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Common Ground

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen,

dieses (und auch das kommende) Kapitel waren irgendwie wirklich harte Arbeit, aber ich bin mit dem Zwischenergebnis jetzt doch ganz zufrieden. Ich habe nochmal einen Cut gemacht und das Ganze aufgesplittet, denn ansonsten wäre das Kapitel wirklich absurd lang geworden und hätte auch noch länger auf sich warten lassen. Jetzt gibt es dafür einen fiesen, kleinen Cliffhanger. *muhahahahaha*

Zwischendurch geht ein Dank raus an die fleißigen Kommi-Schreiber Karma, Hypsilon und empress_sissi. Ich lese mir eure Kommentare immer wieder durch und sie geben mir dabei jedes Mal einen kräftigen Powerschub, um meinen Hintern hochzubekommen auch die etwas unspektakuläreren Zwischenszenen anzugehen. Vielen Dank dafür! <3

Jetzt aber erstmal viel Spaß mit dem Kapitel! :) Komplett anzeigen

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Gotta keep it together. (It can't be that hard.)

Schon als sie einmal mehr die Treppen zur U-Bahn hinabstiegen, war Seto klar, dass er bei dieser Fahrt wohl nicht zum Arbeiten kommen würde. Jetzt, zur besten Nachmittagszeit mitten in der Stadt, schoben sich die Menschen dicht an dicht in die unterirdischen Schächte und drängten in die beinahe im Minutentakt fahrenden Züge, um von A nach B zu kommen. Frau Kobayashi gab sich alle Mühe die Klasse beisammenzuhalten und atmete erleichtert auf, als sie alle ihre Schüler verlustfrei in die richtige U-Bahn gelotst hatte.

Hatte Seto bereits gestern aufgrund des Geruchs und der Geräuschkulisse festgestellt, dass er den öffentlichen Nahverkehr in Zukunft weiterhin unter allen Umständen meiden würde, so wurde er in diesem Entschluss jetzt noch einmal mehr bestärkt. Zwischen ihm und den nächsten Menschen um ihn herum war nicht mehr sonderlich viel Platz und so langsam würde er sich entscheiden müssen, in welche Richtung er den Abstand im Notfall verringern würde, falls es noch voller werden sollte: Hin zu dem korpulenten Mann im Anzug mit dem zu kleinen Jackett und den immensen Schweißflecken unter den Achseln? In Richtung des stark geschminkten, mit offenem Mund Kaugummi kauenden Schulmädchens mit dem kurzen Rock und dem überbordenden Ausschnitt? Oder… er blickte sich noch einmal um und analysierte seine Optionen… Hm, Devlin stand beinahe neben ihm. Der Schwarzhaarige hatte ihm den Rücken zugewandt und unterhielt sich angeregt mit seinen Freunden. Seinen Rucksack hatte er aus Platzgründen abgesetzt und zwischen seine Beine gestellt.

Im Grunde war es doch eigentlich die ideale Gelegenheit, seine vorhin aufgestellten Hypothesen einmal einer ganz neutralen, genaueren Untersuchung zu unterziehen …

Damit war seine Entscheidung gefallen und Seto rückte kurzerhand unauffällig etwas näher zu Duke, auch, um dem knapp bekleideten, feucht schmatzenden Schulmädchen zu entkommen, das ihm mittlerweile bedrohlich nahe gekommen war. Devlin und ihn trennten jetzt nur noch Zentimeter – die perfekte Versuchsanordnung. Falls sein Körper tatsächlich das Problem war, sollte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis er die ersten Reaktionen beobachten konnte…

Ein leichter Chlorgeruch, der von Devlins Haaren auszugehen schien, stieg ihm in die Nase. Tze, könnte man Pheromone bewusst wahrnehmen, würden sie so ganz sicher nicht riechen. Aber nein, wies er sich in Gedanken zurecht, er sollte neutral bleiben.

Je länger Seto so nahe bei dem Schwarzhaarigen stand, desto mehr überkam ihn eine diffuse Aufregung, die er nicht recht einzuordnen wusste. Fiel das schon unter „hormoninduzierte Stressreaktion“? Nun, nicht notwendigerweise, denn die Gesamtsituation in der überfüllten U-Bahn mitten im nachmittäglichen Berufsverkehr war alles andere als angenehm und schon allein mehr als ausreichend, um seinen Körper in Stress zu versetzen. Sein beschleunigter Herzschlag sowie die Tatsache, dass er leicht zu schwitzen begann, mussten also nicht das Geringste zu bedeuten haben, zumal er auch noch einen Wollpullover und einen Wollmantel trug. Mit leichter Verwunderung bemerkte er jedoch, dass sich die innere Aufregung nicht so gänzlich unangenehm anfühlte, wie sie das eigentlich hätte tun sollen, wenn sie wirklich nur durch die U-Bahn-Situation verursacht würde. Als er hörte, wie Devlin mit warmer Stimme über irgendeinen dümmlichen Kommentar von Taylor lachte, spürte Seto, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken und auf seinen Unterarmen aufstellten. Das war zugegebenermaßen bemerkenswert, so warm wie es ihm gerade eben noch gewesen war. Aber von hinreichenden Beweisen waren diese Beobachtungen noch meilenweit entfernt – Indizien, weiter nichts.

In den nächsten Minuten ließ der Kindergarten noch einmal seine schönsten Momente aus dem Schwimmbad Revue passieren und Seto bedauerte es, der wenig gehaltvollen Konversation unfreiwillig folgen zu müssen. Während Devlin mit ausladenden Gesten erklärte (soweit es ihm der begrenzte Platz in der Bahn erlaubte), wie genau er seinen Schraubensprung vollbracht hatte, nahm die Bahn nach einem Halt erneut Fahrt auf. An dieser Stelle kamen die Gesetze der Physik nicht mehr nur in Devlins Erzählung, sondern auch in der Realität zum Tragen. Beinahe wie in Zeitlupe nahm Seto wahr, wie der Schwarzhaarige durch die Trägheit beim Anfahren des Zuges zu straucheln begann und nur Millisekunden später förmlich in ihn hineinfiel. Für einen kurzen Augenblick kitzelten Devlins Haare sein Gesicht, Devlins rechter Arm und rechte Schulter pressten sich in seinen Oberkörper, bevor der Schwarzhaarige sich mit der linken Hand schnell wieder von Setos Brust abstieß und Abstand zwischen sie brachte. Mit einem entschuldigenden Blick aus seinen grünen Augen lächelte er ihn vorsichtig an: „Huch … sorry, Kaiba!“

Seto brauchte einen Moment, um einen für seine Verhältnisse normalen, der Situation angemessenen, kühlen und genervten Blick zu fabrizieren, war aber zuversichtlich, dass es nicht zu sehr aufgefallen war. Als Devlin sich wieder von ihm abgewandt hatte, hielt Seto kurz unmerklich die Luft an und horchte aufmerksam in sich hinein. Sein Herz hämmerte aufgeregt gegen seinen Brustkorb und ein kribbelndes Gefühl hatte beinahe seinen gesamten Oberkörper erfasst, sodass er Devlins Berührung praktisch noch immer spüren konnte. Nun, versuchte er bewusst nüchtern zu denken, während sein Körper langsam wieder zur Ruhe kam, das veränderte die Datenlage. Aber konnte es nicht auch sein, dass das einfach an dem ungewollten Körperkontakt als solchem lag? Auf so etwas reagierte er nun einmal stark, das war nichts neues. Tja, eine Kontrollgruppe müsste man haben…

Kaum zwei Minuten, nachdem er diesen Gedanken gehabt hatte, schlossen sich an einer Haltestelle schon piepsend die Türen, da versuchte im letzten Moment noch ein Mann aus der Bahn zu kommen, der offenbar zu spät bemerkt hatte, dass seine Station bereits gekommen war. In seiner Hektik schob er einige Leute recht rüde beiseite, so auch den korpulenten Mann mit den Schweißflecken, dessen Bauchfett sich dadurch in Setos Seite drückte. Der Brünette schloss kurz die Augen und unterdrückte einen Seufzer, der seiner beinahe grenzenlosen Abscheu nur zu deutlich Ausdruck verliehen hätte. Allerdings war damit immerhin das Fazit klar: Unfreiwilliger Körperkontakt mit einem Mitglied einer neutralen Kontrollgruppe führte ebenfalls zu einer starken Reaktion, jedoch immer noch wesentlich geringer als bei Devlin und ohne jeden Zweifel zu einhundert Prozent negativ.

Als sie endlich die U-Bahn verließen und zu Fuß den restlichen Rückweg zur Herberge antraten, fasste Seto noch einmal im Geiste seine Ergebnisse zusammen:

Erstens: Von dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn einmal abgesehen, war diese U-Bahn-Fahrt eine Erfahrung gewesen, die er unter keinen Umständen jemals wiederholen wollte.

Zweitens: Beim Zusammenstoß mit Devlin und dem daraus resultierenden direkten Körperkontakt hatte sich seine Herzfrequenz schlagartig extrem erhöht und selbst jetzt, fast fünfzehn Minuten später, konnte er noch immer ein leichtes Kribbeln an den Stellen spüren, an denen Devlin ihn berührt hatte.

Drittens: Der Vergleich mit einer (glücklicherweise quantitativ überschaubaren) unbeteiligten Kontrollgruppe hatte bestätigt, dass diese Reaktion mitnichten nur durch den unfreiwilligen Körperkontakt zu erklären war.

Damit konnte es wohl als erwiesen gelten, dass Devlins Präsenz und Nähe in der Tat biochemische Prozesse in seinem Körper auslösten. Sein geschäftlicher Instinkt schien damit nicht das geringste zu tun zu haben, hatte der doch auf dieser Bahnfahrt keinerlei neue Anhaltspunkte bekommen. Was natürlich nicht hieß, dass da nicht doch etwas sein konnte. Es bedeutete im Gegenteil, dass er doppelt vorsichtig sein musste, um nicht womöglich in eine Falle zu laufen, weil seine Aufmerksamkeit hormonbedingt nachließ. Aber dazu würde es wohl kaum kommen. Selbstbeherrschung war praktisch sein zweiter Vorname. Es galt also, für die absehbare Dauer dieser Klassenfahrt gegenüber Devlin um jeden Preis die Kontrolle zu behalten, dann würde sich das Problem spätestens nach der Klassenfahrt sicherlich von selbst wieder erledigen.
 

Zurück in der Herberge stand Duke zusammen mit Kaiba vor der Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer und schloss auf. Nachdem sie eingetreten waren, stellte er seinen Rucksack auf dem Bett ab, kramte die Tüte mit seiner nassen Badehose sowie seine absichtlich unvollständigen Waschsachen heraus und wandte sich in Richtung Badezimmer. „Ich bräuchte nochmal das Bad.“, informierte er den Brünetten mit einem leicht fragenden Unterton. Der zuckte nur kurz mit den Schultern und antwortete lakonisch: „Tu dir keinen Zwang an.“

Als Duke die Badezimmertür hinter sich abgeschlossen hatte, atmete er kurz durch. So sehr er seine Freunde mochte und sich auf die Woche mit ihnen gefreut hatte, so sehr genoss er doch auch hin und wieder die kurzen Momente, in denen er allein sein und in Ruhe seinen Gedanken nachhängen konnte. Auch insofern war es eigentlich gar nicht so schlecht, dass er nicht mit ihnen in einem Zimmer war.

Wie schon zuvor im Schwimmbad zog er sich aus, legte seinen Schmuck ab, löste aber diesmal auch seinen Zopf und ging ohne Umschweife duschen. Endlich konnte er sich das Chlor richtig aus den Haaren waschen! Als er unter der Dusche stand, kam es Duke vor wie ein kleines Déjà-vu. Hatte er sich heute Morgen an genau dieser Stelle nicht noch vorgenommen, Kaiba nicht zu nerven, wo immer es sich vermeiden ließ? Nun, das hatte ja wirklich einwandfrei geklappt! Erst hatte er es sich im Bett auf Kaibas Kissen etwas zu bequem gemacht, dann hatte er Kaiba in der U-Bahn etwas zu offensichtlich beobachtet, dann hatte er seinen Freunden (direkt und indirekt) vor dem Schwimmbad etwas zu viel über Kaiba verraten und nun war er Kaiba wiederum in der U-Bahn auch noch körperlich viel zu nahe getreten. Paradoxerweise war letzteres unangenehm und angenehm zugleich gewesen. Das Ganze war so schnell gegangen, dass er im ersten Moment gar nicht registriert hatte, wem er in die Arme gefallen war, bis er einen vertrauten, ziemlich anziehenden, fruchtig-herben Duft gerochen hatte – so nah und intensiv wie nie zuvor. Er hatte die fast schon unerwartete Körperwärme gespürt, dazu das weiche Material von Kaibas Mantel und Pullover … und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ihn der Wunsch überkommen, einfach so zu verharren – so wie er heute Morgen einfach auf Kaibas Kissen liegen geblieben war. Spätestens als ihn ein tödlicher Blick aus eisblauen Augen getroffen hatte, war er jedoch wieder zur Besinnung gekommen und hatte sich kurz mit der Hand an Kaibas Brust abgestützt, um wieder Abstand zwischen sie zu bringen. Aus ihm völlig unerfindlichen Gründen war der erste bewusste Gedanke, der ihm dabei in den Kopf geschossen war, dass der Pullover aus Kaschmir sein musste, so weich wie er sich unter seinen Fingern anfühlte. Doch auch nachdem Duke sich mit einer notdürftigen und verlegen gestammelten Entschuldigung abgewandt hatte, hatte der Brünette weiterhin so nahe bei ihm gestanden, dass der Parfümduft und das unerwartet angenehme Gefühl von Kaibas Kleidung und Körperwärme ihn für den Rest der Fahrt nicht mehr ganz losgelassen hatten. Warum machte ihn der Brünette denn in den letzten Tagen nur so nervös? Er war doch sonst nicht so…

Vermutlich war es einfach die Gesamtsituation: sie teilten sich gezwungenermaßen Zimmer, Bad und Bett und drangen damit beinahe automatisch weit in die persönliche Sphäre des jeweils anderen vor – etwas, womit sie wohl beide ein ziemliches Problem hatten; die vertrackte geschäftliche Situation auf seiner Seite kam noch erschwerend hinzu. Mehr war es am Ende wohl nicht und er würde das schon schaffen. Es war ja nur noch bis zum Ende der Klassenfahrt, danach hatte sich das alles erledigt und ihre Beziehung würde sich wieder in ihren gewohnten Bahnen bewegen: loser Kontakt in der Schule und gelegentlich kurze, berufliche Treffen. So weit, so normal, so „eigentlich-nichts-miteinander-zu-tun“.

Als er wieder aus der Dusche heraustrat, war der kleine Raum erfüllt von Wasserdampf, gegen den die schwächliche Lüftung nur langsam ankam. Er nahm sich sein Handtuch und schlang es um die Hüften, bevor er zum Waschbecken ging. Der Spiegel war komplett beschlagen und er musste kurz mit seinem Unterarm darüber wischen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Wie zuvor im Umkleideraum des Schwimmbads sah er sich für einen Moment einfach nur an. Seine langen schwarzen Haare kringelten sich offen um sein Gesicht und ließen kalte Wassertropfen seine Brust und seinen Rücken hinunter laufen. Der Kajalstrich war vollständig abgewaschen. Für einen kurzen Augenblick wandelte sich das Bild im Spiegel und es war nicht mehr er selbst, der ihm entgegen sah, sondern sie blickte mit ihren liebevollen, grünen Augen und einem sanften Lächeln auf den Lippen zurück. Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihn. Wie sehr sie ihm fehlte! In Momenten wie diesen konnte er seinen Vater ja beinahe verstehen…oder zumindest Mitleid mit ihm empfinden. Ihr Tod hatte in ihrer beider Leben eine unmöglich wieder zu füllende Lücke gerissen – trotzdem hatten sie es natürlich beide versucht. Die Richtungen, die sein Vater und er dabei eingeschlagen hatten, waren allerdings zu unterschiedlich gewesen, sodass sie in letzter Konsequenz unweigerlich getrennte Wege hatten gehen müssen. So weit, dass heute sogar ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag.

Er entließ einen tiefen Seufzer und erwachte aus seiner melancholischen Starre – mein Gott, was war denn heute bloß in ihn gefahren? –, packte endlich seinen Fön aus und trocknete seine Haare. Nachdem er sich wieder angezogen und neu geschminkt hatte, holte er noch die Badehose aus der Tüte, wrang sie aus und hängte sie zum Trocknen über die Duschwand.
 

Seto wunderte sich etwas, als er hörte, wie die Dusche angestellt wurde. Hatte Devlin das nicht im Schwimmbad gemacht, wie alle anderen auch? Hm, offensichtlich wohl nicht, denn seine Haare hatten ja vorhin auch noch nach Chlor gerochen. Aber was interessierte es ihn schon; Devlin war ihm ja eigentlich vollkommen egal (von der Hormon-Sache einmal abgesehen). Er zog seine Schuhe und den Mantel aus, holte den Block aus seiner Tasche und setzte sich auf das Bett, um bis zum Abendessen weiter an den Entwürfen zu arbeiten. Ungefähr fünfzehn Minuten später trat Devlin wieder aus dem Badezimmer. Seto warf bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es im Grunde schon Zeit war, in den Speisesaal zu gehen. So packte er den Block wieder zurück in seine Tasche, nahm aus ebenjener ebenfalls noch seine Badehose heraus und brachte sie ins Bad, wo er sie ähnlich wie Devlin über die andere Wand der Dusche hängte. Als er wieder aus dem Bad kam, wartete der Schwarzhaarige bereits an der Tür auf ihn. Mit einem vorfreudigen Funkeln in seinen grünen Augen sah er Seto an: „Steht unsere Verabredung nach dem Abendessen noch?“ Unwillkürlich machte sich Setos Herz erneut bemerkbar. Himmel, musste Devlin das so formulieren? Er riss sich jedoch zusammen und nickte nur.

„Cool, ich freu mich schon!“, lächelte der Schwarzhaarige und öffnete die Tür, um Seto den Vortritt zu lassen. Während dieser versuchte, das Lächeln und Devlins Blick zu ignorieren und der stummen Aufforderung nachkam, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass das mit der Selbstbeherrschung eventuell schwerer werden könnte, als er gedacht hatte. Diesen Gedanken schob er jedoch sofort wieder beiseite.
 

Das Abendessen selbst lief im Grunde ab wie an den beiden vorherigen Tagen. Heute war allerdings auch Joey mit der gebotenen Mahlzeit glücklich und holte sich ganze zwei Mal einen Nachschlag. Als fast alle in der Klasse ihre Teller geleert hatten, erhob sich Frau Kobayashi, wie es nun schon fast Routine war, um das Programm für den folgenden Tag anzukündigen: „Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie hatten heute Spaß auf unserer kleinen Reise durch Naganos olympische Geschichte und natürlich auch am Ende bei der sportlichen Ausarbeitung. Morgen wird es bewegungsreich weitergehen, denn wir verlassen die Stadt und fahren in die Natur! Wir werden das wunderschöne Kamikochi-Gebiet durchwandern und dabei Wälder, Berge und Flüsse in ihrer ganzen Pracht erleben. Ich hoffe, sie freuen sich schon genauso darauf wie ich! Da wir noch etwa anderthalb bis zwei Stunden mit dem Bus fahren werden, müssen wir bereits etwas früher starten. Ich erwarte Sie also um 6:30 Uhr hier beim Frühstück, sodass wir gegen 7:15 Uhr losfahren können. Ich wiederhole: 6:30 Uhr Frühstück und 7:15 Uhr Abfahrt. Und jetzt verbringen Sie noch einen schönen Abend – aber bitte wie gehabt zivilisiert und unter Einhaltung der Nachtruhe um 22 Uhr, wenn ich bitten darf!“

„Wandern?! Und dafür auch noch früher aufstehen?! Die Alte hat sie doch nicht mehr alle …“, verlieh Joey seiner erwartbar niedrigen Begeisterung über die morgigen Pläne Ausdruck. Tristan pflichtete ihm bei: „Und ich dachte schon heute im Olympia-Museum, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte!“ Tea rollte angesichts dieser kindischen Reaktionen nur mit den Augen. Manchmal kam sie sich wirklich vor wie eine Betreuerin von lauter Neunjährigen. „Jungs, jetzt regt euch doch mal nicht so auf! Wir kommen viel zu selten mal raus in die richtige Natur. Ich denke, es könnte wirklich schön werden.“ Joey schüttelte vehement den Kopf und seufzte: „Boah, Tea, bist du irgendwie mit Kobayashi-sensei verwandt oder hat sie dir irgendwas eingepflanzt?!“ Tristan fügte hinzu: „Ja, demnächst fängst du noch an, Vorträge über Eiskunstlauf zu halten…“ Entnervt winkte Tea ab. „Ach, haltet doch beide die Klappe!“

Als er sah, wie Kaiba aufstand, erhob sich Duke ebenfalls und blickte selbstbewusst in die Runde. „Leute, ihr entschuldigt mich, ich habe eine Partie Dungeon Dice Monsters zu gewinnen!“ Joeys Augen wurden groß und voller Vorfreude rieb er sich die Hände. „Ach ja, das war ja heute auch noch! Super, Mann, das wird erste Sahne!“

„Geh ruhig schon mal vor, wir kommen dann gleich in den Gemeinschaftsraum nach!“, fügte Yugi lächelnd hinzu. „Alles klar, dann sehen wir uns gleich!“, verabschiedete sich Duke mit einem letzten Zwinkern und kurzen Winken vorübergehend von seinen Freunden.
 

Zurück im Zimmer kramte Duke unter dem strengen, abwartenden Blick von Kaiba einmal mehr in seiner Reisetasche und fand schließlich die kompakte Box mit dem Spielbrett sowie die Säckchen mit den Würfeln, die er mitgenommen hatte. Mit Blick auf die Raumsituation stellte er noch einmal laut fest, was er schon den ganzen Nachmittag geplant hatte: „Ich glaube, wir müssen im Gemeinschaftsraum spielen, der winzige Tisch hier ist wirklich zu klein, da kann man nicht vernünftig würfeln.“ Kaiba verdrehte darauf nur die Augen. „Wenn es denn sein muss.“ Eine derartig „begeisterte“ Reaktion hatte Duke erwartet, aber da musste Kaiba nun einmal durch, wenn er die Spielerfahrung bekommen wollte. Der Schwarzhaarige grinste nur ein wenig und ging voraus in Richtung des Gemeinschaftsraumes. Dort angekommen hielt Duke nach einem guten Tisch Ausschau und wurde in der rechten hinteren Ecke des Raumes fündig. „Was hältst du von dem Tisch da hinten?“, fragte er an Kaiba gewandt. Der seufzte nur genervt und erwiderte trocken: „Mein Gott, Devlin, wir sind hier nicht in einem Fünf-Sterne-Restaurant mit Meerblick! Er ist so gut wie jeder andere.“

Duke kicherte darauf nur leise und ging zu dem anvisierten Tisch. Man konnte sagen, was man wollte, aber Kaibas bissige Bemerkungen hatten ihren ganz eigenen Humor.

Nachdem sie sich niedergelassen hatten, baute der Schwarzhaarige das Spielbrett auf und schüttete die Würfel aus den beiden Beuteln. Der eine hatte hauptsächlich rote und blaue Würfel enthalten, der andere gelbe und weiße, beide jeweils ergänzt um drei bis vier schwarze Würfel. Routiniert begann Duke zu erklären: „Also wie gestern schon gesagt, habe ich zwei Würfel-Sets mitgenommen. Eines enthält vornehmlich Drachen- und Krieger-Monster, das andere Magier und Untote.“ Dabei zeigte er mit der Hand erst auf die roten und blauen Würfel, dann auf die gelben und weißen. Mit einem schelmischen Blitzen in den Augen sah er zu dem Brünetten auf. „Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte zu wissen, welches du nehmen wirst.“

Kaiba zog eine Augenbraue hoch und fragte kühl zurück: „Willst du damit etwa sagen, ich wäre berechenbar, Devlin?“

Mit unverhohlener Ironie und einem breiten Grinsen gab er zurück: „Oh nein, wie käme ich denn dazu?“ Hui, das gefiel Kaiba gar nicht, so langsam sollte er zumindest etwas vorsichtiger sein. Die Augen des Brünetten verengten sich gefährlich und seine Stimme wurde kalt und schneidend. „Ich warne dich, Devlin! Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt, kann auch schnell herunter fallen!“ Nach einer kurzen Pause schob er zähneknirschend nach: „Und jetzt her mit den Drachen!“

Duke ließ sich sein Amüsement diesmal sicherheitshalber nicht anmerken, packte die roten und blauen Würfel wieder in das Säckchen und schob es dem Brünetten herüber. In diesem Augenblick betraten auch Yugi und die anderen den Gemeinschaftsraum und kamen zielstrebig auf den Tisch zu, an dem Kaiba und er saßen.

„Habt ihr etwa schon angefangen?“, erkundigte sich Ryou. Duke schüttelte den Kopf: „Nein, wir sind gerade noch bei der Vorbereitung.“ Mit fragendem Blick wandte er sich an seinen Gegner: „Sie haben mich heute Mittag gefragt, ob sie zuschauen dürfen. Ich hab gesagt, es wäre kein Problem, vorausgesetzt, dass es für dich auch okay ist.“
 

Blitzschnell analysierte Seto seine Alternativen. Er spielte DDM zum ersten Mal und dann auch noch gegen den Erfinder des Spiels, es bestand also ein gewisses Risiko, dass er verlor. Wenn Wheeler das miterlebte, würde er ihm diesen Fakt genüsslich unter die Nase reiben, wann immer sich eine Gelegenheit bot – und Wheeler würde schon dafür sorgen, dass sie sich oft bot. Nicht gerade eine wünschenswerte Aussicht. Den Kindergarten nicht zuschauen zu lassen, ließ ihn schwach aussehen, denn es würde implizieren, dass er genau davor Angst hatte: vor Publikum zu verlieren. Außerdem würden sie Devlin den Spielverlauf hinterher ohnehin haarklein aus der Nase ziehen. Es gab also nur eine logische Lösung: Er würde es zulassen und nicht verlieren – so einfach war das! So zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern: „Von mir aus.“

„Klasse, mach ihn sowas von fertig, Duke!“, gab Joey schon einmal ganz klar zu Protokoll, auf wessen Seite er stand. Seto kommentierte es mit einem süffisanten, kalten Lächeln: „Du meinst, in etwa so, wie Devlin dich damals fertig gemacht hat? Ich erinnere mich, dass dir das Hundekostüm sehr gut stand, Wheeler!“ Seto wusste noch, dass er es gesehen und sich köstlich darüber amüsiert hatte. Schon damals war ihm der Gedanke gekommen, dass er Devlin würde im Auge behalten müssen.
 

Wütend funkelte Joey Kaiba an, während Duke nur kurz die Augen verdrehte. Musste Kaiba das unbedingt wieder aufwärmen? Trotz seiner schätzungsweise einhundert Entschuldigungen war der „Kostümzwischenfall“ noch immer ein leicht wunder Punkt zwischen Joey und ihm. Natürlich hatte er das Hundekostüm damals bewusst gewählt. Schon an einem seiner ersten Tage in der Schule war er Zeuge eines Schlagabtausches zwischen Joey und Kaiba geworden, in dem Kaiba mehr als einmal den Hundevergleich gezogen hatte und Duke hatte sofort bemerkt, wie effektiv das den Blonden triggerte. Und er würde lügen, wenn er behaupten würde, dass es ihm damals keinen Spaß gemacht hätte, Kaibas konstante Erniedrigungen auf diese Art und Weise noch weiter zu treiben. Die Zeiten hatten sich allerdings geändert und heute bereute Duke sein damaliges Verhalten sehr. Und auch Joey schien das glücklicherweise zu wissen: „Ach, halt doch den Mund, Kaiba, das ist Schnee von vorgestern. Ich will jetzt einfach nur sehen, wie Duke dich sauber vierteilt.“

Der Schwarzhaarige lächelte darauf nur zufrieden und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. „Danke, Joey. Wenn ihr dann fertig seid, können wir vielleicht zurück zum Spiel kommen?“

Kaibas kalter Blick galt nun wieder ihm und mit unverkennbarer Ungeduld in der Stimme forderte er Duke auf: „Dann erkläre doch endlich die Regeln, Devlin! Und zwar gefälligst alle – von Anfang an! Ich habe keine Lust sie häppchenweise im Spiel zu erfahren, wie es dir gerade in den Kram passt. Mit Muto kannst du so etwas vielleicht machen, aber nicht mit mir!“

Und wieder hatte Kaiba einen wunden Punkt getroffen – er hatte wirklich ein extremes Talent dafür, das musste man ihm lassen. Ein kurzes, bitteres Lächeln schlich sich auf Dukes Gesicht: „Keine Angst, Kaiba, aus der Phase bin ich raus.“ Dann blitzten seine grünen Augen wieder selbstbewusst auf: „Ich werde gewinnen, und zwar nicht aufgrund unfairer Vorteile, sondern einfach, weil ich besser bin!“

Jetzt grinste auch der Brünette selbstgefällig zurück: „Sei dir da nicht zu sicher, Devlin! Du magst das Spiel erfunden haben, aber ich lerne schnell. Sehr schnell.“
 

Während Duke wie von Kaiba gefordert die Zugfolge, Farben und einzelnen Symbole genau erklärte, hatte letzterer das Säckchen mit seinen Würfeln ausgeschüttet und betrachtete sie ganz genau. Offenbar analysierte er anhand der Erläuterungen bereits seine Möglichkeiten. Sehr gut, dachte Duke, genau wie damals Yugi schien der Brünette schon ein gutes Gefühl dafür zu haben, worauf es ankam. Es würde auf jeden Fall eine der interessantesten Partien seit langem für Duke werden, so viel stand fest.

„Normalerweise würden wir uns jetzt noch einen Dungeon Master aussuchen, aber weil das hier wie gesagt schon fertige Sets sind, gibt es leider keine Wahl. Hier ist deiner.“ Mit diesen Worten reichte er Kaiba eine Karte des „Herrn der Drachen“, auf der die Werte und besonderen Fähigkeiten beschrieben waren, die der Brünette während des Spiels würde nutzen können. „Ich denke, damit habe ich alles erklärt.“, beendete Duke seine Ausführungen, „Ist alles klar?“ Kaiba nickte nur und fragte nüchtern zurück: „Wer beginnt?“

Duke griff kurzerhand in seine rechte Hosentasche und zog einen normalen, sechsseitigen Würfel heraus, den er Kaiba hinhielt. „Höhere Zahl?“ Der Brünette nickte und Duke legte den Würfel auffordernd vor ihn auf den Tisch. Kaiba würfelte eine Drei, Duke eine Fünf. Sehr gut, er würde also selbst den ersten Zug machen.

Ein angenehmes Flattern hatte sich in seiner Magengegend breit gemacht. Eine Aufregung, die er genoss und die er im Kontext seines Spiels schon länger nicht mehr verspürt hatte. Kaiba war Yugi in seinen spielerischen Fähigkeiten immerhin annähernd ebenbürtig und wie nur zu deutlich zu erkennen war, schien er hoch fokussiert zu sein und – trotz der Tatsache, dass er zum ersten Mal spielte – unbedingt gewinnen zu wollen. Nun gut, nichts anderes hatte er von dem Brünetten erwartet. So sehr wie Kaiba ihn heute zwischenzeitlich aus der Ruhe gebracht hatte, jetzt würde er das unter keinen Umständen zulassen.

So zog Duke als erster zufällig drei Würfel aus seinem Säckchen und das Spiel begann.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Na, was denkt ihr, wer gewinnt? ;D Beim nächsten Mal geht es erwartungsgemäß mit dem eigentlichen DDM-Spiel weiter und der Tag wird – zumindest für Frau Kobayashi – aufregender enden, als sie erwartet hat...

Bis dahin, ich hoffe, es hat euch gefallen! :)

LG
Eure DuchessOfBoredom Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Yui_du_Ma
2021-09-26T17:02:58+00:00 26.09.2021 19:02
Bin mal gespannt, wie es weiter läuft! ^.^
Das Kapitel war gut.
Wer wohl gewinnt.
Und welche Kommentare wohl Joey zum Besten geben wird.
Freu mich darauf!
Von: Karma
2021-05-11T20:10:46+00:00 11.05.2021 22:10
Aaaawww, danke für die Erwähnung.
😍
Das war wirklich lieb.
☺️
Heute wird's von meiner Seite leider etwas kürzer, weil ich im Moment ziemlich groggy bin, aber das Kapitel hat mich auf jeden Fall mehr als ein Mal zum Grinsen gebracht. Und ich bin echt schon tierisch gespannt, wie's weitergeht und wer gewinnt - und auch wer schließlich den ersten Schritt macht.
😏
So vieles, auf dass wir uns noch freuen können.
🤩
Von:  empress_sissi
2021-05-11T20:00:01+00:00 11.05.2021 22:00
Ach, du bist lieb ♥️ da werd ich ja ganz verlegen 🤭 ich schreibe sehr gerne Kommies, weil ich einfach überall meinen Senf dazu geben muss xD Zwischenszenen sind sicher schwierig zu schreiben, aber ich finde sie mega wichtig für eine gute Story, weil oft gerade die kleine Details bei eher alltäglichen Dingen so viel zur Weiterentwicklung der Charaktere beigetragen.
Was haben wir nicht alles über das Innenleben der Jungs in diesem Abschnitt erfahren😁🤔 Seto steht jedenfalls im Allgemeinen nicht auf Körperkontakt und analysiert alles zu Tode; tja ind Duke hat definitiv an seiner familiären Situation zu knabbern, immer noch Schuldgefühle gegenüber seiner Freunde und sollte aufhören den Drachen zu ärgern 😅

Ich freue mich jetzt so richtig auf das DDM-Match, aber hab echt keinen Plan wer gewinnen wird. Duke ist natürlich der Erfinder, aber Seto hat wirklich gute Gründe nicht zu verlieren. 😉 Hab mir jetzt extra das DDM-GameBoy-Spiel für ein besseres feeling zugelegt.

Von:  Hypsilon
2021-05-11T17:38:00+00:00 11.05.2021 19:38
Uuuh da hab ich sogar eine Erwähnung im Vorwort bekommen ❤ ich fühl mich total geehrt =D
Gleich zuerst: ich kommentieren hier wirklich gerne, mag deinen Schreibstil und deine Erzählform total gerne, da kann man gar nicht anders als das eine oder andere Wort zurück zu lassen ;)
Das mit den Kommis nochmal lesen kenne ich nur zu gut. Baut total auf und bringt einen weiter =)

Hab mich heute vormittag schon mega gefreut, dass ich jetzt ein neues Kapitel zum Lesen habe und das war einfach nur toll.
Kaibas Sicht war so cool beschrieben, wie er langsam weiter analysiert und schließlich checkt, was da los ist, die Art und Weise war wirklich echt genial geschrieben, hatte echt geniale Komik, wovon ich gerne mehr lese und dann Duke im Badezimmer, Gott du beherrscht es echt, deine Leser hin und her zu reißen, riesen Lob an dich 👍🏻
Der Schluss war auch super mit dem Auspacken der nicht so stolzen Momente hihi und dann der Auftakt zum Spiel 🤩
Weiter so, ich freu mich schon auf mehr ;)


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