seite neigte. „Ist der nicht ein bisschen zu jung für dich?“
 

„Lass die blöden Witze“, knurrte Scott und stieß Trix nicht unabsichtlich aus dem Weg, als er wieder zurück zum Replikator ging. „Das ist Arbeit, kapiert?“
 

„Aber du nimmst nie Arbeit mit nach Hause,“ sagte Trix, während sie ihre Maske abnahm.
 

„Hab mich umentschieden.“
 

Er stellte die Schüssel in die Replikatoröffnung und drückte den Knopf. Mit einem röhrenden Dröhnen erwachte die Maschine zum Leben, es blubberte und pumpte und im nächsten Moment fiel ein Haufen unansehnlicher, grauer Matsch in die Schüssel. Scott nahm sie, klaubte im Vorbeigehen den Löffel vom Boden auf und hielt Kael beides hin.
 

„Hier, dein Essen.“
 

Der Junge beäugte zuerst die Schüssel, danach den Löffel. Er sah zunächst auf den Schlüsselinhalt und dann zu Scott.
 

„Was ist das?“
 

Scott hielt ihm eine der Podpackungen hin. „Jetzt ist es Nasi Goreng,“
 

Kael betrachtete die Tüte mit den zwei schwarzen Plastikstücken. Sie waren etwa so groß wie eine Fingerkuppe und auf der durchsichtigen Packung leuchtete die Abbildung des indonesischen Reisgericht.
 

„Wofür ist das?“
 

„Du musst sie in die Nase stecken“, erklärte Trix, bevor Scott antworten konnte. Sie musterte den Jungen mit unverhohlener Neugier.
 

„Da sind Geruchsstoffe drin. Die gaukeln deinem Gehirn vor, dass die Pampe nach was schmeckt, das nicht toter Penner und Scheiße ist.“

„Trix!“

„Was? Ist doch kein Geheimnis, wo der Kram herkommt. Man darf nur nicht beim Essen darüber nachdenken.“
 

Sie grinste und zwinkerte Kael zu, bevor sie sich mit der Selbstverständlichkeit einer Königin auf Scotts Bett niederließ.
 

„Runter da, Bitch.“

„Zwing mich doch, Arschloch.“
 

Scott hatte nicht übel Lust, sie beim Wort zu nehmen, aber er beherrschte sich. Wie immer. Er hätte Trix nie wirklich etwas angetan, dass über einen groberen Rauswurf hinausging. Dummerweise wusste die knapp 20-jährige das und nutzte es schamlos aus.
 

„Also erzähl mal“, fuhr Trix im Plauderton fort und holte einen Pop raus. Sie wickelte ihn aus und steckte ihn in den Mund, bevor sie das sich so auf das Bett setzte, dass sie fast mit Kael zusammen am Tisch saß. „Woher kommst du? Ich hab nämlich so das Gefühl, du  bist nicht aus der Gegend.“
 

Kael, der immer noch nicht sicher schien, ob er den Brei wirklich essen sollte, sah auf.
 

„Ich weiß nicht genau“, antwortete er nach einem kurzen Zögern. „Mein Vater und ich lebten sehr abgeschieden.“
 

Die Worte hallten in Scotts Kopf wieder und trafen auf ihr erst wenige Stunden altes Gegenstück. Unbewusst spannte er sich. Was der Junge da von sich gab, klang zu glatt, zu einstudiert. Unbeirrt dessen fragte Trix weiter.
 

„Und wie kommst du hierher? Bist du aus dem falschen Bus gestiegen, oder wie? Und warum hängst du ausgerechnet mit Scott ab? Ich mein, er ist jetzt nicht das beschisstenste, versoffene Arschloch, das ich kenne, aber …“

„Trix!“
 

Ohne viel weitere Worte zu machen, ging Scott um den Tisch herum, legte die Hände auf die Tischplatte und lehnte sich zu Kael hinüber.
 

„Jetzt pass mal gut auf, du Spaßvogel. Ich hab dich mitgenommen, weil du mir leidgetan hast und weil du gesagt hast, dass du Kohle hast. Es ist offensichtlich, dass du nicht von hier bist. Wenn ich mal raten sollte, würde ich sagen, du kommst aus Eden.“
 

Kael antwortete nicht. Dafür schnappte Trix hörbar nach Luft.
 

„Aus Eden? Aber da leben nur die Superreichen. Der ganze Bezirk ist abgeriegelt wie der Arsch einer Jungfrau. Da kommst du nicht rein oder raus, ohne dass du nach Strich und Faden auseinandergenommen wirst.“
 

Scott wies auf Kael.
 

„Tja, sieht so aus, als hätte Margera ein Schlupfloch gefunden. Oder jemand hat ihn reingelassen. Der Junge sagt, Margeras Männer hätten geholfen, seinen Alten zu killen. Jetzt machen Sie Jagd auf ihn.“
 

Trix pfiff durch die Vorderzähne. „Wow, dann hat er ja gleich mal so richtig hingelangt. Aber was wollen die von ihm?“
 

„Tja, das frage ich mich auch. Kannst du uns diese Frage vielleicht beantworten?“
 

Scott hatte sich nicht besonders bemüht, die Drohung, die hinter seinen Worten lag, zu verbergen. Kael, der immer noch mit dem Löffel in der Hand am Tisch saß, sah von einem zum anderen.
 

„Ich weiß es nicht. Ich schwöre euch, ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass sie in unser Haus kamen, meinen Vater erschossen und mich mitgenommen haben. Wenn Joe nicht gewesen wäre …“
 

Scott ballte die Hand zur Faust und unterdrückte nur mit Mühe den Drang, damit gegen die Wand zu schlagen.
 

„Wer ist eigentlich dieser Joe?“, fragte er stattdessen. Vielleicht gab es jemanden, auf den er das Problem abwälzen konnte.
 

Kael zuckte ein wenig hilflos mit den Achseln.
 

„Er arbeitet auch für Margera. In der zweiten Nacht, nachdem sie mich mitgenommen haben, kam er zu mir und hat mich aus dem Käfig geholt. Er hat gesagt, dass wir uns heute Abend am alten Bahnhof treffen wollen. Aber er ist nicht aufgetaucht. Stattdessen waren da diese anderen Kerle. Ich dachte erst, dass sie mich nicht bemerkt hätten, aber als ich sah, dass sie mir folgten, bin ich in diese Bar gegangen. Den Rest der Geschichte kennst du.“
 

Scott nickte halb. Ihm war ein unschöner Verdacht gekommen.
 

„Dieser Joe … der ist nicht zufällig ein ziemlicher Schrank. Mindestens 1,95m oder größer?
 

Kael nickte leicht.
 

„Weißt du, wie er mit Nachnamen heißt?“
 

Der Junge legte die Stirn in Falten.
 

„Ich habe gehört, wie einer der anderen mit ihm gesprochen hat. Er nannte ihn Pe… Pe …“

„Pecares?“

„Ja, genau. Woher weißt du das?“

„Geraten.“
 

Scotts Fingernägel gruben sich tiefer in seine Handflächen. Er hatte es gewusst. Gleich heute Morgen, als er aufgestanden war, hatte er so ein Jucken im linken Ei gehabt. Das war, wie er zur Genüge wusste, ein untrügliches Zeichen, dass an diesem Tag irgendeine Scheiße passieren würde. Er hätte diesen verdammten Auftrag einfach nicht annehmen, sondern den Tag im Bett verbringen sollen. Ein bisschen Sport, ein paar Pornos und dazu den Überraschungspod, wenn er ganz wagemutig gewesen wäre. Aber nein, er hatte ja diesen verdammten Anruf kriegen müssen. Es hatte sich so leicht angehört. Einen dämlichen Ochsen finden und zurück zur Tränke führen. Alles ganz easy. Und nun saß „easy“ hier bei ihm in der Wohnung und löffelte Scotts Abendessen in sich hinein. Was für eine dreimal verfluchte Scheiße!
 

Ohne es wirklich zu merken, hatte Scott damit begonnen, im Zimmer auf und ab zu gehen. Trix nutzte die Gelegenheit, um sich den heiligsten von Scotts Besitztümern zu schnappen. Die Fernbedienung. Sofort fluteten grelle Bilder und noch grellere Töne den Raum. Mit rasender Geschwindikeit zappte Trix durch die Kanäle.
 

„Wollen Sie auch so weiche Haare, dann nehmen Sie …“

„Ich schau dir in …“

„Ich liebe ...“

„Mi Amor!“

„Kaufen Sie …“

„Yippie-ya-yeah, Schweinebacke!“
 

„Trix!“, bellte Scott und blieb stehen, um sich entnervt mit der Hand über das Gesicht zu reiben. „Entscheide dich für irgendeinen Sender.“
 

Auf dem Bildschirm liefen gerade einer der Nachrichtenkanäle. Der Sprecher, ein ergrauter Mittfünfziger in einem dunkelblauen Anzug, berichtete gerade über die Fusion zweier Mega-Konzerne. Trix machte ein unanständiges Geräusch.
 

„Laaangweilig“, nölte sie und schaltete um auf einen Musikkanal. Kael jedoch starrte wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem jetzt animierte Katzen ein Blutbad in einer Bar anrichteten.
 

„Schalt zurück“, flüsterte er tonlos. „Das war er. Das war der Mann.“

„Hä?“
 

Trix hatte den Lautstärkeregler gefunden und die Musik bis zum Anschlag aufgedreht. Ihre Dreadlocks wippten im Takt.
 

„Was hast du gesagt? Ich kann dich nicht hören!“

„Schalt um!“
 

Kael griff nach der Fernbedienung, erwischte sie aber nicht, weil Trix ihm auswich und die Zunge rausstreckte. Scott, der den Ernst der Lage erkannt hatte, entschied sich einzuschreiten. Mit einem Schritt war er bei Trix. Er entwand ihr die Fernbedienung, schaltete einen Kanal zurück und drehte gleichzeitig die Lautstärke auf ein erträgliches Maß. Von nebenan hörte man lautes Wummern an der Wand.
 

„Mach die Scheiße leiser oder ich komm rüber und hol dir dein Gehirn mit einer Gabel aus dem Kopf.“
 

„Du hast doch gar keine Gabel, du Penner!“, brüllte Trix zurück, bevor sie sich an Scott wandte. Mit griesgrämigem Gesicht rieb sie sich das Handgelenk, das Scott im Kampf um die Fernbedienung nicht eben sanft behandelt hatte.
 

„Das tat weh, du Arsch.“

„Klappe!“
 

Scott sah von dem Bildschirm zu Kael und wieder zurück. Auf der flimmernden Mattscheibe war jetzt irgendeine Sitzung irgendeines Gremiums zu sehen. Der Bericht von vorhin war längst vorbei.
 

„Wen genau hast du gemeint?“
 

Kael zuckte hilflos mit den Schultern.
 

„Keine Ahnung. Da waren viele Leute vor einem blauen Hintergrund. Es ging zu schnell, um mehr zu sehen.“

„Moment.“
 

Scott drückte eine Taste und ließ das Programm zurückspulen. Als ein passendes Bild in Sicht kam, startete er die Wiedergabe erneut. Sofort begann der Sprecher mit seiner monotonen Stimme vorzutragen:
 

„Am heutigen Nachmittag kam es zu einer Zusammenkunft der Vertragspartner im Gebäude der Inberg Coorperation. Der Präsident der Gesellschaft sagte bei der Pressekonferenz, die im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung stattfand, man befinde sich auf direktem Weg in eine bessere Zukunft. Die Verhandlungen …“
 

Kael begann zu zittern.
 

„Das ist er“, flüsterte er, während er wie gebannt auf den Bildschirm starrte. „Das ist der Mann, der meinen Vater erschossen hat.“
 

„Wer? Amos Inberg? Der Präsident von Inberg Industries?“ Trix’s Augenbrauen verschwanden irgendwo unter ihrem pinken Haaransatz. „Das soll wohl ein Scherz sein.“
 

Kael schüttelte den Kopf. „Nein, er war es. Ich bin mir hundertproz…“
 

Der Rest des Satzes blieb dem Jungen buchstäblich im Halse stecken. Er wurde weiß wie Scotts Wand und sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Auf dem Bildschirm schüttelte Inberg gerade einem anderen Mann die Hand. Er war etwas kleiner, hatte schon ein wenig schüttere Haare, einen grauen Bart und eine runde Brille. Er sah so aus, wie Scott sich immer einen Wissenschaftler vorstellte. Nur der weiße Kittel fehlte.
 

„Kael?“ Trix’ Stimme klang plötzlich alarmiert. „Ist alles in Ordnung?
 

Der Junge reagierte nicht. Mit weit aufgerissenen Augen schien er das Fernsehbild geradezu in sich aufzusaugen. Er schluckte und Scott rechnete damit, dass jeden Moment der Brei wieder auf seinem Fußboden landen würde. Suchend sah er sich nach einer Möglichkeit um, das zu verhindern.
 

Als er nichts fand, knurrte er ungehalten: „Wenn du kotzen musst, nimm die Schüssel.“
 

Der Junge antwortete immer noch nicht. Wie hypnotisiert stand er auf und ging auf den Fernseher zu. Seine Hand zuckte in Richtung der bewegten Bilder.
 

„Das ist mein Vater“, sagte er so leise, dass man es unter der Stimme des Nachrichtensprechers kaum verstehen konnte.
 

Trix beugte sich zur Seite und schielte an ihm vorbei auf die Mattscheibe. „Wer? Dresner?“
 

Kael nickte schwach. Seine Augen klebten weiterhin am Bildschirm.
 

„Aber das ist nicht möglich. Ich … ich habe gesehen, wie sie ihn erschossen haben.“
 

Der Junge stand jetzt unmittelbar vor dem in die Wand eingelassenen Monitor. Das Bild seines Vaters war deutlich auf seiner Brust zu sehen.
 

Scott schaute hinüber zu Trix. „Ist das vielleicht eine Aufzeichnung? Von letzter Woche oder so?“
 

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, der Vertragsabschluss war erst heute. Es ging durch alle Nachrichten.“

„Aha“, machte Scott. „Und warum?“

„Warum was?“

„Warum es durch alle Nachrichten ging.“
 

Trix verdrehte erneut die Augen. Bei ihr wirkte das immer besonders eindrucksvoll.
 

„Sag mal, Scott, lebst du eigentlich hinter dem Mond. Inberg versucht schon seit Monaten, das Areal zu kaufen, auf dem damals das alte Kraftwerk stand. Es gehörte Dresner und der hat sich hartnäckig geweigert, es zu verkaufen. Hat wohl sentimentalen Wert für ihn. Immerhin sind da …. Moment mal!“
 

Trix runzelte die Stirn und zog die Nase kraus. Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen musterte sie Kael.
 

„Dresner wollte das Grundstück nicht verkaufen, weil bei dem Reaktorunfall damals seine Frau und sein kleiner Sohn draufgegangen sind. Wollte dort wohl eine Gedenkstätte errichten lassen oder so was. Wenn also unser Wunderknabe hier nicht von den Toten auferstanden ist, bin ich wirklich sehr gespannt auf seine Erklärung.“
 

Scott sah von Trix hinüber zu Kael, der immer noch wie gebannt auf den Bildschirm starrte. Er hatte die Wiedergabe angehalten und das pixelige Gesicht des Brillenmanns klebte wie eine sehr schlechte Fotografie an seiner Wand. Es war trotzdem unübersehbar, dass er und Kael sich ähnlich sahen. Wie zwei Brüder. Oder wie Vater und Sohn.
 

Kaels Blick klebte immer noch am Bildschirm. Er schien Scott und Trix überhaupt nicht zu bemerken. Im nächsten Moment wirbelte er plötzlich herum und wollte zur Tür sprinten. Scott reagierte sofort. Er packte den Jungen am Arm und hielt ihn fest, obwohl dieser sich heftig wehrte.
 

„Lass mich los! Ich muss da hin. Ich muss zu ihm!“
 

Wie von Sinnen begann Kael, sich in Scotts Armen zu winden, nach ihm zu treten und auf ihn einzuschlagen. Scott wehrte die Angriffe zwar mühelos ab, aber schmerzhaft waren die Treffer, die er dabei kassierte, allemal. Irgendwann wurde es ihm zu bunt. Er drehte dem Jungen den Arm auf den Rücken und schubste ihn in Ermangelung einer besseren Alternative gegen die Wand. Dass er dabei den Tisch zur Seite rempelte und etwas mit einem dumpfen und eindeutig kaputt klingenden Geräusch auf dem Boden landete, machte die Sache nicht unbedingt besser.
 

Scheiße! Jetzt brauch ich wirklich eine neue Schüssel.
 

„Hör mir zu, Bursche“, knurrte er und drückte den Jungen noch ein wenig fester gegen den rauen Beton. „Du gehst nirgendwohin, haben wir uns verstanden? Ich hab keine Ahnung, was für eine abgedrehte Scheiße hier gerade läuft, aber ich weiß, dass du mir ein paar Antworten schuldig bist. Also los! Fang an zu singen.“
 

Kael, dessen Wange gerade unsanfte Bekanntschaft mit Scotts Wand machte, keuchte angestrengt.
 

„Ich hab nicht gelogen“, brachte er zwischen zwei Atemzügen hervor. Scott spürte, wie er sich gegen die grobe Behandlung wehrte. Es brachte ihn dazu, noch ein wenig fester zuzudrücken.
 

„Und wie erklärst du dir dann, dass Dresners Sohn bei dem Unfall ums Leben kam, während du hier quicklebendig herumspazierst und mir die Luft wegatmest?“
 

Scott erhöhte noch einmal den Zug auf Kaels angewinkelten Arm. Der gab einen Schmerzenslaut von sich.
 

„Ich hab nicht gelogen“, keuchte er noch einmal. „Robert Dresner ist mein Vater. Nach der Explosion hat er überall verkünden lassen, dass meine Mutter und ich bei der Explosion ums Leben gekommen wären. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ich hatte überlebt, wenn auch schwer verletzt. Mein Vater hielt es jedoch für klüger, das nicht publik werden zu lassen. Er hat mich versteckt.“
 

Scott fletschte drohend die Zähne.
 

„Warum hätte er das tun sollen?“

„Weil die Explosion kein Unfall war.“
 

Für einen Moment war es so still, dass man sogar das Surren der Lufterzeugung an der Außenseite hören konnte. Ein kleiner, unauffälliger Kasten, der irgendwie dafür sorgte, dass man hier drinnen nicht erstickte. Auf dem grauen Gehäuse prangte das Logo von Inberg Industries.
 

„Was meinst du damit?“, brachte Scott schließlich hervor. Noch immer hielt er den Jungen an der Wand fest. Eine Tatsache, die jetzt Trix auf den Plan rief.
 

„Scott, lass ihn los“, meckerte sie und machte Anstalten, sich zu erheben. „Du siehst doch, dass er nicht gefährlich ist.“
 

„Das ist ein Nussknacker auch nicht bis zu dem Moment, in dem sich eines deiner Körperteile zwischen den Zangen befindet. Wenn du Glück hast, ist es nicht nussförmig.“
 

Trotz dieser Misstrauensbekundung, hatte Scott das Gefühl, dass Trix recht hatte. Kael war nicht gefährlich. Er war jung und verwirrt, was ihn per Definition zu einer potentiellen Quelle hirnrissiger und riskanter Entscheidungen machte, aber er war nicht in dem Sinne gefährlich wie es etwa ein Mann mit einer Maschinenpistole oder einer entsicherten Handgranate gewesen wäre. Zumindest hoffte Scott, dass es so war.
 

„Na schön“, brummte er und lockerte seinen Griff etwas um zu zeigen, dass er es ernst meinte. „Ich werde dich jetzt loslassen. Aber du wirst nichts Dämliches tun. Das schließt sowohl Weglaufen wie auch irgendwelche Angriffe aus. Haben wir uns verstanden?“
 

Kael nickte schwach. Scott atmete noch einmal tief durch, bevor er den Jungen endgültig losließ und einen Schritt zurücktrat, damit der sich umdrehen konnte. Als er es tat, war seine rechte Gesichtshälfte gerötet.
 

„Das war unnötig“, murrte er und rieb sich die malträtierte Körperstelle.
 

Scott schnaubte belustigt. „Schien mir aber ne ziemlich gute Idee, nachdem du hier rausstürmen wolltest wie Rambo auf nem Selbstjustiz-Trip. Also nochmal: Wer bist du?“
 

Kael schien einen kurzen Moment in Erwägung zu ziehen, einfach nicht zu antworten. Scott sah, wie sein Blick zur Tür huschte. Fast schon beiläufig trat er ihm in den Weg.
 

„Also was ist? Ich warte.“
 

Der Junge presste die Kiefer aufeinander und ballte die Fäuste.
 

„Ich sagte doch, ich hab nicht gelogen.“

„Das hab ich schon die ersten zwei Male gehört. Ein bisschen mehr Information wäre hilfreich.“
 

In Kaels Augen tobte ein Sturm. Scott konnte nur raten, was hinter seiner jugendlichen Stirn in diesem Moment vorging. Er traute Scott nicht und dass, obwohl er anstandslos mit ihm mitgegangen war.
 

Womit wir mal wieder bei dummen Entscheidungen wären. Scheint, als wären wir, was das angeht, für den heutigen Tag gleichauf.
 

Scott seufzte.
 

„Du willst nicht reden? Fein! Dann geh da raus und versuch dein Glück. Ich wette, du kommst nicht mal vier Blocks weit, bevor Margeras Häscher dich schnappen. Ich weiß nicht warum, aber die wollen dich kriegen, Kleiner. Also entweder rückst du jetzt mit der ganzen Geschichte raus oder du verschwindest. Ich werde dich nicht aufhalten. Aber wenn du dann irgendwo in einer dreckigen Seitengasse an deinem eigenen Blut erstickst, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
 

Scott trat beiseite und machte den Weg zur Tür frei. Doch wie er erwartet hatte, erlosch Kaels Wunsch zur Flucht in dem Moment, in dem er die Gelegenheit dazu bekam. Vielleicht hatten Scotts Worte etwas bewirkt. Vielleicht war es auch umgekehrte Psychologie. Oder vielleicht war der Junge tatsächlich schlauer, als er aussah. Mit einem resignierten Schnaufen ließ er sich gegen die Wand sinken. Erst als Scott glaubte, dass an diesem Abend wohl nichts mehr aus dem Jungen herauszubekommen war, begann er schließlich doch mit leiser Stimme zu erzählen.
 

„Zum Zeitpunkt des Anschlags arbeitete mein Vater an einem Konzept, mit dem er vorhatte, das globale Energiemanagement zu revolutionieren. Seinen Berechnungen nach sind die einstmals getätigten Annahmen zur Reservefunktion der Erdwärme durch den exorbitant angestiegenen Energieverbrauch zur Luft- und Nahrungsmittelerzeugung vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn dem nicht schnell Einhalt geboten wird, könnte es zu einer weiteren globalen Verschiebung der Klimazonen kommen, deren Folge der endgültige Exitus des gesamten Planeten wäre.“
 

„Ah ja“, machte Scott und widerstand dem Drang, Kael zu fragen, was das ganze in einer allgemein verständlichen Sprache zu bedeuten hatte. Zu seinem Glück sprang Trix für ihn ein.
 

„Das heißt also, dass die Kacke so richtig am Dampfen ist“, übersetzte sie großzügig. Während Kael wissenschaftliches Zeug vor sich hin geblubbert hatte, hatte sie die Beine angezogen und sich im Schneidersitz auf Scotts Kopfkissen niedergelassen wie eine fette, regenbogenfarbene Katze. „Aber was hat das jetzt mit dem Unfall zu tun?“
 

„Ich weiß es nicht genau. Was die Hintergründe des Attentats angeht, hat mein Vater sich immer ausgeschwiegen. Er hat lediglich Andeutungen gemacht, dass diejenigen, die dafür verantwortlich waren, Gegner seiner Forschungsarbeit gewesen sein müssen. Vermutlich wollten sie ihn damit am Weiterkommen hindern. Immerhin wurde damals die komplette Anlage zerstört.“
 

Trix machte ein mitleidiges Gesicht. „Und wie kam es, dass du überlebt hast?“
 

Kael zuckte mit den Schultern.
 

„Es war einfach großes Glück, schätze ich. Während meine Mutter direkt durch die Explosion getötet wurde, fand man mich eingequetscht zwischen den Trümmern. Ich hatte zwar multiple, innere Verletzungen, aber ich war am Leben. Mein Vater ließ mich in einen versteckten Raum unterhalb unseres Hauses verlegen. Alle Ärzte, die zu meiner Behandlung notwendig waren, wurden zum Stillschweigen verpflichtet. So konnte ich gerettet werden. Da mein Vater jedoch fürchtete, dass es erneut zu einem Anschlag kommen könnte, schottete er mich vollkommen von der Außenwelt ab. Ich lebe seitdem innerhalb geschlossener Mauern und auch er verließ das Haus nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Bis zu dem Tag, an dem Inberg in unser Haus kam und meinen Vater erschoss. Zumindest dachte ich, dass er das getan hat.“
 

Der Blick des Jungen glitt noch einmal zu Scotts Fernseher. Ihm war anzusehen, dass er nicht glauben konnte, was er dort sah. Er war der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass sein Vater tot war, nur um jetzt im Fernsehen präsentiert zu bekommen, dass er sich offenbar geirrt hatte. Scott konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie sich das anfühlen mochte. Zumal es ihm selbst scheißegal gewesen wäre, wenn sein Vater krepiert wäre. Vielleicht war er es sogar schon, aber viel wahrscheinlicher war, dass der alte Sack aus lauter Bosheit noch am Leben war.
 

„Mach dir nichts draus“, sagte Trix jetzt und ließ den Pop zwischen ihren Lippen rotieren. „So einen Trip hatte ich auch mal. Ist echt kacke, wenn die einem so gestrecktes Zeug andrehen. Wenn ich du wäre, würd ich dem Kerl, der es dir verkauft hat, ordentlich den Arsch aufreißen.“
 

Kael, der offenbar nur die Hälfte von dem mitbekommen hatte, was Trix da von sich gab, erwachte aus seiner Starre.
 

„Was? Ich … ich hab keine Drogen genommen.“

„Ja genau.“

„Wirklich nicht!“

„Nein, nein. Und ich bin die erste schwarze Frau, die Papst wird.“
 

Trix grinste von einem Ohr zum anderen.
 

„Aber wenn du echt nichts geschmissen hattest, solltest du vielleicht mal zum Psychologen gehen. Du weißt schon. 'Ich sehe tote Menschen' und so.“
 

Kael sah nicht aus, als hätte er die Anspielung verstanden. Eher so, als zweifle er an Trix’ Geisteszustand. Etwas, dass Scott ihm nicht verdenken konnte.
 

„Ich weiß, was ich gesehen habe“, beharrte Kael. „Inberg kam am Abend in unser Haus. Ich habe ihn und meinen Vater streiten gehört. Weil ich nicht verstehen konnte, worum es ging, bin ich zum Wohnzimmer geschlichen. Die Tür stand einen Spalt breit auf und dadurch habe ich gesehen, wie Inberg eine Waffe zog und meinem Vater direkt in die Brust schoss. Es … es hat geblutet. Ich habe es ganz deutlich gesehen.“
 

„Schlechter Triii~hiiip“, singsangte Trix, aber Scott war sich da nicht so sicher. Kael wirkte nicht, als würde er Drogen nehmen oder zu Halluzinationen neigen. Eher wie ein Schüler von irgendeiner scheißteuren Elite-Uni. Andererseits waren die stillen Gewässer in der Regel die mit dem meisten Dreck darin. Man musste nur mal kräftig umrühren.
 

„Trix, halt den Mund“, blaffte Scott trotzdem und hörte förmlich, wie die eingerosteten Zahnräder in seinem Kopf sich zu drehen begannen. Irgendetwas an der ganzen Sache schmeckte ihm nicht. Er wusste nur nicht genau, was es war.
 

Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Der Junge hat sich getäuscht. Du lässt ihn heute Nacht hier bleiben und morgen schaffst du ihn wieder dahin zurück, wo er hergekommen ist. Mit Chance bekommst du dafür sogar eine Belohnung. So stinkreiche Säcke zeigen sich doch bestimmt erkenntlich, wenn man ihnen ihre Brut wiederbringt.
 

Befriedigt wollte Scott sich abwenden um nachzusehen, ob an seiner Schüssel noch etwas zu retten war, als er mitten in der Bewegung innehielt. Es war ihm nicht sofort aufgefallen, aber die Überlegung, wie er Kael wieder nach Hause bekam, machte eine andere Frage unumgänglich:
 

Warum hat Dresner nicht nach dem Jungen gesucht? Er hat ihn sein ganzes Leben lang eingesperrt, um ihn zu beschützen, aber nachdem sein Spross verschwunden war, hatte er nichts Besseres zu tun, als sich mit Inberg an den Verhandlungstisch zu setzen? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.
 

Scott hätte am liebsten laut geschrien oder wenigstens ein paarmal mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, um diese dämlichen Gedanken da raus zu bekommen. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum irgendein Typ, den er nicht mal kannte, irgendetwas tat oder nicht. Er wollte in sein Bett und in Ruhe seinen Rausch ausschlafen, von dem ihm ohnehin schon die Hälfte flöten gegangen war. Es war wirklich zum Kotzen.
 

„Ich brauch was zu trinken“, murmelte er und bedauerte, dass er in der Bar nicht nach einer Flasche zum Mitnehmen gefragt hatte. Es gab einen Laden ein paar Straßen weiter. Da bekam man alles, um sich die Welt ein bisschen bunter und schöner zu machen. Vielleicht konnte er Trix überreden, ihm was zu holen, wenn er ihr was abgab. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich zusammen die Kante gaben. Scotts Mund wurde trocken.
 

„Trix, würdest du …“

„Nein.“
 

Trix’ süffisantem Lächeln entnahm er, dass sie genau wusste, was er wollte. Natürlich hätte er selbst gehen können, aber er traute Kael nicht so weit, um ihn allein in der Wohnung zurückzulassen. Und ihn mitzunehmen, während da draußen Margeras Männer nach ihm suchten, fiel ebenfalls aus.
 

Und wann genau hast du aufgehört darüber nachzudenken, ihn einfach an Margera auszuliefern?
 

Klappe, schnauzte er seine innere Stimme an. Dass ihn dieses Arschloch jetzt auch noch blöd von der Seite anmachte, konnte er nun wirklich nicht brauchen.
 

„Wie viel?“, fragte er und wusste, dass er die Frage bereuen würde. Trix würde ihn ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Alles nur wegen diesem … Bengel!
 

„Ich will mitkommen“, erklärte Trix und vergewaltigte mit sichtlichem Vergnügen ihren Pop. „Will mir mal ansehen, wie diese Kapitalistenschweinchen so leben. Mal saubere Luft schnuppern. Hab gehört, da soll es echt schön sein. Ist bestimmt nett in so einem Haus. Mit Garten. Und Pool. Und jeder Menge Krimskrams, den sowieso keiner vermissen wird.“
 

Scott lachte auf. „Mit anderen Worten, du willst was mitgehen lassen.“
 

„So viel ich tragen kann“, bestätigte Trix. Sie streckte sich auf seinem Bett aus und erinnerte Scott dabei einmal mehr an diese Katze aus Alice im Wunderland. Hätte er jetzt das Licht ausgeschaltet, hätte man vermutlich nur noch ihr Grinsen in der Luft hängen sehen.
 

„Das wird nicht notwendig sein“, warf Kael ein. „Ich … ich bin mir sicher, dass mein Vater euch bezahlen wird, wenn ihr mich nach Hause bringt.“
 

„Wenn er noch lebt“, unkte Trix und reagierte auf Kaels empörten Blick mit einem fast schon unschuldigen Augenaufschlag. „Was? Du bist derjenige mit dem toten Daddy. Meiner liegt nur bekifft auf dem Sofa rum. Sieht aus wie tot, isser aber nicht. Das merkst du spätestens dann, wenn du versuchst, seine Bong zu klauen. Mein Bruder konnte beim letzten Mal drei Tage lang nicht sitzen.“
 

Sie lachte und zeigte dabei erneut ihr mehr als ansehnliches Gebiss. Scott wusste nicht, ob es Typen gab, die auf große Zähne standen, aber wenn, hatte Trix bei denen auf jeden Fall gute Chancen. Aber wo er gerade bei Auffälligkeiten war … Er musterte Kael.
 

„Sag mal, hat der Bursche hier nicht etwa die gleiche Größe wie dein Bruder?“
 

Trix zuckte gelangweilt mit den Schultern.
 

„Könnte hinkommen. Wieso?“

„Weil wir ne Verkleidung für ihn brauchen. Kannst dafür die Klamotten von Pecares haben.“
 

Trix zog die Nase kraus.
 

„Ich glaube, da könnte ich was drehen. Aber dafür krieg ich die Hälfte von Daddys Kohle.“

„20 Prozent.“

„Willst du mich verarschen?“

„Okay, ein Drittel. Aber das ist mein letztes Angebot.“
 

Trix schürzte die Lippen und nickte schließlich. „Deal. Aber ich darf behalten, was ich sonst noch so finde.“
 

Nachdem Scott zugestimmt hatte, machte sich Trix tatsächlich auf den Weg, um ihnen etwas zu trinken zu besorgen. Als sie wiederkam, hätte Scott trotzdem fast aufgestöhnt.
 

„Dein Ernst? Du hast den Fusel deiner Mutter geklaut?“
 

Trix grinste. „Klar, Warum Geld ausgeben, wenn du es auch umsonst haben kannst.“
 

Scott vermied ihr zu sagen, dass man bei dem Zeug, dass ihre Mutter da zusammenmixte, höchstwahrscheinlich fürchten musste, vorzeitig zu erblinden. Er merkte bereits, wie der sanfte Nebel in seinem Kopf abnahm und Dinge zutage förderte, die Scott lieber ungesehen wissen wollte. Von sich selbst und von der Welt.
 

Dankenswerterweise hatte Trix auch Becher mitgebracht. Drei Stück, sodass sie jetzt jedem von ihnen großzügig von dem Gebräu einschenken konnte, das nicht nur von der Farbe her an Motoröl erinnerte.
 

„Auf uns und auf die reichen Säcke, die wir ausnehmen werden“, rief sie und kippte im gleichen Atemzug die Hälfte ihres Schnapses herunter. Danach verzog sie angeekelt das Gesicht. „Boah, das Zeug haut vielleicht rein.“
 

Scott sparte sich seinen Atem lieber und hielt die Luft an, bevor er ebenfalls einen großen Schluck nahm. Nur Kael ließ seinen Becher unberührt.
 

„Was ist?“, fragte Trix und griff schon wieder nach der Flasche. „Los, hopp! Rein damit.“
 

„Ich … ich trinke nicht“, sagte Kael vorsichtig. Der Blick, dem er den Becher schenkte, sprach Bände.
 

„Gut, bleibt mehr für uns“, verkündete Trix und teilte Kaels Portion fast gleichmäßig im Verhältnis 60:40 zwischen sich und Scott auf. Während sie sich danach erneut auf das Bett verzog, beobachtete Scott den Jungen, der ein wenig verloren mitten im Zimmer stand.
 

„Du wirst doch nichts Dämliches anstellen“, meinte er und deutete mit dem Kopf zur Tür. „Dich alleine auf den Weg machen oder so.“
 

Kael lächelte halb und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, ich … ich bin froh, dass ihr mir helft.“
 

Als er Scott danach ansah, wurde dem erneut bewusst, wie jung Kael noch war. Sicher, Halbstarke in seinem Alter dachten für gewöhnlich, dass sie unbesiegbar waren, aber in Situationen wie diesen, in denen das Gewicht der ganzen Welt einem auf den Schultern zu liegen schien … Er unterbrach seine Gedanken und starrte ärgerlich auf den Inhalt seines Bechers. So eine sentimentale Scheiße! Ihm hatte damals auch keiner geholfen, als er sich in Kaels Alter nahezu allein durchschlagen musste. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur stärker.
 

„Sagt mal, ihr beiden“, flötete Trix vom Bett aus. Ihrer Stimme war anzuhören, dass der Alkohol bereits Wirkung zeigte. „Habt ihr euch eigentlich schon mal überlegt, wie wir nach Eden reinkommen?“
 

Als Scott nicht antwortete, legte sie nach.
 

„Ich mein, da sind ja nicht nur die Wachen und Waffen und jede Menge Kameras und so ein Scheiß. Wenn wir da rein wollen, müssen wir außerdem an AVA vorbei.“
 

„Ava?“ Scotts Gehirnwindungen hatten inzwischen ebenfalls begonnen, langsamer zu kriechen. Er konnte hören, wie sie dabei aneinander rieben. Wie ein Korb voll giftiger Vipern.
 

„Ja, AVA“, bestätigte Trix und unterdrückte ein Hicksen. „Die automatische Verteidigungsanlage, die ganz Eden vor Zugriffen von außen schützt. An ihr kommt nicht mal ein Fliegenschiss vorbei, ohne registriert zu werden.“
 

Scott, der keine Ahnung von diesem ganzen technischen Kram hatte, gestikulierte mit dem Becher in Trix’ Richtung.
 

„Du bist doch hier die Computerexpertin. Kannst du dieses Ding nicht hacken oder so was?“
 

„Nö“, gab Trix wenig jovial zurück. „Das haben schon ganz andere versucht und sind dabei ziemlich grandios gescheitert. AVA ist die uneinnehmbare Festung. Der Endgegner. Die ultimative Beute. Und leider völlig unkorrumpatibel. Parabel? Pierbar?“
 

Während Trix’ Zunge noch mit dem letzten Wort kämpfte, brauchte Scott für diesen Umstand nur ein einziges.
 

„Fuck!“
 

Der Sieg, der gerade noch zum Greifen nahe gewesen war, schien plötzlich in weite Ferne gerückt. Was hatte er sich nur dabei gedacht.
 

„Also …“, sagte Kael plötzlich.
 

Scott bemühte sich, seine getrübte Sicht in einer möglichst geraden Linie auf ihn zu richten,
 

„Wenn es um AVA geht, kann ich möglicherweise helfen.“
 

„Du?“, fragte Trix und lachte laut gackernd auf. „Du würdest doch bestimmt die Shift- mit der Entertaste verwechseln, wenn es nicht draufstehen würde.“
 

Sie kicherte erneut und nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher. Kael senkte den Blick.
 

„Also eigentlich kenne ich mich ganz gut mit Computern aus.“
 

Trix gab ein unanständiges Geräusch von sich. „Ach ja? Als Nächstes willst du mir wohl auch noch weismachen, dass du AVA tatsächlich geknackt hast.“
 

Kael lächelte jetzt und Scott konnte Triumph zwischen seinen Lippen erkennen.
 

„Nein“, sagte er und hob den Kopf. „Aber es war mein Vater, der AVA programmiert hat.“



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