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Herz über Kopf

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben,

dieses Kapitel ist irgendwie ziemlich lang geworden, aber es ließ sich auch nicht sinnvoll teilen. Von daher wünsche ich viel Spaß und falls wir uns vor Weihnachten nicht noch einmal lesen, auch schon mal ein Frohes Fest.

Zauberhafte Grüße
Mag
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Trotz des Kapiteltitels habe ich beim Schreiben dieses Lied hier gehört. Es passte so wunderbar zur Stimmung am Morgen. https://www.youtube.com/watch?v=MhBKlLUQItQ Komplett anzeigen

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Nur einmal noch

„War ne geile Party!“

 

Jos Aussprache war schon etwas mitgenommen, aber er grinste mich selig an, während seine Freundin Nathalie mit den Augen rollte.
 

„Ja, ganz prima, T. Vielen Dank für die Einladung.“

 

Sie fasste Jo unter die Schulter, um ihn zu stützen. Zum Dank fing er an, in ihren langen, braunen Haaren herumzuwuscheln. Sie schlug seine Hand weg und schob ihren ziemlich betrunkenen Freund in Richtung Ausgang. Wobei er nicht nur ihr Freund war, sondern auch meiner. Mein bester und das seit dem Tag, an dem ich irgendwann vor sechs Jahren mal durch ein grottenschlechtes Zeugnis in seiner Klasse und auf dem Stuhl neben ihm gelandet war.
 

„Wir sehen uns dann“, rief Nathalie noch, bevor sie über die steile Treppe nach unten polterten. Ich winkte ihnen nach und drehte michanschließend zu Mia um, die bereits dabei war, die leeren Getränkebecher zusammenzusuchen. Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit wirkte sie immer noch taufrisch. Ich musterte sie, während sie weiter aufräumte. Sie war wirklich wunderschön. Schulterlange, blonde Haare, himmelblaue Augen, tolle Figur. Jeder, der sie sah, war sofort hin und weg von ihr. Auch ich. Dabei war ihr Aussehen nicht mal das Beste an ihr. Sie war auch eine tolle Zuhörerin, kam mit allen Leuten gut aus, war fast nie launisch oder zickig. Die perfekte Freundin.

 

„Lass es liegen, ich räum morgen auf“, hörte ich mich sagen, obwohl ich wirklich über jede Hilfe dankbar sein sollte. Auf dem ehemaligen Heuboden der alten Scheune sah es aus wie auf einem Schlachtfeld und wenn nicht spätestens morgen Mittag alles wieder tipptopp in Ordnung war, konnte ich eine erneute Wiederholung dieser Party vermutlich vergessen.

 

„Ich könnte morgen vorbeikommen und dir helfen“, bot Mia an. Sie stellte die Pappbecher ab und kam zu mir rüber. Ich spürte ihren Atem auf meiner Haut, als sie sich an mich schmiegte und mir ins Ohr flüsterte: „Oder ich gehe heute erst gar nicht nach Hause.“

 

Sie lächelte und ihre Augen strahlten mit dem kleinen silbernen M an ihrem Hals um die Wette. Ich hatte es ihr heute geschenkt, weil wir beinahe ein Jahr zusammen waren. Eigentlich fehlten zwar noch ein paar Tage, aber da wir uns auf der Party im letzten Jahr das erste Mal geküsst hatten, hatte ich mir gedacht, dass es der passende Anlass für so ein Geschenk sei.
 

„Hast du nicht gesagt, dass deine Mutter dich gleich abholt?“

„Ich hab sie noch nicht angerufen.“

„Warum nicht?“

„Warum wohl nicht?“

 

Sie grinste ein bisschen und ich wusste, worauf sie anspielte. Jo hatte mich auch ein paar Mal danach gefragt und ich hatte ihm immer gesagt, dass wir uns Zeit damit lassen wollten. Anscheinend war diese Zeit jetzt abgelaufen.

 

Ich schluckte. „Mia, ich … ich hab ziemlich viel getrunken und ich bin mir nicht sicher, ob …“

 

Sie lächelte. „Hey, kein Problem. Wir haben ja auch deine Eltern gar nicht gefragt, ob ich hier übernachten darf. Deine Mutter hat doch bestimmt was dagegen.“

 

„Ja, wahrscheinlich“, bestätigte ich schnell. „Und mein Vater auch. Ich … ich muss sie wirklich erst fragen, ob du hier schlafen darfst.“

 

„Aber wenn ich meine Mutter jetzt anrufe, wird es bestimmt noch ein bisschen dauern, bevor sie mich abholt“, meinte sie gespielt nachdenklich. „Was machen wir denn nur bis dahin?“

 

Ich tat nachdenklich.
 

„Mikado spielen?“

„Mahjong vielleicht.“

„Oder Mensch-ärgere-dich-nicht.“

 

Ich legte die Hände auf ihre Hüften und zog sie an mich. Sie schlang die Arme um meinen Hals.
 

„Oder du küsst mich jetzt einfach.“

„Nichts lieber als das.“

 

Ich lehnte mich vor und meine Lippen berührten ihre. Sie waren so weich, so sanft. Wie alles an ihr. Meine Hand glitt über Mias Rücken. Ich fühlte den Verschluss ihres BHs unter ihrem Top. Unwillkürlich musste ich lächeln, als ich daran dachte, wie ich beim ersten Mal an dem Ding verzweifelt war, sodass sie ihn am Ende einfach selbst geöffnet hatte. Inzwischen war ich besser geworden.

 

Ich schloss die Augen und küsste sie inniger. Das war gut. Meine Hände wanderten tiefer und legten sich an ihren Po. In dem Moment jedoch, wo ich mich richtig in das Gefühl fallen lassen wollte, kamen plötzlich wieder die Erinnerungen hoch. Die Erinnerungen an einen anderen Kuss, einen anderen Mund. Für einen Moment konnte ich Meerwasser riechen.
 

Ich löste mich wieder von ihr und lächelte sie an. Es kostete mich kaum Überwindung.

 

„Du solltest jetzt wirklich deine Mutter anrufen. Sie wartet doch bestimmt auf dich. Immerhin haben wir schon nach zwei.“

„Okay. Bin gleich wieder bei dir.“

 

Mia hauchte mir noch einen kleinen Kuss auf die Lippen, bevor sie ihr Handy aus ihrer Tasche zog und anfing zu wählen. Ich hingegen wandte mich wieder dem Tisch zu. Inmitten des Chaos stand eine Flasche. Wodka. Noch halbvoll. Ich sah kurz zu Mia rüber, die mit dem Rücken zu mir stand, bevor ich danach griff, den Verschluss abschraubte und sie an meinen Mund führte.
 

Die klare Flüssigkeit brannte in meinem Hals. Ich unterdrückte den Hustenreiz und schaltete einfach ab. Nur nicht darüber nachdenken. Einfach nur trinken, dann würde es besser werden. Wärme breitete sich in meinem Bauch aus und schlüpfte von dort in meine Glieder. Als ich die Flasche schließlich wieder absetzte, war sie nur noch zu etwa einem Drittel gefüllt. Schnell schraubte ich sie wieder zu und trank einen Schluck aus einem der herumstehenden Becher. Bacardi-Cola. Eklig süß, aber immer noch besser als den Geschmack des puren Alkohols in meinem Mund. Hinter mir hörte ich Schritte.
 

„Sie kommt“, verkündete Mia und war gleich wieder bei mir. Ich spürte ihre Brüste an meinem Rücken, als sie ihre Arme um meine Taille schlang. „Aber bis dahin haben wir noch ein bisschen Zeit.

 

Der Wodka kreiste in meinem Blut. Er machte mich ruhiger und alles wurde gleich viel leichter.

 

Ich drehte mich um und grinste Mia an. Sie schwankte ein wenig. Oder war ich das? Ich hörte sie lachen.

 

„Na, du scheinst ja wirklich schon ziemlich rum zu sein. Soll ich dich nicht doch lieber ins Bett bringen?“

 

„Nein, ich schaff das schon“, nuschelte ich und zog sie an mich. Sie roch gut. Nicht nach Meer sondern nach diesem Apfelshampoo, das sie immer benutzte. Ich mochte den Geruch. Immer noch lächelnd vergrub ich meine Nase an ihrem Hals. Küsste ihn. Knabberte an ihrem Ohrläppchen. Ließ meine Hände über die richtigen Stellen gleiten. Sie war so warm und weich.
 

„Ich will mit dir schlafen“, flüsterte ich.

 

„Jetzt ist es ein bisschen zu spät.“

 

Immer noch lachend schob sie meinen Kopf weg und sah mich an. In ihren Augen lag so viel Wärme, während mein Blick sich langsam trübte. Der Alkohol stieg mir zu Kopf.
 

„Ich will wirklich mit dir schlafen“, sagte ich noch einmal. Sie musste das wissen. Sie sollte nicht denken, dass ich es nicht wollte. Denn ich wollte ja. Ich fand ihren Körper wunderschön. Ich fand sie wunderschön. Die Vorstellung, es tatsächlich mit ihr zu tun, war erregend. Es war nur …
 

„Du bist betrunken“, stellte sie fest. Mit einem Lächeln nahm sie mir meine Brille ab und steckte sie in die Tasche ihres offenen Jeanshemdes.

 

„Damit ihr nichts passiert“, erklärte sie. Zärtlich strichen ihre Hände durch meine Haare. Die Sonne der letzten Tage hatte sie wieder blonder werden lassen wie immer im Sommer. Einige der Strähnen waren jetzt fast so hell wie Mias Haare.
 

„Na komm, mein Großer. Ich bring dich ins Bett.“

 

Die Stufen der alten Stalltreppe verschwammen vor meinen Augen und ich musste mich am Geländer festhalten. Vielleicht hatte ich es mit dem Wodka doch etwas übertrieben. Der Fußboden drehte sich unter meinen Füßen und das Schlüsselloch der Haustür wich meinen Versuchen, mit seiner Hilfe ins Innere zu gelangen, immer wieder aus. Irgendwann stolperte ich doch in die Diele.
 

„Du musst leise sein, sonst wachte deine Familie noch auf.“

„Quatsch.“

 

Würden sie schon nicht. Meine Eltern hatten einen ausgesprochen tiefen Schlaf und mein Bruder war selbst zu einer Party eingeladen. Abiparty sozusagen. Er hatte es vor ein paar Tage mit Einskommairgendwas bestanden und durfte sich deswegen jetzt mal so richtig austoben. Nicht, dass er das nicht sonst auch getan hätte. Er konnte so was, während ich …

 

„Vorsicht Stufe“, rief Mia und hielt mich gerade noch auf, bevor ich die offene Holztreppe hinauffallen konnte. Ich kicherte bei dem Gedanken, dass ich früher als Kind vor solchen Treppen immer Angst gehabt hatte. Inzwischen war ich schon zu alt für so was.
 

„Pscht“, machte ich unnötigerweise in Mias Richtung. Die größte Geräuschquelle war immerhin momentan nicht unbedingt sie. Also riss ich mich zusammen und bewältigte irgendwie die restlichen Stufen bis hoch in den zweiten Stock, wo ich neuerdings mein Zimmer hatte. Es war riesig und beherbergte neben Bett und Schrank auch gleich noch meine Instrumente. Ich spielte Gitarre, hatte jetzt mit Bass angefangen und das alte Schlagzeug meines Bruders wartete bereits darauf, dass ich mich auch daran versuchte. Nur das Klavier, das noch im großzügigen Wohnzimmer im Erdgeschoss stand, hatte nicht hier herauf gepasst.

 

„So, wir sind da“, meinte Mia und öffnete die Tür zu dem ausgebauten Bodenraum. Durch die schrägen Dachfenster schien der Mond.
 

„Soll ich dir noch beim Ausziehen helfen?“

„Mhm-mhm“, machte ich und spürte, wie sie meine Hose öffnete. Dabei strichen ihre Finger über meinen Bauch. Das fühlte sich gut an. Ich nahm ihre Hand und schob sie an die richtige Stelle.
 

„Siehst du, was du mit mir machst?“, fragte ich, aber sie nahm ihre Hand nur wieder weg.

„Ich sehe vor allem, dass du ins Bett gehörst.“

 

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Irgendein Popsong. Sie seufzte.
 

„Meine Mutter ist da. Schaffst du den Rest allein?“

 

„Klar“, murmelte ich. Ich bekam noch einen kleinen Kuss, dann war ich plötzlich allein, während Mia nahezu geräuschlos die Treppe runterhuschte. Die Haustür fiel leise ins Schloss und ich atmete unbewusst aus, als ich die Zimmertür hinter mir zudrückte. Geschafft.

 

Mit einigen Schwierigkeiten kämpfte ich mich aus meiner Hose und wankte dann auf mein Bett zu. Nur in Shorts und T-Shirt ließ ich mich auf die am Boden liegende Matratze fallen und erntete ein Brummen.

 

Moment … ein Brummen? Aus meinem Bett?

 

Ich blinzelte und sah jetzt endlich die Silhouette, die sich undeutlich gegen die in diesem Teil des Zimmer herrschende Dunkelheit abzeichnete. Es bestand kein Zweifel. In meinem Bett lag jemand.

 

Ich tastete nach der Nachttischlampe, die neben der Matratze auf dem Boden stand und schaltete sie an. Im nächsten Moment setzte mein Herz einen Schlag aus. In meinem Bett lag … er! Benedikt. Mit meinem Kopfkissen im Arm. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund stand ein wenig offen. Ich betrachtete seine Lippen. Die Lippen, von denen ich wusste, wie sie sich anfühlten, wenn sie sich auf meine pressten.

 

Mit aller Macht kam die Erinnerung wieder hoch, die ich schon früher am Abend versucht hatte zu unterdrücken. Wir beide auf diesem Steg. Irgendwo am Strand. Mitten in der Nacht. Der Mond hatte geschienen genau wie heute, als er mich gefragt hatte, ob er mir zeigen sollte, wie man küsst. Und ich hatte Ja gesagt. Hatte nicht gezögert. Ich fragte mich, ob er wohl noch genauso schmeckte wie damals.

 

Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich mich vorgebeugt und meine Lippen auf seine gelegt. Er schlief, also konnte ja nichts passieren. Auch seine Lippen waren weich und gleichzeitig ganz anders als die von Mia. Fester. Männlicher. Ich wollte mehr davon.

 

Leise löschte ich das Licht wieder. Ich fragte nicht danach, warum er in meinem Bett lag. Ich wusste, dass er auf der Party gewesen und dann irgendwann verschwunden war. Offenbar um hierher zu kommen. Warum konnte ich nur mutmaßen und selbst das fiel mir in meinem jetzigen Zustand schwer.

 

Er murmelte etwas im Schlaf und drehte sich auf den Rücken. Ich konnte fast nichts erkennen, daher streckte ich die Hand nach ihm aus. Sie traf auf seinen Bauch. Offenbar war sein T-Shirt verrutscht und hatte die nackte Haut freigelegt. Ich spürte ganz leicht seinen Herzschlag gegen meine Fingerspitzen pulsieren. Auch hier war es wieder ganz anders als bei Mia. Nicht so weich und mit mehr Muskeln und mehr Haaren. Sie bildete eine feine Linie, die zunehmend abwärts lief und irgendwo in seinem Hosenbund verschwand.

 

Ich schluckte. In meiner Vorstellung formte sich ein Bild davon, was sich wohl jenseits des Stoffes verbarg. Und plötzlich wollte ich es sehen. Ich wollte es anfassen. Ich wollte ihn anfassen. Ihn küssen, ihn berühren und von ihm berührt werden. Der Wunsch war so heftig und plötzlich, dass ich gequält aufstöhnte. Ich hatte eine Erektion und zwar nur allein von der Vorstellung, meinen Klassenkameraden anzufassen. Das war doch nicht normal.

 

Plötzlich hörte ich Musik. Eine Melodie, die ich kannte, aber gerade nicht zuordnen konnte. Sie kam aus Benedikts Richtung. Genauer gesagt von irgendwo unter ihm.

 

Sein Handy, kombinierte mein benebelter Verstand irgendwie. Ich schob ihn ein wenig beiseite und griff nach dem leuchtenden Display. „Mama“ stand darauf. Ich nahm ab.
 

„Hallo?“

„Benedikt, bist du das?“

„Nein, hier ist Theodor. Ich … Benedikt war heute bei meiner Party.“

„Ja, ich weiß“, kam es von der anderen Seite. „Wo ist er?“

„Er schläft“, gab ich wahrheitsgemäß zur Auskunft.

 

Nüchtern klingen. Reiß dich zusammen, hämmerte es in meinem Kopf. Du schaffst das.
 

„Er hat ein bisschen viel getrunken. Wenn Sie möchten, wecke ich ihn. Er kann aber auch gerne hier übernachten.“

 

Ich hörte, wie die Frau am anderen Ende überlegte.
 

„Ist das auch wirklich in Ordnung?“

„Ja, sicher. Ich sage ihm, dass Sie angerufen haben.“

„Okay, vielen Dank.“

 

Ich verabschiedete mich und legte auf. Mit dem Rücken zu ihm saß ich am Rand der Matratze und wusste plötzlich, dass er wach war. Langsam drehte ich mich um.

 

Er hatte sich halb aufgerichtet und wirkte noch etwas verschlafen. Trotzdem schien er zu begreifen, wo er war und wen ich gerade am Telefon gehabt hatte. Er sah mich an.
 

„Warum hast du das gemacht?“

 

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, warum ich gesagt hatte, dass er bleiben konnte. Alles, was ich wusste, war, dass ich wollte, dass er blieb.

 

„Ich sollte sie nochmal anrufen“, sagte er leise. Seine Stimme war ein bisschen rau vom Schlaf und vom Trinken. Eine Gänsehaut jagte über meinen gesamten Körper.

 

„Ja, das solltest du“, entgegnete ich.

 

Und dann lehnte ich mich vor und küsste ihn. Es geschah ganz von alleine. Ich merkte, wie er sich versteifte und einen Augenblick lang zögerte, bevor er begann, den Kuss zu erwidern. Es war wie damals. Alles passierte ganz automatisch, als hätten wir jahrelange Übung darin. Ich seufzte in den Kuss, als er mich zu sich auf die Matratze zog. Seine Hände schoben sich unter meine Kleidung und glitten langsam tiefer, bis sie auf meinem Po zu liegen kamen. Er drückte mich fester an sich und ich merkte, wie ich wieder hart wurde. Auch ihm konnte das nicht entgehen, denn sein Oberschenkel lag zwischen meinen. Ich legte den Kopf in den Nacken und stöhnte.
 

„Theo“, murmelte er gegen meinen Hals, während seine Lippen tiefer glitten. Ich ließ ihn gewähren. Presste mich an ihn. Zwischen meinen Beinen pulsierte es. Das war so gut. So anders als mit Mia, an die ich nur einen kurzen Augenblick dachte, bevor ich mich wieder Benedikts Berührungen hingab. Seine Lippen streichelten meinem Bauch. Bewegten sich abwärts. Er stoppte.

 

Ich lag mittlerweile auf dem Rücken unter ihm. Er hob den Kopf. Ich sah seine Augen im Mondlicht glänzen. Seine wundervollen, blauen Augen, die mich manchmal im Traum verfolgten. Träume, in denen ich mich sah. Mich, aber ich war nicht allein. Da waren Männer bei mir. Männer, die Dinge mit mir taten. Dinge, die ich ihm Internet gesehen hatte. Es hatte mich erregt.
 

„Ich sollte das nicht tun“, murmelte er leise und ließ den Kopf gegen meine Brust sinken. Ich streichelte sanft seinen Nacken.
 

„Benedikt“, flüsterte ich. Er zuckte zusammen, als hätte ich ihm einen Stromschlag verpasst. „Benedikt, bitte. Ich brauche das. Ich brauche dich.“
 

Daraufhin sagte er nichts mehr. Er hakte nur seine Finger unter den Bund meiner Boxershorts und zog sie langsam nach unten, bis ich vollkommen entblößt vor ihm lag. Als er sich über mich beugte, schloss ich die Augen. Es war besser als in meinen Träumen. So unendlich viel besser.

 

Alles in bester Ordnung

Er ist nicht da.

 

Ich wusste nicht, wie der Gedanke es geschafft hatte, an die Oberfläche zu kommen, aber jetzt, wo er einmal da war, schien er nicht wieder verschwinden zu wollen. Er folgte mir, wohin ich auch ging. Er wisperte in mein Ohr, während ich mich mit meinen Freunden unterhielt. Er zupfte an meinem Ärmel, als ich mir etwas zu trinken holte. Er packte mich am Arm und wirbelte mich herum, damit ich endlich die Wahrheit erkannte. Es war wieder einmal Schuljahresabschlussparty und Benedikt war nicht gekommen. Er war einfach nicht gekommen.

 

Wie von selbst griff meine Hand nach der Flasche mit der klaren Flüssigkeit, die dort so verführerisch zwischen den anderen stand.

 

„Hey, hier bist du.“

 

Schnell ließ ich die Flasche wieder los und drehte mich zu Mia herum. Sie stand hinter mir und ihr Gesicht wurde von den flackernden Scheinwerfern beleuchtet, die abwechselnd ihr buntes Licht auf die Tanzfläche streuten. Dieses Mal war wirklich fast der gesamte Jahrgang gekommen. Ich warf einen Blick auf die Menge an Köpfen, die sich auf den hölzernen Dielen drängte, auf denen normalerweise ein Billardtisch, ein Kicker und ein Airhockey standen. Die Geräte waren jetzt an die Seite geschoben und abgedeckt, um Platz für die Party zu schaffen.

 

Ich verschob mein Gesicht zu einem Lächeln.

 

„Ich wollte mir gerade was zu trinken holen. Willst du auch?“
 

Sie lachte und schüttelte den Kopf.

 

„Nein, ich bin heute der Fahrer. Ich wollte nur mal sehen, wo du bist. Man könnte fast meinen, du versteckst dich vor mir.“

 

Sie lachte wieder und ich mit, während ich sie in meinen Arm zog und ihr einen Kuss gab. Natürlich versteckte ich mich nicht vor ihr. Das wäre ja lächerlich gewesen. Vor allem, weil sie das beste Mittel gegen die Bilder war, die zunehmend stärker versuchten, sich in mein Bewusstsein zu drängen. Erinnerungen, die mir immer wieder vorgaukelten, zwischen den Leuten doch endlich das ersehnte Gesicht zu sehen. Warum war ich nur so besessen davon, dass er nicht da war? Es konnte schließlich tausend Gründe dafür geben. Wirklich. Es hatte bestimmt nichts mit mir zu tun. Ganz bestimmt nicht. Und selbst wenn, würde das überhaupt nichts ändern. Rein gar nichts.

 

Ich stürzte mich wieder ins Getümmel. Mischte mich unter die Leute und versuchte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es gelang mir nicht so recht. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, während ich mit halbem Ohr der Musik oder irgendwelchen Gesprächsfetzen lauschte, die von den Feiernden aus auf mich einströmten. Ich lachte, wenn alle lachten, aber ich war nicht bei der Sache. Vielleicht, weil wieder der Abend der Party war. Dabei wäre heute nichts passiert. Heute hätte ich aufgepasst. Ich hätte mich im Griff gehabt. Es war ja schließlich nicht so, dass ich das vom letzten Jahr wiederholen wollte. Das Ganze war ein Fehler gewesen. Genau das hatte ich ihm auch gesagt, als wir uns nach den Ferien wieder über den Weg gelaufen waren. An jenem Morgen jedoch …

 

 

Mein Schädel dröhnte von dem Alkohol, den ich zu schnell und in zu großen Mengen in mich hineingeschüttet hatte, und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mit der Hand den Sonnenschein abzuwehren, der unerbittlich durch das unverdunkelte Dachfenster hereinschien. Mit der Bewegung kamen zuerst noch mehr Kopfschmerzen und dann die Erinnerungen. Die Erinnerungen daran, was ich getan hatte. Ich hatte … oh nein!

 

Langsam drehte ich mich herum.

 

Benedikt lag immer noch fast vollkommen unbekleidet in meinem Bett. Ich konnte wohl von Glück sagen, dass uns so noch niemand gefunden hatte. Lange würde es sicherlich nicht mehr dauern, bis irgendwer an meine Zimmertür klopfte, um mich nach drüben zu scheuchen zum Aufräumen. Immerhin hatten wir Gäste und würden heute noch neue dazu bekommen. Urlauber, die eine der Ferienwohnungen beziehen würden, mit denen meine Eltern ihren Lebensunterhalt verdienten. Vor Jahren hatten sie einen alten Dreiseitenhof gekauft und ihn mit viel Arbeit und Fleiß in ein Oase der Ruhe und Erholung verwandelt. Leider galt das nicht für mich. Spätestens, wenn die Frühstückszeit vorbei war, durfte ich mir sicherlich eine Standpauke anhören, wenn ich dann immer noch im Bett lag. Vor allem, wenn es nicht allein war.

 

Trotzdem saß ich einfach nur da und sah ihn an.

 

Ich wusste, dass ich ihn eigentlich hätte wecken müssen, um mit ihm zu klären, was letzte Nacht passiert war. Aber ich konnte nicht. Weil ich keine Erklärung hatte. Zumindest keine, die mir gefiel. Und die, die es gab, war zu … nein. Ich weigerte mich, auch nur darüber nachzudenken. Selbst wenn es erklärt hätte, warum ich mich nicht von seinem Anblick losreißen konnte, wie er da lag, die dunklen Haare vom Schlaf zerwühlt, die vollen Lippen leicht geöffnet, die feinen Wimpernkränze fest aufeinander gelegt, während die Sonne jede einzelne seiner Sommersprossen wachküsste. Wie gerne hätte ich gewartet, bis er die Augen aufschlug und mich ansah. Mich anlächelte. Mich noch einmal in seine Arme zog und küsste. Vielleicht mehr. Ich konnte es fast fühlen. Seine Finger auf meiner Haut, seine Lippen an meinem …

 

Aber das ging nicht. Ich musste mir schnellstens überlegen, wie ich das wieder geradebiegen konnte. Wenn das herauskam, dass er und ich … Es würde alles verändern. Das durfte nicht passieren. Es durfte einfach nicht passieren.

 

Benedikt begann sich zu regen und ich bekam plötzlich Panik. Er musste hier weg und zwar schnellstens. Am besten noch bevor jemand mitbekam, dass er überhaupt hier gewesen war. Aber wie?

 

Mein Blick irrte durch das Zimmer und blieb an der Tür hängen, die zu dem winzigen Badezimmer führte, das meine Eltern hier oben hatten einbauen lassen. Es bot gerade mal Platz für eine Dusche und eine Toilette, aber es war groß genug für eine Person. Groß genug, um sich darin zu verstecken.

 

Ohne weiter darüber nachzudenken sprang ich auf und huschte zu der hellen Holztür. Ich öffnete sie, schlüpfte hindurch und schloss sie so leise wie möglich wieder. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf jedes Geräusch, das von der anderen Seite zu mir vordrang. Offenbar wachte Benedikt tatsächlich auf. Ich hörte ihn unwirsch murren. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb und das Blut rauschte in meinen Ohren. Was würde er tun? Würde er mich suchen? Würde er sich überhaupt noch an letzte Nacht erinnern?
 

Schon im nächsten Moment schalt ich mich selbst einen Dummkopf. Natürlich würde er sich daran erinnern. Der Betrunkenere von uns beiden war definitiv ich gewesen. Ich fühlte meinen Magen gegen die vorangegangenen schnellen Bewegungen und die aufrechte Lage rebellieren. Mit einiger Anstrengung kämpfte ich die aufkommende Übelkeit nieder ebenso wie alles andere. Ohne auch nur zu blinzeln lehnte ich an der Tür. Ich hielt den Atem an. Versuchte mich zu beruhigen. Nur kein verdächtiges Geräusch machen, nur nichts verraten.

 

Den Lauten nach zu urteilen erhob Benedikt sich jetzt aus dem Bett. Er ging im Zimmer umher. Zog seine Sachen an? Ich hörte das Rascheln von Papier, dann ein reißendes Geräusch. Mein Herz kam ins Stolpern, als sich kurz darauf Schritte der Tür näherten. Die Klinke wurde herunter gedrückt, doch ich hatte in einem Anfall von Geistesgegenwart abgeschlossen. Wie gebannt starrte ich auf das sich bewegende Stück gebürstetes Metall, das jetzt nur Millimeter von meinem Ellenbogen entfernt wieder in seine Ausgangsposition zurückkehrte. Mehr Schritte, dann wurde die Zimmertür geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Jemand lief die Treppen hinunter. Er war gegangen.

 

Endlich wagte ich wieder zu atmen. In keuchenden Zügen sog ich die Luft ein wie ein Ertrinkender. Meine Beine gaben unter mir nach und ich sackte an der Innenseite der Tür in mich zusammen. Fahrig wischte ich mit der Hand über mein Gesicht. Vergrub die Finger in meinen Haaren.
 

Verdammt! Ich war so ein … so ein Feigling! Ich hatte ihn einfach so gehen lassen.
 

Gleich im nächsten Augenblick machte mein Herz einen panischen Satz, als mir einfiel, dass er womöglich meinen Eltern in die Arme laufen könnte. Wie von Sinnen sprang ich auf die Füße, riss die Badtür und gleich darauf die zum Treppenhaus auf. Ängstlich lauschte ich nach unten. Waren da Stimmen? Jemand, der Benedikt getroffen und ihn gefragt hatte, was er hier tat? Doch da war nichts. Nur das leise Klappen der Eingangstür.

 

Ich widerstand dem Drang zum Fenster zu laufen um nachzusehen, ob er unbehelligt über den Hof kam. Was, wenn er mich entdeckte? Stattdessen ging ich zum Bett hinüber, ließ mich auf die Kante der Matratze sinken und griff an die Stelle, an der er gerade noch gelegen hatte. Das Laken war noch warm. Fast so, als hätte er einen winzigen Teil von sich hier zurückgelassen. Ich lächelte kurz, bevor ich den Zettel entdeckte, der auf meinem Kopfkissen lag. 'Ruf mich an', stand darauf und eine Handynummer. Ich nahm das kleine Stück Papier, das er von einem meiner Blöcke abgerissen hatte, und sah es lange an. Sehr lange sah ich es an, bevor ich es zusammenknüllte und in den Papierkorb warf.

 

 

Ich hatte ihn nie angerufen. An diesem Tag nicht und auch nicht an einem der folgenden 43 Ferientage. Ich weiß nicht, wie oft ich es gewollt hatte. Wie oft ich den Zettel wieder hervorgekramt und bereits die Nummer eingegeben hatte und nur noch auf diese kleine, grüne Taste hätte drücken müssen. Aber dann hatte ich doch jedes Mal wieder den Löschknopf betätigt, um eine Ziffer nach der anderen im Nichts verschwinden zu lassen. Als könnte ich damit ungeschehen machen, was in dieser Nacht passiert war. Ich wünschte, es wäre so einfach gewesen. Aber das war es nicht und das erste Zusammentreffen nach den Ferien war dementsprechend frostig ausgefallen. Irgendwann hatte ich ihn dann um Weihnachten rum doch noch einmal darauf angesprochen. In einer Freistunde hatte er allein in der Pausenhalle gesessen und ich war zu ihm gegangen, um mit ihm zu reden. So wie früher. Wie vor dieser Nacht, in der sich alles verändert hatte. Er hatte mich abblitzen lassen. Ebenso wie die nächsten Male, als ich es versuchte. Irgendwann waren wir wieder zu einer Realität des gegenseitigen Ignorierens zurückgekehrt, aber die Tatsache, dass er heute Abend nicht hier war, sprach eine ganz eigene Sprache. Es war vorbei. Endgültig. Und ich hatte nichts getan, um es zu verhindern.

 

 

„Hey, was bist du denn für ne Spaßbremse heute?“
 

Jo grinste mich an, allem Anschein nach nicht mehr ganz nüchtern. Es war für gewöhnlich nicht so, dass er viel trank. Wenn wir abends zusammen unterwegs waren, hielt er sich meistens zurück. Aber bei Partys wurde Jo zum ausgesprochenen Kampftrinker, der alles vernichtete, was ihm vor die Linse kam, und das war heute offenbar schon so einiges gewesen.
 

„Hattest du nicht langsam genug?“, fragte ich ihn dementsprechend, als er nach genau der Flasche angelte, die auch ich schon im Visier gehabt hatte.
 

„Nö. Muss doch ausnutzen, dass ich wieder ein freier Mann bin.“

 

Er grinste und ich erinnerte mich. Jo hatte vor etwa einem Monat ein Mädchen in der Disko kennengelernt, nur um sich dann nach zwei Wochen bereits wieder von ihr zu trennen. Angeblich war sie ihm zu anhänglich gewesen. Seitdem feierte er sein Singledasein, so oft er konnte, während er mir ständig vorhielt, dass ich nach zwei Jahren immer noch mit Mia zusammen war. „Dir entgeht was“, behauptete er stets aufs Neue, aber ich wusste, dass er sich irrte. Ich wusste, was ich an Mia hatte. Es gab keine Bessere als sie.

 

„Gib ma’ die Cola“, befahl er und ich reichte ihm das Gewünschte, das er mit einer großzügigen Menge Korn oder was auch immer versetzte und probierte, bevor er angeekelt das Gesicht verzog.

 

„Ah fuck! Schmeckt wie Katzenpisse.“

„Dann nimm halt nicht so viel von dem Schnaps.“

„Ich glaube, das war Ouzo“.

„Na Mahlzeit!“

 

Das war eben der Nachteil an einer Buddelparty. Manche brachten das mit, was zu Hause wegmusste, weil es keiner trank. Irgendwer hatte zu so einer Veranstaltung mal Heidelbeerschnaps mitgebracht, der wie Motoröl geschmeckt hatte. Mia hatte die Flasche nach den ersten Schlucken großzügig entsorgt, bevor Jo sich das Gesöff hatte „schön trinken“ können. Zuzutrauen wäre es ihm nämlich gewesen.

 

„Aber ernsthaft mal, du bist heute so schräg drauf. Hast du dein Zeugnis vergeigt?“

 

Ich schüttelte den Kopf.
 

„Nein, es war ganz okay.“

„Dann bleibst du uns also noch erhalten.“

„Sieht so aus.“

 

Jo reckte die Daumen nach oben und grinste.

 

„Prima. Und womit feiern wir das?“

„Also ich weiß ja nicht, was du gerade machst, aber ich feiere bereits.“

 

Er verdrehte die Augen.
 

„Nee, das mein ich nicht. Nicht so ne lahme Scheunenfete. Ich meine ne richtige Party. Mit Weibern und so.“

„Ach, so betrunken bist du schon.“

 

Wenn Jo zu tief ins Glas geschaut hatte, hatte er die unangenehme Angewohnheit, so ziemlich alles anzugraben, was nicht bei drei auf dem Baum war. Unnötig zu erwähnen, dass die meisten Mädchen davon nicht eben begeistert waren, weil … nun ja. Es gab halt intelligentere Anmachsprüche als „Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick oder soll ich nochmal reinkommen?“ Dabei war er eigentlich kein schlechter Kerl. Man musste ihn nur von den Spirituosen fernhalten. Wobei ich ihm da sicherlich keine Moralpredigten halten durfte …

 

Entsprechend entrüstet sah er mich an.

 

„Quatsch, ich bin nicht betrunken. Siehst du, ich treffe noch meine Nase.“
 

Sprach’s und piekte sich bei dem Versuch, mir das zu beweisen, fast den Finger ins Auge. Ich hielt ihn auf, bevor wir noch den Notarzt rufen mussten. Er grinste mich an und schlang den Arm um meine Schultern.
 

„Also was nun? Machen wir einen drauf? Am besten da, wo auch richtig was los ist. Ne Woche Malle oder so.“

„Dein Ernst?“

„Warum denn nicht? Sind doch jetzt beide volljährig.“

 

Tatsächlich war ich das sogar schon bedeutend länger als er. Im Juni letzten Jahres war es soweit gewesen. Ich war 18 geworden. Ein Umstand, der natürlich damit gefeiert werden musste, dass ich uns zum allerersten Mal allein mit dem Auto meiner Mutter in die nächstgelegene Disko kutschieren konnte. Keine vier Wochen später hatte ich das erste Mal mit Mia geschlafen. Es war schön gewesen und es hatte geholfen, die Bilder in meinem Kopf zu übermalen. Die Bilder, die bereits wieder versuchten, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, obwohl ich doch nun wirklich alles tat, um sie zu ignorieren.

 

„Also was nun?“, maulte Jo mit einer leichten Anisnote im Atem. „Kriegst du die Woche frei?“

 

Ich seufzte.

 

„Ich fürchte, aus deinen Urlaubsplänen wird nichts.“

„Ach komm schon, T! Deine Eltern können nicht erwarten, dass du die ganzen Ferien über arbeitest. Dafür habt ihr Angestellte. Und Holger kommt auch mal eine Woche lang ohne uns aus.“

 

Er spielte damit auf den Betreiber des Sportgeschäfts an, in dem wir uns beide nebenbei etwas dazuverdienten. Anfangs hatte auch noch Benedikt dort gearbeitet, aber seit Mia und ich zusammen waren …

 

Ich schüttelte unwirsch den Kopf und fokussierte mich wieder auf das gerade stattfindende Gespräch.

 

„Das ist es ja gar nicht“, erklärte ich. „Du weißt, das mein Bruder über die Ferien herkommt um zu helfen. Aber erstens habe ich eine Freundin, wenn ich dich erinnern darf ...“

„Ja ja.“

„Und zweitens hab ich bereits was anderes vor. Ich bin nämlich ab nächstem Donnerstag für drei Wochen als Hilfsbetreuer in einem Ferien-Zeltlager tätig.“

 

Jos Gesicht als dumm zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen.
 

„Zeltlager? Davon hast du ja noch gar nichts erzählt. Wie bist du denn dazu gekommen?“

„Meine Eltern …“

 

Ich beendete die Erklärung an dieser Stelle, denn Jo konnte sich sicherlich denken, was das hieß. Meine Eltern kannten jeden, den man in so einer kleinen Gemeinde und darüber hinaus kennen konnte. Bürgermeister, Stadträte, Landräte, Kirchenvorsteher, Gemeinderatsmitglieder, Vereinsleiter, Geschäftsinhaber, Bauernverbandsvorstände, Innungsmeister. Wer immer auch Rang und Namen hatte, war im Bekanntenkreis meiner Eltern vertreten. Doch wer um Gefallen bitten wollte, musste bekanntlich auch welche gewähren, oder wie mein Vater es immer ausdrückte: Man konnte nie früh genug damit anfangen, soziales Kapital anzuhäufen. Er war diesbezüglich ziemlich fleißig gewesen.

 

Jo stöhnte gequält auf.

 

„Oh man, und du hast nicht Nein gesagt?“

„So schlimm wird es schon nicht werden. Die brauchten wen, der Gitarre spielen kann.“

„Gibt’s wenigstens ordentlich Kohle dafür?“

„Nein, ist ehrenamtlich.“

„Dreck.“

 

Jo klopfte mir mitleidig auf die Schulter.
 

„Komm, Junge, darauf trinken wir einen.“

 

Ich zögerte nur ganz kurz, bevor ich nachgab.
 

„Na los, schenk ein.“

 

Ich sah zu, wie er zwei Gläser mit deutlich zu viel Alkohol und zu wenig Mischung befüllte. Na egal, sei’s drum. Dann würde ich den Abend eben volltrunken beenden. Immer noch besser als dauernd diesen dämlichen Gedanken zuzuhören, die mich an Dinge erinnerten, die ich lieber vergessen wollte. Also nicht lang schnacken, Kopf in Nacken. Irgendwann schmeckte bestimmt sogar Ouzo mit Cola gut.

 

Mit steigendem Pegel wurde es leichter, nicht mehr an ihn zu denken. Stattdessen feierte ich. Ließ es krachen. Riss dumme Witze und gab irgendwelche Anekdoten zum Besten. Meistens über unsere Mitschüler, die gerade nicht anwesend waren. Die sorgten bekanntlich für die beste Unterhaltung. Danach spielte ich irgendein albernes Trinkspiel mit und ließ mich am Ende sogar von Mia auf die Tanzfläche ziehen. Dort angekommen fing ich sofort an, meine Hände über ihren Körper wandern zu lassen, während ich nicht an ihn dachte und daran, wo er jetzt wohl gerade war, was er dort tat und mit wem. Ob er wohl auch gerade in irgendeiner Disko unterwegs war? Womöglich in Begleitung? Ob sie miteinander tanzten? Sich küssten. Sich aneinander rieben und …
 

„Theo! Nicht hier!“

 

Ich erwachte wie aus einem Traum. Mia sah mich vorwurfsvoll an, während sie meine Hand wieder in ungefährliche Regionen schob. Zum Glück war es dunkel und niemand hatte etwas davon gesehen. Ich zog sie wieder an mich.
 

„Tut mir leid“, murmelte ich und küsste sie auf den Hals. „Ich war nur so …“

 

Ich sprach nicht weiter. Vermutlich konnte sie spüren, was ich meinte. Immerhin tanzten wir eng genug dafür.
 

„Ach, Theo“, seufzte sie.

 

Ob sie wusste, dass nur sie und er mich so nannten? Alle anderen sagten T – ausgesprochen wie der englische Buchstabe – oder eben Theodor, so wie meine gesamte Familie. Nur die beiden benutzten diese Abkürzung. Eigentlich komisch.

 

„Was ist denn jetzt so lustig?“

 

Ich zuckte mit den Schultern. Schließlich konnte ich ihr ja schlecht sagen, was mir gerade durch den Kopf gegangen war. Stattdessen setzte ich mein Lächeln auf. Das, das sie alle kriegte. Ich wusste, dass es funktionierte. Manchmal sogar bei Mia.
 

„Ich wäre jetzt gerne mit dir allein“, flüsterte ich ihr ins Ohr. „Was hältst du davon?“

„Und deine Eltern?“

„Die merken bestimmt nichts. Sind früh schlafen gegangen.“

„Aber du bist der Gastgeber.“

„Ach, die kommen mal ne halbe Stunde ohne uns aus. Oder willst du nicht?“

 

Ich sah genau, dass sie nicht wollte, und für einen Augenblick bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich wollte sie ganz bestimmt zu nichts zwingen. Aber ich brauchte sie jetzt. Ich musste diese Bilder aus meinem Kopf bekommen.
 

„Komm schon, Mia. Bitte. Nur ein bisschen. Wir gehen in den Garten.“

 

Sie lächelte. „Na schön.“

 

Als sie meine Hand ergriff und mir zur Treppe folgte, war es nicht schwer, mir vorzustellen, das sie jemand anderes wäre, aber ich schob den Gedanken entschieden beiseite. Das hier war Mia. Meine Freundin. Ich liebte sie und sie mich. Alles war gut.

 

„Hey, wo wollt ihr denn hin?“

 

Jo winkte mir mit einer Flasche. Es war die mit dem Ouzo.

 

„Sind gleich zurück“ rief ich und er grinste von einem Ohr zum anderen.

 

„Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.“

„Ich werd mir Mühe geben. Mia weiß schließlich, was gut ist.“

„Theo!“

 

Mia knuffte mich und ich brachte mich unter falschem Wehgeschrei nach unten in Sicherheit, wo sie mich kurz darauf fand. Hand in Hand gingen wir in Richtung Garten. An der Hollywood-Schaukel angekommen, ließ ich mich darauf fallen und zog sie mit mir. Lachend kam sie auf meinem Schoß zu sitzen.
 

„Na du hast es ja heute eilig.“

„Wenn ich zu dir will doch immer.“

 

Sie lachte wieder, während ich erneut begann, sie zu küssen. Schon im nächsten Moment erwiderte sie meine Küsse jedoch bereits voller Leidenschaft und als meine Hand unter ihr T-Shirt wanderte, ließ sie es willig geschehen. Ich konzentrierte mich auf das Gefühl unter meinen Fingern und drängte alles andere beiseite. Nur noch Mia sollte es geben. Nur noch sie. Ihre Brustwarzen wurden hart unter meinen Liebkosungen. Ich spürte es deutlich durch den seidenweichen Stoff ihres BHs. Bei mir hingegen …

 

Sie hörte auf, mich zu küssen.
 

„Was ist los? Stimmt was nicht?“

 

„Nein, alles okay“, log ich und versuchte wieder, sie zu küssen. Ärgerlich entwand sie sich meinem Griff.

 

„Theo, lüg mich nicht an. Du hast irgendwas.“

 

Ich seufzte. Zog meine Hand unter ihrem Shirt hervor und legte den Arm um sie und meinen Kopf an ihre Schulter.
 

„Tut mir leid“, murmelte ich schon wieder. „Ich … keine Ahnung. Muss zu viel getrunken haben.“

„Deswegen bist du so mies drauf?“

 

Ich schluckte und erschrak innerlich. Sie war schon die zweite, die das heute bemerkt hatte. Einigen Leuten war es schwerer etwas vorzumachen als anderen.

 

„Es ist nichts.“

„Theo!“
 

Sie schob mich von sich und sah mich ernst an. Ich konnte ihr Gesicht schemenhaft im spärlichen Mondlicht erkennen. Damals war es heller gewesen. Ich erinnerte mich an sein Gesicht.

 

„Also entweder du sagst mir jetzt, was los ist, oder ich gehe.“

„Es ist nichts“, wiederholte ich stoisch. „Ich hab nur zu viel getrunken.“

 

Sie seufzte und ihre Züge wurden weicher.
 

„Ach Theo“, sagte sie und strich mit der Hand durch meine Haare. „Du weißt, das du mir alles erzählen kannst.“

 

Ja, das wusste ich. Mia wusste mehr von mir also so manch anderer. Sie wusste von den Alpträumen, die ich manchmal hatte und für die ich mich eigentlich schon zu groß fand. Von den Songs, die ich heimlich schrieb und nie jemandem zeigte, und von den Kopfschmerzen, die ich auch jetzt schon wieder herannahen fühlte. Meist traten sie abends auf, manchmal sogar nachts so wie beim ersten Mal, als Mia es mitbekommen hatte. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf langsam aber sicher von einem Schraubstock zermalmt werden. Meinen Eltern hatte ich nichts davon erzählt, sondern mir stattdessen heimlich Tabletten besorgt. In letzter Zeit waren die Anfälle häufiger geworden und ich hatte ein paar Mal die Apotheke gewechselt, damit niemand Fragen stellte. Bei meiner Familie konnte man nie wissen.

 

„Theo?“

 

Ich schreckte hoch und merkte, dass ich schon wieder gedanklich abgeschweift war. Noch etwas, was momentan immer öfter passierte. Wahrscheinlich war mein Kopf einfach zu voll von all dem Zeug, das wir für die Prüfungen hatten lernen müssen. Ich brauchte dringend Ferien.

 

„Soll ich die anderen heimschicken?“

 

Mia musterte mich ernst und in ihrem Gesicht stand Sorge. Schnell setzte ich ein optimistisches Lächeln auf. Ein Gewinnerlächeln.
 

„Nein, das ist nicht notwendig. Ich hab wirklich nur ein bisschen viel getrunken. Lass uns noch eine Weile hier sitzenbleiben und frische Luft schnappen, dann geht es bestimmt wieder.“

 

„Okay“, sagte sie und klang dabei wenig überzeugt.

 

Sie lehnte sich an mich und fuhr mir weiter sanft durch die Haare. Die Berührung fühlte sich gut an. Ich schloss die Augen und versuchte die Frage beiseitezuschieben, wie es sich wohl angefühlt hätte, wenn jemand anderes an ihrer Stelle gewesen wäre. Schließlich war Mia meine Freundin und solange ich sie hatte, war alles in bester Ordnung. In absolut allerbester Ordnung.

Zwei Seiten

Von Dreck getrübter Sonnenschein fiel durch die Dachfenster der Scheune und beleuchtete mild das Chaos, dem ich gedachte Herr zu werden, sobald ich eine Ecke gefunden hatte, die sich zum Anfangen eignete. Einer der Holzbalken über mir knackte leise und durch die Treppenöffnung hörte man eine Schar Spatzen tschilpend und zankend auf dem Hof herumfliegen. Ich wäre jetzt auch lieber dort draußen gewesen statt hier oben, wo die steigende Wärme und der Staub der letzten Jahrzehnte die Luft zunehmend stickiger werden ließen. Oder vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil mein Schädel an diesem Morgen ungefähr anderthalb Nummern zu groß für meinen Körper war. Dabei kreisten in meinem Blut bereits zwei Kopfschmerztabletten und ein ganzes Glas Orangensaft, das mir meine Mutter aufgenötigt hatte, als ich unausgeschlafen und verkatert bei ihr angetreten war. Das geschmierte Brötchen, das sie mir mitgegeben hatte, lag irgendwo zwischen den Partyresten. Ich hatte zweimal abgebissen und dann beschlossen, dass ich meinem Magen für diesen Morgen genug zugemutet hatte. Jetzt ging es darum, die Spuren des gestrigen Abends zu beseitigen, denn wie hieß es bei uns immer so schön: Wer feiern kann, kann auch arbeiten.

 

„Es hilft ja nichts“, seufzte ich leise und machte mich daran, endlich mit der Aufgabe zu beginnen, vor der ich mich bereits seit zehn Minuten oder länger drückte.

 

Eine Weile lang räumte ich stumpf vor mich hin. Ich sammelte leere Flaschen und verstreute Pappbecher ein, entsorgte Getränkereste und aufgerissene Snack-Packungen und suchte vor allem den großen Strohhaufen nach irgendwelchem Müll ab. Das Stroh, das wir für die Tiere verwendeten, wurde zwar weiter unten an einem zugänglicheren Ort gelagert, aber trotzdem durfte natürlich nichts herumliegen, was hier nicht hingehörte. Immerhin diente die Scheune den Feriengästen an Regentagen als zusätzlicher Freizeitraum und musste daher dementsprechend präsentabel sein.

 

Ich trug gerade eine der leeren Getränkekisten in Richtung Treppe, als draußen auf dem Hof ein Auto vorfuhr. Es hupte zweimal und mir war sofort klar, was das hieß. Mein Bruder war gekommen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Eilig stellte ich die Kiste ab und stürzte die Treppe hinunter, um als Erster bei ihm zu sein. Leider war ich nicht schnell genug.

 

„Oh, wie du aussiehst“, hörte ich unsere Mutter schon von Weitem lamentieren, während sie versuchte, Christopher die Haare in eine von ihr gewünschte Richtung zu streichen. Ein Unterfangen, das nicht nur deswegen scheiterte, weil mein Bruder fast einen ganzen Kopf größer war als sie.

 

„Das ist jetzt die neueste Mode“, meinte er grinsend, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange drückte und sich dann mir zuwandte.

 

„Hey Alter, siehst scheiße aus.“

„Danke zurück.“

„Kinder, benehmt euch.“

 

Mein Bruder ignorierte ihren Protest und zog mich stattdessen in eine kurze Umarmung, bevor ich mich bereits vor seiner Faust in Sicherheit bringen musste, die schnurgerade auf meinen Bauch zielte. Ich blockte den Schlag und schubste ihn zurück.

 

„Lass den Mist.“

„Oh, unser Prinzesschen halt wohl schlecht geschlafen.“

„Nee, nur zu viel gefeiert.“

„Kinder, jetzt reicht es aber wirklich.“

 

Was die mahnenden Worte meiner Mutter nicht geschafft hatten, erledigte das Auftauchen unseres Vaters, der in diesem Moment aus dem Stall neben der Scheune kam.

 

„Christopher“, begrüßte er den Neuankömmling zusammen mit einem kräftigen Schulterschlag. „Schön, dass du kommst, Junge. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“

„Drei Wochen“, bestätigte mein Bruder. „In der Prüfungszeit waren einfach keine Besuche drin. Und ich kann auch dieses Mal nicht lange bleiben. Hab überraschend doch noch eine Praktikumsstelle bekommen, weil jemand abgesprungen ist. Nächsten Montag muss ich da also antreten.“

„Wo kommst du denn hin?“

„In die Apotheke im Uniklinikum. Das ist die Adresse fürs Praktikum und eine der modernsten in ganz Deutschland. Wenn ich Glück habe, kann ich da gleich mal für das praktische Jahr vorfühlen, das nach dem zweiten Staatsexam fällig ist. Zudem betreuen die auch Promotionen und Masterarbeiten. Wenn ich es geschickt anstelle, habe ich dafür vielleicht gleich mit einen Fuß in der Tür.“

„Das hört sich sehr gut an.“

 

Wohlwollendes Nicken begleitete diese Aussage. Natürlich. Wie immer hatte Christopher alles richtig gemacht, angefangen von der Wahl seine Studienortes, der nur eine knappe Autostunde entfernt lag, sodass er an den Wochenenden nach Hause kommen konnte, über die Art seines Studienfachs, dem sogar meine Großeltern applaudiert hatten, nicht zuletzt weil mein Großvater selbst Apotheker war, bis hin zum Aussuchen des richtigen Praktikumsplatzes. Wahrscheinlich hätte mein Bruder sich anstrengen müssen, um überhaupt einmal etwas falsch zu machen und selbst dann wäre er vermutlich noch besser darin gewesen als ich.

 

„Jetzt bist du aber erst mal hier“, legte meine Mutter kategorisch fest und wischte damit sämtliche Lobhudelei vom Tisch. „Ich nehme an, du hast Wäsche mitgebracht?“

„Du würdest dich beschweren, wenn es nicht so wäre.“

„Stimmt. Weil ich dann davon ausgehen müsste, dass du deine Unterhosen drei Tage lang trägst und selbst danach nur auf dem Balkon hängst zum Auslüften. Also los, gib schon her, ich wasch dir das durch.“

 

Mein Bruder grinste und drückte unserer Mutter eine prall gefüllte Reisetasche in die Hand, mit der sie laut vor sich hin schimpfend im Haus verschwand. Danach wandte er sich an unseren Vater.

 

„Und was gibt es hier Neues?“

„Eine der Haflingerstuten lahmt ein bisschen. Hab erst gedacht, dass sie sich nur vertreten hat, aber das dauert mir jetzt schon zu lange. Ich ruf morgen mal den Doktor an, damit er sich das ansieht.“

„Hast du sie reiten lassen?“

„Diese Woche nicht, aber die Woche davor waren zwei Familien mit ihren Töchtern da. Da brauchte ich beide Pferde und die Ponys, um den Bedarf zu decken. Möglich, dass sie sich dabei was getan hat. Wahrscheinlich hätte ich doch darauf drängen sollen, dass du Veterinärmedizin studierst. Das würde mir allerhand Rechnung ersparen.“

„Du hast ja noch die Chance, dass Theodor diese Laufbahn einschlägt“, erwiderte mein Bruder grinsend.

 

Ich hob abwehrend die Hände.

 

„Na bestimmt nicht wegen der paar Pferde und Ziegen.“

„Vergiss die Kühe und Hühner nicht. Und die Kaninchen.“

„Ah ja, die Langohren reißen es natürlich raus.“

 

Unser Vater schüttelte den Kopf.

 

„Na, macht ihr mal eure Späße, ich geh wieder in den Stall. Und du sieh zu, dass die Scheune fertig wird. Bis zum Mittag will ich da oben nichts mehr sehen.“

 

Die letzten Sätze hatte er an mich gerichtet und ich nickte gehorsam. Christopher schloss sich mir kurzerhand an und zusammen erklommen wir die steile Treppe zum Heuboden. Oben angekommen pfiff er anerkennend durch die Zähne.

 

„Sieht so aus, als hättet ihr’s krachen lassen.“

 

„Ein bisschen“, gab ich ausweichend zur Antwort. Nach der Schlappe im Garten hatte ich nicht mehr so recht in meine Feierlaune zurückgefunden.

 

„Na, nutzt das nur aus, dass du noch in der Schule bist. Wenn du erst mal studierst, hast du jede Menge Arbeit vor dir. Da ist nichts mehr mit rumgammeln. Es sei denn, du willst unseren Eltern länger als nötig auf der Tasche liegen, indem du ein verpatztes Studienjahr an das nächste reihst.“

 

„Nein, natürlich nicht“, erklärte ich im Brustton der Überzeugung und begann wieder mit dem Aufräumen.

 

„Weißt du inzwischen schon, was du nach der Schule machen willst?“

 

Ich antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Achseln. Im Grunde standen mir alle Möglichkeiten offen, wenn man von denen absah, die einen Numerus Clausus hatten.

 

„Germanistik vielleicht“, sagte ich mehr oder weniger, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. Immerhin war Deutsch eins meiner Lieblingsfächer.

 

„Das langweilige Zeug? Und dann? Willst du etwa Lehrer werden?“

 

Wieder hob ich unschlüssig die Schultern.

 

„Oder halt doch BWL.“

„Also das, was alle studieren, die sich nicht entscheiden können.“

 

Ich grinste und tat so, als würde mich sein Spott nicht treffen. Was ich wirklich machen wollte, wusste niemand. Nicht einmal Mia. Es hätte ohnehin nichts genutzt, es jemandem zu erzählen, denn "Musik machen" war schließlich kein ordentlicher Beruf. Zumal wenn man maximal mittelmäßig begabt war, so wie ich.

 

Auf dem angebissenen Brötchen von heute Morgen hatten es sich zwei Fliegen gemütlich gemacht. Ich scheuchte sie weg und beförderte es zusammen mit einigen Papptellern in den Müllsack. Vielleicht sollte ich meine Träume gleich hinterher werfen. Anfangen konnte ich ja doch nichts mit ihnen.

 

„Und wie läuft’s sonst so? Mit Mia alles klar?“

„Ja.“

„Schule?“

„Läuft.“

„Nerve ich dich?“

 

Ich hielt in meiner Tätigkeit inne und sah ihn an. Er stand lässig an das Treppengeländer gelehnt, auf dem Gesicht ein breites Grinsen. Es war wirklich nicht verwunderlich, dass die Leute uns sofort als Brüder erkannten. Er war ebenso blond wie ich und unser Vater, bei dem inzwischen jedoch schon das erste Grau Einzug gehalten hatte. Groß, schlank, sportlich, charmantes Lächeln. Allerdings hatte er von allem etwas mehr. Die Haare waren heller, die Augen blauer, die Zähne gerader, das Kinn markanter. Ich wusste, dass ich gut aussah, aber neben Christopher verblasste ich regelmäßig und trat in den Hintergrund. Nicht nur, wenn es ums Aussehen ging.

 

„Nein, du nervst nicht“, gab ich etwas verspätet zur Antwort.

„Und warum bist du dann so einsilbig?“

„Weil ich einen Kater habe, du Affe.“

„Selber Affe.“

„Hilf mir lieber.“

 

Ich warf ihm die Rolle mit den Müllbeuteln zu und er fing sie geschickt auf, bevor er einen abriss und sich daran machte, ebenfalls die Tische abzuräumen. Nach nicht einmal einer halben Stunde waren wir fertig.

 

„Na los, noch die Geräte aufstellen, dann können wir rübergehen.“

 

Er half mir, Airhockey und Kicker an ihren Platz zu tragen. Als auch der Billardtisch wieder zurückgewuchtet war, griff Christopher nach einem der Queues.

 

„Sollen wir mal ausprobieren, ob er richtig steht?“

„Du hast garantiert keine Chance gegen mich.“

„Was zu beweisen wäre. Na los, du legst vor.“

„Mit dem größten Vergnügen.“

 

Am Ende gewann ich die Partie mit einer Kugel Vorsprung. Mein Bruder nickte mir gönnerhaft zu.

 

„Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich habe gewinnen lassen.“

„Quatsch, du bist nur aus der Übung. Gib’s zu.“

„Tja, ich hab eben zu tun und kann nicht den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen. So ein Pharmazie-Studium ist kein Spaziergang.“

 

Ich schluckte die Bemerkung, warum er dann nicht gleich Arzt geworden war, wieder herunter. Heute war kein Tag zum Streiten.

 

Christopher legte den Queue weg und nickte mit dem Kopf in Richtung Treppe.

 

„Na los, schaffen wir den Müll weg und dann gibt’s hoffentlich was Ordentliches zum Mittag. Ich kann bald keine Instant-Nudeln mehr sehen.“

 

Ich folgte ihm über den Hof zu den großen Containern, wo wir die Müllsäcke entsorgten, und uns anschließend ein Wettrennen zur Küche lieferten, das er in dem Fall gewann, weil er einen Frühstart hingelegt hatte. Aber wirklich nur deswegen.

 

„Du bist echt außer Form“, stichelte ich, während wir uns die Hände wuschen. Jeder an seinem eigenen Waschbecken so wie früher. Er links, ich rechts. Nie andersherum. Auch wenn das Bad inzwischen renoviert, der Doppelwaschtisch mit der Holzplatte neu und die Kacheln mit den blauem Blumen erdfarbener Keramik gewichen waren, hatte sich an dieser Sache nichts geändert.

 

„Ich hab dich grad geschlagen“, moserte er zurück und spritzte mit etwas Wasser nach mir.

 

„Weil du geschummelt hast.“

„Gar nicht wahr.“

„Wohl wahr.“

 

Er lachte und wuschelte mir mit den immer noch nassen Händen durch die Haare.

 

„Lass das“, protestierte ich sofort.

„Ach Prinzesschen, nun hab dich nicht so.“

„Du sollst mich nicht immer so nennen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich ein Kerl bin.“

„Pff. Ein halbes Hemd vielleicht. Außerdem gibt es da immer noch dieses Foto von dir im Tutu.“

„Es waren Strumpfhosen und ich war Robin Hood!“

„Sagte die Prinzessin, als ihr das Krönchen heruntergefallen war.“

„Du Arsch!“

„Kinder! Nicht in diesem Ton, bitte. Und wascht euch die Hände.“

 

Ich rollte innerlich mit den Augen.War ja klar, dass unsere Mutter wieder nur das mitbekam, was sie nicht hören sollte.

 

„Ja, Mama“, antworteten wir im Chor und grinsten uns an. Wenn wir wollten, konnten wir auch anders. Nicht umsonst wussten unsere Eltern bis heute nicht, dass es zwar meine Idee gewesen war, im Wohnzimmer ein Lagerfeuer zu machen, aber mein Bruder derjenige gewesen war, der die Vorhänge als Brandbeschleuniger benutzt hatte. Die Kosten für den neuen Fußboden, hatten wir beide zusammen von unserem eigenen Geld bezahlen müssen. Ein Umstand, der uns beiden ein empfindliches Loch in das jeweilige Sparpolster gerissen hatte.

 

„Was gibt’s denn?“, wollte Christopher wissen, während er wie selbstverständlich Teller und Besteck aus den Schränken der neuen Küche nahm, die meine Eltern erst vor kurzem hatten einbauen lassen. Die hellen Fronten ließen den Raum viel größer erscheinen.

 

„Schnitzel und Gemüse aus dem Garten“, antwortete unsere Mutter, während sie emsig mit Töpfen und Pfannen hantierte. „Ich war vorhin extra noch frischen Kohlrabi holen.“

 

„Ah, du weißt eben, was gut ist“, scherzte mein Bruder und drehte sich zu mir um, um sich den Finger in den Hals zu stecken. Ich grinste nur und nahm ihm die Teller ab, um sie auf meiner Seite des Esstischs zu verteilen. Auch den hatten meine Eltern mittlerweile ersetzt. Statt des alten, einfarbigen Tischs, der die Spuren diverser Essensschlachten und Basteleinsätze davon getragen hatte, stand jetzt ein neues Model aus weißem Holz mit einer dunklen Platte und dazu passenden Stühlen in der großzügigen Wohnküche, die gleich neben dem Essbereich in das Wohnzimmer überging.

 

„Gemüse ist gesund“, erwiderte unsere Mutter nachdrücklich, als hätte sie gesehen, was mein Bruder hinter ihrem Rücken veranstaltete. „Und jetzt hör auf rumzukaspern und hol deinen Vater rein. Das Essen ist fertig.“

 

Mein Bruder ging hinaus und ich blieb alleine mit meiner Mutter zurück. Während sie das Essen in Schüsseln füllte, ließ ich meinen Blick hinüber zum Wohnzimmer schweifen. Neben der weißen Couchlandschaft und den antik gebeizten Holzmöbeln stand immer noch das Klavier, an dem ich lange Jahre tagein, tagaus geübt hatte. Nicht selten hatte ich gespielt, während meine Mutter gekocht oder Handarbeiten erledigt hatte. Irgendwann hatte ich mich dann endlich getraut zu fragen, ob ich nicht lieber Gitarre spielen lernen konnte. Zu dem Zeitpunkt war mir das so viel cooler vorgekommen als das dumme Klavier, das sich so sehr nach Musterknabe mit gebügeltem Seidenhemd anhörte. Inzwischen spielte ich wieder gerne darauf, wenn ich neben Akustik-, E- und Bassgitarre noch die Zeit dazu fand.

 

 

Als wir schließlich alle beim Essen saßen, kam erneut Christophers Studium als Thema auf den Tisch. Er erzählte von seinen Prüfungen und Kommilitonen und gab die eine oder andere lustige Anekdote über seine Professoren zum Besten, während unsere Eltern ab und an Fragen stellten. Ich hörte zu und fand, dass es eigentlich doch danach klang, als wenn mein Bruder neben dem Studium noch jede Menge Freizeit hätte. In jedem Fall hatte er schon wieder einen sehr großen Freundeskreis aufgestellt, denn die Namen der Darsteller wechselten von Geschichte zu Geschichte.

 

„Theodor wird übrigens Betreuer im Zeltlager“, warf unsere Mutter ein, während sie meinem Bruder noch einmal nachfüllte.

 

„Du?“ Christopher zog die Augenbrauen nach oben. „Wie hast du das denn geschafft?“

 

Meine Mutter lachte.

 

„Nun tu nicht so, als wenn das eine Strafe wäre. Die Tillmanns veranstalten doch jedes Jahr das große Zeltlager am See und da Susanne wegen ihrer Operation noch nicht wieder voll einsatzfähig ist und einer der Stammbetreuer, der auch Gitarre spielt, gerade im Babyjahr ist, brauchten sie jemanden, der sie musikalisch unterstützt.“

 

„Also gibt Theodor den Spielmann “, schloss mein Bruder und grinste. „Dann pass bloß auf, dass dir nicht die ganzen Viertklässlerinnen nachlaufen wie die Groupies.“

 

„Christopher, das sind noch Kinder“, empörte sich unsere Mutter.

 

„Die angeblich immer früher in die Pubertät kommen.“

„Als wenn du da schon so lange rauswärst.“

„Ich war da nie drin.“

 

Er lachte und das Geräusch war so ansteckend, dass unsere Mutter mit einfiel, bevor sie sich erhob, um den Tisch abzuräumen. Mein Bruder und ich sprangen auf um zu helfen, doch als unser Vater seinen Stuhl zurückschob, hielten wir beide inne.

 

„Ich muss nochmal auf die Weide. Bernd hat vorhin angerufen und gemeint, er hätte beim Vorbeifahren vielleicht ein Loch im Zaun gesehen. Ich will nicht, dass eine der Kühe meint sich einen Sonntags-Spaziergang gönnen zu können.“

 

„Soll ich mitkommen?“, fragte ich. „Wir könnten das Loch gleich flicken.“

 

„Nee, lass mal.“

 

„Aber er hat recht“, sagte jetzt auch mein Bruder. „Wenn wir das Material mitnehmen, kriegen wir das zu zweit schnell wieder flott.“

 

Unser Vater schien zu überlegen, dann nickte er.

 

„Gut, so machen wir’s. Lad den Kram schon mal auf, ich geh nochmal nach Lemony sehen. Wenn das mit dem Lahmen schlimmer wird, muss ich sie reinholen und ruhigstellen. Ich hoffe nur, dass Snicket dann keine Zicken macht, weil sie alleine draußen steht. Die beiden können ja nicht ohne einander.“

„Wenn du noch Hilfe brauchst, sag Bescheid, dann komm ich eben mit rüber.“

 

Mein Bruder war schon dabei die Küche zu verlassen, als sein Blick auf mich fiel.

 

„Willst du auch mitkommen?“

 

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als meine Mutter mir zuvorkam.

 

„Ach, er kann mir hier helfen. Ich brauch noch was aus dem Garten und die schweren Wäschekörbe tragen sich auch nicht von allein nach oben.“

„Alles klar, Mama, bis später.“

 

Damit war er aus der Tür und ich mit meiner Mutter allein zurückgeblieben. Sie lächelte leicht.

 

„Wenn du willst, kannst du auch erst noch ein bisschen schlafen. Du siehst müde aus.“

 

„Nein, ich schaff das schon“, wehrte ich ab, obwohl ich denn Tag und vor allem die kurze Nacht zunehmend in den Knochen spürte, und nahm mir den Korb, mit dem meine Mutter immer das Gemüse aus dem Garten holte. „Was brauchst du denn?“

 

„Ach, bring einfach von allem etwas, ich überlege mir dann, was ich daraus mache.“

„Ist gut.“

 

Pflichtschuldig setzte ich mich nach draußen in Bewegung und betrat den kleinen Gemüsegarten, den meine Mutter direkt neben dem Haus angelegt hatte. Über den Beeten hing eine brütende Wärme, die meinen Kopf schwer und schwerer werden ließ, während ich durch die Reihen ging, und den Korb mit Möhren, Kohlrabi und grünen Bohnen füllte. Ein dumpfes Pochen mischte sich darunter, das bereits zum Mittagessen begonnen hatte und seit dem ständig stärker geworden war. Mit einem Mal erschien mir der Sonnenschein gleißend und grell, das Summen der Bienen, die die tiefblauen Dolden des Rittersporns am Gartenzaun umschwärmten, viel zu laut und der Duft von Thymian und Liebstöckel aus dem nahen Kräuterbeet zu intensiv für meine empfindlichen Geruchsnerven. Ich ließ die letzten geernteten Schoten in den Korb fallen und erhob mich, nur um im nächsten Moment um mein Gleichgewicht zu kämpfen. Die Erde unter meinen Füßen schien sich plötzlich zu drehen und um ein Haar hätte ich den Korb fallen lassen. Zum Glück ließ der Anfall im nächsten Augenblick nach und die Welt fiel wieder zurück in ihre Fugen. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn und mein Herz raste. Ich schnappte nach Luft und bekämpfte mit purer Willenskraft die letzten Ausläufer des Schwindels, bevor ich die verstreuten Bohnen wieder einsammelte und mich stolpernd auf dem Weg nach drinnen machte.

 

„Bin wieder da“, verkündete ich, als ich durch die Terrassentür trat. Meine Mutter stand mit dem Rücken zu mir in der Küche. Sie hatte sich die dunklen Haare hochgebunden und vor ihr auf der Küchenplatte lag inmitten einer bemehlten Fläche ein großer Teigklumpen.

 

„Ich mach noch schnell einen Kuchen für heute Nachmittag. Hast du Wünsche?“

 

Es lag mir auf der Zunge „Stachelbeer“ zu sagen. Einfach um zu sehen, ob sie ihn machen würde, obwohl sie wissen musste, dass mein Bruder ihn nicht ausstehen konnte. Doch dann schüttelte ich nur lächelnd den Kopf, so gut es das malmende Mahlen in meinem Schädel zuließ.

 

„Du weißt doch, ich esse alles.“

„Gut, dann lass ich Christopher aussuchen, wenn er zurückkommt.“

„Mach das, Mama. Brauchst du sonst noch was?“

„Nein, das war alles.“

 

Sie drehte sich halb zu mir herum.

 

„Leg dich hin, Junge. Du siehst blass aus. Ich krieg das hier schon hin.“

 

Ich nickte und machte mich auf den Weg nach oben. Auf halbem Weg sah ich durch das Flurfenster, wie unser Vater und Christopher vom Hof fuhren. Bei dem Anblick kam plötzlich eine Erinnerung hoch; so schnell und heftig, dass ich sie nicht mehr aufhalten konnte.

 

 

Ich saß am Küchentisch. Dem, den meine Eltern jetzt auf den Sperrmüll gegeben hatten, aber das Haus war ein anderes. Der Tisch war noch neuer und ich sehr viel kleiner. Vielleicht fünf oder sechs. Vor mir ausgebreitet lagen Plätzchen, die meine Mutter gebacken hatte und die ich gerade dabei war mit Zuckerguss und allerhand bunten Streuseln zu versehen. Ich hatte einen Keks in der Hand, der wie ein Nikolaus geformt war.

 

„Mama?", fragte ich auf einmal. „Warum hat Papa Christopher lieber als mich?"

 

Meine Mutter unterbrach ihre Arbeit am Ofen und sah zu mir rüber. Auf ihrem Gesicht stand belustigte Sorge.

 

„Aber Theodor, wie kommst du denn auf diese Idee?"

„Na, weil er nur ihn mitgenommen hat, um den Weihnachtsbaum zu holen."

„Aber er hat dich doch gefragt, ob du mitwillst, und du hast gesagt, dass du lieber mit mir Kekse backen möchtest."

 

Ich überlegte kurz.

 

„Du hast Recht. Kekse backen macht mir sowieso mehr Spaß."

 

Ich nahm den Nikolaus und beschloss, ihn besonders schön zu verzieren, damit ich ihn später meinem Vater schenken konnte. Er würde sich sicher freuen, wenn er zurückkam.

 

 

Ich hätte mitgehen sollen, dachte ich und wusste nicht, ob ich mich selbst oder mein fünfjähriges Ich meinte, das kurz darauf in Tränen ausgebrochen war, weil der Keks in seiner Hand zerbrochen war. Ich wusste nicht mehr, warum ich geweint hatte. Es war doch nur ein Keks gewesen.

 

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich mich abwandte und die restliche Treppe bis zu meinem Zimmer emporstieg. Mit jeder Stufe wurden die Kopfschmerzen schlimmer. Ich ging ins Bad und holte mit zittrigen Händen die Tablettenpackung heraus. Sie war schon wieder halb leer.

 

„Ich muss vorsichtiger mit dem Zeug sein“, murmelte ich vor mich hin, während ich trotzdem zwei der weißen Dinger auf einmal herunterschluckte. Danach ging ich zurück in mein Zimmer. Trotz des Pochens in meinem Kopf nahm mir einen Block aus dem Fach meines Schreibtischs, griff nach einem Stift und ließ mich auf das Bett fallen. Wie von selbst begann ich zu schreiben.

 

 

Manchmal seh ich dich an und dann frage ich mich

Machst du dir eigentlich die gleichen Sorgen wie ich

Oder geht dein Leben diesen geraden Weg

Von jemand, der über den Dingen steht

 

Wachst du manchmal nachts auf und weißt nicht, wer du bist

Oder habe nur ich den Kopf voll mit dem Mist

Stehst du wirklich vorm Spiegel und sagst: Ich bin, wie ich bin

Und alles, was ich will, krieg ich irgendwie hin

 

Denn dann würde ich gerne so sein wie du

Du der linke, ich der rechte Schuh

Gleiche Haare, gleiche Augen und gleiches Gesicht

Was darunter liegt, sieht man nicht

 

Alles beginnst du mit einem richtigen Plan

Während ich einfach loslauf und nicht einmal ahn

Wo ich irgendwann ankomm, doch eines weiß ich

Auf dem Weg überholst du mich sicherlich

 

Weil du immer der Erste bist, nie Nummer Zwei

Und ich stehe einfach hilflos dabei

Kann dich nur bewundern und versuch so zu tun

Als wär ich gegen die Sprüche und Blicke immun

 

Dabei wäre ich ja so gerne wie du

Du der linke, ich der rechte Schuh

Gleiche Haare, gleiche Augen und gleiches Gesicht

Was darunter liegt, sieht man nicht

Was darunter liegt, sieht man nicht

 

 

Als der Song fertig war, ließ ich mich auf mein Kissen sinken. Es war, als könnte ich wieder freier atmen. Selbst die Kopfschmerzen schienen langsam weniger zu werden. Vielleicht hatten die Tabletten jetzt endlich ihre Wirkung entfaltet. Dafür griff eine unglaubliche Müdigkeit mit unbarmherzigen Fingern nach mir und zerrte mich zunehmend in die Tiefe. Mit letzter Kraft steckte ich den Block unter die Matratze, damit ihn niemand finden konnte, bevor ich endgültig aufgab und mich hinabgleiten ließ in das süße Nichts eines traumlosen Schlafes.

Verplant

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Es war fast so wie früher, als Christopher noch zu Hause gewohnt hatte. Wir halfen beide auf dem Hof, hingen abends zusammen ab. Meinetwegen hätte es ewig so weitergehen können. Einen Tag vor meiner Abreise rief jedoch Holger morgens überraschend an und fragte, ob ich noch vorbeikommen und ein paar Stunden im Geschäft helfen konnte, weil so viel zu tun war. Ich sagte zu, nachdem ich meinen Vater gefragt hatte, ob er noch Hilfe bräuchte.
 

„Geh ruhig“, meinte der jedoch nur. „Ich hab ja Christopher. Wir schaffen das schon.“

 

Nachdem ich noch schnell meiner Mutter Bescheid gegeben hatte, dass es mittags später werden würde, machte ich mich auf den Weg zum Stall. Mein Mountainbike trug immer noch die Spuren der letzten Tour. Ich hatte vergessen, es zu reinigen.
 

Gedankenverloren kratzte ich einen der Schlammspritzer ab. Der Waldweg war noch feucht gewesen und ich hatte die Bodenbeschaffenheit an einer Stelle falsch eingeschätzt. Hatte mich fast hingelegt und wäre um ein Haar die Böschung hinunter gerauscht. Am Ende war es mit einer gehörigen Portion Dreck und einem noch größeren Schrecken relativ glimpflich abgegangen. Ich erinnerte mich an das Adrenalin, das durch meine Adern geflossen war, als ich an diesem Abgrund gestanden hatte. Und an das Gefühl, als ich mir vorgestellt hatte, wenn mir wirklich etwas passiert wäre.
 

„Ein gebrochener Arm hätte sich bei den Klausuren bestimmt nicht gut gemacht“, murmelte ich, bevor ich mich endlich auf den Weg machte, damit ich nicht zu spät kam. Den Gedanken, dass der Arm mich allerdings vor jeder Menge anderer Arbeit bewahrt hätte, schob ich ganz weit weg. Es war verlockend, sich das vorzustellen, aber die Schmerzen und der ganz andere Mist, der damit zusammengehangen hätte, wären es nicht wert gewesen. Bestimmt nicht.

 

 

Als ich gegen halb zwei nach Hause kam, wartete meine Mutter schon mit dem Essen.

 

„Du kannst gleich die anderen holen. Dein Vater ist noch draußen und Christopher dürfte in seinem Zimmer sein.

„Ist gut“, entgegnete ich und wollte mich schon umdrehen, als meine Mutter noch anfügte: „Und Mia hat angerufen. Du sollst sie zurückrufen.“

 

Ich runzelte die Stirn. Warum hatte sie mir keine Nachricht geschrieben? Noch während ich darüber grübelte, fiel es mir ein. Ich hatte mein Handy liegenlassen, als ich zu Holger gefahren war.

 

„Okay, mache ich.“
 

Ich verließ die Küche und ging zuerst hoch in mein Zimmer. Tatsächlich zeigte mein Handy mehrere Nachrichten und zwei Anrufe. Alle von Mia. Sie wollte wissen, ob wir uns heute noch treffen konnten, bevor ich die nächsten Wochen weg war. Ich überlegte. Eigentlich hätte ich meine Sachen packen müssen und dann hatte ich eigentlich den Abend noch Christopher verbringen wollen. Immerhin würde der nach meiner Rückkehr schon längst zu seinem tollen Praktikum aufgebrochen sein und es stand in den Sternen, wann ich ihn das nächste Mal zu Gesicht bekam. Aber Mia war meine Freundin. Natürlich wollte sie mich noch einmal sehen.
 

Noch bevor ich eine Entscheidung getroffen hatte, rief meinen Mutter von unten, dass wir endlich kommen sollten, bevor sie alles auf den Kompost warf. Ich rief zurück, dass ich sofort da wäre, und klopfte zur Sicherheit noch an Christophers Zimmertür, für den Fall, dass er sie nicht gehört hatte. Von drinnen kam nur ein „Komme gleich“ und ich widerstand der Versuchung auf ihn zu warten, sondern ging stattdessen schon mal nach unten. Zum Glück öffnete auch mein Vater in diesem Moment die Haustür und ersparte es mir so, noch einmal nach ihm zu sehen. In diesem Moment kam auch Christopher die Treppe heruntergepoltert, sodass er noch vor mir im Esszimmer war.

 

„Was gibt’s denn?“, wollte er wissen.

„Löffelsches Bohnen.“

 

Ich grinste ein bisschen. Das erklärte den Geruch von gebratenem Speck, der trotz der neuen Dunstabzugshaube überall in der Luft hing. Man hätte fast auf die Idee kommen können, dass das Absicht war. Den Eintopf mit saurer Sahne hatte meine Mutter irgendwann mal in ihr Repertoire aufgenommen, weil es mit die einzige Möglichkeit gewesen war, meinen Bruder und mich dazu zu bekommen, Gemüse und speziell grüne Bohnen zu essen. Das Rezept hatte sie von meiner Tante bekommen, die irgendwo im Rheinland wohnte. Seitdem gab es das Gericht im Sommer regelmäßig.
 

„Mahlzeit“, rief mein Vater, als er hereinkam. „Ich hab einen Riesenhunger. Was gibt’s denn?“

„Immer noch Bohnen“, antwortete meine Mutter lachend. „Wenn das mit der Fragerei so weitergeht, hänge ich draußen bald ein Schild an die Tür.“

„Was niemand sehen würde, weil die eh immer offensteht“, gab mein Bruder zurück und schöpfte sich von dem Eintopf auf den Teller.

„Weil ihr sie nie zumacht. Man könnte wirklich denken, wir hätten Säcke vor den Türen. Theodor, würdest du bitte?“

 

Mir lag auf der Zunge, dass mein Vater schließlich als letztes reingekommen war, aber natürlich sagte ich nichts, sondern stand nur auf, um die Tür zu schließen. Danach begannen wir zu essen.

 

„Ich brauche euch beide heute Nachmittag nochmal“, meinte mein Vater, nachdem sich die Teller das erste Mal geleert hatten. „Im Garten hinten soll nächste Woche eine Sauna aufgebaut werden, aber dafür muss der Fliederbusch weg.“

 

„Ausgerechnet der Flieder“, seufzte meine Mutter, obwohl ich wusste, dass sie bereits darüber gesprochen hatten.

 

„Wäre dir der Apfelbaum lieber?“, fragte mein Vater zurück.

 

„Nein, aber du weißt, dass ich Flieder liebe.“

„Für eine andere Stelle müssten wir aber den Anschluss verlegen und den halben Garten umgraben. Dann hätten wir auch nichts gekonnt.“
 

Christopher, der sich gerade noch einmal nachgenommen hatte, meinte beiläufig: „Ich bin übrigens heute noch mit Nils und Basti verabredet. Die beiden sind über die Ferien auch zu Hause und wir wollen abends was unternehmen.“

 

„Ach, schön, was wollt ihr denn machen?“

„Weiß nicht. Kino vielleicht. Mal sehen.“

 

Der Löffel, den ich gerade zum Mund hatte führen wollen, blieb auf halbem Wege in der Luft stehen. Christopher war verabredet? Ausgerechnet heute?
 

„Theodor? Ist was nicht in Ordnung?“

 

Dem wachsamen Blick meiner Mutter war mein Zögern nicht entgangen.
 

„Nein, alles bestens. Hatte nur ein Pfefferkorn zwischen den Zähnen“, log ich, ohne lange darüber nachzudenken.

 

Schnell steckte ich den Eintopf in den Mund, obwohl mir der Appetit gerade gründlich vergangen war. Warum hatte mein Bruder sich denn ausgerechnet für heute verabredet. Er hätte doch morgen etwas mit seinen Freunden unternehmen können. Warum an unserem letzten, gemeinsamen Abend?

 

Ich warf einen verstohlenen Blick zu ihm rüber. Wahrscheinlich hatte er gar nicht mehr dran gedacht, dass ich morgen nicht mehr da sein würde. Oder es war ihm egal gewesen. Wahrscheinlich hätte ich fragen können, ob ich mitkommen konnte, aber ich wusste jetzt schon, dass die drei sich die ganze Zeit über ihre Studiengänge austauschen würden. Da wäre ich ohnehin nur das fünfte Rad am Wagen.
 

„Ich treffe mich vielleicht mit Mia.“

„Ah, kommt sie her?“

„Nein, ich fahre hin.“
 

Es hatte sich so eingespielt, dass ich meistens zu Mia fuhr, da ihre Eltern ihr nur ungern ihr neues Auto gaben. Da ich meist mit dem Rad fuhr, war ich da unabhängiger und auch nicht viel langsamer als sie, wenn sie den Umweg über die großen Straßen nahm. Dass ich heute schon einmal in der Stadt gewesen war, war natürlich ungünstig, aber nicht zu ändern. Ich hätte eben an mein Handy denken müssen.

 

Gleich nach dem Essen nahm ich es daher zur Hand und rief bei ihr an.
 

„Hey“, meinte sie, als sie gleich nach dem zweiten Klingeln abnahm, und ich konnte förmlich durch Telefon sehen, wie sie dabei lächelte. „Ich hab versucht, dich zu erreichen.“

„Ich war heute noch bei Holger zum Arbeiten.“

„Ach so.“

 

Mia hatte mich schon oft genug im Geschäft abgeholt und kannte den langjährigen Bekannten meiner Eltern inzwischen gut genug, um von ihm ebenfalls das Du angeboten bekommen zu haben. Wobei Holger damit ohnehin sehr freigiebig war.
 

„Ich wollte eigentlich fragen, ob du heute Nachmittag Zeit hast.“

„Nein, leider nicht. Mein Vater braucht mich im Garten.“

„Oh, das ist schlecht. Ich wollte dich heute eigentlich gerne noch sehen.“

„Was ist denn mit heute Abend?“

„Ich bin doch mit meiner Mutter im Theater. Hast du das vergessen?“

 

Jetzt, wo sie es sagte, fiel es mir wieder ein, dass sie so etwas erwähnt hatte. Irgendein französisches Stück. Ich selbst konnte kein Französisch abgesehen von den paar Brocken, die mir Mia inzwischen beigebracht hatte. Stattdessen hatte ich mein Gehirn mit Lateinvokabeln füllen dürfen.

 

„Theo? Bist du noch dran?“

„Ja, ich … ich hab nur nachgedacht. Das ist doof, dass wir uns so lange nicht sehen.“

„Ja, wenn du heute Nachmittag nicht kannst, ist das wohl leider so.“

 

Ich biss mir auf die Lippe. Natürlich hätte ich meinem Vater sagen können, dass ich zu Mia musste. Er würde den Busch sicherlich auch nur mit Christopher abgeholzt bekommen. Aber wenn ich mit der Ausrede kam, dass ich stattdessen meine Freundin besuchen wollte, würde es sicherlich eine entsprechende Bemerkung kommen, selbst wenn er es mir sicherlich nicht verbieten würde.
 

„Vielleicht kannst du mich ja mal im Zeltlager besuchen kommen.“

„Ist das denn erlaubt?“

„Keine Ahnung, ich frag einfach mal.“

„Das wäre super.“
 

Wieder hörte ich sie lächeln und kam mir plötzlich schäbig vor, dass ich nicht die Eier in der Hose hatte, meinem Vater eine Absage zu erteilen. Das hier war immerhin Mia.
 

„Ich vermisse dich jetzt schon“, sagte sie und dieses Mal lächelte ich. Es tat gut, das zu hören.

„Ich dich auch“, antwortete ich und wollte noch mehr sagen, als in diesem Moment schon mein Vater nach mir rief.

„Du, ich muss Schluss machen. Ich ruf dich heute Abend nochmal an.“

„Ich bin doch im Theater.“

„Dann danach?“

„Das wird aber spät.“

„Macht nichts. Schick mir einfach eine Nachricht.“

„Okay.“

 

Ich legte auf und sah zu, dass ich nach unten kam, damit mein Vater nicht warten musste. Man hätte denken können, dass ich mich auf die Arbeit freute. Dabei hatte mein Vater schon gedroht, dass wir den Bereich würden weitläufig umgraben müssen, um alle Wurzelausleger zu entfernen. Im Grunde wäre es schlauer gewesen, das bereits im Frühjahr zu erledigen, wenn die Erde vom Regen aufgeweicht war, weil die schützenden Blätter fehlten, aber meine Mutter hatte darauf bestanden, erst noch die Blüte abzuwarten. Jetzt würde es umso schwerer werden.

 

„Auf in den Kampf“, machte ich mir selbst Mut und straffte die Schultern. Dieser Busch würde mich bestimmt nicht kleinkriegen.

 

 

Tatsächlich gewannen wir die Schlacht schneller, als ich gedacht hatte. Es war gerade mal kurz nach vier, als mein Vater meinte, dass es für heute genug sei. Schwitzend stützte ich mich auf meinen Spaten.

 

„Bist du sicher? Du hast doch gesagt, es müsste alles raus.“

 

Mein Bruder lachte.
 

„Du hast wohl noch nicht genug?“

„Doch, aber …“

„Na dann frag doch nicht so viel. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“

 

Auch mein Vater verzog den Mund zu einem Lächeln.

 

„Na haut schon ab, ihr beide. Ihr habt ja schließlich auch Ferien. Den Rest schaffe ich schon alleine.“

 

Während mein Bruder zusah, dass er wegkam, zögerte ich immer noch. Der Grund dafür war simpel. Ich wusste nicht, wo ich hinsollte. Natürlich hätte ich mich jetzt beeilen und noch schnell duschen können, um dann doch noch zu Mia zu fahren. Zwei Stunden oder so hätten wir sicherlich gehabt, bevor sie sich fürs Theater fertigmachen musste. Aber wollte ich das? Eigentlich tat mir alles weh und ich sehnte mich nur noch nach meinem Bett.
 

„Was ist los? Stimmt was nicht?“

 

Mein Vater hatte meine Unentschlossenheit anscheinend bemerkt. Er musterte mich aufmerksam.
 

„Nein, alles in Ordnung“, versicherte ich schnell. „Ich hab nur … ach egal. Bin dann mal weg.“

 

Ich legte den Spaten beiseite und machte, dass ich auch wegkam, bevor ihm noch etwas einfiel, was ich erledigen konnte.

 

Müde und abgekämpft machte ich mich an den Anstieg zu meinem Zimmer. Auf dem ersten Treppenabsatz angekommen blieb ich stehen und sah zu der Tür, hinter der Christophers Zimmer lag. Einst hatte ich mein Zimmer, das direkt hinter seinem lag, auch stets durch diese Tür betreten müssen. Ein Umstand, der oft genug zu Streit geführt hatte, bis meine Eltern sich endlich hatten erweichen lassen, den Dachboden auszubauen. Da wir den Ausbau in Eigenarbeit ausgeführt hatte, hatte es ziemlich lange gedauert. Jetzt war das Zimmer fertig und mein Bruder wohnte nur noch an den Wochenenden hier.
 

„Dafür hast du mehr Platz“, sagte ich zu mir selbst und machte mich daran, auch noch die letzte Treppe zu bewältigen. Mit einem tiefen Atemzug schloss ich die Tür hinter mir. Mein eigenes Reich. Als ich noch mit Christopher zusammengewohnt hatte, hatte ich es manchmal kaum erwarten können, endlich die Tür hinter mir schließen zu können, um ihn draußen zu halten. Ihm war es nicht anders ergangen, wenn ich mich mal wieder ungefragt an seinen Sachen bedient und beispielsweise seine CDs ausgeliehenen und dann vollkommen falsch wieder einsortiert hatte. Wenn überhaupt. Jetzt war die Hälfte des Regals an der Wand leer und die zurückgebliebenen Reste entsprachen weder seinem noch meinem Musikgeschmack. Knochenreste einer Beziehung.

 

Während ich an der Tür stand, wurde ich mir bewusst, dass ich klebte. Und stank vermutlich. Ich gehörte unter eine Dusche. Musste mir den Dreck runterwaschen. Gleichzeitig konnte ich nicht verhindern, dass bei dem Gedanken an meinen Körper, der in der Sonne gearbeitet, noch ganz andere Bilder in den Kopf stiegen. Bilder, die meinen Mund trocken werden ließen.

 

„Ich hätte zu Mia fahren sollen“, murmelte ich und dachte daran, wie lange es wohl her war, dass wir miteinander geschlafen hatten. In letzter Zeit hatten wir mehr miteinander gelernt als gekuschelt. Klausurstoff abgefragt statt uns zu küssen. Und wenn ich allein gewesen war, hatte mein Anschauungsmaterial anders ausgesehen, als es sollte. Da hatte es harte Muskeln gegeben statt weicher Kurven, flache Bäuche statt wohlgerundeter Hintern. Allein wenn ich an das Bild dachte, wo der eine Junge seinen Kopf im Schoß seines Bildpartners gehabt hatte, musste ich schlucken. Man hatte nichts gesehen. Es war eine künstlerische Abbildung gewesen, die alles der Fantasie des Betrachters überlassen hatte. Das Problem war, dass meine Fantasie überhaupt keine Schwierigkeiten damit hatte, es sich vorzustellen. Weil ich wusste, wie es sich anfühlte.
 

„Das hat nichts zu bedeuten“, flüsterte ich in die Stille meines Zimmers hinein. Es war niemand da außer mir, der es hören konnte, und doch musste ich es laut aussprechen. Damit ich es nicht vergaß. Es hatte nichts zu bedeuten. Rein gar nichts.

 

 

Am nächsten Morgen erwachte ich viel zu früh. Ich hatte bis spät in die Nacht wachgelegen und noch an dem Song geschrieben, dessen Text ich am Wochenende verfasst hatte. Dabei hatte ich sogar vergessen, Mia anzurufen, weil ich die Benachrichtigungen auf lautlos gestellt hatte, damit mich nicht ständig das Gepiepse dieser dummen Messenger-Gruppe nervte, in der ich nur war, weil es dazu gehörte. Natürlich machte ich mit. Schickte Bilder mit halbnackten Frauen und lustigen Sprüchen herum und kommentierte fleißig, was meine Freunde so posteten. Manches war ja auch wirklich witzig, aber wenn ich arbeitete, konnte ich das nicht brauchen. Zumal ich schon zwei spontane Einladungen für den Abend ausgeschlagen hatte und mit Recht behaupten können wollte, die anderen nicht gesehen zu haben. Nur, dass ich so leider auch Mias Nachricht, dass sie jetzt wieder zu Hause war, verpasst hatte. Ich schickte ihr eine Entschuldigung und versprach sie anzurufen, sobald ich konnte. Dann machte ich mich auf den Weg nach unten.
 

Die Küche war leer, aber auf dem Tisch standen noch die Reste des Frühstücksgeschirrs. Das meiner Eltern war bereits abgeräumt, meines und das von Christopher waren noch unberührt. Mein Bruders war gestern spät nach Haus gekommen. Ich hatte es gehört, als er die Treppe hochgekommen war. Einen Augenblick hatte ich innegehalten um zu hören, ob er wohl noch zu mir hochkam, aber kurz nachdem das Wasserrauschen im Bad verstummt war, hatte ich nur noch das abschließende Klappen seiner Zimmertür gehört. Danach war nichts mehr gekommen.

 

Ich sah das Brötchen an, das einsam in dem mit Stoff ausgeschlagenen Brotkörbchen lag. Ein Brötchen, nicht zwei. Wahrscheinlich, weil meine Mutter damit rechnete, dass Christopher erst aufstand, wenn die Frühstückszeit für die Gäste schon vorbei war. Dann würde sie die Reste von drüben mitbringen.

 

Ich ignorierte den gedeckten Tisch und holte mir eine Schüssel und die Schachtel mit den Cornflakes aus dem Schrank. Gleich darauf verzog ich das Gesicht. Die Dinger waren pappig geworden, weil die Tüte schon zu lange offen war. Für einen Moment überlegte ich, ob ich rübergehen und mir noch welche vom Buffet holen sollte, aber der Gedanke, an den Gästen vorbei zu müssen, gefiel mir nicht. Ich sah bestimme furchtbar aus. Zumindest fühlte ich mich so. Außerdem musste ich auch noch meine Tasche packen.

 

Als hätte sie das gehört, kam meine Mutter plötzlich herein. Als sie mich sah, lächelte sie.
 

„Na, Schlafmütze. Endlich wach?“

„Mhm“, brummte ich nur.

„Hast du deine Tasche schon gepackt?“

„Ja, fast“, schwindelte ich ohne rot zu werden.

„Gut. Denk dran, dass die Tillmanns dich um halb zehn abholen.“

„Ich hab doch gesagt, ich kann auch mit dem Rad fahren.

„Das will ich aber nicht. Mit der Tasche und der Gitarre auf dem Ding ist das viel zu unsicher.“

 

Ich verkniff mir ein Augenrollen. Im Grunde hatte sie ja recht. Zudem hätte ich mit dem Rad noch früher losgemusst.
 

„Also, ich muss wieder rüber. Nimm dir ruhig was von den Erdbeeren, die im Kühlschrank stehen. Die sind noch von gestern und müssen gegessen werden.“

„Ist gut.“

 

Ich tat so, als würde ich an den Kühlschrank gehen, doch sobald sie aus der Tür war, ließ ich den Griff wieder los. Ich mochte Erdbeeren, das wusste sie. Aber Christopher war verrückt nach den Dingern. Ich würde sie für ihn stehen lassen, wenn er denn irgendwann mal aufstand. Stattdessen stellte ich meine Schüssel und den Löffel in die Spülmaschine, nachdem ich die restlichen Cornflakes entsorgt hatte, und ging wieder nach oben, um endlich meine Tasche für das Zeltlager zusammenzupacken. Ich war kaum fertig, als unten die Tür aufging.
 

„Theodor, dein Taxi ist da“, rief mein Vater nach oben.

„Ich komme“, rief ich zurück und griff nach meiner Tasche und der Gitarre, die ich wohlweislich als Erstes verpackt hatte. Als ich an Christophers Tür vorbeikam, wurde ich ganz kurz langsamer. Irgendwie erwartete ich, dass sie sich öffnen und er mich noch verabschieden würde, aber es tat sich nichts, und als mein Vater ein zweites Mal rief, drehte ich mich um und lief schnell den Rest der Treppe hinunter. Wenn er nicht wollte, dann eben nicht. Ich würde ihm nicht nachlaufen.

 

Auf dem Hof erwartete mich bereits eine kleine Menschenansammlung, die rund um den grauen Kastenwagen stand. Die hinteren Türen waren geöffnet und Frau Tillmann die neben dem Auto stand, winkte mich gleich in ihre Richtung. Sie war schwerlich zu übersehen, denn sie war eine sehr große Frau, sowohl in der Höhe, wie auch in der Breite. Dazu kleidete sie sie in wallende Röcke mit langen, schlabberigen Blusen oder Pullovern darüber, die sie noch enormer wirken ließen. Ihr Händedruck war jedoch warm und vertrauenerweckend und ihre freundlichen Augen funkelten unternehmungslustig, als sie mich in Augenschein nahm.
 

„Hallo Theodor! Meine Güte, bist du groß geworden. Ich freue mich ja so, dass du Zeit für uns hast.“

„Hallo Frau Tillmann.“

„Ach bitte, sag doch Susanne zu mir. Die Kinder nennen mich alle so.“

 

Ich überlegte noch, ob ich jetzt beleidigt sein sollte, weil sie mich offenbar auch zu den „Kindern“ zählte, aber da sah sie schon an die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk.
 

„Oh, so spät schon? Wir müssen uns sputen. Um zehn ist Betreuerversammlung. Die Zelte sind bereits aufgebaut, aber wir wollen noch einmal alles durchgehen, bevor heute Nachmittag die Kinder kommen.“

 

Ich nickte und verstaute meine Reisetaschen auf der Ladefläche zwischen Vorräten und anderer Campingausrüstung. Die Gitarre nahm ich vorsichtshalber mit nach vorn, damit sie nicht zu Schaden kam.

 

„Alles Gute und melde dich mal“, sagte mein Vater und auch meine Mutter ließ sich eine Verabschiedung nicht nehmen. Sie drückte und küsste mich. Als ich gerade ins Auto steigen wollte, ging die Haustür auf und mein Bruder kam heraus.
 

„Hab verschlafen“, erklärte er, bevor er mich ebenfalls verabschiedete und sich dann gähnend wieder ins Haus trollte. Ich sah ihn im Rückspiegel zusammen mit dem immer kleiner werdenden Haus.

 

„Und?“, fragte Susanne und drehte gleichzeitig das Radio an. „Freust du dich schon?“

 

„Ja sicher“, antwortete ich pflichtschuldig. Eigentlich wusste ich gar nicht so recht, was mich eigentlich erwartete.

 

„Du wirst sehen, das Team ist total nett. Die meisten sind schon mehrere Jahre dabei, aber ab und an brauchen wir frisches Blut.“ Sie lachte und ihr Doppelkinn wackelte dabei. „Ich bin in der Regel fürs Kochen zuständig, während mein Mann die Leitung und Koordination übernimmt. Dazu gibt es für jedes Zelt einen festen Betreuer und zwei Springer. Das werden du und noch ein Junge in deinem Alter sein. Ich glaube, den hat jemand über seinen Sportverein organisiert. Es gibt insgesamt acht Zelte, vier für die Jungs, vier für die Mädchen. Die Kinder werden jeweils nach Altersstufen verteilt, also im Prinzip so wie in den vier Grundschulklassen, nur dass bei uns niemand sitzenbleibt.“

 

Sie lachte und ich fiel mit ein, während ich versuchte, mir das alles zu merken. Sie zählte noch die Betreuer auf, die alle zwischen 20 und 30 Jahren waren und anscheinend fast alle irgendwas mit irgendwelchen gemeinnützigen Vereinen wie Jugendfeuerwehr oder ähnlichem zu tun hatten.
 

„Die meisten sind allerdings dabei, weil sie als Kinder selbst schon im Ferienlager waren und jetzt mal die andere Seite kennenlernen wollten. Du wirst sehen, das wird richtig toll.“

 

Ich lächelte und versuchte das leicht unwohle Gefühl zu ignorieren, das sich in meiner Magengrube gebildet hatte. In eine Gruppe zu kommen, die sich schon kannte, fiel mir zwar meist nicht besonders schwer, aber die Vorstellung sorgte trotzdem für ein leises Unwohlsein, das noch stieg, als der Lagerplatz schließlich in Sicht kam.

 

Unter großen Bäumen war zunächst ein weitläufiger Parkplatz angelegt, dessen Kiesel langsam aber sicher und dem durchwuchernden Grün verschwanden. Gleich daran anschließend sah ich ein niedriges Gebäude mit einem grasgrünen Dach und ebensolchen Türen und Fenstern.
 

„Das ist unser Service-Gebäude wie es so schön heißt. Dort sind die Küche, der Speiseraum sowie die Toiletten und Duschen. Wenn es regnet, basteln und spielen wir dort drinnen auch mit den Kindern. Und wir singen natürlich.“

 

Sie lachte wieder und ihr gesamtes Gesicht bebte dabei. Der Anblick lenkte mich für einen Augenblick so ab, dass ich vergaß mich umzusehen. So bemerkte ich erst zu spät, dass ein junger Mann auf uns zukam. Er war groß und dünn und hatte raspelkurz geschnittene, blonde Haare.
 

„Ah, Susanne, da seid ihr ja. Ihr seid fast die Letzten.“

„Nur fast? Na, das wundert mich. Theodor, das ist Kilian.“

 

Der Kerl hielt mir die Hand hin.

 

„Sag einfach Kischi, das machen die anderen auch. Ist Theo für dich okay? An Theodor bricht man sich ja die Zunge, besonders wenn man so flink damit unterwegs ist wie ich. Ich rede nämlich unheimlich viel und das nicht nur, wenn der Tag lang ist.“

 

Er lachte laut auf.

 

„Äh, ja“, erwiderte ich und fühlte mich ein bisschen überfahren. Dann jedoch riss ich mich zusammen und erwiderte seinen Händedruck ebenso kräftig wie er. Er grinste und wies auf mein Instrument.

 

„Du bist also der Musiker, dann fehlt uns nur noch der Sportler.“

 

„Was für Sport macht der eigentlich?“, fragte Susanne nach, während sie ihre ebenfalls enorme Beuteltasche hinter dem Sitz hervorholte.

 

„Judo, glaube ich. Ich hab jedenfalls so was läuten hören.“

 

In diesem Moment fuhr hinter uns ein kleines, rotes Auto auf den Parkplatz. Es hielt ein wenig schief unter einem der Bäume und der Motor erstarb mit einem unguten Geräusch. Der Fahrer hatte den Motor abgewürgt.
 

„Oh weh, Frau am Steuer“, witzelte Kilian und bekam gleich von Susanne eine Rüffel, den er jedoch nur mit einem Grinsen quittierte.

 

Tatsächlich stieg jetzt eine blonde Frau aus dem Auto, die sich suchend umsah und, als sie uns entdeckte, in unsere Richtung rief: „Sind wir hier richtig zum Zeltlager?“

 

„Ja!“, rief Susanne zurück und ging kurzerhand auf die fremde Frau zu.
 

„Oh, Gott sei Dank“, sagte diese jetzt, bevor sie ins Innere verkündete: „Na los, du kannst aussteigen. Wir sind da.“

 

Neugierig versuchte ich an Susanne vorbeizusehen, wer da wohl aus dem Wagen stieg. Im nächsten Moment setzte mein Herz einen Schlag aus. Das konnte unmöglich wahr sein. Vielleicht irrte ich mich oder ich musste mal wieder zum Augenarzt, denn meine Sinne zeigten mir ganz deutlich, dass der Jemand, der da aus der Beifahrertür kletterte, mir ohne jeden Zweifel bekannt war. Er hatte mich offenbar noch nicht bemerkt, aber ich erkannte ihn selbst auf die Entfernung. Ich hätte ihn aus hunderten wiedererkannt, wenn es hätte sein müssen. Denn dort neben dem Auto, mit seiner Sporttasche in der Hand, stand niemand anderer als Benedikt.

Kein Zuckerschlecken

„Benedikt.“

 

Sein Name fiel von meinen Lippen, bevor ich es verhindern konnte. In meinem Kopf waren alle rationalen Gedanken beiseite getreten, um Platz zu machen für eine einzige Frage: Was tat er hier? Warum stand er jetzt dort und ließ irgendwelche Belehrungen von der Frau, bei der es sich vermutlich um seine Mutter handelte, über sich ergehen? Warum war er hier? Ausgerechnet hier?

 

Kilian stellte sich neben mich und legte den Kopf schief.

 

„Kennt ihr euch?“

„Wir sind in einer Klasse.“

 

Oder vielmehr: Wir waren es. Seit in der elften das Kurssystem eingeführt worden war, hatten wir nur noch drei Fächer zusammen. Deutsch, Erdkunde und Geschichte. In allen dreien saßen wir in der Regel an gegenüberliegenden Ecken des Raumes. Er weiter vorne, ich hinten. Das Einzige, was mir damit blieb, war ein sporadischer Blick auf seinen Nacken und ab und an ein beiläufiges Zusammentreffen beim Wechseln der Räume. Davor jedoch hatten wir uns fast genau gegenüber gesessen. Jedes Mal, wenn ich den Kopf gehoben hatte, war er da gewesen. Selbst wenn ich nur irgendetwas von der Tafel abgeschrieben hatte, hatte ich ihn dank der diskussionsfreundlichen U-Form der Sitzordnung mit im Blick gehabt. Dabei hatte ich ihn lange nicht einmal wirklich bemerkt. Bis zu dieser einen Mathestunde …

 

Auf der Tagesordnung hatten irgendwelche Gleichungen gestanden, die mir einfach nicht in den Kopf gewollt hatten. Die Zahlen waren zunehmend vor meinen Augen verschwommen und ich hatte meine Brille abgenommen, um die Bügel ein bisschen zu weiten. Aus irgendeinem Grund hatte ich dann plötzlich hochgesehen und ihm damit direkt in die Augen. Wie gebannt hatte ich ihn angestarrt und und dabei nicht mehr auf die Brille geachtet. In dem Moment hatte es auch schon geknackt und sie war mittendurch gebrochen. Mir war heiß und kalt geworden und ich hatte damit gerechnet, dass er jeden Moment anfing zu lachen. Aber er hatte es nicht getan. Stattdessen hatte er nach einer gefühlten Ewigkeit die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln gehoben. Ich war so verwirrt gewesen, dass ich noch einmal eine gefühlte Stunde gebraucht hatte, bis ich endlich den Kopf hatte wegdrehen und so tun können, als wäre ich mit meiner Brille beschäftigt. Dabei hatte mir mein Herz bis zum Hals geklopft und ich war nur froh gewesen, dass mich Jo nicht angesprochen hatte, denn in dem Moment hätte ich vermutlich kein vernünftiges Wort herausbekommen. Und ich weiß noch, dass ich gelächelt hatte und nicht einmal gewusst hatte, warum.

 

Jetzt jedoch lächelte keiner von uns beiden. Im Gegenteil. Als sich unsere Blicke trafen, verfinsterte sich sein Gesicht und ich sah, wie er die Finger fester um den Griff seiner Tasche schloss. Auch ich klammerte mich an den Haltegurt meiner Gitarrenhülle, als wäre sie eine Rettungsleine.

 

„Kommst du?“, fragte Benedikts Mutter, die von der Stimmungsänderung ihres Sohnes anscheinend nichts mitbekommen hatte.

 

Er schüttelte kurz den Kopf, bevor er immerhin ein halbes Lächeln zustande brachte.

 

„Klar, komme.“

 

Ich war da sehr viel besser als er. Lächeln konnte ich aus dem Stegreif. Man hätte sich daran schneiden können, so gestochen scharf war es manchmal. Noch einfacher war eigentlich nur das coole Pokerface, dass ich jetzt aufsetzte, als Benedikt mit seiner Mutter näherkam.

 

„Ich hab die Straße erst nicht gefunden. Vielleicht brauche ich wirklich mal so ein Navi“, plapperte sie aufgeregt, während sie sich überall umsah. Sie war geschminkt und trug einen Blazer mit einem bunten Halstuch. Außerdem hochhackige Schuhe. Damit war sie deutlich auffälliger unterwegs als meine Mutter, die nur zu besonderen Gelegenheiten Make-up benutzte und auf eher praktische Kleidung wert legte.

 

„Jetzt sind wir ja hier“, sagte Benedikt knapp. Sein Gesicht war immer noch wie in Stein gemeißelt.

 

Susanne wischte das alles mit einer herzlichen Begrüßung vom Tisch. Die Hand von Benedikts Mutter verschwand in ihrer.

 

„Wir kümmern uns hier schon gut um ihn“, erklärte sie und schien kurz davor, auch Benedikt in eine Umarmung zu ziehen. Zu seinem Glück nahm sie davon Abstand. Seine Mutter hingegen strahlte immer noch.

 

„Dann mach’s mal gut und hab eine schöne Zeit. Und ruf an, wenn was ist.“

„Mache ich, Mama. Bis dann.“

 

Damit verabschiedete sich Benedikts Mutter wieder und wir vier blieben allein zurück, während ihr kleines Auto in einer Staubwolke vom Parkplatz rauschte.

 

Benedikt wich meinem Blick aus und auch ich tat so, als würde ich ihn nicht sehen. Es war besser so, versuchte ich mir zu sagen, obwohl das Kribbeln in meinem Magen etwas anderes behauptete. Die Erkenntnis, dass wir die nächsten drei Wochen miteinander verbringen würden, lauerte irgendwo am Rand meines Bewusstseins, aber ich weigerte mich, mir darüber Gedanken zu machen. Lieber schenkte ich den beiden anderen Anwesenden ein gewinnendes Lächeln.

 

„Wollen wir dann?“

„Natürlich, die anderen warten sicherlich schon.“

 

Susanne schob sich mit fröhlicher Zuversicht nach vorn und ich folgte in ihrer Bugwelle, sodass ich Benedikt den Rücken zudrehte. Dabei meinte ich seinen Blick zwischen meinen Rippen zu spüren wie die Spitze eines scharfen Messers, aber auch das bildete ich mir vermutlich nur ein. Immerhin hatte sich Kilian seiner angenommen und redete jetzt auf ihn ein. Offenbar spielte er leidenschaftlich gerne Fußball und hoffte, in Benedikt einen Gleichgesinnten gefunden zu haben.

 

Er mag aber kein Fußball, dachte ich nur und wunderte mich, dass ich das wusste. Jo spielte Fußball und irgendwann waren er und Benedikt sich wohl schon einmal auf dem Spielfeld begegnet. Insofern hatte Benedikt zumindest irgendwann mal gekickt. Inzwischen jedoch nicht mehr. Woran das wohl lag? Wir hatten nie darüber gesprochen.

 

„Wir sind da“, verkündete Susanne in diesem Augenblick und ich bemerkte erst jetzt, dass wir eine Anhöhe hinaufgestiegen waren und nun vor einem weiteren Gebäude standen. Es war ein kleines, rotgeklinkertes Häuschen das am Rand einer großen Grasfläche stand. Zwei Torrahmen machten deutlich, dass das hier wohl so was wie ein Sportplatz war. Im Hintergrund waren einige Geräte erkennbar. Ein Spielplatz.

 

„Hier oben haben die Betreuer ihr Reich. Ihr wohnt zwar mit in den Zelten, aber manchmal braucht man eben einen Ort, wo man mal die Tür hinter sich zumachen kann.“

 

Sie lachte und wieder lächelte ich. Das tat ich oft, wenn der Tag lang war, wie Kilian es wohl ausgedrückt hätte. Es erleichterte so vieles. Wenn man lächelte, stellte niemand Fragen. Wenn man lächelte, war alles in Ordnung.

 

Wir betraten das Gebäude durch eine Metalltür. Drinnen erwartete uns ein Raum, der vollgestopft war mit Dingen, Möbeln und Leuten. Es gab links neben der Tür eine winzige Küchenzeile mit Waschbecken, Kaffeemaschine und Wasserkocher. In der Ecke daneben drängten sich zwei altersschwache Sofas, die nicht zusammenpassten. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Schrank, von dem ich vermutete, dass er verschiedene Sportgeräte enthielt. Die restlichen Sachen, die nicht hineingepasst hatten, verteilten sich munter in den Ecken. Da gab es Federballspiele, Softtennisschläger, Tretbretter, einen großen Sack mit Bällen und einen Haufen bunte Kunststoffreifen in verschiedenen Größen. An der letzten Wand hingen schließlich eine vor Fotos und selbst gemalten Bildern überquellende Pinnwand und ein Magnetboard. Letzteres zierte eine Tabelle mit Namen und Spalten, deren Überschriften ich jedoch nicht mehr lesen konnte, weil meine Aufmerksamkeit von der Gruppe von Leuten in Beschlag genommen wurde, die sich in der Mitte des Raumes zu einem Stuhlkreis versammelt hatten. Dazu hatten sie die Stühle genommen, die offenbar sonst zu einer Vierergruppe von einfachen Tischen gehörte, die vor der Pinnwand stand.

 

„Seht mal, wen ich gefunden habe. Sie liefen einfach draußen herum und suchten ein neues Zuhause“, rief Kilian fröhlich in den Raum, woraufhin ihm Gelächter entgegenschlug. Anscheinend war er der Spaßvogel der Truppe.

 

Unzählige Augen richteten sich auf mich und ich fühlte das vertraute Engegefühl um meinen Hals. Plötzlich war es wieder wie an dem Tag, an dem ich das erste Mal in Benedikts Klasse gekommen war. Er erinnerte sich vermutlich nicht mehr daran, aber ich wusste noch, wie mir vor Aufregung die Knie geschlottert hatten. Damit niemand etwas davon merkte, hatte ich mich einfach auf dem nächstbesten Stuhl niedergelassen, der mir vor die Nase gekommen war, und eine coole Fassade aufgesetzt. Innerlich hatte ich darauf gewartet, dass irgendwer kam und mir erklärte, dass ich auf seinem Platz saß, aber das war nicht passiert. Stattdessen hatte sich Jo neben mich gesetzt und mich neugierig beäugt.

 

„Hi, ich bin Jo“, hatte er gesagt.

 

„Theodor“, hatte ich geantwortet und ihn danach nicht weiter beachtet. Ich weiß bis heute nicht, ob es das war, was ihn dazu veranlasst hatte, mein Freund sein zu wollen, aber ich weiß, dass ich sehr dankbar dafür gewesen war.

 

Hier jedoch gab es keinen freien Stuhl mehr und so stand ich mit meiner Gitarre und meiner Tasche ein wenig unschlüssig in der Gegend herum, bis eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit langen, braunen Haaren aufstand und zu uns herüberkam.

 

„Hallo, ich bin Ronya. Wollt ihr euch zu uns setzen?“

„Klar“, antwortete ich und tat so, als wäre das ganz selbstverständlich. Ich stellte die Gitarre in eine Ecke und kam dann zu Ronya zurück, die mir prompt ihren Stuhl anbieten wollte.

 

„Ach was, das geht schon so“, sagte ich und sah ihr dabei direkt ins Gesicht. Sie erwiderte mein Lächeln wie erwartet und ihre Augen funkelten ein bisschen. Immer noch lächelnd wandte ich mich ab und ging zu der gegenüberliegenden Wand, wo ich mit einem Nicken zwei der dort Sitzenden begrüßte und mich locker gegen den Schrank lehnte. Erleichtert, endlich wieder einen Halt gefunden zu haben, spürte ich auf das kühle Metall, dass ich durch das dünne, weiße Shirt, das ich heute trug, deutlich fühlen konnte. Immer noch auf das Gefühl konzentriert wagte ich einen kurzen Seitenblick zu Benedikt. Der hatte sich ebenfalls seiner Tasche entledigt und sich auf einen der Tische gesetzt. Er sah nicht in meine Richtung.

 

„So, da wir jetzt ja alle da sind, will ich euch nochmal willkommen heißen“, verkündete jetzt ein Mann, den ich nach kurzem Überlegen als Herrn Tillmann identifizierte. Er war ein wenig kleiner als seine Frau und hatte einen graumelierten Vollbart, einen ziemlich hohen Haaransatz und eine runde Brille. Sein kariertes Hemd steckte in einer Jeans mit dünnem Ledergürtel. „Ich freue mich, dass ihr euch dieses Jahr wieder dazu entschlossen habt, hier teilzunehmen, ganz besonders möchte ich aber unsere beiden Neuzugänge begrüßen, die dieses Jahr zum ersten Mal dabei sind.“

 

An dieser Stelle machte er eine Pause und Benedikt und ich wurden noch einmal in Augenschein genommen. Ich grüßte mit einem lockeren Winken in die Runde, während er nur verhalten nickte.

 

„Wie ihr wisst, ist der Hauptgrund für uns, hier zu sein, der gemeinsame Spaß. Das gilt auch für die Betreuer und wenn euch irgendwas auf dem Herzen liegt, könnt ihr gerne zu Susanne oder mir kommen, dann finden wir sicherlich eine Lösung. Mein Name ist übrigens Wolfgang für diejenigen, die das schon wieder vergessen haben.“

 

„Ach, wir vergessen doch unser Wölfchen nicht“, meinte Kilian grinsend und heulte zur Bekräftigung einmal kurz auf. Allgemeines Lachen setzte ein und auch Wolfgang schmunzelte.

 

„Das ist, wie ihr sicherlich bereits wisst, unser Kilian. Eine Nervensäge, wie er im Buche steht und schon das dritte Jahr mit dabei. Die meisten von uns kennen sich ja bereits von unserem ersten Treffen vor ein paar Wochen, aber damit auch unsere beiden Neuen wissen, mit wem sie es zu tun haben, stellen wir uns am besten alle nochmal eben kurz vor.“

 

Die Anwesenden begannen jetzt reihum ihren Namen, ihr Alter und ihren Beruf zu nennen. So erfuhr ich, dass Kilian 21 war und gerade beim Bund als Rettungssanitäter ausgebildet wurde. Aus diesem Grund übernahm er zusammen mit Annett, einer hageren Dunkelhaarigen, die gelernte Krankenschwester war, die medizinische Versorgung. Daneben gab es eine Menge Studenten, einen Mechatroniker und eine Tischlerin. Benedikt und ich waren die einzigen Schüler, wobei es sich so anhörte, als wenn viele in unserem Alter angefangen hätten. Annett beispielsweise war 26 aber bereits das siebte Jahr dabei. Sie war damit sozusagen die Dienstälteste und strahlte eine gewisse Autorität aus, die mich zur Vorsicht gemahnte.

 

„So, nachdem ihr jetzt also das Team kennt, wollen wir uns mal auf das Programm stürzen. Wir haben wieder viel vorbereitet. Es soll vor allem sportliche Aktivitäten geben. Wir wollen Paddeln, Schwimmen und Surfen gehen, wenn es das Wetter zulässt. Ich werde wieder eine Angelschule anbieten, obendrein soll aber auch kreativ gebastelt werden. Wir wollen Hütten im Wald bauen, eine Nachtwanderung machen und natürlich auch wieder den beliebten Wikinger-Workshop anbieten. Abends wird dann nach dem Essen am Lagerfeuer gesungen und vielleicht auch mal etwas gespielt.“

 

„Ich wollte wieder was mit Holz machen“, warf Reike, die Tischlerin ein. Sie war mir bereits aufgefallen, weil sie ihre Haare noch kürzer trug als Kilian. Dadurch traten ihre Augen deutlich hervor, sodass sie einen immer sehr aufmerksam zu mustern schien, wenn sie einen ansah. Am auffälligsten war jedoch ihre froschgrüne Lederhose, die sie zusammen mit dem gebatikten Top und den unzähligen Armbändern, die an ihrem linken Arm baumelten, irgendwie alternativ wirken ließ.

 

„Klar, da finden wir was. Bogen bauen, Schnitzen oder vielleicht ein Insektenhotel wären doch eine nette Idee“, sagte Wolfgang und warf einen Blick in die Runde. „Noch weitere Fragen?“

 

„Wo schlafen die Neuen?“

 

Die Wortmeldung war von Kilian gekommen und ich spannte mich unwillkürlich an. Diese Frage war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht auch, weil ich mich schlichtweg weigerte zu begreifen, dass ich die nächsten drei Wochen zusammen mit Benedikt in diesem Zeltlager verbringen würde.

 

„Wir schauen mal, wie voll die Zelte werden und dann bringen wir sie dort mit unter“, antwortete Wolfgang. „Wenn alle angemeldeten Kinder auch kommen, ist aber eigentlich nur bei den ganz Kleinen oder den ältesten Jungs was frei.

„Dann zieht schon mal Hölzchen, wer zu den Kleinen muss. Letztes Jahr hatten wir da einen Bettnässer dabei, das war ordentlich Arbeit.“

„Kilian!“

„Na wieso, stimmt doch.“

 

Kilian lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

 

„Dazu ist doch der Bereich hier auch da. Ich mag die Kids wirklich unheimlich gerne, aber manchmal können sie einem eben auch auf den Wecker fallen. Da ist es doch besser, wenn man den Frust hier loswird, als ihn an den Zeltgästen auszulassen.“

 

„Ich gehe gerne zu den Kleinen“, sagte da plötzlich Benedikt und erstaunte damit nicht nur mich. „Ich kann eigentlich ganz gut mit Kindern, glaube ich.“

 

„Okay, dann kommt unser Singvogel zu den Vorpubertieren. Das wird auch lustig genug.“

 

Noch während ich überlegte, wie Kilian das gemeint hatte, klatschte Wolfgang bereits in die Hände.

 

„Dann mal los, wir haben noch einiges auszuladen und vorzubereiten. Susanne wird uns mittags mit belegten Broten bewirten und heute Abend gibt es dann für alle eine leckere Gulaschsuppe.“

 

Allgemeine Aufbruchstimmung erfasste den Raum. Die Stühle wurden mit einigem Getöse wieder an ihren Platz zurückgeschoben, einige der Leute begannen sich zu unterhalten. Auch Kilian hatte sich erneut Benedikt geschnappt und textete ihn ordentlich zu. Für einen Moment kam ich so dazu, die beiden zu beobachten, bevor Wolfgang auf mich zukam und mich noch einmal persönlich mit Handschlag begrüßte.

 

„Ist wirklich toll, dass du so kurzfristig einspringen konntest.“

„Na klar, kein Ding. Ich hab ja eh Ferien.“

„Schön, schön, dann holen wir jetzt mal die restlichen Sachen aus dem Auto.“

 

Ich bot meine Hilfe an und folgte Wolfgang nach draußen. Auf dem Weg kam ich an Benedikt vorbei, der immer noch Ziel von Kilians Redeschwall war. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich sein Kopf bewegte. Ich hingegen hielt meinen Blick stur geradeaus gerichtet und konzentrierte mich darauf, nicht über meine eigenen Füße zu fallen. Wie im Film sah ich mir dabei zu, wie ich den Kastenwagen entlud, Kartons durch die Gegend schleppte, Büchsen und Mehltüten in Schränke stapelte und allgemein das Lager von einem unbelebten Ort in etwas verwandelte, an dem in den nächsten drei Wochen über 70 Personen hausen würden. Auch die Zelte hatte ich schon in Augenschein genommen. Sie standen in einer kleinen Senke auf steinernen Trittplatten. Acht große, weiße Gebilde, mit einem zentralen Holzmast und einem ebensolchen Fußboden. Darauf lagen noch einmal flache, hölzerne Pritschen mit dünnen Matratzen. Jedes Zelt bot etwa Platz für acht bis zehn Personen.

 

„Jetzt kommt es dir noch groß vor, aber wenn’s regnet und du mit einem nölenden Haufen dort drinnen hockst, wird’s interessant“, unkte Kilian, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. Er hatte Benedikt im Schlepptau und war offenbar gerade dabei, ihn herumzuführen.

 

„Willst du mitkommen?“, fragte Kilian mich und ich nickte, obwohl ich genau sah, wie Benedikt das Gesicht verzog. Ich warf ihm einen Blick zu, doch er tat so, als habe er es nicht bemerkt. Stattdessen konzentrierte er sich voll und ganz auf Kilian, der uns jetzt die Waschräume zeigte. Sie waren schon ziemlich in die Jahre gekommen und neben einem Reihenwaschbecken hingen es nur noch drei altersschwache Duschen an der weiß gefliesten Wand.

 

„Draußen gibt es allerdings auch noch einen Schlauch für ganz hartnäckige Fälle“, meinte Kilian mit einem Grinsen. Ich erwiderte es und tat so, als wäre das witzig, während ich Benedikt dabei im Auge behielt. Der schien zunehmend genervter von dem ganzen Theater, sodass ich Kilian irgendwann unterbrach.

 

„Ich glaube, wir sollten langsam mal nachsehen, ob es bald was zwischen die Kiemen gibt. Ich hab schon ganz schön Hunger.“

 

Kilian war sofort Feuer und Flamme.

 

„Klar, ich frag mal Susanne, wie weit sie mit den Broten ist. Nicht, dass ihr uns noch vom Fleisch fallt.“

 

Er lachte und winkte und machte sich dann auf den Weg zum Küchengebäude. Benedikt und ich blieben allein zurück.

 

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in meinem Kopf herrschte plötzlich vollkommene Leere. Gerade noch hatte ich einen lockeren Spruch auf den Lippen gehabt, aber jetzt kam nur noch Schweigen aus meinem Mund. Benedikt schien es ähnlich zu gehen. Irgendwann räusperte ich mich.

 

„Ziemlicher Zufall, dass wir uns ausgerechnet hier treffen.“

„Ja, ist es wohl.“

 

Er sah mich dabei nicht an, sondern richtete den Blick den Hügel hinauf, der hinter den Zelten lag, in denen die Mädchen untergebracht werden würden. Auf der anderen Seite raschelte kurz hinter den Zelten ein breiter Schilfgürtel im Wind und wieder dahinter lag ein Weg, der wohl um den See herum führte.

 

„Du warst nicht bei der Party am Samstag.“

 

Ich wusste nicht, warum ich das jetzt sagte. Vielleicht, weil es das Erste war, was mir in den Sinn kam. Ärgerlich biss ich mir auf die Lippen. Ich hatte ihn eigentlich nicht darauf ansprechen wollen, aber nun stand der Satz einmal im Raum und ich konnte ihn nicht wieder zurückholen.

 

„Das ist richtig“, würgte er das Gespräch quasi schon wieder ab. Trotzdem wollte ich noch nicht aufgeben.

 

„Warum nicht?“

 

Er schnaubte belustigt.

 

„Interessiert dich das wirklich?“

„Ja natürlich.“

„Dann denk mal nach. Welchen Grund könnte ich wohl gehabt haben, ausgerechnet zu deiner Party nicht zu kommen?“

 

Er hob jetzt den Kopf und sah mich herausfordernd an. Seine dunkelblauen Augen blitzten vor Zorn. Ich schluckte. Wusste nicht, was ich sagen sollte.

 

„Weißt du was, Theo? Lass mich doch einfach in Ruhe. Dann können wir uns solche Peinlichkeiten wie diese hier nämlich komplett sparen.“

 

Mit diesen Worten ließ er mich stehen und stapfte in Richtung Küchengebäude davon. Ich stand immer noch da wie vom Donner gerührt und wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war nun wirklich denkbar schlecht gelaufen. Noch schlimmer wäre es eigentlich nur gewesen, wenn er mir eine reingehauen hätte.

 

„Ihr mögt euch wohl nicht besonders?“, fragte da eine Stimme. Es war Ronya, die sich an der Seite des Gebäudes herumdrückte, an der die Toiletten lagen. Sie lächelte ein wenig verlegen.

 

„Nein, wir … wir kommen klar“, sagte ich schnell und sah zu, dass ich wegkam. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wohin. Ich war hier eingesperrt für die nächsten drei Wochen und ich wusste jetzt schon, dass das mit Sicherheit kein Zuckerschlecken werden würde.

Besser

Das Mittagessen verbrachte ich in Gesellschaft von Sönke, dem Mechatroniker, und Stephan, den alle nur „PH“ nannten, weil er sich grundsätzlich als „Stephan mit ph“ vorstellte. Er studierte Sportwissenschaften, allerdings an einer anderen Universität als mein Bruder, und war mit 29 der älteste der Betreuer. Außerdem spielte er in seiner Freizeit Handball und trainierte in dem Zuge auch einige Jugendmannschaften.

 

Ich hörte mit halben Ohr zu, wie sich die beiden sich über Autos unterhielten, während ich auf meinem Brot herumkaute. Der Hunger, von dem ich ohnehin nur vorgeschobenermaßen behauptet hatte, dass er mich quälen würde, war quasi inexistent. Wenn ich die Augen geschlossen hätte, hätte ich nicht einmal gewusst, welche Art von Belag ich gerade aß. Es hätte Käse sein können, aber auch Presspappe wäre mir wohl nicht aufgefallen. Dabei hatte Susanne sich wirklich Mühe gegeben, die Brote appetitlich herzurichten. Es gab sogar kleingeschnittene Tomaten- und Gurkenstücke zwischen den verschiedenen Lagen der überquellenden Teller, aber selbst das konnte es für mich nicht rausreißen. Meine Gedanken kreisten ständig um Benedikt und den Konflikt, der zwischen uns geschwelt und durch unser unerwartetes Aufeinandertreffen wieder neue Nahrung bekommen hatte. Ich versuchte mir einzureden, dass es egal war. Dass ich ihn tatsächlich einfach in Ruhe lassen und mich ansonsten zivilisiert benehmen würde. Dann würde schon alles gut werden. All dieses Gerede prallte jedoch nutzlos an dem Stein ab, der in meinem Magen lag, wenn ich an die vor mir liegenden Wochen dachte.

 

21 Tage. 21 Tage an denen ich hier festsaß, wenn nicht irgendein Wunder geschah. Doch wie sollte das aussehen? Abgesehen von einer Sintflut, die alle Zelte hinfortspülte, sah ich da wenig Möglichkeiten. Das, was Kilian über die Kinder gesagt hatte, kam noch erschwerend dazu. Was, wenn ich nicht mit ihnen zurechtkam? Wenn sie sich als kleine, unbelehrbare Monster herausstellten? Wenn ich komplett versagte? Der Gedanke ließ den Stein in meinem Magen nur noch anschwellen.

 

„Hey“, hörte ich da eine Stimme. Als ich aufsah, stand wieder Ronya vor mir. Sie lächelte leicht.

 

„Alles klar?“

„Ja, ich … ich hab nur keinen besonderen Hunger.“

„Oh, ich auch nicht. Ich bin so aufgeregt, wie die Kinder sind. Letztes Jahr gab es den totalen Zickenkrieg bei uns im Zelt. Einige Mädchen hatten sich zusammengerottet und angefangen, eine ihrer Zeltkameradinnen regelrecht zu mobben. Wir haben das dann klären können, als es rauskam, aber das war natürlich sehr unschön.“

 

Ich musste offenbar ziemlich geschockt ausgesehen haben, denn Ronya beeilte sich mir zu versichern, dass es nicht immer so wäre.

 

„Meistens ist es ziemlich lustig und die Kids abends eh zu fertig, um noch viel Streit anzufangen.“

„Na, dann werden wir sie wohl am besten ordentlich scheuchen“, sagte ich lachend, obwohl mir schleierhaft war, wie wir das anstellen wollten.

 

„Spielst du schon lange Gitarre?“, wollte sie als Nächstes wissen und setzte sich neben mich auf die Bank, die draußen vor dem „Service-Gebäude“ stand. Ich zuckte mit den Schultern.

 

„Ich hab vor etwa drei Jahren angefangen. Also schon vor ner Weile, aber lange ist das trotzdem noch nicht.“

„Oh, ich finde, das ist schon ne ganze Menge. Ich bin leider total unmusikalisch. Bin sogar aus dem Chor geflogen, weil ich immer so schief gesungen habe.“

 

Sie lachte und strich sich die Haare hinter das Ohr.

 

„Dafür kannst du bestimmt was anderes gut“, meinte ich leichthin und bemerkte zu spät, dass bereits ein zarter Rotschimmer auf ihren Wagen erschienen war. In Ermangelung einer passenden Bemerkung lächelte ich einfach.

 

Ronya wollte irgendwann mal Lehrerin werden und hatte in der Vorstellungsrunde gesagt, dass sie es liebte, mit Kindern zu arbeiten. Wahrscheinlich konnte sie mit einer Engelsgeduld die stupidesten Geschichten vorlesen oder sich auch noch über das 351. Strichmännchen freuen, das man ihr mit einem freudestrahlenden „Guck mal!“ unter die Nase hielt. Ich hingegen würde hier vermutlich stumpf Akkorde runterstreichen zu so sinnigen Liedern wie „Das rote Pferd“ und „Nackidei“ oder womöglich noch „Wer hat die Kokosnuss geklaut“. Die Aussicht darauf ließ auch noch den letzten Rest Appetit, den ich so mühsam zusammengekratzt hatte, im Nirwana verschwinden. Mein Lächeln wurde ein wenig schief und ich legte den Rest meines Brotes auf meinen Teller, bevor ich ihn neben mich auf die Bank stellte und mich selbst erhob.

 

„Ich glaube, ich sehe mir mal die Toiletten an. Du entschuldigst mich?“

 

Ronya nickte schnell und ich sah zu, dass ich wegkam. Für einen Moment war ich versucht, mich in einer der Kabinen zu verkriechen, aber dann schüttete ich mir doch nur etwas Wasser ins Gesicht und trocknete mich mit dem dort hängenden Handtuch ab. Es war hellgelb und schon ziemlich zerschlissen.

 

Was machst du nur hier, fragte ich mich und wünschte mir nicht zum ersten Mal an diesem Tag, dass ich die Anfrage meiner Eltern einfach abgelehnt hätte. Es hätte mir jede Menge Kopfzerbrechen erspart.

 

„Ach hier steckst du.“

 

Thies stand hinter mir in der Tür. Er war ein kräftiger Typ mit kurzen, braunen Haaren, der irgendwo in Mitteldeutschland Soziologie studierte. In den Semesterferien war er nach Hause gekommen und bereits das dritte Jahr in Folge im Zeltlager mitzuhelfen.

 

„Wir suchen dich schon. Wolfgang will uns nochmal eben briefen, bevor die Kinder kommen.“

 

„Bin unterwegs“, sagte ich schnell und warf noch einen Blick in den Spiegel. Ich hatte definitiv schon mal besser ausgesehen. Ringe unter den Augen standen mir nicht besonders. Zwar überdeckte die Bräune, die sich im Sommer schnell bei mir einstellte, das Meiste davon, aber wenn ich den Kopf ein wenig neigte, waren sie recht deutlich sichtbar. Es sah gruselig aus.

 

Das muss anders werden, schwor ich mir in Gedanken, bevor ich Thies in Richtung Parkplatz folgte. Irgendwie würde ich das alles wieder in den Griff kriegen.

 

 

Auf einer kleinen Wiese, die unterhalb des Sportplatzes lag und wohl später der Platz für das Lagerfeuer werden sollte, hatten sich bereits alle versammelt. Ich ignorierte Ronyas fragenden Blick, stellte mich neben Sönke und richtete meine Augen nach vorn. Dass Benedikt auf der anderen Seite der Gruppe stand, fiel mir erst auf, als Wolfgang zu sprechen begann.

 

„In etwa zehn Minuten werden die ersten Kinder ankommen. Wer jemanden in Empfang nimmt, geleitet ihn zunächst einmal zu seinem Zelt, sodass das Gepäck untergebracht werden kann. Danach könnt ihr euch schon mal mit den Kindern bekannt machen. Nehmt sie ruhig mit ins Boot, wenn ihr merkt, dass sie sich hier auskennen. Bereits hier gewesene Kinder können helfen, die Neulinge einzuweisen. Bereitet euch darauf vor, Fragen der Eltern zu beantworten oder sie an jemanden zu verweisen, der sich besser auskennt. Fragen zur Verpflegung wird beispielsweise Susanne am besten beantworten können. Medizinische Fragen richtet ihr bitte an Annett.“

 

Wolfgang wies auf die entsprechende Betreuerin, die daraufhin lächelte und winkte.

 

„Ich will an der Stelle gleich nochmal daran erinnern, dass ihr bitte keine Medikamente in den Zelten aufbewahrt und diese Info auch gleich noch einmal an die Eltern weitergebt. Alles, was an persönlicher, medizinischer Ausrüstung mitgeführt wird, soll bitte im Betreuerheim gelagert werden, damit nicht versehentlich eines der Kinder sich daran bedient. Sollten Sachen kühl gelagert werden müssen, werden wir die in der Küche in einer abschließbaren Kassette im Kühlschrank verwahren. Außerdem müssen alle Verletzungen der Kinder aus versicherungstechnischen Gründen dokumentiert werden. Denkt also daran, bevor ihr einfach irgendwem ein Pflaster aufklebt. Vielen Dank.“

 

Sie trat wieder zurück und alle Anwesenden nickten nur zustimmend. Niemand reagierte besonders überrascht. Vermutlich wussten alle bereits über diese Regel Bescheid. Ich hatte mir darüber keine Gedanken gemacht. Mein Atem beschleunigte sich etwas. Würde ich meine Tabletten, die ich in den Tiefen meiner Reisetasche gebunkert hatte, tatsächlich abgeben müssen? Es waren zwar nur zwei Schachteln, aber die Menge ging sicherlich über das hinaus, was man gewöhnlich für so einen kurzen Aufenthalt mit sich führte. Und wenn ich sie abgab, würde Annett dann danach schauen, wie oft ich welche nahm? Der Gedanke behagte mir nicht und ich beschloss im Stillen, die Tabletten einfach sehr gut zu verstecken. Es würde schon keines der Kinder auf die Idee kommen, mein Gepäck zu durchwühlen.

 

„Es wird, wenn alle da sind, noch einmal eine allgemeine Einweisung geben, bevor jeder Betreuer mit seiner Gruppe eine Einführungstour durch das Camp macht. Die Aufteilung dafür haben wir ja schon beim letzten Mal gemacht. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes Gelingen und vor allem natürlich viel Spaß.“

 

Die Gruppe applaudierte und auch ich beeilte mich, eifrig meine Handflächen aneinanderzuschlagen. Ich hätte gerne gesagt, dass ich dem Ganzen vollkommen gelassen entgegensah, aber das Ziehen in meinem Magen sprach eine andere Sprache. Möglichst unauffällig wischte ich mir die Hände an den Hosen ab und sah mich um, um mich jemandem anzuschließen, der sich hier besser auskannte. Dabei streifte mein Blick Benedikt, der schon wieder von Kilian mit Beschlag belegt wurde. Gerade sagte Kilian etwas und Benedikt lachte. Es war ein entspanntes, befreites Lachen und ich merkte, wie ich unwillkürlich auch lächeln musste. Dann jedoch bemerkte er meinen Blick und seine freudige Miene verschwand auf der Stelle. Schnell wandte ich mich ab und stellte mich mangels einer besseren Alternative neben Reike, die sich auf einem bereits von Wind und Wetter geschliffenen Grenzstein niedergelassen hatte. Ihre braunen Augen musterten mich eingehend.

 

„Angst?“, fragte sie plötzlich ohne Vorwarnung.

 

Ich lachte auf. Es klang beinahe natürlich.

 

„Nein, aber ich bin schon echt gespannt, wie es wird. Ich habe leider so gar keine Erfahrung mit Kindern.“

 

„Das sind auch nur Menschen, wenn gleich auch ein wenig kleiner als wir. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

 

„Ich werd’s mir merken“, konnte ich gerade noch sagen, bevor ein Motorengeräusch mit anschließendem Knirschen der Reifen auf dem überwucherten Kies die Ankunft der ersten Gäste ankündigte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

 

 

Drei Stunden später ließ ich mich erschöpft auf einen Stuhl im Betreuerheim fallen. Wir hatten die Ankunft der Kinder sowie alle Einführungen erfolgreich hinter uns gebracht und die „Kleinen“ hatten jetzt eine Stunde Freispiel, bis es um 18 Uhr Abendessen geben sollte. Ich hingegen hatte das Gefühl, bereits fünf Wochen Zeltlager hinter mir zu haben, und sehnte mich danach, mich in mein eigenes Zimmer zurückzuziehen und die Tür hinter mir zumachen zu können. Stattdessen musste ich mich damit begnügen, auf einem nur leidlich bequemen Holzstuhl zu sitzen und mir von Annett einen Tee aushändigen zu lassen.

 

„Kaffee wäre besser“, murrte ich, während ich in die heiße Tasse pustete, die sie mir gereicht hatte. Ich trank nicht oft Kaffee, aber ab und an wirkte so eine Tasse wirklich Wunder.

 

„Dann kannst du heute Abend aber nicht schlafen“, wies Annett mich zurecht und lachte, als ich die Augen verdrehte.

 

„Ich frage mich, wie die anderen das durchhalten.“

„Der unerschütterliche Glaube an das Gute im Menschen.“

„Den du nicht mehr hast?“

„Na ja, bei manchen muss man da Abstriche machen.“

 

Sie grinste und prostete mir mit ihrer Tasse Kamille-Früchte-Tee zu. Angeblich schmeckte ihr die Brühe, die ich nicht wirklich genießbar finden konnte. Aber die Tasse war heiß und bot mir die Möglichkeit, meine Hände zu beschäftigen. Ich spürte die Hitze zwischen meinen Fingern und schloss für einen Moment die Augen. Mein Kopf schwirrte noch immer von den vielen Namen und Fragen, die sowohl Kinder wie auch Eltern gestellt hatten. Es war laut und fröhlich und auch ein wenig hektisch gewesen, als eines der Kinder sich mitten zwischen den Zelten übergeben hatte. In Absprache mit den Eltern war der Junge zunächst wieder nach Hause geschickt worden und würde eventuell in zwei Tagen nachkommen, wenn es ihm bis dahin wieder besser ging. Zum Glück hatte ich mich nicht an den Aufräumarbeiten beteiligen müssen. Das hatte Kilian ohne mit der Wimper zu zucken übernommen.

 

„Man darf nicht zimperlich sein“, hatte er großspurig erklärt und sich ans Abstreuen und Einsammeln gemacht. Ich hatte zugesehen, dass ich wegkam, und mich im nächsten Augenblick einem Elternpaar gegenüber gefunden, die hatten wissen wollen, ob es ihrem Kurt denn erlaubt sei, jeden Tag zu Hause anzurufen.

 

„Ich glaube nicht“, hatte ich nur gemurmelt und mich dabei gefragt, wer es seinem Kind antat, es „Kurt“ zu nennen. Klein-Kurt, der schätzungsweise sechs oder sieben Jahre alt war, hatte brav dabei gestanden in seinem karierten Hemd und der kurzen Hose mit den bis zu den Knien hochgezogenen Strümpfen. Er hatte ausgesehen wie aus einem 50er-Jahre-Film. Lediglich die Hosenträger hatten gefehlt.

 

„Äh, Benedikt?“

 

In meiner Not hatte ich nicht nachgedacht und ihn einfach angesprochen, als er gerade vorbeikam. Er hatte kurz die Stirn gerunzelt, bevor er die Eltern und den Jungen gesehen hatte und zu mir herüber gekommen war.

 

„Ja?“

„Kannst du mal übernehmen? Ich glaube, der Kleine hier gehört in dein Zelt.“

 

Mit den Augen hatte ich ihm eine stille Bitte geschickt und zu meiner Überraschung hatte er ziemlich professionell reagiert.

 

„Klar, geh nur. Ich mach das schon.“

 

Ich hatte ihm noch einmal stumm gedankt, doch er hatte sich bereits umgedreht und sich voll auf Kurt und seine Eltern konzentriert. Einen Augenblick lang hatte ich ihm noch nachgesehen, bevor ich mich wieder daran gemacht hatte, das nächste Eltern-Kind-Gespann am Parkplatz in Empfang zu nehmen.

 

 

Immer noch in die Erinnerung an diese kurze Begegnung versunken hatte ich offenbar nicht bemerkt, dass sich die Tür des Aufenthaltsraums erneut geöffnet hatte. Erst, als eine bekannte Stimme Annett nach einem Pflaster fragte, blickte ich auf.

 

„Hab ich mir an einer der Paletten geholt. Das blöde Ding ist durchgebrochen, als ein paar der Kids zu dritt darauf herumgesprungen sind“, erklärte Benedikt und hielt seinen blutenden Daumen hoch.

 

„Warte, ich desinfiziere das eben und mache einen Schnellverband drum. Dann bist du wieder fit.“

 

Annett ging los, um den Erste-Hilfe-Kasten zu holen, während Benedikt wartend vor der Spüle zurückblieb. Vorsichtig sah ich zu ihm rüber. Er ignorierte mich deutlich und sah sich stattdessen lieber die leicht vergilbten Küchenschränke an. Ich konnte hören, wie er atmete. Bildete ich mir zumindest ein. Ich versuchte, es ihm gleichzutun. Ihn einfach nicht zu beachten. Es klappte nicht.

 

Wieder huschten meine Augen zu ihm hinüber. Genauer gesagt zu seinem verletzten Daumen. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob es wehtat. Ob er mit Kurts Eltern zurechtgekommen war. Ob er Kilian auch so nervig fand wie ich. Aber das ging nicht und so schwieg ich, während langsam der Tee in meiner Tasse abkühlte und eine Fliege immer wieder geräuschvoll gegen das Fenster brummte.

 

„So, ich hab alles“, verkündete Annett in diesem Augenblick. „Komm, wir gehen da rüber zum Tisch. Da kannst du den Arm ablegen.

„Nein, das geht schon so.“

 

Ob er nicht hierher kommen wollte, weil ich hier saß? Der Gedanke gefiel mir nicht.

 

„Ich werde mal den anderen helfen gehen“, entschuldigte ich mich daher schnell und stand auf, um nach draußen zu gehen, als Annett mich wieder zurückrief.

 

„Du hast vergessen abzuwaschen.“

 

Mit strengem Blick deutete sie auf die noch fast volle Tasse. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.

 

„Oh ja, sorry. Natürlich.“

 

Eilig kam ich zurück zum Tisch, um das weiße Ding zur Spüle zu tragen. Dabei sah ich es zum ersten Mal von der Vorderseite und bemerkte, dass es einen Aufdruck hatte. „Cutie π“ stand dort in verschnörkelten, schwarzen Buchstaben. Ich schielte zu Benedikt um nachzusehen, ob er die Aufschrift wohl bemerkt hatte. Irgendetwas sagte mir, dass er dieser Art Scherz witzig gefunden hätte. Immerhin war er im Mathe-Leistungskurs. Er jedoch hatte seinen Blick stur auf Annett gerichtet, die jetzt Desinfektionsspray auf seine Wunde auftrug und ihn dann aufforderte, darauf zu pusten, damit es schneller trocknete.

 

Seltsam enttäuscht wendete ich mich ab und ging, um die Tasse auszuspülen. Ich drehte den Wasserhahn auf und hielt die Tasse darunter, nur um im nächsten Moment aufzuschreien. Das Wasser war kochend heiß. Die Tasse entglitt meiner Hand und polterte unter ohrenbetäubenden Lärm in das stählerne Waschbecken. Zum Glück blieb sie heil, aber der Krach ließ die beiden anderen aufhorchen.

 

„Alles okay?“, wollte Annett wissen.

„Ja, ich … das Wasser war so heiß.“

„Vielleicht ist der Hebel am Durchlauferhitzer wieder verstellt. Ich schau gleich mal nach.“

 

Sie wand eine blaue Binde um Benedikts Daumen, bevor sie aufstand und zu mir rüberkam. Direkt neben mir ging sie in die Knie und öffnete den Unterschrank der Spüle. Als sie einen Blick hineingeworfen hatte, schnalzte sie mit der Zunge.

 

„Ist auf höchste Stufe gestellt. Kein Wunder, dass du dich verbrüht hast.“ Sie sah zu mir hoch. „Ist es schlimm?“

„Nein“, antwortete ich sofort. Zwar prickelte meine Haut noch immer, aber wirklich verletzt war ich nicht.

 

„Pass beim nächsten Mal besser auf. Das Ding ist tückisch.“

„Okay.“

 

Ich dankte Anett noch einmal, spülte die Tasse dieses Mal mit lauwarmem Wasser und machte dann, dass ich rauskam. Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, Benedikts Blick wie ein Bleigewicht auf mir zu spüren. Es war mir unangenehm, dass ich mich so dämlich angestellt hatte. Das war schließlich nicht der erste Durchlauferhitzer, den ich sah. In den Ferienwohnungen meiner Eltern hingen in den Küchen überall solche Dinger, weil es die Abrechnung erleichterte. Allerdings versuchte von denen auch keines, einen bei lebendigem Leib garzukochen.

 

 

Draußen herrschte immer noch derselbe, fröhliche Sommertag, der schon vor meiner Flucht in die trügerische Sicherheit des Betreuerheims die Atmosphäre erfüllt hatte. Von überall hörte man fröhliches Kindergeschrei. Auf dem Sportplatz war ein Fußballspiel im Gange, bei dem sich Kilian als Torwart verdingte. In den Zelten halfen die meisten der weiblichen Betreuer den Kindern, ihre Betten zu beziehen und sich sonst wie häuslich einzurichten. Aus der Küche drang lauter Gesang, den ich nach kurzem Überlegen Susanne zuschrieb. Alle schienen zu tun zu haben, alle hatten eine Aufgabe.

 

„Nur mich kann keiner brauchen“, murmelte ich leise. Mir war klar, dass ich mich nur irgendwo hätte anschließen müssen. Ich hätte mit zum Fußball gehen können oder sehen, ob Wolfgang und Sönke noch Hilfe beim Lagerfeuer brauchten. Es stand noch nicht fest, ob es heute Abend schon eines geben würde, aber in den nächsten Tagen würde das ein fester Punkt der Abendgestaltung werden. Das und ich mit meiner Gitarre. Das Instrument stand noch drinnen und wartete geduldig auf seinen Einsatz. Vielleicht sollte ich es holen und einfach ein bisschen spielen? Das konnte ich schließlich ganz gut.

 

Fest entschlossen drehte ich mich um und wollte gerade die Tür öffnen, als sich die Klinke schon bewegte und das graue Metall mir entgegenkam. Im nächsten Moment stand Benedikt direkt vor mir.

 

„Ich … ich wollte nur meine Gitarre holen.“

 

Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich zu einer Erklärung verpflichtet, warum ich hier immer noch herumstand. Er zuckte nur mit den Schultern.

 

„Ist ein freies Land“, sagte er, bevor er an mir vorbeitrat und in Richtung der Zelte davonging.

 

Na großartig. Ich hatte es geschafft, dass er mich bereits das zweite Mal an einem Tag stehenließ.

 

An einem halben Tag, korrigierte ich mich in Gedanken und versuchte das Gefühl, das mit der Erkenntnis einherging, so gut wie möglich zu ignorieren. Ich musste mich zusammenreißen und endlich aufhören, wie Falschgeld in der Gegend herumzustehen, nur weil er in meiner Nähe war. Bisher hatte ich das doch auch immer hingekriegt. Warum fiel mir das jetzt so schwer?

 

„Idiot“, flüsterte ich und war mir nicht sicher, ob ich ihn oder mich damit meinte. Vermutlich eher mich. Aber das half jetzt auch nichts. Ich musste mich zusammenreißen. Aber vielleicht … vielleicht war noch eine kleine Pause drin. Nur noch ein wenig Zeit allein, dann würde es wieder gehen.

 

Ich nickte Annett zu, die jetzt ebenfalls an mir vorbeiging, und huschte dann unauffällig nach drinnen. Wie ein Verbrecher schlich ich mich kurz darauf mit meiner Gitarre nach draußen. Ich sah mich um, ob mich jemand beobachtete, bevor ich mich um die Ecke zur Rückseite des Gebäudes durchschlug und von dort aus querfeldein Richtung See ging.

 

Kurz hinter dem Sportplatz fiel das Gelände relativ steil ab, bevor es in einem kleinen Sandstreifen endete. Vermutlich der Badestrand des Camps. Ein schmaler Trampelpfand führte dort hinunter, der von den Regenfällen des Frühjahrs ausgewaschen und steinig war. Vorsichtig kletterte ich nach unten und stand kurz darauf am Strand. Ein umgestürzter Baum, der halb ins Wasser hineinragte, schien mir ein einladender Platz, auf dem ich mich niederließ und die Gitarre aus ihrer Hülle holte.

 

Das vertraute Gefühl des bauchigen Körpers, der gegen meinen lehnte, und der straff gespannten Saiten unter meinen Fingern ließ mich ruhiger werden. Das hier konnte ich. Darin war ich gut. Dabei konnte ich nicht so dumme Fehler machen, die mich mein Leben lang verfolgten.

 

Probeweise begann ich zu spielen. Erst ein paar einzelne Töne, dann eine Tonleiter, ein paar Akkorde. Ich zog eine der Seiten nach, die sich offenbar beim Transport ein wenig verstimmt hatte, und dann begann ich zu spielen. Ich schloss die Augen und summte die Melodie mit. Das Lied hatte ich erst kürzlich gelernt. Es war von einem mir bis dahin unbekannten Künstler, der bei seinen Stücken oft auf Klavier und Gitarre zurückgriff. Er hatte es geschafft, hatte einen Plattenvertrag und gab Konzerte, während ich mich damit begnügen musste, seine Kreationen nachzuspielen. Doch noch während ich das dachte, formten sich zu der Melodie in meinen Kopf völlig neue Worte. Worte, die mir ganz allein gehörten.

 

Eine Straße, die sich oft verzweigt

Eine Kraft, die mich vorwärts treibt

Ein Schiff, mit dem man untergeht

Weil man nicht versteht

 

Was es heißt, ganz allein zu sein

Es zu tun und dann zu bereu’n

Was man nicht mehr ändern kann

Komm, steh deinen Mann

 

Manchmal wünsch ich mir die Zeit zurück

In der nichts zählte außer unserm Glück

Doch die Sekunden gingen schnell vorbei

Was bleibt ist Heuchelei

 

Und die Erinnerung an das was mal war

Dabei ist mir klar

Dass es anders war

Als ich bei dir war

 

Ich brach ab und legte die Hand auf die Gitarrenseiten um ihren Klang zu ersticken. Der Text war Mist und ich wusste es. Das Versmaß stimmte nicht und außerdem war meine Stimme am Ende immer leiser geworden. Ein Refrain sollte aber eingängig sein. Zum Mitsingen anregen. Das tat dieser hier nun überhaupt nicht und zu allem Überfluss war die Melodie auch noch geklaut. Alles absolut ohne Wert.

 

Nicht mal das kannst du, hallte es durch meinen Kopf. Ein dröhnendes Echo meines Versagens. Ich hatte so viele enttäuscht und es würden sicherlich noch mehr werden, wenn ich mich nicht mehr anstrengte. Susanne, ihr Mann, die Kinder, die anderen Betreuer; sie alle würden sich fragen, mit was für einem Schaumschläger sie sich hier eigentlich abgeben mussten.

 

Ich muss es richtig machen, nahm ich mir fest vor, bevor ich die Gitarre wieder in ihre Hülle zurücksteckte und entschlossen den Reißverschluss zuzog. Dieses Mal würde ich nicht scheitern. Dieses Mal würde ich es hinkriegen.

 

Also riss ich mich zusammen. Ich setzte ein Lächeln auf, legte die Gitarre weg und stürzte mich in die Aufgaben. Ich half beim Zusammentragen des Feuerholzes, bot Susanne an, das Tischdecken fürs Abendessen zu übernehmen, half bei der Essensausgabe und hinterher beim Abwaschen. Dabei lächelte und scherzte ivh, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Ich wusste wie und ich war gut. Niemand merkte den Unterschied. Niemand wusste, dass ich jeden Bissen des Essens herunterwürgte. Niemand wusste, dass mein Lächeln versagte, sobald niemand hinsah. Niemand wusste, wie ich mich wirklich fühlte.

 

Nur ein einziges Mal fing ich einen Blick von Benedikt auf. Er war finster und ich ahnte, was ihn umtrieb. Er war kein besonders guter Schauspieler. Man sah ihm an, wie es ihm ging. Bei ihm war alles echt.

 

Doch ich wandte mich ab. Ich hatte in seinem Leben nichts mehr verloren. Und warum sollte ich ihm auch nachtrauern? Ich hatte Mia, die zu Hause auf mich wartete. Ich hatte Ronya, die mir immer wieder bewundernde Blicke zuwarf. Ich hatte die zehnjährigen Mädchen, die jedes Mal, wenn ich etwas sagte oder vorbeiging, in albernes Gekicher ausbrachen und mir nachliefen, als wäre ich irgendein Filmstar. Das war real und nicht etwa die Erinnerung daran, wie seine Küsse schmeckten. Wie sich seine Hände auf meiner Haut anfühlten. Wie ich mich gefühlt hatte, als ich in seinen Armen lag. Ich würde es vergessen und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Vielleicht hatten wir so eine Chance, beide endlich mit der Sache abzuschließen. Einer Sache, die so nie hätte passieren dürfen.

Gemischte Gefühle

In der Nacht erwachte ich mit rasenden Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als würde ein LKW mich überollen. Blind tastete ich im Dunkeln nach meiner Nachttischlampe. Stattdessen trafen meine Finger auf die seidige Oberfläche eines Polyester-Schlafsacks samt des darin befindlichen Körpers. Es dauerte einen Augenblick, bis die Informationen das Schmerzgewitter in meinem Kopf durchdrangen. Das Zeltlager. Ich war im Zeltlager. Meine Brille war … irgendwo. In meiner Tasche. Die Tabletten!

 

Ich fingerte am Reißverschluss der Reisetasche herum. Bekam ihn zu fassen. Zog ihn auf. Wühlte mich durch die Schichten an Kleidung, bis ich am Boden eine Pappschachtel ertastete. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich spürte Übelkeit aufwallen.

 

Durchhalten. Gleich wird es besser.

 

Der Blister wehrte sich. Er knisterte laut in der Stille der Nacht. Die Tablette kam einfach nicht raus. Ich gab ein gequältes Geräusch von mir, nur um im nächsten Moment ängstlich innezuhalten. Hatte mich jemand gehört?

 

Eine neue Welle von Übelkeit rauschte heran. Mageninhalt stieg meine Kehle empor. Ich schluckte, oder besser, ich versuchte zu schlucken. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen.

 

Wasser. Ich brauche Wasser.

 

Wieder kämpfte ich mit einem Reißverschluss, dieses Mal mit dem vom Schlafsack. Meine Beine gehorchte mir nicht. Alles lag wie unter einem roten Nebel verborgen. Ich musste weg vom Zelt, weg von möglichen Zeugen.

 

Endlich öffneten sich die ineinander verhakten Zähne und gaben mich frei. Ich kroch zum Ende der Bettstatt und stolperte nach draußen. Kalte Nachtluft schlug mir entgegen und klärte für einen Augenblick den Schleier vor meinen Augen. Alles lag ruhig da, niemand war aufgewacht. Nur der schmale Mond beleuchtete schwach meine zusammengekrümmte Gestalt, die sich in Richtung Toiletten fortbewegte.

 

Meine Finger krampften sich um die Packung in meiner Hand, als mir erneut schlecht wurde. Plötzlich wusste ich, dass ich es nicht schaffen würde. Der Weg, der vielleicht noch 50 Meter betrug, war zu lang.

 

Mit letzter Kraft stürzte ich an den Zelten vorbei und übergab mich. Heiße, ekelhafte Brühe schwappte meine Kehle hinauf und ergoss sich zwischen die Stängel des Schilfgürtels. Wieder und wieder musste ich würgen, bis ich das Gefühl hatte, buchstäblich mein Innerstes nach außen gekehrt zu haben. Bitterer Speichel tropfte aus meinem Mund und meine Augen schwammen in Tränen. Meine Nase lief. Ich wischte sie ab und auch über meine Lippen. Ich fühlte mich krank, beschmutzt und zerschlagen. Meine Hände zitterten und meine Knie drohten jeden Moment unter mir nachzugeben.

 

„Hey!“

 

Ich erstarrte und drehte mich langsam um. Zwischen den Zelten stand eine kleine, in einen langärmligen Schlafanzug gekleidete Gestalt. Sie sah mich an.

 

„H-hallo“, sagte ich. Meine Stimme klang brüchig. Ich räusperte mich. In meinem Kopf bohrten immer noch die Kopfschmerzen. Die Tabletten lagen irgendwo verloren im Gras.

 

„Hallo“, antwortete die Gestalt.

 

„Ich …“

 

Ich brach ab. Wie sollte ich das erklären? Kalte Angst griff nach mir, als der Junge langsam näherkam. Er stoppte, als seine Füße gegen eine kleine, weiße Schachtel stießen. Bevor ich reagieren konnte, hatte er sie aufgehoben.

 

„Ist das deine?“

 

Meine Gedanken rasten und gleichzeitig war ich nicht in der Lage, einen von ihnen zu fassen zu bekommen. Es war aus. Das Spiel war aus. Jetzt würde alles herauskommen. Der Junge würde es melden, sein Betreuer würde es mitbekommen, dann Wolfgang, Susanne, meine Eltern. Sie würden nicht aufhören zu fragen, bis alles ans Licht kam. Die Lügen, die Kopfschmerzen, die Tabletten, die Sache mit Benedikt. Sie würden alles erfahren und dann … dann …

 

Mein Atem beschleunigte sich und meine Brust wurde eng. Ich wollte weg von hier. Ganz weit weg. Wo mich niemand finden konnte. Gleichzeitig versagte mir mein Körper den Dienst. Denn wo sollte ich hin? Ich konnte mich nicht mehr verstecken. Es sei denn …

 

Ich schluckte. Versuchte mich zu beruhigen. Zu Lächeln.

 

„Ja, das ist meine. Gibst du sie mir zurück?“, fragte ich möglichst freundlich. „Ich stecke sie weg und alles ist wieder in Ordnung.“

 

Der Junge sah unschlüssig auf die Tabletten in seinen Händen. Er machte noch einen Schritt nach vorn, sodass er aus dem Schatten der Zelte heraustrat. Auf die knappe Entfernung konnte ich endlich sein Gesicht ein wenig deutlicher ausmachen. Es war Kurt. Ausgerechnet der kleine Kurt.

 

„Ich weiß nicht“, sagte er langsam. „Kischi hat gesagt, wir müssen alle Medizin abgeben. Er hat mir meine Mückensalbe weggenommen, weil wir die nicht haben dürfen.“

 

In Gedanken verfluchte ich Kilian für seine verdammte Existenz.

 

„Das ist richtig“, sagte ich und lächelte wieder. „Aber das hier ist etwas anderes. Ich brauche sie.“

 

„Weil du krank bist?“

 

Er schielte an mir vorbei in Richtung Schilf.

 

„Ja, ich … ich habe vergessen, meine Medizin zu nehmen. Deswegen war mir schlecht.“

„Der andere Junge musste nach Hause, weil er sich übergeben hat.“

 

Mein Lächeln wurde ein wenig schief.

 

„Ja, aber das war was anderes. Ich bin nicht krank. Ich brauch nur meine Tabletten, dann ist alles wieder gut.“

 

Kurt sah mich ein bisschen zweifelnd an. Der Geschmack in meinem Mund wurde zunehmend unangenehmer und mein Kopf pochte. Ich brauchte jetzt endlich ein Glas Wasser. Wieder zwang ich mich dazu, ein freundliches Gesicht zu machen.

 

„Pass auf, ich sag dir was. Du gehst jetzt wieder in dein Bett und wir vergessen die ganze Sache einfach, ja?“

„Aber …“

„Kein Aber. Du willst doch nicht, dass ich Ärger deswegen kriege, oder?“

„Nein, aber …“

„Na, siehst du. Deswegen ist es ganz wichtig, dass niemand hiervon erfährt. Hast du verstanden? Niemand darf etwas davon erfahren. Das wird unser kleines Geheimnis. Du magst doch Geheimnisse, nicht wahr?“

 

Kurt musterte mich kritisch. Sogar das Pikachu auf seinem Schlafanzug sah nachdenklich aus.

 

Schließlich sagte er mit einem Stirnrunzeln: „Ich weiß nicht. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Geheimnis?“

 

Ich blinzelte ihn überrascht an.

 

„Wie meinst du das?“

„Na, ein gutes Geheimnis ist eins, bei dem man sich freut, es für sich zu behalten. Zum Beispiel ein tolles Geschenk, mit dem man jemanden überraschen will. Ein schlechtes Geheimnis ist eins, was einem Bauchschmerzen macht und dass man nachts nicht schlafen kann. Wenn einem jemand droht, dass was Schlimmes passiert, wenn man es verrät, aber das ist meistens gelogen.“

 

Der kleine Kerl sah mich an und mir wurde bewusst, was ich gerade im Begriff gewesen war zu tun. Ich hatte Kurt dazu bringen wollen, für mich zu lügen. Wie erbärmlich war ich eigentlich?

 

„Du hast recht“, sagte ich langsam und der Kloß in meinem Hals wurde größer. „Es wäre wohl ein schlechtes Geheimnis.“

 

„Dann musst du es jemandem erzählen.“ Kurt sah mich treuherzig an. „Wenn du möchtest, kann ich mitkommen. Wir könnten es Kischi erzählen. Oder Benedikt. Der …“

 

„Nein, nicht Benedikt“, unterbrach ich ihn schnell. „Ich … ich möchte nicht, dass er es weiß. Er mag mich nicht besonders.“

 

„Das ist schade. Ich finde ihn voll nett.“

„Ja, ich auch.“

 

Plötzlich waren da Tränen in meinen Augen, die dort nicht hingehörten. Ich biss mir auf die Lippen und drehte den Kopf weg, aber Kurt hatte es längst gesehen. Er kam einen Schritt auf mich zu und legte die Stirn in Falten.

 

„Bist du traurig, weil Benedikt dich nicht mag?“

 

Ich kämpfte gegen den Drang an, die Nase hochzuziehen. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht hier sitzen und heulen, aber es ließ sich einfach nicht herunterschlucken, egal wie sehr ich es versuchte.

 

„Ja, ein bisschen“, antwortete ich schließlich leise, als ich mir sicher war, dass meine Stimme nicht zittern würde. „Aber das ist Erwachsenenkram. Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“

 

Mit einem Mal spürte ich eine Berührung an meiner Hand. Es war Kurt, der mir die Tablettenpackung hinhielt.

 

„Hier“, sagte er und lächelte aufmunternd. „Du hast doch gesagt, du brauchst deine Medizin. Vielleicht wirst du dann wieder fröhlich.“

 

Ich blickte auf die weiße Packung und wusste, dass es wohl kaum so einfach werden würde.

 

„Und wenn du willst, sage ich auch niemandem etwas hiervon“, meinte Kurt und sah mich weiter mitleidig an.

 

Ich lächelte leicht.

 

„Ich dachte, es ist ein schlechtes Geheimnis.“

„Ja, schon, aber wenn ich dich verrate, dann musst du nach Hause gehen und das ist auch schlecht. Und es ist nicht gelogen.“

 

Ich wollte irgendetwas dazu sagen. Wollte ihm sagen, dass er sich nicht darum kümmern musste. Dass ich groß genug war, um auf mich selbst aufzupassen. Doch die Worte kamen nicht aus meinem Mund. Vielleicht, weil ich Angst hatte vor dem, was daraus folgen würde.

 

„Du musst wieder ins Bett“, sagte ich stattdessen.

 

„Ich weiß“, gab er nur zurück.

 

Er winkte mir und ich sah ihm nach, wie er zwischen den Zelten verschwand. Ich hingegen konnte mich nicht dazu aufraffen, mich zu erheben. Es war, als wäre alle Kraft aus mir gewichen. Am liebsten hätte ich mich hier und jetzt auf den Erdboden gelegt und wäre nie wieder aufgestanden. Einfach verschwinden und nicht mehr da sein. Der Gedanke hatte etwas seltsam Tröstliches. Obwohl ich natürlich nie soweit gegangen wäre, irgendetwas in die Richtung zu unternehmen. Ich war nicht lebensmüde. Andererseits … vielleicht genau das.

 

 

Eine gefühlte Ewigkeit lang saß ich einfach nur im Gras und wartete. Vielleicht darauf, dass jemand kam und mich entdeckte. Das falsche Spiel entlarvte, dass ich die ganze Zeit spielte. Dass irgendwer all dem ein Ende setzte. Doch es kam niemand. Stattdessen begann ich zu merken, wie kalt mir war. Wie die Feuchtigkeit aus dem Gras meine Kleidung durchdrungen hatte. Wie Dreck und sonst noch was an mir klebte und mich in ein jämmerliches Etwas verwandelten.

 

Also stemmte ich mich hoch. Ich schlich zum Zelt zurück, um frische Sachen zu holen, bevor ich mich in den Toiletten umziehen ging. Ich wusch mich, stopfte die beschmutzten Klamotten in eine Plastiktüte und versteckte diese dann in den Mülltonnen hinter dem Haus. Während all dem kam ich mir vor wie jemand, der gerade einen Mord begangen hatte und jetzt die Spuren verwischte.

 

Als ich irgendwann wieder in meinen Schlafsack kroch, musste es schon weit nach Mitternacht sein. Das Letzte, was ich dachte, bevor mich der Schlaf übermannte, war, dass ich gar keine Tablette genommen hatte. Danach wusste ich nichts mehr.

 

 

„Boah, da hat einer hingekotzt.“

„Echt? Zeig mal.“

„Ja, da. Voll eklig.“

„Krass, der hat da voll die Pizza hingelegt.“

 

Die Stimmen der Jungen schwirrten durcheinander und mir ging auf, dass ich bei meiner Tatortsäuberung etwas ganz Entscheidendes übersehen hatte. Ich hatte vergessen, die Leiche wegzuräumen.

 

Sönke kam hinzu und verzog das Gesicht.

 

„Was für ne Sauerei. Wisst ihr, wer das war?“

 

Alle verneinten und auch ich tat so, als sähe ich das Ganze zum ersten Mal. Während Sönke noch versuchte, die Schaulustigen auseinanderzutreiben, drängte sich Wolfgang durch die Menge und besah sich die Bescherung ebenfalls. Er seufzte.

 

„Nach dem Frühstück machen wir Lagerversammlung. Ich will, dass das bis dahin beseitigt ist.

 

„Ich mache das“, sagte ich schnell, bevor sich jemand melden konnte.

 

„Ich hol dir ne Schaufel“, entgegnete Kilian grinsend und ging fröhlich pfeifend von dannen.

 

Ich wollte mich gerade abwenden, als ich einen Blick von Benedikt auffing. Er war gerade erst dazugekommen und wurde von den Kindern brühwarm darüber informiert, was los war. Aufmerksam hörte er ihnen zu und sah dann noch einmal zu mir herüber. Ich tat, als hätte ich es nicht bemerkt, und ging, um Kilian beim Suchen zu helfen. Nur nicht auffallen, nur nichts anmerken lassen.

 

 

Nach dem Frühstück, das wir wie schon das Abendessen alle zusammen im Speiseraum des Küchengebäudes einnahmen, wurden die Anwesenden zum Lagerfeuerplatz gebeten. Es dauerte eine Weile, bis alle Kinder und Betreuer da waren. Als es soweit war, stieg Wolfgang auf einen Holzklotz.

 

„Bitte mal Ruhe, ich habe was Wichtiges zu sagen.“

 

Fast augenblicklich herrschte Stille.

 

„Wie die meisten ja mitbekommen haben, ist heute Nacht offenbar jemand krank geworden oder hat sich zumindest den Magen verdorben. Das kann vorkommen und niemand wird deswegen rummeckern. Allerdings ist es wichtig, dass sich der- oder diejenige meldet, damit sich niemand anstecken kann. Wenn wir hier erst reihenweise anfangen zu spucken, muss das Zeltlager komplett abgebrochen werden. Da wir das nicht wollen, möchten wir noch einmal an denjenigen appellieren, uns Bescheid zu geben damit wir seine Eltern informieren und ihn abholen lassen können.“

 

Ich bemühte mich, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten und schaute mich scheinbar interessiert nach dem Schuldigen um. Dabei bemerkte ich, wie Kurt zwischen den anderen zu mir rübersah. Ich warf ihm einen bittenden Blick zu und er nickte fast unmerklich. Er würde dichthalten.

 

Wolfgang sah sich immer noch unter den Kindern um.

 

„Na gut, wir lassen es erst mal dabei. Wer uns etwas mitteilen möchte, kann das auch später noch unter vier Augen machen. Und seid unbesorgt, wir wollen wirklich nicht schimpfen. Es geht nur darum, dass sonst niemand krank wird.“

 

Wieder brandete Gemurmel auf, doch als sich auch jetzt niemand meldete, löste Wolfgang die Versammlung schließlich auf.

 

„Stephan und Melina, ihr übernehmt bitte die Aufsicht, die anderen kommen nochmal mit ins Betreuerheim. Ich will eben die Dienstpläne mit euch durchgehen, die wir gestern ausgearbeitet haben.“

 

Mit einem sonderbaren Gefühl in der Magengegend folgte ich den anderen den Hügel zum Sportplatz hinauf. Mir behagte es nicht, dass das Ganze solche Wellen geschlagen hatte. Ich hätte mich gerne selbst geohrfeigt, weil ich so dumm gewesen war, nicht alle Spuren zu beseitigen. Doch jetzt war es nicht mehr zu ändern und ich musste zusehen, dass mich niemand erwischte. Denn die Sache jetzt noch zuzugeben war ausgeschlossen. Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren. Außerdem wusste ich ja, dass niemandem eine Gefahr dadurch drohte. Was immer ich hatte, war definitiv nicht ansteckend.

 

„Das war ja nun ein sehr unschöner Einstieg“, begann Wolfgang, nachdem wir uns alle auf unsere Plätze begeben hatten. „Ich möchte, dass ihr die Kinder genau im Auge behaltet. Wenn jemand Anzeichen einer Magen-Darm-Erkrankung zeigt, wird derjenige sofort entsprechend behandelt und wir müssen die Eltern anrufen. Das kann uns hier die ganze Veranstaltung sprengen.“

 

Alle nickten dazu. Auch ich. Alles nur um nicht aufzufallen.

 

„Okay, dann jetzt mal zu etwas Erfreulicherem. Wie ihr seht, habe ich die Dienste auf der Tafel eingeschrieben. Reike und Thies werden vorerst mit den Kindern schnitzen und so weiter. Stephan wird zusammen mit Benedikt die sportlichen Aktivitäten übernehmen. Wenn es zum Schwimmen geht, erhalten sie dabei Unterstützung von Annett und Melina, die sonst mit den Kindern basteln und spielen werden. Sönke und ich werden zusammen mit den Kindern Touren in die Umgebung machen. Kilian, Ronya und Theodor werden als Springer fungieren und sich da nützlich machen, wo Not am Mann ist. Außerdem habt ihr drei diese Woche Schladi. Holt euch die entsprechenden Kinder dazu ran. Die Einteilung hängt neben dem Eingang zum Speisesaal. Noch Fragen?“

 

Mir lag auf der Zunge zu fragen, was den „Schladi“ war, aber ich traute mich nicht so recht. Zumal alle anderen zu wissen schienen, worum es ging. Als wir jedoch wieder nach draußen gingen, nahm ich Ronya beiseite und fragte sie doch danach. Sie grinste.

 

Schladi ist eine Abkürzung für Scheiß-Lager-Dienst. Das heißt wir müssen Tische decken und abräumen, in der Küche beim Vorbereiten helfen und natürlich die Sanitärbereiche säubern.“

„Wir putzen die selber?“

 

Ronya sah mich an und lachte.

 

„Ja, wieso? Hast du noch nie ein Klo geschrubbt?“

„Ähm …“

 

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Irgendwie hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass es hier womöglich keinen Putzdienst gab. Wieder lachte Ronya.

 

„Ach, keine Bange, ist halb so wild. Erstens haben wir Handschuhe an und zweitens geben sich die Kinder in der Regel mehr Mühe, alles sauber zu hinterlassen, wenn sie selbst fürs Aufräumen zuständig sind. Wer sich natürlich total ekelt, darf dafür eine andere Aufgabe übernehmen.“

 

„Nein, nein, ich schaff das schon“, beeilte ich mich zu versichern und konnte nur innerlich den Kopf schütteln. Gab es heute eigentlich irgendein Fettnäpfchen, das ich ausließ?

 

„Na komm“, meinte Ronya immer noch mit einem fetten Grinsen auf dem Gesicht. „Wir schauen mal, wie viel Andrang beim Basteln ist.“

 

 

Wie sich herausstellte, hatten sich jede Menge Kinder bei Annett und Melina eingefunden. Letztere war eine stille Blonde, die meiner Erinnerung nach Psychologie studierte und aufgrund ihres Nachnamens den Spitznamen „Mel C“ oder „Melzie“ trug. Als wir ankamen, war sie gerade dabei, jede Menge Schächtelchen mit Perlen und Glitzersteinen auf dem Tisch zu verteilen, während Annett die Kinder in Gruppen einteilte.

 

„Ihr könnt euch aussuchen, ob ihr lieber mit mir Papier falten oder mit Melzie Schmuck aus Fimo basteln wollt.“

 

„Muss es denn Schmuck sein?“, fragte einer der wenigen Jungs, die sich hier eingefunden hatten.

 

„Oh, du kannst auch was anderes daraus machen und verzieren. Wenn du möchtest, zeige ich dir, wie man einen Drachen oder andere Tiere daraus formt.“

 

Melina lächelte und der Junge nickte begeistert. Auch seine beiden Begleiter, die erst kritisch geschaut hatten, setzten sich jetzt mit zuversichtlicher Miene an den Tisch.

 

„Können wir wieder so Regenbogenketten machen?“, wollte eines der größeren Mädchen wissen.

 

„Ja, oder Einhörner. Die sind so cool“, stimmte das Mädchen neben ihr zu. „Meine vom letzten Jahr habe ich immer noch.“

 

„Und Ronya soll auch mitmachen“, rief ein drittes begeistert und rückte beiseite, damit ihre geliebte Betreuerin zwischen ihnen Platz hatte.

 

Ich sah entschuldigend in die Runde.

 

„Ich glaube, ich schaue mal, ob ich woanders gebraucht werde.“

 

Danach sah ich zu, dass ich rauskam. Im Vorbeigehen warf ich noch schnell einen Blick auf den Plan. Die großen Jungs aus Stephans und meinem Zelt waren heute für Tischdecken und Co eingetragen. Vermutlich würde es nicht leicht werden, den chaotischen Haufen dazu zu bringen, ihren Dienst abzuleisten. Andererseits hatte ich mitbekommen, dass einige der Jungs schon zum wiederholten Male hier waren und sich untereinander bereits kannten. Also würde es vielleicht doch nicht so schwierig werden. Die Chancen standen 50:50.

 

Da bis zum Mittagessen jedoch noch jede Menge Zeit war, machte ich mich auf den Weg zu Reike und Thies, um dort beim Werken zu helfen. Als ich allerdings in Richtung Lagerfeuerplatz ging, sah ich schon von Weitem, dass sich Kilian dort bereits breit gemacht hatte. Er alberte mit den Kindern herum, während Reike gerade etwas erklärte. Thies stand mit gut zwei Dutzend langen Stöcken in der Hand daneben und wartete auf seinen Einsatz.

 

„Dann bleibt wohl nur noch der Sport“, murmelte ich und seufzte leise. Warum hatte Kilian nicht dort hingehen können? Immerhin war er doch gestern auch gleich beim Fußball dabei gewesen. Ich hatte daher fest damit gerechnet, dass er wieder dabei mitmachen würde.

 

Oben angekommen sah ich jedoch, dass die Kinder heute keine Ballspiele machten. Stattdessen saßen sie in einem großen Kreis auf dem Rasen. Stephan rief gerade einige Zahlen, woraufhin eine Reihe von Kindern aufsprang, einmal rund um den Kreis lief und sich dann wieder an ihren jeweiligen Platz setzte. Wer immer zuerst ankam, erhielt offenbar einen Punkt, denn es gab regelmäßig Applaus, wenn derjenige in mehr oder weniger gewagten Sprüngen wieder zwischen seine Sitznachbarn hechtete. Benedikt stand daneben und hielt eine Liste, in der er den Rundensieger eintrug. Am Ende gewann Finn, einer der Jungs aus meinem Zelt, der nicht nur lange Haare sondern ebenso lange Beine hatte. Unter lautem Gejohle klatschte er mit seinen Kumpanen ab und erhielt von Stephan einen Schokoriegel als Preis.

 

„So, und jetzt machen wir ein neues Spiel“, rief der auch gleich, sobald Finn die Schokolade verdrückt hatte. „Wer von euch kennt Feuer, Wasser, Sturm?“

 

Etliche Hände schossen nach oben. Unter denen, die sich nicht meldeten, entdeckte ich unter anderem Kurt, der beim vorherigen Laufspiel schon keine besonders gute Figur gemacht hatte. Warum er trotzdem bei der Sportgruppe war, war mir ein Rätsel.

 

„Na, da sind ja einige. Für alle anderen Landratten erkläre ich jetzt noch mal die Regeln. Ich bin der Kapitän des Piratenschiffs und alles hört auf mein Kommando. Wenn ich sage 'Zum Schiff' kommt ihr alle zu mir gerannt, wenn ich rufe 'An Land' stellt ihr euch alle links neben mich und bei 'Achtung an Deck' ruft jeder, so laut er kann, 'Aye-Aye Kapitän!' Alles klar soweit?“

 

„Aya-Aye, Kapitän!“, brüllten die Kinder.

 

Es folgten noch eine ganze Reihe weiterer Befehle, bei denen selbst ich Mühe hatte, sie mir zu merken. Eigentlich wäre das ja kein Problem gewesen, wenn nicht Stephan am Ende verkündet hätte, dass die beiden Obermatrosen dabei helfen würden, alles richtig zu machen. Die beiden Obermatrosen waren Benedikt und ich.

 

„Na dann mal los, ihr räudigen Seebären. Derjenige, der als Letzter den Befehl befolgt, lasse ich kielholen! Und jetzt ab in die Wanten mit euch!“

 

Anfangs gab es eine Menge Gerangel und Geschubse, da niemand sich allzu weit vom Kapitän entfernen wollte, um auch ja rechtzeitig anzukommen. Ich selbst wusste nicht so recht, wie ich zwischen den ganzen Kindern herumlaufen sollte, die allesamt kleiner waren als ich. Immer wieder erwischte ich mich dabei, mich nach Benedikt umzusehen, der das genaue Gegenteil zu versuchen schien. Er wich mir aus, wo immer es auch ging. Vermutlich auch um zu verhindern, dass wir bei einer der Partnerbefehle aneinander gerieten. Als ich mich jedoch bei „Mann über Bord“ auf den Boden warf, war der Tritt, den ich daraufhin in meinen Hintern erhielt, definitiv nicht von einem der Kinder.

 

Ich schielte hoch und sah, dass Benedikt mich böse von oben anblitzte. Eigentlich hätte er den Fuß nur vorsichtig aufsetzen sollen. Alles andere war von Stephan bei anderen Mitspielern schon mehrmals abgemahnt worden.

 

„Was soll das?“, wollte ich flüsternd wissen.

 

„Sei froh, dass es nicht 'Ab in den Ausguck' war“, zischte er zurück und ich musste zugeben, dass die Aussicht, ihn auf meinem Rücken sitzen zu haben, gemischte Gefühle in mir auslöste. Lange Zeit, mir das zu überlegen, hatte ich jedoch nicht, denn mit Kranke Möwe“ hatte Stephan bereits das nächste Kommando gegeben, bei dem wir alle wie wild mit Armen und Beinen gleichzeitig in der Luft herumrudern mussten.

 

Ich unterdrückte den Impuls, mich einfach mit einer Entschuldigung aus dem Spiel zu entfernen, und leistete weiter den Anweisungen Folge, aber mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Dass Benedikt mich ignorierte, war eine Sache, aber das gerade war mehr als ein einfaches Ignorieren gewesen. Er hatte mir wehgetan und das mit voller Absicht. Ich wusste nur nicht, warum.

 

„Hey, rudern!“, forderte mich eine helle Stimme auf und ich sah mich unvermittelt einem Mädchen gegenüber, dass seine Füße gegen meine gestellt hatte und mir die Hände herüberreichte, damit ich sie ergriff und wir uns gegenseitig hin und her ziehen konnten. Sie kicherte dabei und ich überlegte krampfhaft, um mich an ihren Namen zu erinnern, aber er wollte mir nicht mehr einfallen. Ich wusste nur noch, dass sie zu den Ältesten und somit in Annetts Zelt gehörte.

 

„So, ihr müden Matrosen, als Nächstes machen wir mal ein bisschen was Ruhigeres, damit ihr verschnaufen könnt. Also los, alle wieder in den Kreis setzen.“

 

„Können wir auch mal Judo lernen?“

 

Die Frage kam von einem der jüngeren Jungs, von den ich vermutete, dass er wohl mit Kurt zusammen in einem Zelt war.

 

„Ja, das wäre super. Benedikt hat erzählt, er kann das.“

 

Dieses Mal war es Kurt selbst, der sich zu Wort meldete. Stephan wandte sich an Benedikt, der ein wenig verlegen lächelte.

 

„Na, wenn ihr wollt, kann ich euch schon mal was zeigen. Aber dafür brauchen wir eigentlich einen weichen Untergrund.“

 

„Wir könnten die Matratzen aus den Zelten holen“, schlug jemand vor.

„Oder Isomatten“, rief jemand anderes.

 

Stephan schüttelte entschieden den Kopf.

 

„Die Matratzen lasst ihr mal schön da, wo sie sind. Wir haben noch ein paar Gymnastikmatten im Betreuerheim, die können wir nehmen.“

 

„Perfekt“, erwiderte Benedikt mit einem Lächeln, das jedoch gefror, als Stephan anfügte:

 

„Am besten zeigst du die Übungen zusammen mit Theo. Der ist etwa gleich groß, das passt doch.“

 

Ein wenig unsicher sah ich Benedikt an. Es stimmte, dass Stephan ihm sowohl in Größe wie auch in Masse überlegen war. Vermutlich wäre es wirklich schwierig gewesen, wenn die beiden zusammen etwas vorgeturnt hätten. Trotzdem behagte mir der Gedanke nicht und Benedikt schien es ebenso zu gehen. Ich konnte quasi schon hören, wie er ablehnte, doch dann sagte er zu meiner Überraschung:

 

„Na klar, das passt bestens. Bei Theodor kann ich euch zeigen, wie man jemanden mal so richtig aufs Kreuz legt.“

 

Das allgemeine Gelächter machte das mulmige Gefühl, das bei dieser Ankündigung in meinem Bauch entstanden war, nicht unbedingt besser. Allerdings konnte ich jetzt schlecht einen Rückzieher machen. Das Einzige, was mir übrig blieb, war zu hoffen, dass Benedikt es bei Worten belassen und nicht etwa Taten folgen lassen würde. Ein ziemlich großer Teil von mir war sich dessen allerdings gar nicht so sicher.

Aneinandergeraten

Mit wahrem Feuereifer verteilten die Kinder die Matten, die Stephan aus dem Heim geholt hatte, auf dem Rasen. Dabei gab es einiges Gerangel, wer eine Matte tragen durfte und wie diese hinzulegen war. Ich nutzte die allgemeine Aufregung, um mich neben Benedikt zu stellen.

 

„Was sollte das eben?“, wisperte ich. Er antwortete nicht, also stellte ich meine Frage noch einmal etwas lauter.

 

„Ich weiß nicht, was du meinst“, gab er zurück, ohne mich anzusehen.

 

Ich presste die Kiefer aufeinander.
 

„Das weißt du sehr wohl. Du hast mich getreten.“

 

Er schnaubte.

 

„Tja, dann habe ich jetzt wohl auch ein schlechtes Geheimnis.“ Mit einem unechten Lächeln drehte er sich zu mir herum. „Damit kennst du dich ja bestens aus, nicht wahr, Theodor?“

 

Ich prallte zurück. Das durfte nicht wahr sein. Er wusste es. Er wusste von den Tabletten. Ich hatte keine Ahnung, wie er das aus Kurt rausbekommen hatte, aber das war im Grunde genommen auch nicht von Belang. Viel wichtiger war, dass ein Wort von Benedikt genügte, damit ich hier hochkant rausgeworfen wurde. Er hatte mich in der Hand. Mir wurde kalt.

 

Wie durch Watte bekam ich mit, dass das Verteilen der Matten ein Ende gefunden hatte und sich die Kinder jetzt im Kreis um das rechteckige Feld verteilten. Benedikt ging in dessen Mitte und begann, als alle still geworden waren, mit einer Erklärung.

 

„Beim Judo wird im Gegensatz zu vielen anderen Kampfsportarten nicht mit Schlägen oder Tritten gearbeitet. Vielmehr erlernt man Techniken, die dazu dienen, seinen Gegner zu Fall zu bringen und in einigen Fällen auch noch am Boden zu fixieren. Das Ganze wird unterteilt in Fallschule, Bodenarbeit und Wurftechniken.“
 

Er winkte mich heran und ich folgte ihm, ohne ein Wort der Gegenwehr. Wie ein Lamm zur Schlachtbank trat ich zu ihm auf die Mitte der Matten. Ich sah, wie sich sein Mund bewegte, aber ich war einfach nicht in der Lage, seinen Ausführungen zu folgen. In meinem Kopf kreisten ständig die gleichen Gedanken.

 

Was würde er tun? Würde er mich verraten? Und wenn ja, worauf wartete er dann noch? Warum schrie er die Wahrheit nicht heraus, wenn er sie doch kannte? Warum ließ er mich zappeln? Wollte er mir Angst machen? Genoss er das Gefühl, mich in der Hand zu haben? Ein Druckmittel zu haben, mit dem er mir drohen konnte? War er so ein Mensch?

 

Benedikt erklärte jetzt etwas, das mit dem speziellen Kampfanzug zu tun hatte, dass man als Judoka trug. Ich erinnerte mich daran, dass er einmal eine Beratung dafür durchgeführt hatte. An dem Tag war er das erste Mal im Sportgeschäft gewesen. Ich wusste noch, wie ich ihm in der Umkleide eines der speziellen T-Shirts, die wir im Laden tragen mussten, gegeben hatte. Er hatte sich beim Umziehen darin verheddert und ich hatte ihm dabei geholfen, sich zu befreien. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, ihm so nahe zu sein. Ebenso nahe wie jetzt. Damals war es noch bedeutungslos gewesen.

 

In meinen Ohren summte es. Nur undeutlich bekam ich mit, wie Benedikt „Das sieht dann in etwa so aus“ sagte, dann packte er mich auch schon, die Welt um mich herum drehte sich und ich knallte schmerzhaft mit dem Rücken zuerst auf den Fußboden. Sofort war er über mir und schlang einen Arm um meinen Nacken, während er mich auf den Boden drückte und so festhielt, dass ich ihn nicht angreifen konnte.

 

Die plötzliche Entwicklung brachte mich zurück in das Hier und Jetzt. Ich schnappte erschrocken nach Luft.
 

„Normalerweise wäre das Fixieren jetzt nicht mehr notwendig“, erklärte Benedikt mit dem Gesicht zu den Kindern, „da mein Gegner bereits beim Wurf mit beiden Schulterblättern auf dem Boden aufgekommen ist. Es gibt jedoch auch Techniken, die vorsehen, dass man den Gegner in eine bestimmte Haltung bringt und ihn dort festhält. Es gibt dabei für verschiedene Griffe verschiedene Möglichkeiten, um sich zu befreien.“

 

Er wandte sich von den Zuschauern ab und sah mir direkt in die Augen.
 

„Wenn du kannst, versuch dich loszumachen.“

 

Der Ton, in dem er das sagte, war ohne Zweifel herausfordernd. Er war immer noch wütend, das konnte ich sehen. Hinter seinen Augen brodelte es und wenn er gewollt hätte, hätte er mir wahrscheinlich sehr wehtun können. Aber er tat es nicht. Er lag einfach nur auf mir und hielt mich fest. Da meine Beine frei waren, hätte ich uns vermutlich irgendwie drehen können. Mich aus seinen Armen winden oder einen Versuch starten, meine eigenen Arme freizubekommen, um ihn von mir runterzuschieben. Trotzdem zögerte ich

 

Ich spürte, wie er atmete. Wie sich sein Brustkorb über mir hob und senkte. Wie seine Finger an meiner Schulter lagen. Sein Gewicht, das mich nach unten drückte. Sein Gesicht ganz dicht vor meinem. Ich konnte jede Einzelheit erkennen. Die blauen Augen mit dem dunklen Ring um die Iris. Darüber die leicht zusammengezogenen, dunklen Brauen, die ihm einen entschlossenen Ausdruck verliehen. Die Nase mit den breiten Sommersprossen. Der Mund mit den vollen Lippen. Sein Kinn, das einen leichten Schatten zeigte. Anscheinend hatte er am Morgen keine Zeit gefunden, sich zu rasieren. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn dieses Kinn über meinen Bauch strich. Die Innenseite meiner Schenkel. Das kantige, leicht raue Gefühl, gepaart mit der Festigkeit seiner Lippen und der fordernden Feuchte seiner Zunge. Ich wusste, wie es sich anfühlte.

 

Im nächsten Moment verschwand der Druck von meinem Brustkorb und Benedikts Stimme drang nur noch von weit her in mein Ohr.
 

„Wir werden jetzt keine Würfe ausprobieren, da ihr die notwendigen Falltechniken nicht beherrscht. Die Gefahr einer Verletzung wäre zu groß. Stattdessen werde ich euch eine einfache Vorstufe einer Bodenübung zeigen.“

 

Wie betäubt lag ich da und konnte mich nicht rühren. Was war das gewesen? Warum hatte ich nur wie ein Idiot dagelegen und ihn angestarrt? Warum hatte ich nichts gemacht?

 

Weil ich dort nicht weggewollt hatte.

 

Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag. Ich hatte in seinen Armen gelegen und ich hatte mich gut gefühlt. Sicher. Obwohl ich mich nicht bewegen konnte und ihm vollkommen ausgeliefert gewesen war, hatte es sich gut angefühlt. Irgendwie … geborgen, auch wenn mir das Wort schon in dem Moment, in dem es mir in den Sinn kam, albern vorkam. Und doch … Irgendwas war da gewesen.

 

„Ist alles in Ordnung?“

 

Stephans Frage riss mich aus meiner Erstarrung. Er stand über mir und sah auf mich herab. Eilig rappelte ich mich auf und setzte ein Lächeln auf.
 

„Ja, klar, alles okay.“

 

Ich sah zu, wie die Kinder sich zu Paaren zusammenfanden. Eines von ihnen legte sich auf den Bauch, während das andere versuchte, es auf den Rücken zu drehen. Es gab eine Menge Gelächter und Gekicher. Ein fröhliches, unschuldiges Gerangel. Nicht so wie das, was gerade zwischen mir und Benedikt gewesen war. Das war gefährlich gewesen. Gefährlich auf eine Art und Weise, die mich erneut schlucken ließ, als ich ihn beobachtete, wie er zwei Mädchen Hilfestellung gab.

 

Seine Worte kamen mir wieder in den Sinn. Er wusste von den Tabletten. Damit war es nur eine Frage der Zeit, bis Wolfgang es erfuhr, und der würde mit Sicherheit meine Eltern informieren. Ich konnte schon den enttäuschten Blick meiner Mutter sehen, die bitteren Worte meines Vaters hören. Den abfälligen Kommentar meines Bruders, wenn er Wind von der Sache bekam. Sie würden es alle erfahren und sie würden zu Recht enttäuscht von mir sein.

 

Plötzlich wollte ich nur noch weg. Was sollte es noch bringen, die Fassade aufrechtzuerhalten? Es würde ja doch alles rauskommen. Wenn es so weit war, sollte ich besser so weit weg wie möglich von diesem Ort sein. Irgendwo dort, wo mich niemand fand.

 

 

Ohne jemandem Bescheid zu geben, stahl ich mich vom Platz. Je eher ich ging, desto besser. Bevor jemand mitbekam, dass ich auf der Flucht war.

 

An den Zelten war niemand zu sehen. Ich schlüpfte hinein und wurde von einer warmen, leicht stickigen Atmosphäre empfangen. Ein dezenter Geruch nach getragenen Turnschuhen lag in der Luft. Die Lagerstätten waren dank Stephans Anweisungen aufgeräumt. Mein Schlafsack lag ebenso gerade da wie die anderen. Eilig fing ich an, ihn zusammenzurollen. Ich würde ihn brauchen, wenn ich mich ohne viel Geld durch die Lande schlagen wollte. Um Platz zu bekommen, riss ich einige der Klamotten aus meiner Tasche und versuchte stattdessen, den Schlafsack hineinzustopfen. Er war zu groß und ich wollte ihn gerade herauszerren, um ihn noch einmal kleiner zusammenzufalten, als sich die Zeltplane hinter mir teilte. In der entstandenen Öffnung erschien eine mir nur zu bekannte Gestalt.

 

„Was tust du da?“

 

Benedikt sah immer noch wütend aus. Fast noch wütender als vorhin.
 

„Ich packe.“

„Und wo willst du hin?“

 

Mir lag eine weitere, giftige Antwort auf der Zunge. Dass ihn das nichts anging und dass ich irgendwo hingehen würde, wo er nicht war. Aber ich konnte es nicht aussprechen. Stattdessen sah ich ihn einfach nur an. Er schüttelte den Kopf.
 

„Ja, alles klar. Du haust mal wieder ab. Darin bist du ja Weltmeister, nicht wahr? Wenn es ein Problem gibt, machst du dich einfach aus dem Staub. Ich weiß wirklich nicht, warum ich eigentlich …“
 

Er brach ab und schüttelte den Kopf.

 

„Warum du was?“, fauchte ich jetzt ebenfalls aufgebracht. „Mich erpresst?“

 

„Ich tue bitte was?“
 

Er sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Dabei war er es doch, der mit der ganzen Sache angefangen hatte. Stattdessen führte er sich auf, als hätte man ihm ein Unrecht getan.
 

„Ich hätte kein Wort gesagt“, knurrte er. „Aber du musstest ja Kurt mit reinziehen und ihm von deinem schlechten Geheimnis erzählen.“

„Ich hab ihm nichts erzählt!“

„Und warum weiß er dann davon?“

„Weil …“

„Weil was?“

 

Ich rang mit mir. Musste ich ihm wirklich die Einzelheiten erzählen? Aber Benedikt stand vor dem Zelteingang wie ein Fleisch gewordener Rachegott und es würde kein Weg an ihm vorbeiführen, es sei denn …

 

„Er hat mich erwischt. Heute Nacht. Ich … ich wollte nicht, dass es jemand mitbekommt, aber er …“

 

Im nächsten Moment fand ich mich auf meinem Bett wieder. Benedikt ragte über mir auf und seine Faust schwebte direkt über meinem Gesicht.
 

„Überleg dir gut, was du jetzt sagst. Wenn es das Falsche ist, kannst du dich schon mal von deinem hübschen Gesicht verabschieden.“

„Was? Aber ich hab doch gar nichts …“

„Du hast ein Kind belästigt. Das ist eine Straftat.“

„Was?“

 

Ich verstand überhaupt nichts mehr. Wovon redete er da?

 

„Wovon redest du?“

„Wovon redest du?“

 

In diesem Moment schien uns beiden zu dämmern, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Ich sah förmlich, wie sich die Erkenntnis auf seinem Gesicht ausbreitete. Im nächsten Augenblick wurden seine Augen schmal.
 

„Was hat Kurt gesehen?“

 

Seine Haltung hatte sich nicht geändert. Er hatte immer noch die Faust zum Schlag erhoben und war bereit es durchzuziehen. Ich schluckte langsam.

 

„Ich … also das heute Morgen. Die Sache hinter den Zelten. Das war von mir.“

 

Er sah mich einen Augenblick lang an, bevor er mich plötzlich losließ und vor mir zurückwich. In seinem Gesicht stand Fassungslosigkeit.

 

„Warum hast du das nicht gesagt? Wegen dir stecken sich hier noch alle an.“

„Es ist nicht ansteckend.“

„Ach, bist du Arzt, oder was?“

 

Er sah immer noch wütend aus, wenngleich auch nicht mehr ganz so sehr. Trotzdem war mir klar, dass er es Wolfgang erzählen würde. Schon allein um die Kinder zu schützen. Langsam senkte ich den Kopf.

 

„Es ist wirklich nicht ansteckend. Ich … ich hatte nur Kopfschmerzen.“

 

Benedikt knurrte unwillig.
 

„Verkauf mich nicht für dumm, Theodor. Wegen ein bisschen Kopfschmerzen macht man doch nicht so einen Aufstand.“

 

Ich schluckte. Mein Mund war viel zu trocken. Ich sehnte mich nach etwas zu trinken.

 

„Ich habe … ziemlich oft Kopfschmerzen“, sagte ich langsam. „Und ich … ich nehme Tabletten dagegen.“

 

Er reagierte nicht, also redete ich weiter.

 

„Ich wollte nicht, dass jemand etwas davon mitbekommt. Deswegen habe ich die Packungen bei mir im Zelt behalten. Ich weiß, ich hätte sie abgeben sollen, aber ich konnte es einfach nicht.“

 

Langsam hob ich den Blick. Er hatte mir den Rücken zugedreht. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Hatte keine Ahnung, wie er diese Eröffnung aufnahm.

 

„Was noch?“

 

Ich zuckte zusammen. Sein Ton war neutral, fast kalt. Mir war, als müsse ich mich erneut übergeben.
 

„Heute Nacht hatte ich wieder eine Schmerzattacke. Es war so schlimm, dass ich mich …“

 

Ich konnte es nicht aussprechen. Die Worte aus meinem Mund wurden zu einem kaum wahrnehmbaren Raunen.

 

„Dabei habe ich die Tabletten verloren. Kurt hat sie gefunden und aufgehoben. Er wusste, dass ich sie nicht bei mir haben darf. Darum ging es bei dem Geheimnis.“

 

Er atmete tief durch.
 

„Kurt hat gesagt, ihr hättet über mich gesprochen. Da dachte ich …“

 

Ich lächelte leicht. Es war so etwas wie ein Reflex.

 

„Wir haben über dich gesprochen, das ist wahr. Aber ich habe ihm nichts von … von uns erzählt.“

 

Benedikt lachte bitter auf. Das Geräusch jagte mir einen Schauer über den Rücken.
 

„Es gibt kein uns, Theodor. Dafür hast du doch sehr effektiv gesorgt. Du hattest deinen Spaß und dann … dann hast du mich fallenlassen.“

„Aber so war das doch gar nicht.“

„Ach nein?“

 

Er fuhr herum.
 

„Ich hab dir vertraut in dieser Nacht. Ich dachte, du würdest … Ach, ist doch auch egal.“

 

Da war etwas in seiner Stimme, in der Art, wie er dastand, das mir schier den Atem nahm.

 

„Es tut mir leid.“

 

Meine Stimme war so leise, dass sie fast nicht zu hören war. Er atmete tief ein.
 

„Was genau?“
 

Die Frage traf mich vollkommen unvorbereitet. Unfähig zu antworten saß ich da, während er mich mit seinem Blick förmlich durchbohrte. Wieder begann es in meinen Ohren zu rauschen.
 

„Was genau tut dir leid?“, präzisierte er noch einmal, doch ich war nicht in der Lage zu reagieren.

 

Seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln.

 

„War ja klar. Sonst spuckst du große Töne, aber wenn es darauf ankommt, ist da nur heiße Luft.“

 

Er wandte sich ab und ballte die Hand zur Faust, bevor er sich noch einmal zu mir herumdrehte.
 

„Weiß du was, Theodor? Wenn du mir nicht sagen kannst, was genau dir leidtut, dann vergiss es einfach. Lass uns wieder so tun, als wäre nichts passiert. Und wirf diese Tabletten weg, sonst werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass man dich hier rausschmeißt.“

 

Damit drehte er sich endgültig um, schlug mit ärgerlichem Schwung die Zeltplane beiseite und verschwand nach draußen. Mit einem viel zu leisen Geräusch fiel die weiße Wand wieder an ihren Platz.

 

Ich saß da wie betäubt. Die Heftigkeit seiner Reaktion hallte in mir nach wie ein Gongschlag. Ich hatte nicht gewusst, nicht einmal geahnt, wie sehr ihn das Ganze getroffen hatte. Als wir uns nach den Ferien in der Schule wiedergesehen hatten, hatte er meine Eröffnung so kühl hingenommen, dass ich gedacht hatte, dass es für ihn nur eine kleine Sache gewesen war. Oder ich hatte es mir zumindest eingeredet. Weil ich Angst gehabt hatte. Angst vor dem, was es bedeuten könnte. Für mich. An ihn hatte ich dabei nie gedacht. Viel zu sehr in meinem eigenen Kopf gefangen, hatte ich nie versucht mir vorzustellen, wie es ihm dabei ging. Dass er vielleicht ebenfalls vor dem Telefon gesessen und auf meinen Anruf gewartet hatte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, mir selbst leidzutun. Ich war ein egoistischer Arsch.

 

Mir das einzugestehen war bitterer, als ich erwartet hatte. Am liebsten hätte ich mich einfach zusammengerollt und darauf gewartet, dass die Welt mich vergaß. Doch das ging nicht. Ich war hier nicht allein und früher oder später würden Leute kommen. Wenn sie mich in diesem Zustand fanden, würden sie Fragen stellen. Fragen, die ich nicht beantworten wollte. Also musste ich mich zusammenreißen und mich wieder in einen einigermaßen vorzeigbaren Zustand bringen.

 

Mechanisch griff ich nach dem Schlafsack und zog ihn wieder aus meiner Tasche heraus. Jede Bewegung kostete mich eine unheimliche Kraft, aber ich gab nicht auf. Ich entrollte das blaue Kunststoffgewebe und strich es glatt, so gut es eben ging. Dann machte ich mich daran, meine verstreute Kleidung wieder einzusammeln. Ich klopfte den Dreck ab, faltete sie zusammen und wollte sie gerade wieder zurück in die Tasche stopfen, als ich am Boden die Ecke einer Pappschachtel erblickte. Ich hatte sie fast schon wieder vergessen.

 

Einen Augenblick lang starrte ich sie an, bevor mich plötzlich die Wut packte. Auf die Tabletten und alles andere, was damit zusammenhing. Ich würde damit aufhören. Jetzt. Wild entschlossen, wenigstens das richtig zu machen, packte ich die Packung und wühlte zwischen der noch in der Tasche befindlichen Kleidung nach der zweiten. Ich knüllte sie zusammen und sprang auf. Meine Füße trugen mich wie von selbst zu den großen Abfalltonnen hinter dem Küchengebäude. Ich öffnete den Deckel.

 

Eine dicke Fliege flog brummend auf und davon. Vermutlich hatte sie dort im Müll reichlich Eier gelegt, die schon bald zu fetten, weißen Maden werden würden. Neues Leben zwischen all dem Verfall.

 

„Widerlich“, flüsterte ich und zerquetschte die Packungen in meinem Händen fast, bevor ich sie mit einer entschiedenen Geste zwischen die gefüllten Abfalltüten warf. Ich zog an einem der Säcke, bis er über den Packungen lag, sodass sie nicht mehr zu sehen waren. Dann ließ ich den Deckel fallen. Es schepperte laut und ich erschrak. Was, wenn mich jemand gehört hatte?

 

Tatsächlich hörte ich im nächsten Augenblick ein Fenster klappen und eine Stimme rief: „Ist da wer?“

 

Es war Susanne.
 

„Ja, ich“, antwortete ich und lief nach vorne zum Fenster, sodass sie mich sehen konnte. „Ich hab nur was weggeworfen.“

 

„Ah, verstehe“, sagte sie und nickte mir zu. „Hast du Zeit? Ich bräuchte jemandem zum Kartoffeln schälen.“

 

Ich dachte an das Chaos, das ich hinterlassen hatte, und setzte ein Lächeln auf.
 

„Kein Problem. Ich gehe nur nochmal eben rasch was erledigen. Dann kann ich dir helfen.“

„Prima.“
 

Sie schloss das Fenster wieder und ich lief zurück zum Zelt. In Windeseile sammelte ich meine Sachen ein und warf die Tasche hinter meine Lagerstatt. Während ich zur Küche zurückjoggte, musste ich noch einmal an das denken, was Benedikt gesagt hatte. Dass ich, wenn ich ihm nicht sagen konnte, was genau mir leidtat, es einfach vergessen sollte. Doch was, wenn ich es herausfand? Wenn ich ihm eine ehrliche Antwort darauf gab, und mich bei ihm entschuldigte? Was dann?
 

Der Gedanke versetzte mich in eine eigenartige Hochstimmung und ließ gleichzeitig den Stein in meinem Magen zu neuem Leben erwachen. Denn um ihm eine ehrliche Antwort zu geben, würde ich wohl zunächst einmal ehrlich zu mir selbst sein müssen und ich war mir nicht sicher, ob ich das hinkriegen würde. Ich hatte mich schon zu lange versteckt. Aber vielleicht … vielleicht war es an der Zeit, etwas daran zu ändern. Und vielleicht würde ich es dieses Mal nicht versauen.

Ehrliche Fragen...

In den nächsten Stunden legte ich mich richtig ins Zeug. Ich half bei den Vorbereitungen zum Mittagessen, trommelte die Kinder zusammen und übernahm sogar das Abspülen, obwohl ich diese Aufgabe eigentlich nicht besonders leiden konnte. Allerdings war ich so wild entschlossen, von jetzt an alles besser zu machen, dass ich mich selbst vorantrieb, um dem auch wirklich gerecht zu werden. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, neben mir zu stehen und mir dabei zuzusehen, wie ich mich abmühte, ohne wirklich ein Ergebnis zu erzielen. Denn all diese Tätigkeiten dienten eigentlich nur dazu, mich von dem abzulenken, was mich wirklich beschäftigte.

 

Was machst du da eigentlich, fragte ich mich, als ich mich doch tatsächlich bereiterklärte, am Nachmittag beim Ausflug an den Strand mitzukommen. Ronya hatte beim Mittagessen gesagt, dass sie dorthin mitgehen würde und ich hatte mich spontan angeschlossen. Dass Benedikt ebenfalls dort sein würde, hatte ich vollkommen vergessen. Stephan hingegen war recht begeistert.

 

„Die sind am Anfang immer wie die Wilden. Je mehr, desto besser“, lautete sein Urteil, als ich zusammen mit den drei Frauen am Strand auftauchte. „Gehst du mit rein?“

 

Ich öffnete gerade den Mund um zu antworten, als mir eines der Mädchen, die mit uns hergekommen waren, eine gelbe Flasche unter die Nase hielt.

 

„Hey, Theo, cremst du mir mal den Rücken ein?“

„Oh ja! Mir bitte auch“, rief eine andere.

 

Ich starrte völlig verständnislos auf die Flasche und dann auf die kleine Blonde, die mich mit großen Augen anstrahlte. Sie trug einen türkisen Bikini mit einem Schmetterlingsmuster, dessen pinke Träger sich im Nacken überkreuzten. Mein erster Gedanke war, dass sie so wenigstens nicht herunterrutschen konnten.

 

„Papperlapapp, wenn überhaupt hilft Theo drüben bei den Jungs. Außerdem könnt ihr euch gegenseitig eincremen“, unterbrach Annett das Ganze kurzerhand und scheuchte mich rüber zu dem wilden Haufen, der sich schon zur Hälfte im Wasser befand. Noch einmal fragte Stephan mich, ob ich mit reingehen wollte.

 

Ein kurzer Blick zum See zeigte mir, dass Benedikt bereits dort war. Die Jungs, die nicht unter wildem Gejohle von dem umgestürzten Baum aus ins Wasser sprangen, bemühten sich gerade, ihn unterzutauchen, aber er wehrte sich tapfer. Es gab jede Menge Gekreisch und Gelächter. Ich wäre gerne dabei gewesen. Aber da da immer noch diese ungeklärte Sache zwischen uns stand, wusste ich nicht, wie er reagieren würde, wenn ich einfach so neben ihm auftauchte. Also schüttelte ich den Kopf.

 

„Ich überwache lieber vom Ufer aus, dass niemand absäuft.“

 

„Ist recht“, antwortete Stephan mit einem Nicken, bevor er sich sein Shirt über den Kopf zog und sich ebenfalls mit in die Fluten stürzte.

 

Ich blieb am Strand zurück und sah mich um. An der Seite entdeckte ich eine bekannte, kleine Gestalt, die sich zu meinem Erstaunen nicht aus- sondern anzog. Nach einem kurzen Zögern ging ich rüber zu Kurt und sprach ihn an.

 

„Was machst du denn da?“

„Ich zieh meine Badesachen an.“

 

Kurts Tonfalls machte deutlich, dass er meine Frage für ziemlich dumm hielt. Ich jedoch fand sie anhand des langärmligen Oberteils und der fast bis zu den Knien gehenden Hose nicht unangebracht.

 

„Das ist gegen die Sonne“, erklärte er, bevor er sich auch noch eine Kappe mit einem großen Schirm und einem Nackenschutz aufsetzte, der ihn aussehen ließ, als wolle er jeden Moment zu einer Tropen-Expedition aufbrechen. Als ich dachte, dass er nun endlich fertig war, kramte er jedoch tatsächlich noch eine Tube Sonnencreme heraus und begann, den kläglichen Rest seines Körpers, der nicht von Stoff bedeckt war, noch mit einer zähflüssigen, weißen Masse einzureiben. Am Ende sah er aus wie ein Dschungelforscher-Gespenst. Ich unterdrückte ein Grinsen.

 

„Willst du wirklich so ins Wasser?“

„Ja, warum?“

 

Er war anscheinend nicht auf die Idee gekommen, dass ihn dieser Aufzug zur Zielscheibe des allgemeinen Spotts machen würde. Ich hingegen war mir sicher, dass, wenn die anderen Jungs ihn so sahen, er sicherlich mehr Zeit unter als über der Wasseroberfläche verbringen würde. Unter anderem deswegen, weil ich jemand gewesen war, der in ihrem Alter genau das mit ihm gemacht hätte. Inzwischen wusste ich zwar, dass das dämlich war, aber das machte die Gefahr für Kurt nicht weniger real.

 

„Na ja, wenn deine Mütze im Wasser landet, könnte sie verloren gehen. Es ist ziemlich voll, der Grund aufgewühlt. Die findest du da nie wieder.“

 

Kurt runzelte nachdenklich die Stirn.

 

„Das ist wahr. Meine Mutter wäre bestimmt nicht begeistert. Sie hat mir die Mütze extra für die Fahrt gekauft.“

„Dann lass sie doch bei mir. Ich passe auf sie auf.“

„Okay.“

 

Er nahm die Mütze ab und gab sie mir.

 

„Und das Shirt? Meinst du nicht, dass du das auch ausziehen solltest?“

„Nein, auf keinen Fall. Dann muss ich nämlich den ganzen Oberkörper mit Sonnencreme einschmieren und ich hasse das. Die klebt immer so scheußlich.“

„Wie wäre es, wenn ich dir für das nächste Mal eine andere besorge? Eine, die nicht so klebt.“

 

Er überlegte kurz, dann nickte er.

 

„Das wäre prima.“

 

Sein kleines Geistergesicht grinste mich noch einmal an, bevor er in Windeseile zum Strand lief und ebenso wie die anderen lostobte. Irgendwie war das komisch. Ich hatte erwartet, dass er sich zurückhaltender gab, aber bis auf das Shirt sah er genau aus wie alle anderen. Ich beobachtete, wie er sich auf Benedikt stürzte und ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht, als ich sah, dass der den kleinen Fratz hochnahm und rückwärts ins Wasser warf.

 

Jetzt wäre die Mütze spätestens weg gewesen, dachte ich und drehte den hellblauen Stoff nachdenklich in den Händen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätte sie ihm jemand wiedergegeben, statt damit Ball zu spielen, wie ich gedacht hatte. Vielleicht wäre gar nichts Schlimmes passiert, wenn er einfach so geblieben wäre.

 

Das Problem ist nur, dass man das vorher nie wissen kann.

 

Bei dem Gedanken war da wieder dieses Gefühl in meinem Magen. Als hätte ich einen Stein verschluckt. Am Mittagessen, das schon eine ganze Weile zurücklag, konnte es nicht liegen. Eher an den Überlegungen, die ich die ganze Zeit vor mir herschob.

 

Die Sache mit Benedikt machte mir zu schaffen. Im ersten Moment hatte ich gedacht, dass es leicht sein würde, mich bei ihm zu entschuldigen. Ich würde ihm sagen, dass ich erkannt hatte, dass es absolut arschig gewesen war, ihn nicht anzurufen, um das mit ihm zu klären. Das war wohl der größte Fehler gewesen oder zumindest der, der am ehesten abzuwenden gewesen wäre. Wenn ich der ganzen Wahrheit die Ehre gegeben hätte, wäre wohl auch die Flucht am Morgen oder überhaupt die ganze Aktion total dämlich gewesen. Ich wusstep nicht, was ich mir dabei gedacht hatte. Vermutlich nicht viel und das war das Problem. Ich hatte mir keine Gedanken um die möglichen Folgen gemacht und hatte einfach getan, was mir als Erstes in den Sinn gekommen war. Wohin das geführt hatte, sah man ja jetzt. Was immer mich dazu gebracht hatte, Benedikt an dem Abend nicht sofort rauszuschmeißen oder zumindest in eines der Gästezimmer umzusiedeln, ich hätte es besser unter Kontrolle haben müssen. Dann wäre das alles nicht passiert.

 

Kaum hatte ich diesen Gedankengang beendet, kamen mir jedoch bereits Zweifel. Mal angenommen, er akzeptierte meine Entschuldigung. Was dann? Im ersten Moment hatte sich das so vielversprechend angehört, aber beim zweiten Darübernachdenken, erschien mir das Ganze nicht mehr so klar. Wie sollte es denn danach weitergehen? Doch auch nicht viel anders als zuvor. Momentan dachte er, dass ich ein Arschloch war, und hinterher wusste er, dass ich diese Meinung teilte. Warum um alles in der Welt sollte er sich deswegen mit mir abgeben wollen? Nur weil ich es zugab? Waren wir nicht beide besser dran, wenn ich uns das ganze peinliche Prozedere ersparte und alles so blieb, wie es jetzt war?

 

Das hast du schon mal versucht und es hat nicht geklappt.

 

Aber warum? Warum konnte ich es nicht einfach gut sein lassen? Warum machte ich mir immer noch so einen Kopf darum, was er von mir dachte? Er war doch nur irgendein Typ aus meinem Jahrgang. Also klar, ich fand ihn schon ziemlich cool. Ich war gerne mit ihm zusammen. Gewesen. Denn seit dem das mit uns passiert war, hatten wir ja keine Zeit mehr miteinander verbracht. Vorher hatten wir wenigstens noch ab und an mal miteinander geredet. Es hatte Tage gegeben, da hatte ich in irgendeiner langweiligen Stunde gesessen und immer wieder sehnsüchtig auf die Uhr geschaut, weil ich darauf gewartet hatte, ihn in der großen Pause wiederzusehen. Manchmal hatte ich auch Umwege durch das Schulhaus genommen, weil ich gewusst hatte, dass er in einen bestimmten Raum zum Unterricht musste und wir uns so über den Weg laufen würden. An anderen Tagen hatte ich mich entweder beeilt oder getrödelt, weil ich mir Chancen ausgerechnet hatte, ihm im Fahrradkeller zu begegnen. Nicht zu oft. Nicht so, dass es auffiel. Aber manchmal hatte ich wegen irgendetwas einfach an ihn denken müssen. Meine Ausreden, warum ich ihn angesprochen hatte, waren vermutlich ein wenig durchschaubar gewesen. Benedikt war schließlich nicht dumm. Aber ich hatte einfach ein bisschen Zeit mit ihm verbringen wollen. Hatte mich versichern wollen, dass trotz Mia alles okay zwischen uns war. Und bis zu diesem Abend war es das auch noch gewesen. Bis ich alles kaputt gemacht hatte.

 

Meine Hände sind kalt, dein Blick ist es auch

Wellen schlagen immer höher gegen meinen Bauch

Das Wasser steigt an, bald ertränkt es mich

Ich vermisse dich

 

Worte verbarrikadieren sich in meinem Mund

Verbiegen sich und brechen, werden hart statt rund

Bleiben stecken, kommen nicht raus, sie ersticken mich

Ich vermisse dich

 

Gib mir noch ein bisschen Zeit, gib mir eine Chance

Lass mich irgendetwas tun, damit das mit uns

Noch nicht zu Ende ist, noch ein bisschen weiterlebt

Bevor es fällt und geht

 

Damals wusste ich noch nicht, was mir wichtig ist

Hab nicht ernst genug genommen, dass nur du es bist

Ich habe dich verletzt, hab dir wehgetan

Die Anklage steht mir an

 

Wenn ich nur irgendwie könnte, wäre ich wieder da

Als das „Uns“ noch existierte, als ich glücklich war

Wir würden lachen und du wärst ein Freund für mich

Ich vermisse dich

 

Gib mir noch ein bisschen Zeit, gib mir eine Chance

Lass mich irgendetwas tun, damit das mit uns

Noch nicht zu Ende ist, noch ein bisschen weiterlebt

Bevor es fällt und geht

 

Gib mir noch ein bisschen Zeit, gib mir eine Chance

Lass mich irgendetwas tun, damit das mit uns

wieder zu dem wird, was es einmal war

Denn jetzt seh ich klar

 

Dass ich ehrlich sein muss für das, was ich will

Dass die Welt sich weiterdreht, nur ich stehe still

Ich komme nicht vom Fleck, entferne mich von dir

Bitte bleib bei mir

 

Ich hatte die Worte nur in meinem Kopf, aber als hätte er sie gehört, drehte Benedikt in diesem Moment den Kopf in Richtung Strand. Unsere Blicke begegneten sich und hielten sich einen Augenblick lang fest. Es war flüchtig, nur ein winziges Zögern, bevor er sich abwandte. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Da war noch etwas zwischen uns. Etwas, dass vielleicht noch nicht tot und gestorben war. Etwas, dass ich wiederbeleben konnte, wenn ich mich nur genug anstrengte. Wenn ich endlich herausfand, was ich sagen oder tun musste, damit er mir verzieh.

 

Aber was?

 

Was war es, dass es wieder gut machen würde? Was wollte er hören? Er hatte die Frage doch nicht einfach so gestellt. Es musste irgendetwas geben, das ich tun konnte. Es musste einfach.

 

Vielleicht sollte ich es tatsächlich mal mit Singen probieren.

 

Der Gedanke war einerseits lächerlich, aber andererseits vielleicht das Einzige, was tatsächlich noch etwas bewegen konnte. Wenn ich sang, wurde es leichter, Dinge auszudrücken, die sonst nicht über meine Lippen kamen. Doch ihm ein Lied vorzutragen, in dem ich offen zugab, dass ich etwas für ihn empfand …

 

Ich keuchte auf, als der Gedanke einfach so durch meinen Kopf stolperte. Dass ich … was? Mein Herz klopfte so laut, dass ich die Befürchtung hatte, damit den Schlagrhythmus eines Wikingerbootes bestimmen zu können. Fast hätte ich den Kopf geschüttelt. Das konnte nicht sein. Ich … also ich war doch nicht … Er war ein Kerl. Ich war doch auf gar keinen Fall in ihn … Das konnte nicht sein. Ich hatte doch Mia. Ich hatte eine Freundin. Ich war nicht … anders. Nein, auf gar keinen Fall.

 

Nur weil er ein bisschen anders ist ...“

 

Die Stimme meiner Mutter.

 

Du bist eben anders.“

 

Mein Vater.

 

Manchmal bist du ganz schön schräg.“

 

Christopher.

 

Du bist so anders als die anderen.“

 

Mia.

 

Und dann war da auf einmal Jos wutverzerrtes Gesicht vor mir. Jo, der mich anschrie.

 

Weil er eine scheißschwule Schwuchtel ist!“

 

Das kalte Entsetzen, das mich damals gepackt hatte, legte sich erneut über mich. Nie hatte ich gedacht, dass mein bester Freund so reagieren würde. Allein der Gedanke, was er sagen würde, wenn er es erfuhr, ließ mich beinahe zusammenbrechen. Ich fühlte die Kopfschmerzen herannahen, noch bevor ich sie wirklich spürte. Vor meinen Augen flimmerte es.

 

Das war zu viel. Einfach viel zu viel. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich den Gedanken wieder in die Kiste hätte zurückstopfen können, aus der er hervorgequollen war. Doch die Kiste war randvoll gefüllt. Mit all den Bildern, den Erinnerungen, den Dingen, die ich mir ausgemalt hatte, den Fantasien, den heimlichen Blicken, den noch heimlicheren Internetsuchen, den zusammengeknüllten Taschentüchern, den unterdrückten Seufzern und Sehnsüchten. All das hatte ich so lange zurückgehalten, wie ich konnte, doch jetzt war kein Platz mehr auf meinem geheimen Speicher. Ich würde die Flut nicht mehr aufhalten können. Sie würde hervorbrechen und mich unter sich begraben. Ich würde untergehen und mich verlieren. Alles, was mich ausmachte, würde verschwinden und jemanden zurücklassen, den ich nicht kannte. Den niemand mehr wollte.

 

Erneut ächzte ich lautlos. Die Welt um mich herum schien sich zu drehen. Ich konnte das nicht. Ich durfte das nicht zulassen. Ich musste mich zusammenreißen. Musste es hinkriegen. Irgendwie.

 

„Theo?“

 

Ich schrak zusammen, als Annett mich ansprach. Sie sah besorgt aus.

 

„Geht es dir gut? Du bist so blass.“

„Ich …“

 

Ich überlegte zu lügen. Es abzustreiten. In meinem Kopf pochte es.

 

„Ich hab ziemliche Kopfschmerzen.“

„Von der Sonne?“

 

Annett runzelte die Stirn.

 

„Vielleicht solltest du dich lieber hinlegen.“

„Ja, vielleicht.“

„Und trink was.“

„Ja, mache ich.“

„Ich sehe nachher mal nach dir.“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass das nicht notwendig war, doch dann nickte ich nur dankbar, bevor ich mich umdrehte und langsam die Böschung hinaufstieg. Hinter mir hörte ich das fröhliche Gelächter der Kinder. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder zurückgegangen. Aber so, wie ich jetzt gerade drauf war,wäre ich wohl ohnehin keine große Hilfe gewesen. War es da nicht wirklich besser, wenn ich mich erst mal ausruhte? Nur ein kleines bisschen. Danach würde es wieder gehen. Ganz bestimmt.

 

Wie in Trance ging ich zu den Zelten zurück. Wieder war ich ganz allein hier, doch dieses Mal war ich nicht auf der Flucht. Ich wusste, mir selbst würde ich nicht entkommen können. Stattdessen nahm ich, nachdem ich mich hingelegt hatte, mein Handy zur Hand. Ich wartete, bis es hochgefahren war, und betrachtete dann nachdenklich das Display.

 

Auf dem Sperrbildschirm war ein Foto von Mia und mir. Ein Schnappschuss, den Mia mir dorthin gespeichert hatte. Ganz kurz leuchtete mir das Bild noch entgegen, bevor das Display dunkel wurde. Ich tippte kurz mit dem Finger dagegen, um das Bild zurückzuholen. Es war aus dem letzten Sommer von meiner Geburtstagsfeier. Ich hatte Mia im Arm und wir grinsten beide in die Kamera. Sie hatte an dem Tag ein weißes Kleid getragen. Eigentlich viel zu fein für das einfache Kaffeetrinken, das meine Eltern an dem Tag veranstaltet hatten. Da ich abends noch mit meinen Freunden feiern wollte und nun wirklich schon zu alt war für irgendwelche Geburtstagskuchen, hatten wir einfach nur unsere normale Nachmittagsmahlzeit nach draußen verlegt und Mia war vorbeigekommen, um den Tag mit mir zu verbringen.

 

Ich wusste noch, wie verführerisch sie mich danach angelächelt hatte. Wie ich ihr später im Zimmer die Träger des Kleides abgestreift und sie geküsst hatte. Wie wir kurz darauf miteinander im Bett gelegen hatten und ich sie gefragt hatte, ob sie das tun würde. Das, was er getan hatte. Sie hatte mir meinen Wunsch erfüllt. Zum Geburtstag. Ich hatte versucht, mich darin fallen zu lassen, doch es war nicht das Gleiche gewesen. Ich hatte dabei die ganze Zeit an ihn denken müssen und das Ganze nach einer Weile mit irgendeiner netten Ausrede beendet. Ich war mir so dämlich vorgekommen.

 

Aber das kann ich ihm nicht sagen, dachte ich und drehte mich auf den Rücken, um blicklos gegen das Dach des Zeltes zu starren. Es wäre Mia gegenüber nicht fair gewesen. Denn ich war gern mit ihr zusammen. Ich liebte sie. Und die Tatsache, dass ich manchmal davon träumte, mit jemand anderem ins Bett zu gehen, machte mich doch nicht zu einem Betrüger.

 

Noch während ich das dachte, wusste ich, dass es nicht stimmte. Mia und ich waren ein Paar gewesen, als das mit Benedikt passiert war. Im Grunde genommen hatte ich sie also schon betrogen. Nur einmal zwar und ich hatte es bitter bereut, aber das machte es nicht weniger falsch.

 

Ich presste die Hände gegen meine Augen und stöhnte.

 

„Ich bin so ein furchtbarer Mensch.“

 

Leider erhob niemand Einwände dagegen und so verbrachte ich die Zeit damit, einfach nur dazuliegen und mir auszumalen, wie mein Gespräch mit Benedikt wohl verlaufen würde, bis ich irgendwann die anderen vom See zurückkommen hörte, weil es Zeit fürs Abendessen wurde.

 

 

Zusammen mit einem Haufen fröhlich durcheinanderredender Kinder saß ich kurz darauf an einem der mit Broten, Belag und frischem Gemüse gedeckten Achter-Tische. Es gab reichlich Gesprächsstoff zwischen den verschiedenen Vormittags-Gruppen, aber alle waren sich einig, dass das Baden am Nachmittag am besten gewesen war. Während das Gespräch zu irgendwelchen Fortnite-Skins wechselte, richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf Benedikt, der zwei Tische weiter mit dem Rücken zu mir saß und aß. Ich wollte den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem er damit fertig war. Im Gegensatz zu mir schien er einen guten Appetit zu haben und langte bereits das dritte Mal zu, während ich immer noch meine erste Brotscheibe auf dem Teller hatte, von der ich nicht einmal abgebissen hatte.
 

„Isst du gar nichts?“, fragte mich Tim, einer der Zwillinge aus meinem Zelt.

 

„Ich hab heute keinen so großen Hunger“, meinte ich abwesend und nahm mir alibimäßig ein Stück Gurke, bevor ich mich wieder ans Beobachten machte. Ich musste nicht mehr lange warten, bis Benedikt sich erhob. Er trug seinen Teller in den vorderen Teil des Raumes, wo hinter einer breiten Durchreiche der Küchenbereich lag. Ordnungsgemäß legte er das Besteck in den einen, Glas und Teller in die beiden anderen Plastikkörbe.

 

„Ich bin gleich wieder da“, erklärte ich und erhob mich, um ihm zu folgen. Kurz hinter dem Eingang fing ich ihn ab.

 

„Äh, Benedikt? Hast du wohl einen Augenblick Zeit für mich?“

 

Er sah nicht begeistert aus, blieb aber immerhin stehen.

 

„Was gibt es denn?“

„Es geht um das von heute Vormittag.“

 

Sofort wurde sein Gesicht finsterer.

 

„Muss das jetzt sein? Ich wollte eigentlich noch duschen gehen.“

 

Einen Moment lang war ich in Versuchung, ihm zu sagen, dass ich noch warten konnte – ein paar Tage oder Wochen, wenn es sein musste – aber dann gab ich mir selbst einen Ruck.

 

„Ich würde gerne jetzt mit dir reden. Es dauert auch nicht lange.“

 

Er sah zur Seite; schien zu überlegen, bevor er nickte.

 

„Na gut. Aber mach’s kurz, ja?“

 

Ich versprach, ihn nicht lange aufzuhalten, und er folgte mir, als ich den Weg zum Parkplatz einschlug. Die meisten Kinder waren noch beim Essen oder in den Zelten, sodass hier wenig Betrieb herrschte. Bei dem großen Stein angekommen, auf dem Reike gestern gesessen hatte, hielt ich an und drehte mich zu ihm herum.

 

„Also schön. Ich höre?“, sagte er immer noch abweisend.

 

„Ich … also du hast mich heute gefragt, was genau mir leidtut. Und eigentlich kann ich dir das immer noch nicht sagen.“

 

Er gab so etwas wie ein „War ja klar“ von sich und machte Anstalten sich umzudrehen.

 

„Bitte warte“, sagte ich schnell. „Ich habe das nicht gesagt, weil mir nichts eingefallen ist, sondern weil ich nicht weiß, was von dem, was ich gemacht habe, eigentlich das Schlimmste ist. Als ich dich in meinem Bett gefunden habe, ist irgendeine Sicherung bei mir durchgebrannt. Das will ich jetzt nicht als Entschuldigung nehmen, denn ich hätte das trotzdem nicht tun sollen. Die Situation ausnutzen, meine ich. Auch wenn ich dank meines Alkoholpegels vielleicht nicht mehr so ganz zurechnungsfähig war. Und dann hätte ich mich am nächsten Tag nicht so wegschleichen dürfen. Und ich hätte dich anrufen müssen. Aber ich war so … verwirrt. Und ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Deswegen habe ich es immer wieder vor mir hergeschoben, bis es irgendwann zu spät war. Aus diesem Grund denke ich, dass es fast das Schlimmste war, dass ich dich in dem Glauben gelassen habe, dass ich dich nicht anrufen wollte. Denn das wollte ich. Ich hab’s nur einfach nicht hinbekommen.“

 

Benedikt hatte das Gesicht abgewandt, sodass ich nicht sehen konnte, wie meine Entschuldigung bei ihm angekommen war. Ich presste die Fingernägel in meine Handflächen und wartete. Darauf, dass er irgendetwas tat oder erwiderte. Aber er sagte nichts.

 

Irgendwann räusperte ich mich.

 

„Die Tabletten hab ich übrigens weggeworfen. Da kann also nichts mehr passieren.“

 

Es dauerte noch einen Augenblick, dann nickte er langsam.

 

„Das ist gut. Für Kinder kann das echt gefährlich werden.“

„Ich glaube nicht, dass die jemand mit Bonbons verwechselt hätte …“

 

Er fuhr herum.

 

„Es war aber eine Anweisung und du hast dich nicht dran gehalten. Du glaubst immer, dass für dich die Spielregeln nicht gelten, dabei bist du auch nur ein Mensch wie alle anderen.“

 

Ich schluckte. Er sah so wütend aus.

 

„Ja, ich weiß“, erwiderte ich leise. „Eigentlich bin ich sogar ein ziemlich furchtbarer Mensch. Ich habe mich dir gegenüber wie der totale Arsch verhalten und das tut mir leid.“

 

Er atmete tief durch.

 

„War das alles oder kommt da noch mehr?“

 

Ich zog den Kopf zwischen die Schultern.

 

„Nein, das war alles.“

 

Enttäuscht biss ich mir auf die Innenseite der Wange. Ich hatte irgendwie gedacht, dass es besser laufen würde. Aber vielleicht war das hier das Beste, was ich bekommen konnte. Das Beste, was ich verdient hatte.

 

„Ich geh dann mal wieder.“

 

Er wandte sich zum Gehen, um mich wieder stehen zu lassen, doch dieses Mal hielt ich ihn zurück. Meine Hand prickelte, wo sie seinen Arm berührte. Ich hatte ganz automatisch nach ihm gegriffen. Als mir das auffiel, ließ ich ihn los und sah ihn unsicher an.

 

„Würdest du mir noch eine Frage beantworten?“

 

Er seufzte.

 

„Wenn es sein muss.“

 

Ich leckte mir über die Lippen. Das hier hatte ich nicht geplant, aber wenn schon alles zum Teufel ging, dann wenigstens richtig. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Also öffnete ich den Mund und stellte die Frage, die mir gerade erst in den Kopf gekommen war. Ich musste es einfach wissen.

 

„Warum bist du damals in meinem Zimmer gewesen?“

...erfordern ehrliche Antworten

Benedikt antwortete nicht sofort. Sein Schweigen ließ ein Kribbeln meine Wirbelsäule hinablaufen. Warum sagte er denn nichts?

 

„Wieso willst du das wissen?“, fragte er irgendwann, als ich schon gar nicht mehr mit einer Fortsetzung des Gespräches gerechnet hatte.

 

Ich atmete schneller. Mein Herz klopfte in meinen Ohren.

 

„Nur so“, sagte ich und versuchte dabei lässig zu klingen. „Ich meine, wenn du nicht da gewesen wärst, wäre das alles vermutlich nie passiert.“

 

„Ach, jetzt ist es also meine Schuld?“, brauste er auf.

 

Ich erlaubte mir ein kleines Lächeln. Beschwichtigend.

 

„Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass es nicht passiert wäre, wenn du nicht in meinem Bett gelegen hättest. Also … wieso warst du dort?“

 

Er atmete hörbar aus. Strich sich mit der Hand über das Gesicht.

 

„Ich glaube nicht, dass wir diese Unterhaltung hier führen sollten.“

„Und wo dann?“

 

Benedikt öffnete den Mund, dann schüttelte er auf einmal den Kopf.

 

„Du bist echt unglaublich“, murmelte er. „Unglaublich dumm, unglaublich dreist und unglaublich von dir selbst überzeugt. Kann das sein?“

 

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Also schwieg ich und sah ihn nur an. Wieder schüttelte er den Kopf, doch dieses Mal verzog er dabei noch das Gesicht.

 

„Warum denkst du, dass ich dir jetzt hier Rede und Antwort stehe? Weil du dich entschuldigt hast? Über ein Jahr später? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

 

Ich schluckte und sah zu Boden. Er machte wieder Anstalten zu gehen.

 

„Benedikt.“

 

Mein Ton spiegelte nicht im Geringsten wieder, wie es mir gerade ging.

 

„Was, Theodor? Was ist denn so wichtig daran, warum ich dort war?“

„Weil … weil ich …“

„Weil du was?“

 

Wieder fehlten mir die Worte. Ich konnte einfach nicht sagen, was los war. Ich konnte nicht. Meine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten.

 

„Wenn es so unwichtig war, warum sagst du es mir dann nicht?“, blaffte ich Benedikt aus dem Nichts heraus an. „Warst du zu besoffen, um den Rückweg vom Klo zu finden, oder was?“

 

Er sah mich an und in seinem Gesicht stand plötzlich Verachtung.

 

„Du solltest nicht von dir auf andere schließen.“

 

Damit ließ er mich stehen und rauschte ab in Richtung Zeltplatz. Wie vor den Kopf geschlagen blieb ich zurück und starrte ihm hinterher. Warum hatte ich das gemacht? Ihn so anzufahren, war das Letzte, was ich gewollt hatte. Ich war so ein Idiot. So ein dreimal verfluchter Idiot. Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen, aber das wäre nun wirklich erbärmlich gewesen. Nicht nur, dass ich mich damit total lächerlich gemacht hätte. Ich hätte ihn auch noch bedrängt. Dabei wollte ich doch nur … ich wollte …

 

Nicht einmal mehr in Gedanken sinnvoller Worte mächtig, trat ich mit voller Wucht gegen den großen Stein, der neben mir lag. Ich zischte, als der Schmerz durch meinen Fuß direkt weiter mein Bein hinaufschoss. Trotzdem tat es gut, sich nur darauf konzentrieren zu können. Ich war kurz davor noch einmal zuzutreten, als plötzlich ein Auto auf den Parkplatz fuhr. Der Kies knirschte unter den Reifen und das Motorengeräusch erstarb, als es an einer Stelle in der Nähe hielt.

 

Annett öffnete die Fahrertür, ging um das Auto herum und hielt dort die zweite Tür auf, um ihrem Fahrgast beim Aussteigen zu helfen. Es war Ronya. Sie humpelte und hatte offenbar Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Um ihren Fuß lag ein dicker, weißer Verband.

 

„Hey, ihr beiden!“, rief ich und beeilte mich zu ihnen zu stoßen.

 

„Hey, Theo!“, grüßte Ronya mich und wirkte plötzlich verlegen.

 

„Was hast du denn gemacht?“, wollte ich wissen und zeigte auf ihre Verletzung.

 

„Sie ist auf eine Scherbe getreten“, antwortete Annett an ihrer Stelle. „Ich bin daher mit ihr ins Krankenhaus gefahren, um untersuchen zu lassen, ob noch ein Fremdkörper in der Wunde ist. Es war zwar zum Glück nichts mehr zu finden, aber man kann ja nie wissen.“

 

„Tja, und jetzt bin ich ein Hinkebein“, erklärte Ronya und hob die Achseln. „Kann man nichts machen. In ein paar Tagen geht es bestimmt wieder, aber Schwimmen fällt definitiv erst mal aus.“

 

„Soll ich dir helfen?“, fragte ich und bot ihr meinen Arm an.

 

„Gerne“ erwiderte sie und ließ sich von mir stützen, während Annett das Auto verriegelte und dann zu uns aufschloss. Sie bedachte mich mit einem prüfenden Seitenblick.

 

„Bei dir auch wieder alles klar?“

 

Es dauerte einen Augenblick, bis mir einfiel, dass sie sicherlich meine Kopfschmerzen vom Nachmittag meinte.

 

„Ja, ich bin wieder fit.“

„Keine Kopfschmerzen, Schwindel oder Übelkeit?“

„Nein, alles prima.“

 

Annett nickte zufrieden.

 

„Gut. Falls noch was sein sollte, kannst du jederzeit zu mir kommen. Nur für heute Abend wäre es nett, wenn erst mal Schluss mit den Notfällen wäre.“

„Ich werde mein Möglichstes tun.“

 

Ich brachte Ronya zu ihrem Zelt, wo sie von ihren Mädchen stürmisch begrüßt wurde. Alle wollten wissen, wie es ihr ging, was der Arzt gesagt hatte, ob sie große Schmerzen hatte und so weiter. Ich verabschiedete mich daher schnell und trat nach draußen. Eine Gestalt kam mir entgegen. Ich stockte, als ich sah, dass es Benedikt war. Er trug ein Handtuch und seine alten Sachen in der Hand. Er selbst steckte in einer frischen Jeans und einem dunkelblauen, bedruckten T-Shirt. Seine Haare waren noch feucht.

 

Als er mich sah, runzelte er kurz die Stirn und schüttelte unmerklich den Kopf, bevor er ohne ein weiteres Wort an mir vorbeiging. Ich sah ihm nach und wusste nicht, was das jetzt schon wieder gewesen sein sollte. Bevor ich mir jedoch weiter Gedanken darüber machen konnte, kam schon Wolfgang mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

 

„Ah, Theo, da bist du ja. Ich hab schon gedacht, wir müssten den Abend ohne musikalische Untermalung bestreiten. Annett hat mir erzählt, dass es dir nicht gut geht.“

 

„Nein, nein, alles bestens“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich war nur heute Nachmittag nicht ganz auf der Höhe. Hab mich ausgeruht, jetzt geht es wieder.“

 

„Prächtig. Dann hol am besten gleich mal deine Gitarre. In 20 Minuten wollen wir anfangen.“

 

Ich nickte und machte mich auf zum Betreuerheim, um mich kurz darauf zusammen mit meinem Instrument in den Strom der Kinder einzureihen, die in kleinen Gruppen zum Lagerplatz gingen. Schon von weitem konnte man die Flammen sehen, die inmitten des festgetretenen Platzes vor sich hin loderten. Drumherum hatten sich die Anwesenden die bereitliegenden Bänke und Campingstühle in mehreren hintereinanderliegenden Reihen zurechtgerückt.

 

„Wow, das ist ja geil“, rief ein Junge aus einer der mittleren Gruppen. Er und seine Freunde wollten sofort zum Feuer laufen, wurden jedoch von Thies davon abgehalten.

 

„Nur Betreuer machen Feuer“, gab er eine der Lager-Regeln wieder und scheuchte die Kiddies zurück auf ihre Plätze. Ich selbst stand ein wenig unschlüssig herum. Sollte ich mich jetzt einfach irgendwohin setzen? Oder hatte Wolfgang vor, mich irgendwo zu platzieren?

 

„Hey, Theo, nimm dir nen Stuhl. Die kosten nichts extra.“

 

Allgemeines Gelächter begleitete Kilians dummen Kommentar, den ich nur zu gerne mit einem ausgestreckten Mittelfinger bedacht hätte. Stattdessen grinste ich.

 

„Danke für den Hinweis. Ich hab schon die Parkuhr gesucht, um ne Münze einzuwerfen.“

 

Der Spruch war zwar nicht besonders witzig, aber die größeren Mädchen in der ersten Reihe kicherten trotzdem, als hätte ich einen großen Lacher gerissen.

 

„Du kannst gerne zu uns kommen“, riefen sie und rückten prompt auseinander.

 

„Nein danke, ich brauche Platz zum Spielen“, wimmelte ich sie ab und nahm mir einen der faltbaren Campingsitze, um mich in der Nähe des Eingangs niederzulassen.

 

Immer mehr Leute strömten auf den Platz und so langsam wurde es wirklich voll. Susanne, wieder in eines ihrer wallenden Outfits gehüllt, gesellte sich zu mir. Sie hatte ebenfalls eine Gitarre dabei und versprach, mich nach Möglichkeit zu unterstützen.

 

„Hier sind die Akkorde, falls du schauen willst“, sagte sie und hielt mir ein Notenblatt hin. Weitere Kopien davon wurden bereits durch die Reihen gereicht. Das Repertoire war überschaubar und nichts, was große Fingerfertigkeit erfordert hätte. Trotzdem probierte ich ein, zwei der Lieder kurz aus, bevor ich das Blatt vor mich auf den Boden legte. Prompt wurde es von einem Windstoß erfasst und wollte davon fliegen. Schnell stellte ich meinen Fuß darauf und hob es wieder auf.

 

„Wir haben nicht zufällig Notenständer?“, fragte ich Susanne, die lachend verneinte.

 

„Frag doch eines der Kinder, ob es dir die Noten hält“, meinte sie und ich sah mich suchend um. Die Mädchen hätten sich vermutlich darüber gefreut, aber ich wollte eigentlich keines dieser kichernden Lieschen hier haben. Am liebsten hätte ich Kurt gefragt, aber da ich ihn nirgends in meiner Nähe entdecken konnte, nahm ich mit dem Jungen vorlieb, der neben mir saß.

 

„Du bist Jasper, oder?“, kramte ich seinen Namen aus meinem Gedächtnis. Er nickte stumm.

 

„Magst du mir die Noten halten, während ich spiele?“

 

Er schien nicht begeistert, nahm aber gehorsam das Papier entgegen und schlug es auf.

 

„Was zuerst?“

 

„Mal sehen, womit wir anfangen“, antwortete ich leichthin und schenkte ihm ein Lächeln.

 

Dass mein Blick in dem Moment an ihm vorbeiging und sich an Benedikt heftete, der von mir unbemerkt den Lagerplatz betreten und sich in eine der hinteren Reihen durchgemogelt hatte, war nicht beabsichtigt gewesen. Benedikt war gerade dabei, sich neben Kilian zu setzen. Der Ausdruck auf meinen Lippen kam zum Erliegen. Reichte es denn nicht, dass Kilian mich vorhin so blöde angemacht hatte? Musste sich Benedikt auch noch ausgerechnet neben ihn setzen? Und nicht genug dieser Tatsache, sah Benedikt jetzt zu mir rüber und bekam meinen vermutlich leicht entgeisterten Ausdruck auch noch mit.

 

Schnell wandte ich den Kopf ab und sah wieder nach vorne zum Feuer. Meine Wangen glühten und ich schob es schnell auf die Hitze, die mir von dem brennenden Holzstapel entgegenschlug. Ich konnte nur hoffen, dass die Intensität irgendwann etwas abnahm, sonst würden die Haare auf meinen Schienbeinen bald anfangen sich zu kräuseln. Ich begann zu verstehen, warum die meisten Kinder trotz der noch nicht unangenehmen Temperaturen bereits in lange Kleidung gesteckt worden waren. Es war weniger ein Kälte- als vielmehr ein Hitzeschutz. Wenigstens vorerst.

 

Kaum hatte ich das gedacht, stürmten auf einmal zwei mit hölzernen Schwertern und bunt bemalten Schilden bewaffnete Gestalten an mir vorbei. Sie brüllten und schrien und gebärdeten sich wie toll. Ich brauchte jedoch nicht lange, um unter der wilden Wikinger-Verkleidung mit den tiefgezogenen Helmen und fellbedeckten Umhänge Sönke und Stephan zu erkennen. Auch die Kinder, die zuerst erschrocken geguckt hatten, begannen zu lachen. Die beiden tobten noch eine Weile herum, ermunterten die Kinder zum Mitmachen und hatten die Meute schon bald auf einen gemeinsamen Schlachtruf eingeschworen. Jedes Mal, wenn einer der beiden „Zeltlager?“ in die Runde brüllte, antwortete die Meute mit einem einstimmigen „Moin-Moin!“

 

Es folgte eine Fragerunde, in der die beiden die Kinder erzählen ließen, was sie über Wikinger wussten und wer denn schon einmal ein richtiger Wikinger sein wollte. Ich wusste schon von der Teambesprechung, dass das die Einleitung für den in den nächsten Tagen stattfindenden Workshop sein würde und so blendete ich die beiden Spaßvögel irgendwann aus und versuchte stattdessen unauffällig zu Benedikt rüberzuspähen, der durch seine Größe unübersehbar zwischen den Kindern aufragte. Er hatte seinen Blick nach vorn gerichtet und war anscheinend voll in dem gebotenen Programm versunken, als sein Kopf auf einmal herumschwenkte und er mir voll in die Augen sah. Schnell drehte ich den Kopf weg, nur um mich mit zwei mir zugewandten Wikingern konfrontiert zu sehen. Auch der Rest der Anwesenden starrte mich an und ich bemerkte, dass Susanne neben mir in die Runde winkte. Anscheinend hatte irgendwer etwas gesagt, um zum musikalischen Teil des Abends überzuleiten, und ich hatte es prompt verpasst.

 

Ich rettete mich in ein unterkühltes Nicken und nahm zur Sicherheit meine Gitarre auf den Schoß. Prüfend ließ ich die Finger über die Saiten gleiten. Sofort merkte ich, wie ich ruhiger wurde. Das hier war vertrautes Terrain.

 

„Wir beginnen mit unserer Lager-Hymne“, rief Sönke und ich sah eilig auf das erste Blatt des Notenheftes, wo der vermutlich selbst verfasste Text abgedruckt war. Dass das Ganze auf „I like the flowers“ gedichtet war, würde es für die Kinder einfacher machen, spätestens beim Refrain einzufallen.

 

Stille breitete sich aus, Susanne zählte vor und dann begannen wir zu spielen. Susanne hatte die zweite Stimme übernommen, sodass ich die Melodie des Ganzen trug. Für einen Moment schloss ich die Augen. Blendete alles aus und konzentrierte mich nur auf das Spielen. Die Stimmen der Kinder mischten sich in die Gitarrenklänge und schon bald hörte das Ganze tatsächlich nach einem einigermaßen annehmbaren Chor an. Ich spürte, wie ich zu lächeln begann. Die Lyrics waren nicht anspruchsvoll, aber jemand hatte sich Mühe gegeben, einigermaßen kreative Reime zu finden, und so sang auch ich irgendwann mit. Dem ersten folgte ein zweites Lied und auch wenn mich das verliebte Stachelschwein so gar nicht interessierte, war es doch beruhigend, etwas zu haben, an dem ich mich festhalten konnte. Das hier konnte ich. Darin war ich gut.

 

 

Als auch die letzte Strophe beendet war, hatte ich mich so weit wieder in der Gewalt, dass ich das anschließende Gruppenspiel mitmachen konnte. Während Reike und Melina die Kinder antrieben, auf der Jagd nach einem wilden Quietschie allerlei Hindernisse pantomimisch zu überwinden, löste sich zum ersten Mal der Knoten, den ich schon die ganze Zeit in meinem Magen gehabt hatte, ein wenig. Zwar war mir immer noch bewusst, dass es eigentlich total lächerlich war, was ich hier tat, trotzdem klatschte und trampelte und bewegte ich meine Arme in großen Kreisen, weil ich ja soooo viele Freunde hatte. Ich ließ meine Muskeln spielen, schwamm durch imaginäre Teiche und durchquerte ausgedachte Pilzfelder, nur um am Ende auf der Flucht vor dem Unhold alle Hindernisse im Eiltempo in umgekehrter Reihenfolge noch einmal zu überwinden. Dass unausweichliche „Nochmal“-Geschrei, das dann folgte, wurde jedoch zum Glück abgewiegelt und stattdessen wieder gesungen. So verging der Abend im Wechsel zwischen Spielen, Vorführungen und Gesang, bis die ersten Kinder anfingen zu gähnen.

 

„So, Schluss für heute. Schlafenszeit!“, rief Susanne in die Runde und erntete natürlich reichlich Protest. Es sei ja noch niemand müde und überhaupt wäre es doch gerade so schön.

 

„Na gut“, meinte sie lachend. „Dann singen wir noch ein letztes Lied. Welches wollt ihr?“

 

Sofort wurden von allen Seiten Rufe laut, wobei die Mehrheit sich klar für das Stachelschwein aussprach. Ich rollte innerlich mit den Augen, stimmte jedoch brav die Akkorde an, für die ich inzwischen alleine verantwortlich war. Während also das Stachelschwein schon wieder den Stachelschweinerich nicht ranließ, hatte ich auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Im Schutz der bereits fortgeschrittenen Dämmerung, ließ ich meinen Blick unauffällig nach links gleiten.

 

Benedikt saß immer noch dort, wo er seit Beginn des Abends Platz genommen hatte. Da er weit vom Feuer wegsaß, hatte er inzwischen die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen und verschwamm bis auf das Gesicht mit den Schatten im Hintergrund. Sofort musste ich wieder an den ersten Abend unserer Klassenfahrt denken. Wie er da draußen im Regen gestanden hatte, bis ich ihn genötigt hatte, zum Rest der Klasse hereinzukommen. Wir hatten an dem Abend so viel Spaß gehabt. Sogar bei diesem dusseligen Fragespiel, das wir hinterher zusammen mit einigen anderen bei ihm im Zelt gespielt hatten. Wenn ich daran dachte, was sich später daraus ergeben hatte, wünschte ich fast, ich wäre wieder da. Vielleicht hätte ich dann einiges anders gemacht.

 

„So, jetzt geht es aber ins Bett“, rief Susanne da plötzlich neben mir und erhob sich ebenso wie die anderen Betreuer, um die murrenden Kinder zu ihren Schlafstätten zu treiben.

 

„Und richtig Zähne putzen und nicht nur die Bürsten unters Wasser halten“, rief Kilian über den Platz und wurde dafür wieder mit Gelächter belohnt. Auch ich rang mir ein kleines Lächeln ab. Es gehörte wohl dazu.

 

„Theo? Kümmerst du dich noch mit ums Feuer und die Stühle?“

 

Wolfgang sah mich fragend an und ich bejahte. Während ich noch die Sitze zusammenfaltete und an einen zentralen Platz brachte, wo sie den Tag über mit einer großen Wäscheleine gesichert wurden, hörte ich das Scheppern von zwei großen Eimern, die offenbar schwer beladen näher kamen. Nur Augenblicke später schälte sich eine bekannte Gestalt aus dem Dunkel. Ich erstarrte.

 

Benedikt hingegen würdigte mich keines Blickes, sondern steuerte nur schnurgerade auf das Feuer zu, wo er erst den einen und dann den zweiten Blecheimer über den bereits heruntergebrannten Holzstücken leerte. Es zischte und eine Dampfwolke stob in den sich immer weiter verdunkelnden Himmel. Benedikt warf noch einen prüfenden Blick auf seine Löscharbeit und drehte sich dann um, wohl um die Eimer wieder zurückzubringen. Allerdings stand ihm jetzt jemand im Weg.

 

„Ich hätte dir helfen können“, sagte ich vorsichtig.

 

„Nicht notwendig. Ich schaff das schon.“

„Okay. Nächstes Mal vielleicht?“

 

Er brummte etwas, das sowohl Zustimmung wie auch Ablehnung sein konnte. Ich sah ein, dass ich heute nicht mehr erwarten konnte. Also trat ich demonstrativ einen Schritt beiseite, um ihn durchzulassen. Er warf mir noch einen finsteren Blick zu, bevor er mit den Eimern zusammen wieder in der Dunkelheit verschwand. Ich blieb zurück und seufzte kaum hörbar. Das würden wirklich sehr lange drei Wochen werden.

 

Unwillig, mich jetzt schon ins Zelt zu begeben, ließ ich mich auf eine der großen Bänke sinken. Jetzt, wo das Feuer aus war, merkte man deutlich die frischeren Temperaturen.

 

Ich hätte eine lange Hose anziehen sollen, dachte ich bei mir, machte jedoch keinerlei Anstalten, mich zu erheben. Stattdessen griff ich nach meiner Gitarre, die ich zum Anfang der Aufräumarbeiten hier abgelegt hatte. Ich zog sie noch einmal aus ihrer Hülle und legte meine Finger auf die Saiten. Ich begann zu spielen. Zuerst probierte ich nur ein bisschen herum, bis ich irgendwann eine Melodie fand. Ich spielte eine Weile, wechselte die Tonart. Die Melodie wurde langsamer, getragener und auf einmal erkannte ich, was ich da spielte. Es war ein Song, den ich vor langer Zeit einmal selbst geschrieben hatte. Einer, den ich seit damals nicht noch einmal gespielt hatte.

 

Ich hörte auf zu spielen und ließ die letzten Töne ausklingen. Als Ergebnis war es jetzt kalt, still und dunkel. Am Himmel über mir standen bereits die ersten Sterne. Anscheinend saß ich schon länger hier als gedacht.

 

„Du spielst immer noch gut“, sagte da plötzlich eine Stimme. Ich schrak zusammen.

„Benedikt?!“

 

Er lachte leise.

 

„Nee, der Weihnachtsmann. Natürlich ich. Was hast du denn gedacht?“

 

Ich antwortete nicht, sondern sah nur seiner Silhouette zu, wie sie näher kam und sich auf das andere Ende der Bank setzte. Er streckte die Beine nach vorne aus und atmete hörbar durch.

 

„Also wegen vorhin … Es tut mir leid, dass ich da so ausgerastet bin.“

„Bist du?“

 

Ich war ehrlich überrascht. Das verstand er unter Ausrasten?

 

„Ja, ich … ach na ja. Ich hatte halt nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen. Das hat mich ein bisschen überfordert.“

 

Wieder musste ich einen Ausdruck des Verblüffens zurückhalten. Das gab er einfach so zu? Und ausgerechnet mir gegenüber?

 

„Na, zumindest tut’s mir leid. Und deine Entschuldigung nehme ich an. Ich meine … du hast ja recht. So ganz unbeteiligt war ich an dem Ganzen ja auch nicht. War ne dumme Idee. Von uns beiden.“

 

Ich schwieg. Weniger, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, sondern mehr aus Angst, wieder das Falsche zu sagen. Er bot mir hier quasi einen Waffenstillstand an und ich wäre ein noch viel größerer Idiot gewesen als bisher schon, wenn ich das ausgeschlagen hätte. Trotzdem konnte ich meine Klappe wohl nicht so ganz halten, denn nach einer Weile sagte ich doch tatsächlich:

 

„Beantwortest du mir auch noch meine Frage?“

 

Für einen Moment antwortete mir nur verblüfftes Schweigen, bevor er belustigt schnaubte und den Kopf schüttelte.

 

„Du lernst es auch nicht, oder?“

 

Ich zuckte mit den Schultern.

 

„Doof geboren und nix dazu gelernt.“

 

Wieder lachte er. Es klang toll.

 

„Man, Theo. Kannst du dir das nicht denken? Ich meine, dir ist doch mittlerweile klar, dass ich schwul bin, oder?“

 

Ich nickte, obwohl das im Dunkeln sicherlich nicht die beste aller Kommunikationsformen war. Dass er das einfach so aussprach, überforderte mich nun wiederum. Natürlich hatte ich es mir gedacht. Vermutlich auch irgendwie gewusst. Aber es einfach so von ihm zu hören, war nochmal eine Spur … größer.

 

„Und was werde ich denn dann wohl für einen Grund gehabt haben, mich in dein Zimmer zu schleichen, mich in dein Bett zu legen und mich obendrein auch noch auf ne Runde Kampfkuscheln mit dir einzulassen? Also mir fällt da nur einer ein.“

„Du warst sehr betrunken?“

 

Ich mochte nicht, wie meine Stimme klang, als ich das sagte. Fast so, als würde selbst das schwache Licht der Sterne durch jedes einzelne Wort hindurchscheinen.

 

Benedikt lachte wieder, doch dieses Mal war da ein bitterer Unterton.

 

„Nein, das war es nicht. Sicherlich wird wohl an der Idee, mir dein Zimmer anzusehen, der Alkohol nicht ganz unschuldig gewesen sein. Beduselt macht man ja manchmal seltsame Sachen, die einem sonst im Traum nicht einfallen würden. Aber für das, was später passiert ist, übernehme ich die volle Verantwortung.“

 

Im Gegensatz zu dir, schwang dabei ungesagt mit. Ich senkte den Kopf. Obwohl ich ihn nur schemenhaft ausmachen konnte, konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich war ein Narr. Und ein Feigling obendrein. Es war wirklich kein Wunder, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.

 

„Ich war in dich verliebt“, sagte er plötzlich leise. „Auch nach all der Zeit noch. Obwohl ich wusste, dass du eine Freundin hast und das mit mir vermutlich nur reine Neugier war oder was weiß ich. Irgendein dämlicher Teil von mir wollte dich einfach nicht loslassen. Aber den hast du mit deiner Aktion inzwischen auch erfolgreich gekillt. Du kannst also beruhigt sein. In Zukunft werde ich dich nicht mehr belästigen.“

 

Benedikt stand auf, während ich nicht in der Lage war, mich zu rühren.

 

„Schlaf gut, Theodor“, sagte er, bevor er sich umdrehte und mich alleine am gelöschten Feuer zurückließ.

Loslassen

Rauschen. Beständiges, weißes Rauschen, durch das nur wie durch dicke, weiße Watte das weit entfernte Wummern meines eigenen Herzschlags zu hören war. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken. Nichts beschrieb auch nur ansatzweise, wie ich mich gerade fühlte. Ich selbst hätte es nicht sagen können, denn es war, als würde mein Körper nicht mehr zu mir gehören. Als würde ich neben mir stehen und mich selbst dabei beobachten, wie ich das erste Mal seit Benedikts Weggang blinzelte.

 

Er war in mich verliebt.

 

Gewesen, verbesserte ich mich schnell. Ich war wirklich ein noch viel größerer Idiot, als ich angenommen hatte. Wenn ich das nur gewusst hätte. Geahnt wenigstens. Wenn ich nur irgendwie …

 

Wieder unterbrach ich mich gedanklich. Das war überhaupt kein Grund, so durchzudrehen. Denn selbst wenn es so gewesen war, änderte das doch überhaupt nichts an der jetzigen Situation. Jo war auch in Mia verschossen gewesen, trotzdem war ich jetzt mit ihr zusammen. Weil sie einfach kein Interesse an ihm gehabt hatte. Nur weil Benedikt und ich … Es änderte nichts. So überhaupt gar nichts. Außerdem hieß das doch, dass es vorbeigehen würde. Es war … Neugier gewesen. Genau wie er gesagt hatte. Nichts als reine Neugier. Ich mochte ihn, mehr nicht.

 

Nichtsdestotrotz ließ der Gedanke, dass er auch etwas für mich empfand oder wenigstens empfunden hatte, meine Mundwinkel völlig ohne mein Zutun nach oben wandern. Immer wieder versuchte ich mir zu sagen, dass es mir nur schmeichelte. Dass seine Aufmerksamkeit und Bewunderung mein Ego streichelten und sonst gar nichts. Er betonte doch oft genug, für wie eitel und von mir selbst überzeugt er mich hielt. Also musste es das sein, was mich jetzt dazu brachte zu lächeln. Was mich vielleicht überhaupt erst in seine Richtung hatte blicken lassen.

 

Er war in mich verliebt.

 

GEWESEN, herrschte ich mich selbst an. Er war es nicht mehr. Das war Geschichte. Jetzt musste ich nur noch meine Gefühle wieder unter Kontrolle kriegen und alles wäre wieder in Ordnung. Alles wäre wieder normal.

 

 

Wie lange ich noch dort an der Feuerstelle gesessen hatte, vermochte ich im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Auch wie ich in mein Bett gekommen war, entzog sich meiner Kenntnis. Alles war so verschwommen, als hätte ich vergessen, meine Brille aufzusetzen. Dabei saß sie direkt auf meiner Nase. Ich wusste es, denn ich spürte ihr Gewicht deutlich, obwohl sie so leicht war. Es war, als hätte man mir die Haut abgezogen und die empfindliche Schicht darunter freigelegt. Alles war heute viel intensiver als sonst.

 

„Hey Theo! Weißt du auch nicht, was du nehmen sollst?“

 

Ich blinzelte und blickte in ein fröhliches Kindergesicht. Kurt grinste mich von unten herauf an.

 

„Also ich esse ja am liebsten Nutella, auch wenn meine Mama behauptet, dass das der reinste Zucker ist. Aber Oma sagt immer, dass Zucker gut fürs Gehirn ist. Irgendwie haben wohl beide recht.“

 

Ich sah zu, wie Kurt sich ein Brötchen und ein Nutella-Päckchen nahm.

 

„Wollen wir zusammen frühstücken?“

 

Aus dem Gefühl heraus, keine Wahl zu haben, folgte ich Kurt. Ich sah zu, wie er genau den Platz ansteuerte, von dem ich bereits beim ersten Hinsehen geahnt hatte, dass er ihn nehmen würde. Auf der anderen Seite war noch ein Stuhl frei, den er wohl für mich vorgesehen hatte. Im Prinzip kein Problem, wenn es nicht bedeutet hätte, dass ich am gleichen Tisch wie Benedikt sitzen würde. Genauer gesagt ihm schräg gegenüber.

 

„Ich glaube, ich gehe lieber woanders hin“, murmelte ich und packte meinen Teller fester.

 

„Ach was, komm zu uns“, rief Kilian lachend. Er nahm seine Jacke von dem freien Stuhl und klopfte auffordernd auf die Sitzfläche. Meine Augen klebten jedoch immer noch an Benedikt, der nach wie vor nicht reagiert hatte. Erst jetzt, da ich immer noch keine Anstalten machte mich zu setzen, blickte er auf.

 

Er maß mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, bevor er anfing zu lächeln.

 

„Na los, setz dich schon.“

 

Mit einem Nicken deutete nun auch er auf den Platz auf meiner Seite des Tisches. Ich atmete noch einmal tief durch und ließ mich endlich nieder.

 

Es ist alles in Ordnung. Es ist alles normal.

 

Wie in Zeitlupe begann ich, mein Brötchen aufzuschneiden. Ich konzentrierte mich ganz auf die Aufgabe, während Kurt vor sich hin plapperte. Ich glaube, er erzählte mir etwas, aber in meinen Ohren rauschte es schon wieder. Ich bekam kein Wort von dem mit, was er sagte. Die ganze Zeit hämmerte ein einziger Satz durch meinen Kopf. Es war so albern. So dämlich. So …

 

„Theo? Sag mal, träumst du?“

 

Kilian sah mich fragend an. Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.

 

„Ja, ich … ich hab die Nacht nicht gut geschlafen.“

 

Eigentlich fast gar nicht, aber das würde ich Kilian bestimmt nicht auf die Nase binden.

 

„Dann hol dir auf jeden Fall noch einen Kaffee, bevor ihr nachher loslegt. Sonst muss Benedikt dich ja den ganzen Tag lang durch die Gegend schleppen.“

 

Der Gedanke setzte ein merkwürdiges Kribbeln in meinen Bauch. Wieder lächelte ich.

 

„Das wäre nun wirklich zu viel verlangt.“

 

Ich warf einen vorsichtigen Blick auf die andere Seite des Tisches. Benedikt schien leicht amüsiert. Obwohl ich nicht wusste, warum er lächelte, erwiderte ich es. Er runzelte ganz kurz die Stirn, doch dann wurde sein Lächeln breiter.

 

„Genau gönn dir einen Kaffee. Ich weiß zwar nicht, wie ihr das Zeug trinken könnt, aber wenn es hilft.“

 

Kilian lehnte sich zu mir hinüber und flüsterte mir verschwörerisch ins Ohr: „Benedikt trinkt nämlich nur Kakao.“

 

Er grinste, während Benedikt ihm einen bösen Blick zuwarf.

 

„Was?“, machte Kilian und grinste noch breiter. „Darf das etwa keiner wissen?“

 

Benedikt schnaubte belustigt.

 

„Doch. Ist ja kein Geheimnis. Aber wenn du das so sagst, klingt es, als wäre ich vier.“

 

Kilian riss die Augen auf.

 

„Du bist älter? Ich hatte ja keine Ahnung!“

 

Benedikt schüttelte nur lachend den Kopf.

 

„Du bist so ein Quatschkopf.“

„Einer muss es ja machen.“

 

Ich fiel in das allgemeine Gelächter mit ein, aber aus den Augenwinkeln beobachtete ich nur Benedikt, der sich jetzt vom Frühstückstisch erhob.

 

„Ich geh schon mal. Wir sehen uns später.“

 

„Spätestens beim Mittagessen“, bestätigte Kilian und stopfte sich das letzte Stück seines Wurstbrötchens in den Mund. Ich selbst hatte immer noch nichts gegessen, aber bei Kilians Abschiedsgruß war mir eine Idee gekommen. Eine Idee, wie ich den Tag vielleicht einigermaßen überstehen würde.

 

„Sag mal, hast du nicht Lust mit mir zu tauschen?“, meinte ich möglichst beiläufig, während ich nach der Margarine griff. „Ich würde mir gerne mal angucken, was Reike so mit den Kindern macht. Das sah interessant aus.“

 

„Die Wichtel? Ja, war schon cool, was die Kinder sich da zurechtgeschnitzt haben, aber heute wollten sie, glaube ich, in den Wald um Material zu sammeln.“

„Das klingt doch perfekt. Ich würde da gerne mitgehen.“

 

Kilian sah mich für einen Augenblick zweifelnd an, bevor er mit den Schultern zuckte.

 

„Soll mir recht sein. Dann scheuche ich mit Benedikt zusammen die LaKis durch die Gegend. Gell, Kurt? Wir machen es uns nett hier.“

 

„Logisch“, stimmte der Knirps zu und biss noch einmal in sein Nutellabrötchen, dass die Schokolade ihm fast bis zu den Ohren reichte. Ich hingegen konnte im Stillen nur daran denken, dass ich es geschafft hatte, Benedikt wenigstens am Vormittag aus dem Weg zu gehen. Ich brauchte erst noch ein bisschen Zeit, um mir zu überlegen, wie ich jetzt weiter verfahren würde. Allein die Vorstellung, noch mehr oder gar längere Situationen wie die gerade mit ihm zu überstehen, ließ das dumpfe Pochen, das bereits seit dem Aufstehen durch meinen Kopf pulsierte, um zwei Stufen ansteigen. Wahrscheinlich würde mein Schädel einfach irgendwann platzen und sich quer über das Rührei verteilen und es würde nicht einmal jemandem auffallen.

 

Ich aß, ohne zu schmecken, was ich eigentlich zu mir nahm, und machte mich dann gegen neun auf den Weg zum Lagerplatz, wo sich Reike und Sönke schon eingefunden hatten, um ihre Kinder für den bevorstehenden Waldbesuch einzunorden.

 

„Wenn wir im Wald sind, möchte ich, dass ihr Rücksicht nehmt. Im Wald leben Tiere, die wir durch unseren Aufenthalt nicht stören wollen. Außerdem werden keine Äste oder Blätter abgerissen. Wir sammeln nur, was man einfach so mitnehmen kann. Also seht euch um und schaut, was ihr Besonderes entdecken könnt. Und jetzt ab mit euch.“

 

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, wobei Sönke kräftig voranschritt und die Gruppe sich somit lang und länger zog, mit mir und Reike als Schlusslicht. Für einen Moment überlegte ich, zu Sönke aufzuschließen, aber dann ließ ich es doch bleiben und wanderte lieber neben Reike her, die heute mit einem schwarzen Top und einer weiten, grünen Stoffhose noch alternativer aussah als an den Tagen zuvor.

 

Ich versuchte, meine Überlegungen zu Reikes Kleidungsstil beiseitezuschieben und mich wieder auf mein Problem mit Benedikt zu konzentrieren. Doch so sehr ich auch grübelte und grübelte, es wollte mir einfach nicht einfallen, wie ich mich verhalten sollte. Vielleicht hatte ich es mir am Ende sogar nur eingebildet, dass er mir dieses Geständnis gemacht hatte? Weil ich mir vorgestellt oder sogar gewünscht hatte, dass er es tat? War das alles nur ein Traum gewesen? Aber wenn es nur eine Wunschvorstellung gewesen wäre, hätte die dann nicht anders aussehen müssen? Aber wie? Hätte ich gewollt, dass er mir gestand, dass er jetzt noch in mich verliebt war? Wie hätte ich reagiert? Gab es überhaupt einen „richtigen“ Weg darauf zu reagieren? Und wäre ich in der Lage gewesen, das durchzuziehen? Hätte ich mit den Konsequenzen leben können? Und wie sahen diese Konsequenzen aus? Wohin führte dieser Weg? Was lag hinter den vielen Windungen und Kurven? Wollte ich überhaupt dorthin? Und was würde ich dafür aufgeben müssen?

 

Ich merkte, wie bei dieser Vorstellung meine Luftröhre eng wurde. Die Gedanken fingen an, mich erdrücken zu wollen. Plötzlich fühlte sich jeder Schritt an, als würde ich einen unmöglich großen Stein einen Berg hinaufrollen. Ich würde es nicht schaffen. Irgendwann würde es kippen und mich unter sich begraben. War es da nicht besser, wenn ich gleich hierblieb? War das nicht sicherer?

 

„Theo? Ist alles in Ordnung?“

 

Reike sah mich forschend an. Ich war wohl immer langsamer geworden und schließlich sogar stehengeblieben. Vor meinen Augen flimmerte es.

 

„Ja ich … ich bin okay“, erwiderte ich, obwohl der Schweiß auf meiner Stirn eine andere Sprache sprach. „Mir war nur kurz schwindelig.“

 

„Hast du heute genug getrunken?“

 

Nein. Nein, hatte ich nicht! Ich hatte mir ja noch einen Kaffee holen wollen, doch das hatte ich dann irgendwie vergessen.

 

„Ich glaub nicht.“

 

Reike schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge.

 

„Dann nimm die hier. Ich hab genug mit.“

 

Sie zog den Rucksack von ihrer Schulter und reichte mir eine Trinkflasche. Nachdem sie mir gezeigt hatte, wie man den Verschluss öffnete, setzte ich an und trank in gierigen Zügen. Ich hatte tatsächlich riesigen Durst. Erst nach ein paar Schlucken merkte ich, dass das Getränk irgendwie eigenartig schmeckte. Nach Kräutern und parfümierten Zitrusfrüchten.

 

„Das ist Zitronenmelisse“, klärte Reike mich auf, als ich ihr die Flasche wiedergab. Anscheinend hatte sie meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkt. „Ist gut für die Nerven.“

 

„Na, das kann ich brauchen“, entgegnete ich, ohne darüber nachzudenken. Reike schenkte mir einen fragenden Blick.

 

„Ach, nur Spaß. Komm, die anderen warten schon.“

 

Mein Versuch, mich aus der Affäre zu ziehen, war nicht besonders elegant, aber da Sönke und die meisten der Kinder bereits das vor uns liegende Waldstück erreicht hatten, sagte Reike nichts mehr, sondern verstaute lediglich ihre Flasche, bevor sie mir in gemessenem Tempo folgte.

 

 

Am Waldrand angekommen, wurden die Kinder noch einmal daran erinnert, möglichst auf den Wegen zu bleiben und nicht zu weit ins Unterholz vorzudringen. Danach stürmten sie allesamt los, um sich die interessantesten Stücke unter den Nagel zu reißen. Keine zwei Meter weiter entbrannte bereits der erste Streit um einen großen Stock. Zwei Jungen brüllten sich wütend an.

 

„Ich hab den zuerst gesehen.“

„Nein, ich.“

„Lass los!“

„Nein du!“

„Nun streitet euch nicht. Der Wald ist voll mit Stöcken.“

 

Sönkes Einwurf wurde nicht weiter beachtet, bis einer der Kontrahenten eine vielversprechende Wurzel entdeckte und sein Fundstück freigab, sodass der Sieger mit seinem neugewonnenen Wanderstock von dannen ziehen konnte.

 

Sönke sah ihnen nach und schüttelte den Kopf.

 

„Kinder! Wenn wir zurück sind, dürfen wir übrigens nicht vergessen, sie nach Zecken abzusuchen“

„Ja, das stimmt. Am besten abends beim Duschen. Theo kann dir dann ja helfen.“

 

Ich brauchte einen Augenblick, bis ich die Information verarbeitet hatte.

 

„Wir suchen die Kinder ab?“, fragte ich und klang dabei ein wenig panischer, als ich gewollt hatte.

 

„Meist machen die Kinder das untereinander, aber wir müssen schauen, dass sie es richtig machen und nicht nur husch-husch.“, erklärte Sönke bereitwillig. „Aber wenn du nicht willst, mach ich das mit den Jungs auch alleine.“

 

„Ja bitte“, rutschte es mir heraus, bevor ich es verhindern konnte. Die Vorstellung erweckte in mir irgendwie gemischte Gefühle. Fast so, als würde ich etwas Falsches, etwas Verbotenes tun.

 

„Kein Problem. Wenn eine Zecke entfernt werden muss, machen das eh meist Annett oder Kilian.“

 

Ich nickte nur und spürte auf einmal so ein komisches Kribbeln im Nacken. Als ich mich umsah, entdeckte ich Reike, die mich sehr seltsam anblickte. Ich versuchte, es zu ignorieren, doch das Gefühl blieb auch als wir schließlich in den Wald gingen und begannen, den Boden nach Material für die Bastelstunde abzusuchen.

 

Auf einer kleinen Lichtung schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich drehte mich zu ihr herum.

 

„Was ist los?“, fragte ich sie geradeheraus.

 

Sie sah mich mit ihren merkwürdig großen Augen an, bevor sie einen Schritt auf mich zumachte und den Kopf ein wenig schräg legte.

 

„Das frage ich dich, Theodor.“

 

Beim Klang meines vollen Namens rann mir ein Schauer über den Rücken. Momentan nannte mich nur Benedikt so. Es war vermutlich verrückt, aber ich wollte nicht, dass Reike es auch tat. Das gehörte nur ihm.

 

Sie runzelte die Stirn und ihre Augen wurden schmaler. Ein grüblerischer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als versuchte sie etwas zu sehen, was gar nicht da war. Etwas, das irgendwo in mir lag. Für einen Moment fürchtete ich, dass sie das tatsächlich konnte. Dass sie sehen würde, dass etwas mit mir nicht stimmte. Hatte ich mich verraten? Wusste sie es? Panik griff mit Spinnenfingern nach mir und wollte mir schon wieder die Luft abschnüren. Schnell bemühte ich mich um ein neutrales Gesicht.

 

Reikes Mund zuckte, dann wandte sie sich ab, ohne etwas zu sagen. Statt mit mir zu reden, ging sie zu einem der Bäume. Dicht davor blieb sie stehen und legte die Hand auf die glatte Rinde.

 

Eine Buche, sagte mir mein vergrabenes Wissen aus dem Heimat- und Sachkundeunterricht. Die meisten Bäume um uns herum waren Buchen. Ich hatte die Bucheckernschalen auf dem Boden gesehen.

 

„Weißt du, warum ich Tischlerin geworden bin?“

 

Ich verneinte. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Baum zuwandte.

 

„Weil ich es liebe, mit Holz zu arbeiten. Zuerst wollte ich in einer Baumschule anfangen, aber dann habe ich mich doch für einen Beruf entschieden, in dem ich auch meine künstlerische Neigung ausleben kann. Dabei ist Holz ein ganz besonderer Werkstoff. Weißt du, warum?“

 

Wieder antwortete ich mit Nein. Sie lächelte.

 

„Weil Holz einmal gelebt hat. Jedes Stück Holz, das du in die Hand nimmst, war einmal Teil eines lebenden und atmenden Organismus.“

 

Sie strich mit der Hand über den Stamm und schloss die Augen. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich. Stand ich jetzt wirklich neben Reike, die gerade einen Baum umarmte?

 

„Alles fließt“, sagte sie und atmete tief ein. „Man kann es spüren, wenn man ganz genau hinhört.“

 

Meine Zweifel waren mir wohl anzusehen, denn als Reike die Augen wieder öffnete, lächelte sie und trat von dem Baum zurück.

 

„Du findest das komisch, oder?“

„Na ja“, antwortete ich gedehnt. „Schon etwas.“

„Kein Problem. Nicht jeder ist dafür empfänglich. Aber ich mache mir Sorgen um dich, Theo. Du wirkst nicht glücklich.“

„Was?“

 

Völlig aus dem Konzept gebracht vergaß ich meine Höflichkeit. Sogar mein Lächeln kam mir abhanden. Reike trat auf mich zu. Wieder musterte sie mich ernst. Sie hob die Hände.

 

„Darf ich?“, fragte sie und ich nickte zögerlich.

 

Reike legte ihre Hände zuerst auf meine Brust, dann an die Seiten meines Halses. Mit geschlossenen Augen tastete sie verschiedene Stellen hinter meinen Ohren ab. Anschließend umschloss sie sie mit ihren Händen. Die Umgebungsgeräusche wurden leiser und gleichzeitig schärfer, so als würde ich sie durch einen Trichter hören. Als ich schon dachte, dass sie fertig sei, legte sie noch eine Hand gegen meine Stirn, als wolle sie fühlen, ob ich Fieber hatte. Ihre Finger waren schmal und kühl und ich schloss unwillkürlich ebenfalls die Augen. Es dauerte einen Moment an, bevor sie sich wieder von mir zurückzog. Als ich meine Augen wieder öffnete, musterte sie mich ernst.

 

„Du machst es dir gerade sehr schwer“, sagte sie, während sie mich unverwandt ansah. „Du hältst an etwas fest, dass dich nicht glücklich macht. So sehr, dass deine Energie fast vollkommen zum Erliegen kommt. Vielleicht aus Angst vor dem, was passiert, wenn du loslässt.“

 

„Aber …“, wollte ich einwenden, doch Reike unterbrach mich mit einer sanften Handbewegung. Sie lächelte leicht.

 

„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Denk einfach mal darüber nach. Vielleicht tust du das, was ich dir gesagt habe, als für dich nicht passend ab. Dann ist das deine Entscheidung und auch das ist in Ordnung. Aber vielleicht hilft es dir dabei, einen neuen Weg zu finden. Einen Weg, der dich dorthin bringt, wo du sein willst, anstatt dorthin, wo du glaubst, sein zu müssen.“

 

Sie lächelte noch einmal, bevor sie sich umdrehte und mich mit meinen Gedanken allein zurückließ. Ich sah ihr nach, wie sie nahezu lautlos zwischen den Zweigen des Dickichts verschwand. Es war fast so, als wäre sie nie hier gewesen. Nur ihre Worte blieben zurück wie Sternenstaub, der um mich herum auf der Lichtung flimmerte.

 

Was sollte das denn jetzt gewesen sein? Reike kannte mich doch überhaupt nicht. Sie wusste nichts über mich. Wie wollte sie mir da Ratschläge geben, wie ich mein Leben zu leben hatte. Noch dazu mit irgendwelchem verschrobenen Kram über Energieflüsse und was weiß ich noch. Das war mir alles zu abgehoben. Ich glaubte doch nicht an die heilende Kraft von Steinen oder solchen Unsinn. Am Ende sollte ich mir noch einen Traumfänger aus Tierknochen und Vogelfedern basteln, um böse Geister fernzuhalten. Das war absolut lächerlich.

 

Noch während ich das dachte, vibrierte auf einmal mein Handy. Ich hatte eine Nachricht von Mia bekommen. Sie erkundigte sich, wie es mir ging und ob ich Spaß im Camp hatte. Ich blickte auf ihre Zeilen und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Stattdessen hielt ich das Handy nur in der Hand und starrte auf das kleine Foto, das oben im Chat neben Mias Namen prangte. Mit einem kurzen Tippen vergrößerte ich es. Das Bild zeigte sie und ihre beste Freundin Anne, die beide eine Grimasse in die Kamera schnitten.

 

Du hältst an etwas fest, das dich nicht glücklich macht, glaubte ich wieder Reikes Stimme zu hören.

 

Ob sie Mia damit meinte? Nein, das war Unsinn. Sie kannte Mia ja gar nicht und ich liebte meine Freundin. Sie war … toll. Vertraut. Ich hätte hunderte von Dingen aufzählen können und trotzdem nur die Hälfte dessen beschrieben, was sie so wunderbar machte. Ihr bezauberndes Lächeln zum Beispiel, bei dem sie manchmal die Nase krauszog wie ein Baby-Cockerspaniel. Ihre Klugheit und die Cupcakes, die sie kreierte und die aussahen, als wären sie aus einem Fotoband geklaut. Die Tatsache, dass man wunderbar mit ihr herumalbern, aber auch ernste Themen besprechen konnte. Dass sie es liebte, mit mir zusammen romantische Komödien anzusehen, von denen ich einige sogar ganz gut fand, was ich jedoch nie zugab und stattdessen immer so tat, als würde ich das alles nur ihr zuliebe ertragen. Sie aß ihr Popcorn ausschließlich süß und konnte Knoblauch nicht ausstehen. Dafür mochte sie den Winter und war immer noch traurig, dass die Eishalle, in der sie früher immer zum Schlittschuhlaufen gewesen war, vor ein paar Jahren dichtgemacht hatte. In der kalten Jahreszeit vergaß sie ständig ihre Handschuhe und verlangte dann, dass ich ihre Hände wärmte, und obendrein hatte sie alle Geburtstage meiner Freunde im Kopf. Diese Liste ließ sich unendlich fortsetzen. Ein Leben ohne Mia konnte ich mir einfach nicht mehr vorstellen.

 

Noch während ich das feststellte, musste ich an Benedikt denken. An das, was zwischen uns gewesen war. Es war nur ein Bruchteil dessen, was ich mit Mia erlebt hatte. Ein Jahr lang hatten wir quasi keinerlei Zeit außerhalb des Unterrichts miteinander verbracht. Er war wütend auf mich gewesen und ich war auch ohne ihn gut klargekommen. Hatte ich zumindest gedacht. Aber wenn ich ehrlich war …. wenn ich wirklich ehrlich war, dann war er immer da gewesen. Irgendwo in meinen Träumen, in der Zeit zwischen Schlafen und Wachen, hatte ich an ihn denken müssen. Ich hatte mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn er plötzlich vor meiner Tür stände. Wie wir uns irgendwo begegneten, wo uns niemand sehen konnte. Irgendwo in einer Disko in einer fremden Stadt oder im Geräteraum der Turnhalle, wenn schon alle gegangen waren. Manchmal hatte ich mir gewünscht, dass es echt war. Manchmal hatte ich mich dafür gehasst, dass ich es mir gewünscht hatte. Meistens hatte ich gehofft, dass es wieder weggehen würde, wenn ich es ignorierte.

 

Das Engegefühl, das sich bei diesen Gedanken den Weg um meine Kehle legte, drohte mich zu ersticken. Ich wusste, dass es nicht wieder weggehen würde. Ich hatte es versucht. Ich hatte es so sehr versucht. Aber mit jedem Versuch war es nur umso heftiger wieder zurückgekehrt. Manchmal war es so schlimm gewesen, dass nichts anderes mehr mein Denken beherrschte. Dann hatte ich mich eingeschlossen und hatte mir erlaubt, was ich für zu schrecklich hielt, um es mit irgendwem zu teilen.

 

Dabei ist es doch gar nicht schrecklich. Es ist doch … gut, jemanden zu lieben. Du hast doch selbst immer wieder gesagt, dass es egal ist. Dass du kein Problem damit hast. Dass man es sich nicht aussucht. Dass einen keine Schuld daran trifft. Warum also tust du dir das hier an? Warum stehst du nicht endlich dazu?

 

Die Antwort war ebenso einfach wie kompliziert. Ich hatte zu viel Angst. Davor, was die anderen sagen würden. Meine Freunde, meine Eltern, Mia. Aber vielleicht … vielleicht mussten sie es ja erst mal noch gar nicht erfahren. Vielleicht reichte es ja, wenn ich erst einmal mit jemandem darüber sprach, dem es ebenso ging wie mir.

 

Ich dachte an Benedikt und daran, wie er wohl auf so eine Eröffnung reagieren würde. Vermutlich nicht besonders positiv. Er würde sich zu recht verarscht vorkommen, wenn ich jetzt damit herausrückte, dass ich … also, dass ich möglicherweise …

 

„Dass ich schwul bin.“

 

Ich hatte es nur ganz leise gesagt. Kaum mehr als ein Flüstern. Es klang so seltsam aus meinem Mund. Ich hatte es noch nie ausgesprochen. Nicht einmal wirklich gedacht und wenn, dann nur, um innerlich ebenso abfällig darüber zu reden, wie Jo es getan hatte. Ich hatte es sogar versucht vor mir selbst zu verstecken. Mit dem Ergebnis, dass ich den einzigen Menschen von mir gestoßen hatte, den ich mir jetzt an meine Seite wünschte. Ich hatte es gründlich vermasselt.

 

„Du bist ein Idiot“, sagte ich zu mir selbst. „Ein schwuler Riesenidiot.“

 

Ich musste lachen, während ich das sagte, und gleichzeitig spürte ich Tränen meine Wangen hinablaufen. Noch mehr als zuvor wünschte ich mir, dass jetzt irgendjemand da wäre, der mich auffing. Aber da war niemand, und so musste ich mich am Riemen reißen. Ich musste die Maske wieder anlegen, von der ich mir jetzt erst bewusst wurde, dass ich sie die ganze Zeit aufgehabt hatte. Es fühlte sich falsch an und trotzdem wusste ich, dass es sein musste. Ich musste noch ein bisschen durchhalten und dann würde ich hoffentlich endlich irgendwann loslassen können.

Die Wahrheit

Eigentlich habe ich es immer schon gewusst.

 

Ich hatte keine Ahnung, wie oft ich diesen Satz in den letzten Tagen bereits gelesen hatte. Aber jedes Mal, wenn ich ihn wieder in einem Artikel, einem Blog oder einem Forenbeitrag entdeckte, fragte ich mich: Hätte ich es auch wissen können? Hätte ich es wissen müssen? Hätte ich der Tatsache, dass ich früher schon manchmal mit dem Blick an Bildern von leicht bekleideten Typen hängengeblieben war, mehr Bedeutung beimessen müssen? Hätte es mich stutzig machen müssen, dass mich vor Mia Mädchen noch nie so interessiert hatten, während ich durchaus schon mal dem einen oder anderen Jungen nachgesehen hatte? Hätte ich dieses Gefühl, das ich immer als Bewunderung betitelt hatte, anders einordnen sollen? Hätte ich die Tatsache, dass ich so sehr mit Benedikt hatte befreundet sein wollen, in einem anderen Rahmen sehen müssen? Das Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein, als etwas anderes verstehen können?

 

Aber es hat sich so anders angefühlt als mit Mia.

 

Ich hatte immer gedacht, dass das, was ich für sie empfand, doch Verliebtsein sein musste, und ich dementsprechend nicht in ihn verliebt sein konnte. Aus diesem Grund hatte ich mit ihr zusammen sein wollen. Hatte dafür sogar riskiert, mich mit Jo zu verkrachen. Ich hatte mich trotz des Kusses von Benedikt, der sich so unglaublich angefühlt hatte, für sie entschieden. Am Ende sogar mit ihr geschlafen und es gut gefunden.

 

Aber andererseits … mit Benedikt war es besser gewesen. Viel besser. Der Grund dafür lag eigentlich klar auf der Hand, aber ich hatte es einfach nicht sehen wollen. Hatte es darauf geschoben, dass er eben erfahrener war. Dass er wusste, was sich gut anfühlte. Dass er mit seinem Freund bestimmt schon mehr gemacht hatte als Händchen halten. Dass es nur deswegen anders mit ihm gewesen war.

 

Du hast dich selbst belogen.

 

Ich wusste es; hatte es wohl tatsächlich schon die ganze Zeit gewusst. Irgendwo ganz tief in mir drin. Aber nicht mal die Tatsache, dass es in meinen Fantasien immer nur männliche Protagonisten gegeben hatte, hatte mir ausgereicht, um mich zu der Erkenntnis durchzuringen, dass ich tatsächlich schwul war. Ich erinnerte mich daran, als ich das erste Mal in einem Film gesehen hatte, wie zwei Männer sich küssten. Sich anfassten. Mir war heiß und kalt geworden, während ich die beiden beobachtet hatte. An der Stelle, an der die weibliche Darstellerin wieder dazu gekommen war, hatte ich abgeschaltet und mir … was anderes gesucht. Was, was eindeutig weniger Frauen enthielt. Es war dabei geblieben, obwohl ich das andere auch erregend gefunden hatte. Nur halt nicht in dem Maße.

 

Ich dachte an Mia. Daran, wie sehr ich sie mochte. Daran, dass ich sie möglicherweise verlieren würde, wenn ich … wenn ich mein Leben änderte. Wie sie wohl reagierte, wenn ich es ihr sagte? Wäre sie wütend? Enttäuscht? Verletzt? Würde sie denken, dass ich sie die ganze Zeit nur angelogen hatte? Was eigentlich stimmte, aber ich hatte es doch nicht gewusst. Ich hatte es nicht gewusst.

 

Doch, hast du. Du warst nur zu feige, um dazu zu stehen.

 

Und jetzt? Jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht mehr in mein altes Leben zurückzukönnen. Zwar hatte ich mir das vor drei Tagen noch vorgenommen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto unvorstellbarer kam es mir vor. Wie sollte das denn gehen? Ich wusste jetzt, dass ich … auf Männer stand. Zumindest war ich mir dessen ziemlich sicher. Wie sollte ich da noch mit meiner Freundin zusammenbleiben? Sie küssen und berühren. Der Gedanke allein war mir plötzlich vollkommen zuwider. Nicht, weil ich sie nicht attraktiv fand. Im Gegenteil. Aber der Gedanke, sie bewusst anzulügen, sie zu benutzen, obwohl ich wusste, dass sie nicht das war, was ich wollte, ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Ich fand mich selbst zum Kotzen, dass ich das so lange getan hatte. Dass ich ihr das angetan hatte. Ihr und mir.

 

Und Benedikt.

 

Dass ich ihn verloren hatte, obwohl ich ihn hätte haben können, wenn ich nur weniger feige gewesen wäre. Zwar half es nichts, über verschüttete Milch zu klagen, aber der Gedanke drängte sich mir dermaßen auf, dass ich an nichts anderes denken konnte. Ich wollte ihn. Immer noch. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.

 

 

Ein Klickgeräusch riss mich aus meinen Überlegungen. Ich sah auf und direkt in Ronyas grinsendes Gesicht, die ihr Handy auf mich gerichtet hatte.

 

„Sorry, aber du sahst gerade zu geil aus. Da musste ich einfach abdrücken.“

 

Ich verschob mein Gesicht zu einem leicht schiefen Lächeln. Vermutlich gab ich wirklich ein interessantes Bild ab, wie ich hier in meiner Wikingerkluft – einer schlichten, beigen Tunika mit einem weiten Ausschnitt und einem breiten Ledergürtel, die ich einfach über meine normalen Sachen gezogen hatte – auf dem Sofa im Betreuerheim saß und am Display meines Handys klebte. So zumindest nannte es Annett und stellte in kritischen Tonfall fest, dass ich seit Tagen quasi nichts anderes tat.

 

„Jede freie Minute hängst du vor dem Ding“, sagte sie halb scherzend, halb ernst. „Man könnte glatt denken, dass du süchtig danach bist.“

 

Ein wenig ertappt ließ ich das Gerät sinken. Auf dem Display war immer noch der bedeutungsschwangere Satz zu lesen.

 

„Bin ich gar nicht“, verkündete ich und aktivierte die Tastensperre. Der Bildschirm wurde dunkel und ich legte das Handy demonstrativ auf die Sitzfläche der Couch „Siehst du? Ich kann prima ohne.“

 

„Das sagen alle Süchtigen.“

 

Gelächter wurde angestimmt und ich reagierte darauf, wie so oft, mit einem Lächeln. Es fühlte sich ein wenig an, als würden Bleigewichte an meinen Mundwinkeln hängen und sie permanent wieder nach unten ziehen. Trotzdem schaffte ich es, die Fassade aufrechtzuerhalten, bis die allgemeine Aufmerksamkeit von mir zurück zum Wochenplan wanderte, den die anderen gerade ausarbeiteten. Für heute und morgen stand noch das Wikinger-Projekt auf dem Plan, für dessen verschiedene Stationen die Kinder sich jeden Tag neu entscheiden konnten. Ich war trotz meiner eigenartigen Unterhaltung mit Reike in ihrer Gruppe geblieben, wo wir mit den Kindern Spielzeuge und Gebrauchsgegenstände herstellten. Wir hatten gesägt, geschnitzt, gefeilt und gebohrt und am Ende das Ganze noch bunt bemalt. Heute Nachmittag sollten die Spiele das erste Mal ausprobiert werden und die Kinder waren schon ganz heiß auf eine Runde „Wikinger-Schach“.

 

„Wann machen wir denn die Nachtwanderung?“, fragte Kilian, der sich auf einen der Stühle gelümmelt hatte. Er kaute an einer Lakritzschnecke herum. Die anderen Süßigkeiten der gemeinsamen Naschkiste waren bereits zur Neige gegangen, weswegen mit Sehnsucht die Rückkehr des Einkaufsteams erwartet wurde.

 

„Die hab ich für Samstag eingetragen“, gab Annett zur Auskunft. „Am nächsten Tag machen wir einfach mal einen Tag mit Freispiel und abends Stockbrot und Würstchen grillen am Feuer. Das reicht. Die werden an dem Tag eh knülle sein. Wenn es warm genug ist, können wir ja nachmittags baden gehen.“

 

„Klingt doch nach nem Plan. Darauf genehmige ich mir erst mal ne Cola.“

 

Kilian sprang auf und wäre auf dem Weg zur Küchenecke beinahe in Benedikt hineingerannt, der in diesem Moment zur Tür hereinkam.
 

„Hoppla“, machte er und hielt Kilian gerade noch so von einem Sturz ab. Für einen Moment lagen die beiden sich in den Armen, bevor sie sich lachend wieder voneinander trennten. Mir selbst war bei diesem Anblick jegliches Lachen vergangen. Stattdessen rumorte es in meinem Bauch und ich wusste nicht, ob ich gerne an Kilians Stelle gewesen wäre oder gleich irgendwo ganz anders, wo ich die beiden nicht sehen musste. Ich mochte mich täuschen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass Kilian Benedikt anmachte und dass dieser nur zu gerne darauf einstieg. Auf jeden Fall waren die beiden unzertrennlich und diese Tatsache wurde mit jedem Tag unerträglicher.
 

„Na, habt ihr alles bekommen?“, fragte Ronya, deren Fuß inzwischen schon wieder fast verheilt war. Sie selbst nannte ihre jetzige Fortbewegungsart „Rennhumpeln“ und witzelte stets darüber, dass sie so eigentlich schneller war als vor ihrem Unfall.
 

„Klar“, gab Benedikt zurück und setzte eine große Tüte auf den Tisch, auf die sich die anderen sofort stürzten. Mit Triumphgeheul zog Thies eine Packung Schokopralinen aus der Tüte.
 

„Meine“, rief er, riss die Zellophanhülle von der Packung und stopfte sich gleich zwei der nussgefülten Dinger in den Mund.
 

„Hey, wir wollen auch welche“, beschwerte sich Ronya und angelte nach der Packung, die Thies jedoch einfach hoch in die Luft und somit außerhalb ihrer Reichweite hielt. Sofort hin Ronya an seinem Arm und versuchte, ihn herunterzuziehen.
 

„Nun gib ihr schon endlich ein Küsschen“, meinte Annett augenrollend und zog für sich selbst eine Tüte Weingummischnuller heraus, die sie auch gleich öffnete und sich zwei Stück herausangelte, bevor sie sie zurück auf den Tisch legte, damit sich auch der Rest der Meute bedienen konnte.

 

„Na wie du meinst“, erwiderte Thies mit einem breiten Grinsen und setzte einen dicken Schmatzer auf Ronyas Wange. Die schrie vor Empörung und wurde gleich darauf rot wie ein Feuermelder.
 

„Thies, lass das!“

„Aber du wolltest doch ein Küsschen.“

„Ja, aber doch nicht so eins.“

„Ach nicht? Wie schade.“

 

Thies grinste immer noch und Ronya wurde noch eine Spur röter, bevor sie sich schmollend wieder auf ihren Stuhl setzte.
 

„Die beiden wieder“, seufzte Stephan, der sich bei den Süßigkeiten zurückhielt, dafür aber beim Kaffee immer kräftig zulangte. „Mir scheint, die ersten Kandidaten für die diesjährige Lagerhochzeit stehen bereits fest.“

 

„Nee, danke“, wehrte Ronya mit Händen und Füßen gleichzeitig ab. „Dieses Mal bleibe ich ledig. Vielleicht will ihn ja Reike.“

„Oder eine von meinen Mädels.

„Ach was, die stehen doch alle auf Theo.“
 

Wie auf Kommando drehten sich fast alle Anwesenden zu mir um. Auch Benedikt sah zu mir rüber. Schnell drehte den Kopf weg und wich seinem Blick aus. Stattdessen sah ich in Annetts feixendes Gesicht.
 

„Wir könnten ihn ja zum Bachelor machen, dann müssen sich die Mädels wenigstens anstrengen, um eine Rose von ihm zu bekommen.“

 

Immer noch meinte ich Benedikts Blick auf mir zu spüren. Ich wusste, ich musste jetzt irgendwie reagieren.
 

„Ich … ich hab schon ne Freundin“, meinte ich ein wenig lahm. Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus.

 

„Lagerhochzeit ist doch nur Spaß“, klärte Ronya mich auf. „Das machen wir jedes Jahr. Die Kids lieben es, den ganzen Zauber drumherum zu veranstalten. Die Spiele und so.“

 

„Es gab aber auch schon Tränen, wenn sich ein Junge zwischen zwei Mädchen entscheiden musste“, gab Reike zu bedenken. „Und warum sollen eigentlich immer nur Mädchen und Jungs heiraten? Mädchen und Mädchen oder Junge und Junge ginge doch auch.“

 

Killian verdrehte die Augen.
 

„Jaaa, Reike. Wir wissen, dass deine Mamas sich ganz doll lieb haben.“

 

Reikes braune Augen blitzten empört auf.
 

„Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass wir die Regeln einfach ein bisschen lockern sollten. Wenn ein Mädchen lieber ihre beste Freundin heiraten will, dann sollte das möglich sein.“

 

„Dann wird das aber ne Veranstaltung nur für die Mädels. Die Jungs haben mit dem Kram doch eh nicht so viel am Hut“, gab Sönke zu bedenken. Er hatte als Betreuer einer der mittleren Jungengruppe das Zelt mit den zwei größten Raufbolden des Lagers erwischt. Die beiden machten ihm das Leben ziemlich schwer und durften seit dem gestrigen Tag nur noch in getrennte Arbeitsgruppen.
 

„Vielleicht lassen wir die Lagerhochzeit dann dieses Jahr einfach ausfallen“, schlug Stephan vor und erhob sich, um sich noch die letzte Tasse Kaffee unter den Nagel zu reißen. „Lasst uns stattdessen lieber wieder die Pizza-Ralley machen. Ich glaube, das kommt besser an.
 

„Oh ja, gute Idee“ stimmte Kilian sofort zu. „Ich übernehme die Salami-Station.“

„Nur weil du die Kids wieder Schweinchen nachmachen lassen willst.“

„Ja, und? Das ist ja auch witzig.“

 

Die Frotzeleien gingen noch eine Weile hin und her, während man sich nach und nach auf ein Programm für die nächste Woche einigte. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Benedikt, der sich jetzt einen Stuhl herangezogen und sich ein wenig außerhalb der Runde niedergelassen hatte. Im Profil konnte man sein Gesicht nicht so gut erkennen. Trotzdem blieben meine Augen an seinem Mund hängen, den er jetzt öffnete, um eine Getränkeflasche anzusetzen. Sein Adamsapfel bewegte sich im Takt der Schluckbewegungen. Ich fühlte, wie mein Mund trocken wurde. Vielleicht sollte ich auch etwas trinken. Mich hier wegbewegen und aufhören, ihn anzustarren. Irgendwer würde es sonst sehen. Irgendwer würde es bemerken.

 

„Na, wo guckst du denn gerade hin?“

 

Ich zuckte zusammen, als Kilian sich neben mich auf das Sofa fallen ließ. Er grinste mich an und schlug mir mit der Hand auf den Oberschenkel.

 

„Machst du dir etwa immer noch Sorgen, dass Annett die Hühner auf dich hetzt?“

 

In meinem Kopf formte sich das Bild einer kleinen Schar weißer Vögel, bis ich endlich verstand, dass Kilian von den Mädchen aus Annetts Zelt sprach. Ich lächelte ein wenig angestrengt.

 

„Ach, damit komm ich schon klar.“

 

Noch während ich feststellte, dass meine Schlagfertigkeit sich anscheinend auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte, wurde mir bewusst, dass Kilians Hand immer noch auf meinem Bein lag. Ich spürte die Wärme und den Druck, die sich immer tiefer in meine Haut zu fressen schienen. Möglichst unauffällig richtete ich mich auf und entzog ihm dabei die Ablagefläche. Er hatte das entweder nicht bemerkt oder ging so geschickt darüber hinweg, dass es mir nicht auffiel.
 

„Na, dann ist ja gut“, sagte er stattdessen und grinste mich wieder an. „Kann manchmal ganz schön anstrengend sein, wenn sich eines der Kids so auf dich einschießt. Benedikt kann ein Lied davon singen. Er hat ja auch so einen kleinen Verehrer an den Hacken.“

„Ach ja?“

 

Ich hatte schneller geantwortet, als ich eigentlich gewollt hatte. Es klang viel zu interessiert. Betont beiläufig fragte ich deswegen: „Wen meinst du denn?“

 

„Kurt heißt der. Ist bei uns aus dem Zelt. Du kennst den Kleinen doch auch.“

„Klar kenne ich Kurt. Kurt ist cool.“

 

Kilian wollte gerade noch etwas sagen, als jemand zu uns trat. Sein Schatten verdunkelte die Sonne. Als ich aufsah, blickte ich direkt in Benedikts Gesicht.

 

„Sollen wir die Kids langsam mal wieder rauslassen?“, fragte er an Kilian gewandt. Mich beachtete er dabei gar nicht.

 

„Ja, gute Idee. Ist ja schon gleich halb drei. Also auffi geht’s.“

 

Kilian erhob sich. Als Benedikt beiseite trat, um ihn aufstehen zu lassen, berührte er mich aus Versehen am Fuß. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung.

 

„Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten.“

 

Ich sah ein wenig unsicher zu ihm hoch. In den letzten Tagen waren wir uns mehr oder weniger aus dem Weg gegangen, wenngleich auch nicht mit Absicht. Worte waren zwischen uns nur wenige geflossen.
 

„Das ist schon okay“, sagte ich und versuchte dabei möglichst gleichgültig zu klingen. „Ich … ich hab nichts dagegen. Es ist wirklich kein Problem für mich, wenn du … Also ich wollte damit nur sagen, dass …“

 

Hör auf so rumzustammeln. Du benimmst dich ja wie ein totaler Volltrottel!

 

Kaum hatte ich das gedacht, merkte ich auch schon, wie meine Wangen langsam warm wurden. Ich wusste, dass ich den Blick hätte abwenden müssen oder wenigstens etwas Geistreiches sagen, aber ich konnte nicht. Ich saß da und starrte Benedikt an, der jetzt die Stirn runzelte und sich offenbar auf mein Verhalten keinen Reim machen konnte.

 

„Ist wirklich alles in Ordnung?

„Ja, alles bestens.“

„Na schön. Dann geh ich mal und helfe Kilian.“

„Was dagegen, wenn ich mitkomme?“

 

Wieder war mein Mund schneller gewesen als mein Gehirn. Ich hatte das eigentlich gar nicht sagen wollen, aber der Gedanke, wenigstens noch ein bisschen Zeit mit ihm zu verbringen, erschien mir gerade eine ziemlich gute Idee. Ich sah, wie er zweifelnd das Gesicht verzog, sich dann jedoch einen Ruck gab und einen Schritt zurücktrat, um mir Platz zu machen.
 

„Na, dann los“, sagte er und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. „Wecken wir die Meute.“

 

Das mit dem Wecken war zwar übertrieben, weil die meisten Kinder in der Ruhezeit nicht schliefen, sondern eher ein Buch lasen oder sich leise unterhielten und Spiele spielten, aber einige der jüngeren Kinder hielten tatsächlich noch Mittagsschlaf und die wachzukriegen war manchmal gar nicht so einfach.

 

„Und?“, fragte Benedikt draußen. „Gefällt es dir im Zeltlager?“

 

Ich war ein wenig erstaunt, dass er sich tatsächlich mit mir unterhalten wollte, aber vermutlich war er ebenso um Normalität bemüht wie ich.
 

„Ja, ist schon cool. Mit den Kindern zu arbeiten macht Spaß.“

„Im Ernst? Ich hätte nicht gedacht, dass das was für dich ist.“

„Ich auch nicht.“

 

Ich grinste ihn an und er erwiderte das Grinsen nach einem kurzen Zögern. Ich wusste, dass war nicht viel, aber allein die Möglichkeit, dass wir vielleicht wieder zueinander finden konnten, wenigstens als Freunde, beschleunigte meinen Herzschlag. Ich räusperte mich.
 

„Ist … äh … also ich meine, ist Kilian eigentlich auch … na, du weißt schon.“

 

Ich sah Benedikt bei dieser Frage nicht an. Keine Ahnung, warum ich die jetzt gestellt hatte. Sie war mir irgendwie so in den Sinn gekommen. Ich hörte Benedikt ein wenig angestrengt seufzen.

 

„Warum fragst du? Weil er dich vorhin angefasst hat?“

 

Meine Ohren begannen zu kribbeln. Vermutlich weil das Blut in ihnen zunehmend schneller pulsierte.
 

„Ich glaube nicht“, fuhr er schließlich fort, als ich nicht antwortete. „Der ist einfach nur so ziemlich touchy. Wieso? War dir das unangenehm?“

 

„Ja. Nein! Also ich meine … mir wär’s lieber gewesen, wenn es nicht Kilian gewesen wäre.“

 

In diesem Moment war ich mir sicher, dass meine Ohren glühten wie vollreife Tomaten. Was redete ich denn da bloß?

 

Benedikt gab ein amüsiertes Geräusch von sich.
 

„So? Und wer wäre dir lieber gewesen? Ronya? Reike? Annett? Melina ist auch ganz hübsch.“

„Nein, ich … äh … so hab ich das nicht gemeint.“

 

Jetzt. Jetzt wäre die Gelegenheit, es ihm zu sagen. Ich musste nur den Mund öffnen …

 

„Bemüh dich nicht, Theo. Es ist schon okay. Ich bin nicht mehr sauer.“

 

Jetzt sah ich ihn doch an. Er lächelte. Der Anblick nahm mich vollkommen gefangen. Am liebsten hätte ich ihn die ganze Zeit nur angesehen. Das hieß, nicht nur angesehen. Eigentlich noch mehr. Ich merkte, wie meine Hände begannen zu zittern.

 

„Mir ist inzwischen klar geworden, dass das einfach deine Art ist. Genau wie Kilian eben Leute einfach anfasst. Du kannst gar nicht anders.“ Er verzog kurz den Mund. „Als ich das erkannt hatte, war es auf einmal viel leichter. Ich meine, es ist ja nicht deine Schuld, dass ich die Zeichen falsch interpretiert habe.“
 

„Und wenn nicht?“

 

Der Satz platzte einfach aus mir heraus. Ich musste es ihm sagen. Ich musste.

 

Benedikts Augenbrauen bewegten sich aufeinander zu. „Wie meinst du das?“

 

Ich konnte nicht antworten. Das Zittern aus meinen Händen wanderte höher. Es ließ mich schwitzen und schneller atmen. Lähmte meine Stimmbänder. Verhinderte, dass ich auch nur den Mund öffnete. Dass ich ihn sehen ließ, dass ich doch antworten wollte, aber es einfach nicht fertig brachte. Dass ich einfach nicht aussprechen konnte, dass ich in ihn …

 

Er bemerkte es offenbar trotzdem, denn sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal ernster.
 

„Hör auf damit.“

„Womit?“

 

Das Wort war mir wie von selbst entschlüpft und ich hätte es am liebsten zurückgeholt, als ich seine Antwort hörte.

 

„Damit mir was vorzuspielen. Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, aber ich will …“

 

Ich ließ ihn nicht ausreden. Stattdessen tat ich das Einzige, was mir in diesem Moment noch einfiel. Das Einzige, zu dem ich überhaupt noch in der Lage war. Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat einen Schritt vor und küsste ihn.
 

Es war nur eine ganz flüchtige Berührung unserer Lippen, kaum mehr als ein kurzes Streifen von Haut auf Haut. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich für einen Moment endlich dort angekommen, wo ich all die Zeit hingewollt hatte. Hier zu ihm. Um ihm endlich zu gestehen, was ich für ihn empfand. Um endlich die Wahrheit zu sagen. Trotzdem zwang ich mich, es schnell wieder zu beenden und aus seiner Reichweite zu treten. Ich wusste, dass es ein Fehler gewesen war, aber in meiner Situation gab es einfach keine Möglichkeit mehr, noch irgendetwas richtig zu machen. Es gab nur noch falsch und weniger falsch. Ich betete, dass das hier das Letztere war.

 

Benedikt regte sich nicht. Er starrte mich nur vollkommen entgeistert an. Bewegte keinen einzigen Muskel, bis er auf einmal blinzelte. Dann jedoch kam plötzlich Leben in ihn.

 

„Sag mal, hast du sie noch alle?“, schnauzte er mich an. „Was sollte das denn?“

„Ich … ich wollte …“

 

Ich schloss für einen Moment die Augen. Trotzdem sah ich ihn immer noch vor mir. Die Art, wie er mich ansah. Es war doch ein Fehler gewesen, ihn zu küssen. Ein Riesenfehler. Aber vielleicht konnte ich wenigstens noch ein winziges Bisschen retten.

 

„Ich wollte nur, dass du weißt, dass es mir auch was bedeutet hat. Und dass ich bereue, dass ich nicht schon früher erkannt habe, dass ich …“

 

Ich schaffte es nicht, es auszusprechen. Stattdessen hob ich den Kopf. Sah ihn an, wie er da vor mir stand und gar nicht wusste, wie ihm geschah. Ich wusste es ja selbst nicht. Die ganze Welt schien sich um mich herum zu drehen und nur er allein war der Punkt, der mich noch davon abhielt, in den wirbelnden Abgrund gezogen zu werden. Ich brauchte ihn so sehr.
 

„Ich bin schwul, Benedikt.“

 

Es war nur ein Flüstern. Meine Stimme war kurz davor zu brechen. Ich fühlte die Tränen, die schon wieder hinter meinen Augen lauerten, aber ich drängte sie erfolgreich zurück. Ich wollte sehen, wie er reagierte.

 

Schweigen erfüllte nach diesem Geständnis die Luft. Ein Schweigen, das niemand von uns mit Worten ersetzen konnte. Weil es keine Worte gab, die ausgedrückt hätten, was wir beide fühlten. Unglaube, Angst, Verzweiflung, Wut, Hoffnung. Ein bunter Mix der unterschiedlichsten Emotionen tobte zwischen uns hin und her und hinterließ doch nur drückende Stille. Eine Stille, die Benedikt schließlich brach.

 

„Das kommt überraschend.“

„Ja.“

„Und wie kommst du darauf?“

 

Ich musste unwillkürlich lachen. Eine Übersprungshandlung. Ich wusste es, aber ich konnte es nicht unterdrücken. Ebenso wie den einzigen Satz, den es darauf zu sagen gab.
 

„Eigentlich habe ich es schon immer gewusst. Aber ich war zu feige, um es mir einzugestehen. Ich hab gedacht, dass es wieder weggeht. Dass es nur eine Phase ist, aber … Es ist nicht wieder weggegangen. Ich bin wirklich schwul.“

 

Es noch einmal auszusprechen, machte es schon ein wenig leichter. Vielleicht brachte es etwas, wenn ich es jeden Tag hundert Mal sagte. Dann würde es vielleicht irgendwann normal werden.

 

Benedikt nickte langsam.
 

„Okay“, sagte er nur und ich musste zugeben, dass ich ein wenig enttäuscht war.
 

„Mehr hast du nicht dazu zu sagen?“

 

Er atmete tief ein. Seufzte leise.
 

„Was willst du denn hören? Herzlichen Glückwunsch? Willkommen im Club? Ich meine, ich freue mich für dich, aber … ich weiß gerade nicht, was ich dazu sagen soll.“

 

Der Blick, der mich aus seinen Augen traf, war traurig. Ein wenig verletzt auch. Ich hatte so viel kaputtgemacht.
 

„Hey“, sagte er plötzlich und trat einen Schritt näher. „Kein Grund zu weinen.“

 

Ich weine doch gar nicht, wollte ich sagen, aber da merkte ich schon, dass ich es doch tat. Träne um Träne quoll aus meinen verräterischen Augen, die mehr von dem zeigten, was in mir vorging, als ich eigentlich wollte. Ich wollte nicht klein sein. Nicht schwach. Nicht bedürftig. Ich wollte stark sein und es wie ein Mann tragen. Mit Fassung. Und Würde.
 

„Es ist okay“, flüsterte Benedikt und seine Arme schlossen sich um mich. In diesem Moment verlor ich die Fassung und begann wirklich zu heulen. Ich krallte mich an ihm fest und schluchzte so sehr, dass das Beben durch meinen ganzen Körper lief und meine Beine beinahe unter mir nachgaben. Eine warme Hand strich über meinen Rücken, während ich mein Gesicht an seiner Schulter vergrub. Ich war so furchtbar. So schwach. So hilflos. Alles nur Fassade und Show mit nichts, aber auch gar nichts dahinter. Ein Trümmer- und Scherbenhaufen, nur aufrecht gehalten von ein paar fadenscheinigen Lügen, die jetzt eine nach der anderen zerrissen wie zu straff gespannte Gitarrensaiten.
 

„Tut mir leid“, murmelte Benedikt. „Ich … das war ganz schön unsensibel von mir. Bestimmt fühlst du dich gerade furchtbar.“

 

Ich wollte ihm widersprechen. Wollte ihm sagen, dass ich klarkam. Dass er sich nicht um mich zu kümmern brauchte. Dass ich es ohne ihn schaffen würde. Aber die Lüge kam mir einfach nicht über die Lippen. Denn ich würde es nicht ohne ihn schaffen. Ich brauchte Hilfe.

 

„Ist alles okay bei euch?“ Annetts Stimme riss mich aus meiner Erstarrung. Schnell machte ich mich aus Benedikts Umarmung los und wischte mir über die Augen, bevor ich meine Brille wieder geraderückte. Annett durfte nicht sehen, dass ich geweint hatte. Durfte nichts hiervon mitbekommen.
 

„Ja, alles in Ordnung“, hörte ich Benedikt über meine Schulter hinweg rufen. „Wir … wir gehen mal ein Stück. Sind nachher wieder da.“
 

Ich weiß nicht, ob Annett noch etwas dagegen einwenden wollte, aber Benedikt ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Er wandte sich einfach mir zu und lächelte mich an.

 

„Komm“, sagte er. „Gehen wir spazieren.“

Runterkommen

Ich schwamm. Wurde von den Wellen hin und her geworfen wie ein Stück Treibholz. Eine Zerbrochene Planke. Eine Eisscholle irgendwo auf dem weiten Meer. Die Wassermassen schoben mich mal hier- und mal dorthin. Ich war ihnen hilflos ausgeliefert. Hatte keinen Einfluss mehr auf mein Schicksal. So kam es mir zumindest vor, als ich Benedikt stumm folgte.

 

Er lotste mich den Hügel hinab und am Küchengebäude vorbei in die entgegengesetzte Richtung der Zelte. Am Rand des Parkplatzes angekommen, wo die schmale Zufahrtsstraße in einen Feldweg überging, hielt er an.

 

„Wald oder Wasser?“, wollte er wissen.

 

Ich musste an Reike denken.

 

„Wasser“, antwortete ich schnell.

 

Ich brauchte jetzt Landschaft und Weite um mich herum. Gleichzeitig hätte ich mich am liebsten irgendwo in einem Loch zusammengerollt und wäre gestorben. Was hatte ich getan? Ich hatte mich Benedikt offenbart. Ausgerechnet ihm. Hatte ihm dabei gleich noch einmal wehgetan. Denn nun wusste er, dass ich ihn ohne Grund zurückgewiesen hatte. Dass es lediglich meine Angst gewesen war, die mich zurückgehalten hatte. Die Angst, die Unsicherheit und meine eigenen Lügen, mit denen ich mir Augen und Ohren verstopft hatte. Doch er … er hatte es schon immer gewusst. War sich schon immer sicher gewesen. Ich wusste es irgendwie.

 

Und jetzt?

 

Jetzt kam ich daher und heulte ihm die Ohren voll, weil ich auf Männer stand. Als wäre das etwas Schlimmes. Eine unheilbare Krankheit. Etwas, dessen man sich schämen musste. Dass er mir deswegen nicht ins Gesicht gespuckt hatte, wunderte mich eigentlich. Meine überzogene Reaktion war so dermaßen daneben, dass ich kurz davor war, mich umzudrehen und einfach davonzulaufen. Immer weiter und weiter, bis ich irgendwann umfiel und nicht mehr aufstand. Allein die Tatsache, dass ihm das noch deutlicher gezeigt hätte, wie erbärmlich ich war, ließ mich weiter einen Schritt vor den anderen machen. Unter meinen Füßen festgefahrener Sand und Steine. Ein Grasstreifen in der Mitte des Weges teilte ihn in zwei nahezu gleiche Hälften. Am Rand wuchs das Schilf, hinter dem man in der Ferne noch die Stimmen der Kinder und Kilians lautes Rufen hören konnte, mit dem er die Bande wieder aus den Zelten trieb. Zum Glück waren die Pflanzen so hoch, dass uns niemand sehen konnte. Auf der anderen Seite öffnete sich eine brachliegende Wiese. Dazwischen schlängelte sich der Weg weiter in eine unbekannte Ferne.

 

Einen Augenblick lang war ich versucht, Benedikt zu fragen, ob er wusste, wo es hier hinging. Aber dann ließ ich es bleiben. Es gab weitaus wichtigere Fragen zu klären. Gleichzeitig wäre mir jedes Thema lieber gewesen als das, das wie eine dicke, drohende Wolke über uns hing. Ich wartete nur darauf, dass das Unwetter losging und sich mit Donner, Blitz und Hagelschauern über mir entlud. Aber es kam nicht. Stattdessen gingen wir weiter und weiter und weiter, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt.

 

„Willst du nicht mal irgendwas sagen?“

 

Benedikt wurde ein wenig langsamer. Eigentlich hatte ich die ganze Zeit entweder meine Füße, den grasüberwucherten Weg oder den Schilfgürtel zu meiner Rechten angestarrt. Jetzt, da er mich ansah, hob ich ein wenig den Kopf, wagte aber nicht, ihm in die Augen zu schauen.
 

„Ich?“, fragte er in leicht erstauntem Tonfall. „Ich dachte, du wärst derjenige, der etwas auf dem Herzen hat.“

 

Ich schwieg statt zu antworten. Natürlich hatte er recht. Aber womit sollte ich anfangen? Nach diesem mehr als peinlichen Start wusste ich einfach nicht, was ich jetzt sagen sollte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich die Zeit einfach um eine halbe Stunde zurückgedreht und wäre auf dem Sofa sitzengeblieben, aber das ging nun nicht mehr. Ich hatte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und den Zuber gleich noch hinterher geworfen. Jetzt war die Katze aus dem Sack und somit alles zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück.

 

„Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, gestand ich daher leise ein. „Ich komme mir gerade schrecklich dämlich vor.“

„Warum? Weil du schwul bist?“

„Nein, weil ich so einen Aufriss davon mache. Du hast das alles so viel besser im Griff.“

 

Ich hörte an den knirschenden Steinen unter seinen Schuhen, dass er stehengeblieben war. Er schnaufte.
 

„Man, Theo“, meinte er, während ich noch ein paar Schritte weiterging, um dann auch mit hängendem Kopf zu verharren. Ich schämte mich so.

 

Das Gefühl wurde auch nicht besser, als meine Augen schon wieder zu schwimmen begannen. Jetzt bloß nicht wieder heulen. Alles, nur das nicht.

 

„Das ist doch kein Wettbewerb“, sagte er und kam langsam näher. „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der beste Schwule im ganzen Land, oder was? Hör auf so einen Blödsinn zu erzählen. Ich hab überhaupt nichts im Griff.“

 

„Doch!“, widersprach ich ihm heftig und viel lauter, als ich eigentlich gewollt hatte. „Du bist darin so verdammt viel besser, dass ich … dass ich …“

 

Mir fiel einfach nichts ein, um meinen Standpunkt zu unterstreichen. Dafür kiekste meine Stimme schon wieder. Scheiße!

 

„Hey“, sagte er plötzlich gleich neben mir und berührte mich am Arm. „Jetzt komm mal wieder runter. Niemand will dir was Böses. Ich hab einfach gesehen, dass es dir nicht gutgeht, und ich dachte, es hilft dir vielleicht, wenn du mit jemandem darüber reden kannst. Aber wenn du nicht reden willst, ist das auch okay. Dann gehen wir einfach noch ein Stück und nachher wieder zurück. Einverstanden?“

 

Ich nickte stumm und wir setzten uns wieder in Bewegung. Wortlos liefen wir nebeneinander den Weg entlang, der, wie es aussah, um den ganzen See herumführte. Zumindest machte er jetzt, da wir den äußersten Rand der Wasserfläche erreicht hatten, einen Knick und folgte dem Uferverlauf.

 

 

Irgendwann, nachdem wir schon fast die andere Seite erreicht hatten, fand ich meine Sprache wieder.
 

„Tut mir leid“, murmelte ich. „Ich … ich bin momentan ziemlich durch den Wind.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Ach ja?“

„Ja, klar. Ging mir damals nicht anders, als ich es das erste Mal jemandem erzählt habe.“

 

Ich sah auf. Von der Seite konnte ich ein leichtes Schmunzeln erkennen, das in seinen Mundwinkeln saß. Er warf mir einen kurzen Blick zu, woraufhin ich schnell wieder den Kopf senkte. Ich konnte ihn jetzt nicht ansehen.

 

„Ich hab’s meiner Mutter gebeichtet, als wir damals von der Klassenfahrt zurückgekommen sind. Ich war da einfach an einem Punkt angekommen, an dem ich mich nicht mehr verstecken wollte. Keine Lügen mehr erzählen. Zumindest nicht den Leuten, die mir wichtig sind.“ Er lachte kurz. „Wobei ich gerade vergesse, dass ich es eigentlich Anton zuerst erzählt habe, aber dessen Reaktion war so unspektakulär, dass ich mich heute noch darüber amüsieren könnte.“

 

Unwillkürlich musste ich dabei auch ein wenig lächeln. Anton war Benedikts bester Freund und ein Nerd, wie er im Buche stand. Bewundernswerterweise machte er sich überhaupt nichts daraus und nicht mal die Tatsache, dass er per Attest vom Sportunterricht freigestellt war, hatte seinem Ego irgendetwas anhaben können. Ich ahnte, warum Benedikt ihn mochte, auch wenn wir beide noch nie ein längeres Gespräch miteinander geführt hatten.
 

„Wie hat er denn reagiert?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Er wusste es schon.“

Was?“

 

Schockiert sah ich Benedikt jetzt doch an, aber der zuckte nur mit den Achseln.
 

„Er hat damals gemeint, es wäre ziemlich offensichtlich gewesen und ob ich ne Liste der Anzeichen wollte. Ich hab mich dann aber doch damit zufrieden gegeben, dass es ihm schlichtweg nichts ausgemacht hat. Außerdem hatten wir dann Wichtigeres zu besprechen.

„Ach ja? Was denn?“

„Ähm … also … ach, nicht so wichtig. Viel wichtiger ist doch, was jetzt mit dir ist? Weiß es bei dir schon jemand?“

 

Ich schüttelte den Kopf und sah wieder nach unten. Irgendwie wusste ich gerade nicht, wie ich es finden sollte, dass Benedikt nicht wenigstens einmal „bist du dir sicher“ gefragt hatte. Wobei … hätte er es gefragt, wäre ich vermutlich ebenfalls beleidigt gewesen. Immerhin hatte ich mit ziemlicher Sicherheit nicht ausgesehen, als würde ich Witze machen.

 

„Mhm“, machte Benedikt und ich war mir nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes „Mhm“ war. Vielleicht ein bisschen von beidem.

 

„Dann bin ich der Erste, dem du es erzählt hast?“

 

Wieder nickte ich. Erzählt war zwar vermutlich das falsche Wort für meinen Ausbruch, aber ja, es stimmte. Er war der Erste und bisher Einzige, dem ich es erzählt hatte. Wobei das bisher in diesem Satz mir mehr Angst machte, als ich zugeben wollte. Das implizierte schließlich, dass noch andere folgen würden. Aber wann? Und wie? Die Beantwortung dieser Fragen überstieg gerade meine Vorstellungskraft. Warum war ich nicht einfach anonym geblieben? Ich hätte mich unter falschem Namen bei irgendeiner Internetplattform anmelden können, um mich dort mit irgendwem auszutauschen. Mit Leuten, die von der Scheiße, die ich verzapft hatte, nicht betroffen waren so wie Benedikt.

 

„Tut mir leid.“

 

Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er die Stirn runzelte.
 

„Was? Dass du es mir erzählt hast?“

„Ja. Nein. Ich … ich hätte dich da nicht mit reinziehen sollen.“

 

Er ließ geräuschvoll die Luft entweichen.
 

„Also um ehrlich zu sein … Luftsprünge mache ich nicht gerade deswegen. Ich hab zuerst echt gedacht, du verarschst mich. Aber als ich begriffen habe, dass es dir ernst ist, da hab ich … ich hab mir gedacht, dass du einfach erst mal Hilfe brauchst. Dir eine reinhauen, weil du dich wie ein Arsch verhalten hast, kann ich später immer noch.“

 

Ich musste gegen meinen Willen lächeln.
 

„Ich dachte, du bist nicht mehr wütend auf mich.“

„Na ja, das war ja auch, bevor du mir erzählt hast, dass du schwul bist. Das ändert so einiges an der Sachlage.“

 

Sein süßsaurer Gesichtsausdruck ließ mich wieder in die andere Richtung blicken. Ich hatte also recht gehabt. Er war deswegen verletzt.

 

„Tut mir leid“, sagte ich. Schon wieder. Vermutlich würde ich diesen Satz in nächster Zeit noch sehr viel öfter gebrauchen.

 

Benedikt schnaubte neben mir.

 

„Man, Theo! Hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass du es nicht besser gewusst hast. In dubio pro reo und so. Ist zwar schon ein ziemlicher Hammer, dass du das so lange Zeit nicht mitgeschnitten hast, aber du warst ja noch nie so die hellste Kerze auf der Torte.“

 

Obwohl ich ahnte, dass er damit auf meine schulischen Leistungen anspielte, ließ ich den Kopf noch ein wenig tiefer hängen. Ich wusste, dass ich mich wiederholte, aber ich hatte es wirklich gründlich verbockt. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn er mir wirklich eine reingehauen hätte. Oder ich das hätte selbst erledigen können. Ich war so dumm, so dämlich, so …

 

Benedikt stieß mich an und holte mich damit wieder aus meiner düsteren Gedankenschleife.
 

„Hey, alles in Ordnung? Du sahst gerade so aus, als würdest du gleich jemanden ermorden.“

 

Ich schaute ihn an und war in Versuchung zu erwidern, dass das vielleicht gar keine schlechte Idee war und ich ja bei mir damit anfangen könnte. Mir war jedoch bewusst, dass ich das nur gesagt hätte, damit er mir widersprach. Damit er Mitleid hatte oder so. Mich nochmal in den Arm nahm und mir ganz besorgt ins Ohr flüsterte, dass man über so was keine Witze machte. Das wollte ich nicht. Es wäre noch erbärmlicher gewesen als sowieso schon. Ich musste endlich aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken. Das Dumme an der Sache war nur, dass ich, wenn ich das nicht tat, ich nicht wusste, wo mir selbiger stand. Ohne das war ich sozusagen kopflos. Planlos. Ich wusste einfach nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Nicht so wie zuvor, das stand schon mal fest. Aber wie dann? Wie sollte ich aus diesem Gefängnis ausbrechen, das ich mir selbst gebaut hatte, ohne dabei alles in Schutt und Asche zu legen. Mit Sicherheit würde ich dabei nur noch mehr Menschen verletzen. Menschen, die, wie Benedikt schon gesagt hatte, mir etwas bedeuteten. Bei einem hatte ich das ja schon mal geschafft.

 

„Ich bringe niemanden um“, sagte ich schließlich ein wenig lahm. „Ich hab nur einfach keine Idee, wie ich den ganzen Mist wieder ausbügeln soll, den ich da angestellt habe. Und ich hab Angst, wie die anderen reagieren, wenn sie es rausbekommen. Ich kann das einfach nicht.“

 

Benedikt machte wieder dieses Geräusch, das irgendwo zwischen schwerem Atmen und Seufzen lag. Das machte er öfter in meiner Gesellschaft.

 

„Ist schon keine leichte Entscheidung. Hast du dir schon überlegt, bei wem du anfängst?“

 

Überlegt? Das klang ja so, als ginge er davon aus, dass ich das Ganze hier geplant hätte. Dabei hatte ich das nicht. Nichts davon. Es war einfach so über mich gekommen und ich bereute es, auch wenn ich ein ganz kleines bisschen erleichtert war, endlich mal mit jemandem darüber reden zu können. Selbst wenn derjenige eigentlich allen Grund gehabt hatte, nie wieder ein Wort mit mir zu wechseln.

 

„Als Erstes müsste ich es wohl Mia sagen. Ich … ich kann ja nicht einfach … weiter mit ihr zusammensein, obwohl … na ja.“

 

Ich sah ihn ein wenig hilflos an. Benedikt seufzatmete wieder. Ich konnte sehen, dass ihm etwas auf der Zunge lag, das er aber mit aller Macht zurückhielt. Als ich ihn darauf ansprach, seufzte er dieses Mal richtig.

 

„Ich … ich frage mich einfach nur, wie das eigentlich mit euch beiden funktioniert hat. Noch dazu so lange.“

 

Ich zog die Schultern hoch und stopfte die Hände in die Hosentaschen. Mein Blick wanderte wieder in Richtung Boden.
 

„Das kann ich dir auch nicht so wirklich erklären. Es … es war ja auch schön, so nicht. Mia ist toll, es ist nur …“

 

Ich rang nach Worten, denn die, die ich im Mund hatte, konnte ich unmöglich aussprechen. Nicht Benedikt gegenüber. Denn es stimmte. Mia war toll. Sie war wunderbar. Die Sache war nur, dass ich nicht mit ihr ins Bett gehen wollte. So gar nicht. Anfangs war es noch okay gewesen. Aufregend. Einfach weil es eben Sex gewesen war. Zumal uns ja noch so viel anderes Verband. Aber seit dieser Sache mit Benedikt wusste ich, dass sie eben nicht das war, was mich anmachte, und dieses Wissen ließ sich einfach nicht mehr ignorieren. Jetzt erst recht nicht mehr, nachdem ich es endlich ausgesprochen hatte. Ich fand sie immer noch bildhübsch, aber für mehr als ein bisschen Kuscheln reichte es einfach nicht.

 

„Sie ist nicht das, was ich will“, beendete ich den Satz schließlich leise. Insgeheim hoffte ich wohl, dass Benedikt nachfragte, was beziehungsweise wen ich denn wollte, aber den Gefallen tat er mir leider nicht. Er nickte nur verständnisvoll.
 

„Tja, schöner Mist“, meinte er und blickte für einen Moment auf den See hinaus. Noch einmal bereute ich, mich nicht besser zusammengerissen zu haben. Dann würde er jetzt ganz vergnügt mit Kilian und den anderen Ball spielen oder irgendwas und nicht mich bemitleidenswertes Etwas an der Backe haben. Ich atmete tief ein.

 

„Ich … Du musst das hier nicht machen. Mir ist klar, dass dich das getroffen haben muss. Dass ich … dass ich mich so verhalten habe, obwohl ich … du weißt schon. Ich mochte das mit dir. Ehrlich.“

 

Es war die Untertreibung des Jahrhunderts, aber ein Mehr konnte es an dieser Stelle nicht geben. Was hätte es auch gebracht, ihm zu gestehen, dass der Kuss, den wir damals getauscht hatten, das Intensivste war, das ich bis dahin gespürt hatte. Dass von ihm berührt zu werden und ihn anzufassen das Aufregendste und Erregendste war, das ich je gemacht hatte. Dass ich mich auch jetzt danach sehnte, in seinem Arm zu liegen und einfach vergessen zu können, wenigstens für eine Weile. Nur zu sein, zu riechen, schmecken, fühlen. Nicht nachdenken. Nicht planen. Nicht an Morgen denken. Doch dieses Geschenk würde mir nicht zuteil werden. Er hatte es selbst gesagt.

 

Benedikt erwiderte nichts und ich musste schlucken, um nicht noch einmal dem Drang nachzugeben, in Tränen auszubrechen. Ich wusste, dass ich es schon wieder falsch machte, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich raste auf den Abgrund zu, aber ich konnte es nicht aufhalten.

 

„Erinnerst du dich noch an das Lied, das ich dir am Strand vorgesungen habe?“

 

Er atmete tief ein und nickte. Ich schluckte. Musste meine Lippen mit der Zunge befeuchten, bevor ich weitersprechen konnte. Jedes der Worte lag wie ein Wackerstein in meinem Mund.
 

„Ich … ich habe es nicht für Mia geschrieben.“

 

Mit angehaltenem Atem wartete ich, was er darauf sagen würde. Würde er verstehen, was das für ein Geständnis war? Eines, das ich mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal selbst gemacht hatte.

 

Ich wusste noch, wie wir damals in der Pausenhalle gesessen und zusammen Mathe gelernt hatten. Ich hatte mich kaum auf die Aufgaben konzentrieren können, weil ich so nervös gewesen war. Es war das erste Mal, dass wir längere Zeit allein miteinander verbracht hatten. Er hingegen war ganz entspannt gewesen. Hatte mit seinem Freund getextet, von dem ich damals noch gedacht hatte, dass es eine Freundin war, während ich neben ihm saß. Ich erinnerte mich noch, dass ich ihm sein Handy am liebsten aus der Hand gerissen und an die nächste Wand geworfen hätte, damit er sich nicht um sie kümmerte, sondern um mich. Aber natürlich hatte ich mir das nicht eingestehen wollen. Stattdessen hatte ich versucht, mich auf den Stoff zu konzentrieren, während ich ihn heimlich dabei beobachtet hatte, wie er beim Nachdenken mit dem Stift an seine Lippen tippte. Das war das erste Mal gewesen, dass ich kurz daran gedacht hatte, wie es sich wohl anfühlen würde, ihn zu küssen. Ich erinnerte mich daran, wie erschrocken ich gewesen war und wie dankbar, als er mir von sich aus Mia als Rettungsanker zugeworfen hatte. Wir hatten zusammen beratschlagt, wie ich es anstellen könnte, sie als meine Freundin zu gewinnen, und ich hatte jeden anderen Gedanken zurückgedrängt bis zu dem Punkt, an dem er mir vorgeschlagen hatte, dass ich Mia ein Gedicht schreiben sollte. Da hatte ich mich einfach nicht mehr zurückhalten können und hatte ihm erzählt, dass ich Songtexte schrieb. Kaum dass es mir herausgerutscht war, hätte ich es am liebsten wieder zurückgenommen, aber er war so verständnisvoll gewesen. So sensibel mit meinem Geheimnis umgegangen, das ich bis dahin noch mit niemandem geteilt hatte. Aus dem Grund hatte ich zugestimmt, ihm mal etwas vorzuspielen.

 

Zuerst hatte ich gedacht, dass er es vielleicht vergessen würde. Dass es nur so dahingesagt war und er sich nicht wirklich dafür interessierte. Aber er hatte immer wieder danach gefragt, sodass ich es wirklich in Erwägung gezogen hatte. Nachmittage lang hatte ich in meinem Zimmer gesessen und meine Textsammlung durchforstet auf der Suche nach etwas, das ihm gefallen könnte. Nach etwas, das ihn beeindrucken würde. Dass ihm die Schuhe auszog und ihn sehen ließ, wie ich wirklich war. Dass hinter der coolen Fassade etwas ganz anderes lag. Etwas, das ich mit ihm teilen wollte. Dass ich nur ihn sehen lassen konnte. Und gleichzeitig hatte ich mir vorgemacht, dass das normal war. Nur normales, teenagermäßiges Imponiergehabe. Jetzt wusste ich, dass mehr dahinter gesteckt hatte. Dass ich, als ich schließlich alle meine Werke für unzureichend befunden und einen völlig neuen Text verfasst hatte, unterbewusst immer an ihn gedacht hatte. Nur an ihn und nicht an Mia.

 

Noch einmal glaubte ich, auf diesem Steg zu sitzen. Mitten in der Nacht. Über uns der Mond und um uns herum die Wellen. Ein Meer aus Dunkelheit und wir zwei Gestrandete auf einer einsamen Insel. In dem Moment war ich ganz ruhig geworden. Ich hatte meine Gitarre genommen und hatte angefangen zu spielen. Mein Herz hatte zwar wie wild geklopft und ich hatte die Melodie zweimal wiederholen müssen, bevor ich endlich gewagt hatte zu singen, aber dann … dann hatte ich ihm mein Herz ausgeschüttet und weder er noch ich hatten etwas davon gewusst.

 

Benedikt hatte den Kopf gehoben und sah mich an. Ich ahnte, dass auch er sich an diesen Abend zurückerinnerte. Zumindest hoffte ich das, denn das Lied und danach der Kuss waren für mich etwas Einzigartiges. Etwas Kostbares. Ein Sturm der Gefühle, bei dem ich lange gebraucht hatte, um ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich weiß noch, wie ich nach der Klassenfahrt aus seiner Nähe geflohen war. Ich hatte den Abstand gebraucht, um wieder zu mir selbst zu finden. Hatte ich gedacht. In Wahrheit hatte ich nur die Maske wieder aufgesetzt, die ich die ganze Zeit getragen hatte. Die Maske, die jetzt erhebliche Risse aufwies.

 

„Für wen war das Lied?“

 

Ich schluckte. Die Frage war natürlich berechtigt, aber als ich schon antworten wollte, wurde mir bewusst, wie unfair ich mich gerade benahm. Ich drängte mich ihm auf. Nicht nur mit meiner Hilflosigkeit, sondern auch emotional. Er hatte klar gesagt, dass er mit mir fertig war. Keine Beziehung zu mir wollte. Zumindest keine, wie ich sie mir gewünscht hätte. Ich hatte kein Recht mehr dazu, ihm diese Wahrheit zu offenbaren.

 

Meine Schultern hoben und senkten sich ganz von allein. Eine hilflose Geste, doch zu mehr war ich gerade nicht in der Lage. Benedikt sah mich nur einen Augenblick lang an und ich bereute, dass ich überhaupt davon angefangen hatte. Er wollte mich nicht und ich musste das endlich akzeptieren.

 

„Sollen wir zurückgehen?“, fragte er nach einer Weile und ich nickte stumm. Die Stimmung zwischen uns war wieder einmal ruiniert und das war ganz allein meine Schuld. Ich schluckte schwer an dem Kloß, der jetzt in meinem Hals saß. Ich rechnete damit, dass sich unsere Wege einfach wieder trennen würden, sobald wir das Lager erreichten, aber wieder überraschte Benedikt mich. Als bereits die ersten fröhlichen Kinderstimmen zu hören waren, blieb er stehen. Er drehte sich herum, stellte sich vor mich hin und sah mich geradeheraus an.
 

„Also, ich … ich kann dir nicht versprechen, dass ich so der kompetenteste Ansprechpartner bin für die Fragen, die du bestimmt hast. Aber ich kann dir anbieten, dass du mit mir reden kannst, wenn dir was auf dem Herzen liegt. Ich weiß, wie scheiße es ist, wenn man ganz alleine damit ist. Und was für eine Erleichterung es sein kann, wenn da jemand ist, an den man sich wenden kann. Mit dem man einfach mal quatschen kann, weil er in der gleichen Lage ist wie man selbst. Deswegen würde ich dir gerne anbieten, dass … dass ich dir meine Nummer gebe. Dann kannst du mir notfalls schreiben oder mich anrufen, wenn was ist. Also wenn wir wieder zu Hause sind.“

 

Der Klumpen in meinem Hals rutschte augenblicklich eine Etage tiefer. Er wollte mir … seine Nummer geben?

 

Noch einmal, hämmerte es in meinem Kopf. Und beinahe wäre mir herausgerutscht, dass er das nicht musste. Dass ich den Zettel, den er mir nach jener Nacht im letzten Sommer geschrieben hatte, immer noch aufbewahrte. Ganz tief unten unter all meinen Texten lag er. Inzwischen verblichen, zerknittert und mit einem feinen Riss, den ich mit Klebeband repariert hatte, nachdem ich ihn aus Versehen einmal zu heftig hervorgezogen hatte. Aber das erzählte ich Benedikt nicht. Stattdessen nickte ich.
 

„Danke. Ich … ich gebe dir dann auch meine Nummer?“

 

Die Frage klang ein wenig zu hoffnungsvoll in meinen Ohren und ich konnte nur beten, dass Benedikt es nicht bemerkte. Aber er bestätigte das nur ebenfalls mit einem Nicken.
 

„Okay“, meinte er und sah sich um, bevor er noch einmal tief durchatmete. „Da wäre nur noch eine Sache.“

 

Ich hob den Kopf und sah ihn an. Was würde jetzt kommen?

 

„Also das vorhin … das mit dem Kuss. Mach das bitte nie wieder.“

 

Ich war im ersten Moment wie vor den Kopf geschlagen, bevor ich mir ein kleines, sehr zaghaftes Lächeln erlaubte. Ich merkte, wie ich rot wurde, aber ich hielt seinem ebenfalls leicht verlegenen Blick trotzdem stand.
 

„Ich verspreche es“, sagte ich und war froh, dass er nicht mehr verlangt hatte, denn ich wusste, dass ich ihm nichts hätte abschlagen können. Ich hätte alles getan, nur um in seiner Nähe bleiben zu können.
 

„Dann mal los. Ich glaube, dir steht noch eine Runde Wikinger-Schach bevor.“

 

Ich lächelte breiter und er erwiderte es, bevor er mir noch einmal ein wenig ungelenk auf die Schulter schlug und wir endlich zum Lager zurückkehrten.

Aller Anfang ist schwer

Wikinger-Schach wurde in Mannschaften von bis zu sechs Spielern gespielt, die sich an den schmalen Seiten eines fünf mal acht Meter betragenden Spielfeldes gegenüberstanden. Das Ziel des Spiels bestand im Wesentlichen daraus, mit runden Wurfhölzern auf die eckige Klötze, die sogenannten Kubbs, der Gegenmannschaft zu zielen, um diese zum Umfallen zu bringen. Gelang das in einem Zug, durfte nach dem König, dem größten, in der Mitte des Feld stehenden Klotz geworfen werden. Andernfalls wurde die umgefallenen Kubbs wieder ins Spiel gebracht, dienten dieses Mal jedoch als Hindernis für die Gegenmannschaft, die diese erst aus dem Weg räumen musste, bevor sie die feindlichen Kubbs angreifen durfte. Am Schluss siegte die Mannschaft, die zuerst den König zu Fall brachte.

 

Ich war ebenso wie Reike in eine der Mannschaften eingeteilt worden und bemühte mich, nicht allzu offensichtlich besser zu werfen als die Kinder. In der ersten Runde hatte ich mich noch richtig angestrengt, aber als mir klar wurde, dass die Kinder nicht so zielsicher waren wie ich, nahm ich mich doch lieber etwas zurück. Es gab mir Zeit, meinen Blick ab und an zu der zweiten, auf dem Sportplatz anwesenden Gruppe schweifen zu lassen. Dort konnte ich Benedikt und Stephan dabei zusehen, wie sie mit den Kindern ein Tauziehen veranstalteten. Vorher hatten sie schon Speerwerfen und Bogenschießen geübt, alles unter dem Deckmantel des „Wikingerlebens“. Dementsprechend waren auch fast alle Kinder verkleidet; die Jungs mit ähnlichen Tuniken wie ich, die Mädchen mit wadenlangen Kleidern und schürzenähnlichen Leibchen, die von einem Gürtel zusammengehalten wurden. Die meisten trugen dabei auch noch Kopftücher. Es gab allerdings auch einige Mädchen, die darauf bestanden hatten, lieber ebenfalls eine Tunika überzuziehen.

 

„In den Kleidern kann man ja gar nicht laufen“, hatten sie gemeint und anstandslos ebenfalls die männlichen Trachten ausgehändigt bekommen. Ich fragte mich, ob es andersherum auch so ausgesehen hätte.

 

„Theo, du bist dran?“, ermahnte mich da auf einmal Reike. Ich hatte mal wieder meinen Einsatz verpasst.

 

„Tut mir leid“, murmelte ich und warf mit meinem Wurfholz nach einem der Klötze, die auf der generischen Grundlinie standen. Ich verfehlte ihn knapp und überließ meinen Platz dem nächsten Spieler.

 

Als ich nach hinten trat, traf mich Reikes wachsamer Blick.

 

„Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so zerstreut.“

 

Schnell setzte ich ein Lächeln auf.

 

„Ja, alles in Ordnung. Es ist nur … ich habe gerade darüber nachgedacht, wie wir wohl reagiert hätten, wenn einer der Jungen lieber ein Kleid angezogen hätte.“

 

Reike sah mich zuerst ein wenig erstaunt an, doch dann lächelte sie.

 

„Das ist eine gute Frage. Ich hätte ihm das Kleid sicherlich ausgehändigt, aber ich könnte mir vorstellen, dass er dafür von den anderen ausgelacht worden wäre. Was schade ist, denn jeder sollte das Recht haben, das zu tun, was ihn glücklich macht, unabhängig von seiner Herkunft, Hautfarbe oder seinem Geschlecht.“

 

Ich lachte auf.

 

„Du klingst wie ein Gesetzestext.“

„Nun, als Frau in einem Beruf, der über Generationen hinweg von Männern dominiert wurde, lernt man so einiges. Da musst du immer wieder beweisen, dass du genauso gut, wenn nicht sogar besser bist als deine männlichen Kollegen. Zum Glück ändert sich das immer mehr. Man darf auf das Geschwätz der anderen einfach nicht so viel geben.“

 

Sie lächelte, aber als ich den Ausdruck in ihren Augen sah, diesen leichten Schleier von Traurigkeit, ahnte ich, dass hinter dieser Einstellung ein weiter Weg lag. Eine ganze Menge Schweiß und Tränen. Tage, an denen man am liebsten aufgeben würde. Alles hinschmeißen und sich einen einfacheren Beruf suchen. Einen, von dem die Gesellschaft dachte, dass er sich „für eine Frau gehörte“, was immer das auch hieß. Aber Reike hatte nicht aufgegeben. Sie hatte sich durchgebissen und ihren Traum wahrgemacht.

 

„Ich finde es toll, dass du Tischlerin bist“, sagte ich und nach einem kurzen Zögern, vertiefte sich ihr Lächeln.

 

„Und ich bin froh, dass du dich auf den Weg gemacht hast.“

 

Ich wollte sie noch fragen, wie sie das meinte, aber dann war sie auf einmal dran mit Werfen und der Moment verging, ohne dass ich den Mund aufgemacht hatte. Aber vielleicht musste ich das auch nicht. Vielleicht reichte es, wenn ich ihr Lob einfach annahm. Zwar hatte ich das Gefühl, dass ich noch lange nicht genug getan hatte, und dass das, was ich getan hatte, bei Weitem nicht perfekt gewesen war, aber es stimmte. Ich war auf dem Weg und zum ersten Mal fühlte ich in mir Hoffnung aufsteigen. Die Hoffnung, dass dieser Weg tatsächlich auf ein gutes Ziel zuführen würde, selbst wenn die Zeit bis dahin lang und die Strecke beschwerlich werden würde. Für diesen Moment hatte ich das Gefühl, dass ich es schaffen konnte. Das alles irgendwann gut werden würde.

 

 

Manchmal steht man am Abgrund

Sieht den Ausweg nicht mehr

Das Leben scheint trostlos

Man fühlt sich einsam und leer

Dann überlegt man zu springen

Es zu Ende zu bringen

Doch was soll das bringen

Man kommt dem Glück so nicht näher

 

Darum komm weg von der Kante

Tritt einen Schritt zurück

Überleg noch mal richtig

Wäre das nicht verrückt

Denn wenn du nicht mehr da bist

Kein Wort von dir mehr wahr ist

Und es allen klar ist

Dass es dich nicht mehr gibt

 

Dann kannst du's nicht mehr ändern

Dann bleibt alles, wie es ist

Dann wird die Welt ein kleines bisschen weniger bunt

Weil du weggegangen bist

 

Es gibt so viele da draußen

Denen es genauso geht wie dir

Die sich Tag für Tag fragen

Warum bin ich eigentlich noch hier

Doch jeder von ihnen

Ist wichtig und wir lieben

Einfach jeden von ihnen

Deswegen glaube mir

 

Zusammen werden wir es ändern

Dann bleibt nichts mehr, wie es ist

Dann wird die Welt wieder ein kleines bisschen bunter

Weil du hier geblieben bist

 

Gib mir deine Hand, Freund

Ich halte sie fest für dich

Zusammen werden wir es schaffen

Verlass dich einfach auf mich

Ich gehe nicht fort hier

Bleib für immer bei dir

Doch bitte versprich mir

Dass du weitermachst für mich

 

Denn sonst kannst du's nicht mehr ändern

Dann bleibt alles, wie es ist

Dann wird die Welt ein kleines bisschen weniger bunt

Weil du weggegangen bist

 

Aber zusammen können wir es ändern

Dann bleibt nichts mehr, wie es ist

Dann wird die Welt wieder ein kleines bisschen bunter

Weil du hier geblieben bist

 

 

Mit meinen Gedanken immer noch bei den Lyrics und dem festen Vorsatz, mir nachher noch ein Stück Papier zu suchen, um sie aufzuschreiben, betrat ich die Waschräume. Der Tag hatte seine Spuren hinterlassen und ich wollte die Gelegenheit nutzen, dass die meisten gerade beim Essen saßen, um mich in Ruhe zu duschen. Kaum hatte ich jedoch den hinteren Bereich betreten, in dem die Duschen lagen, wäre ich beinahe wieder rückwärts rausgestolpert. Der Raum war nicht leer und ich hatte aufgrund der baulichen Gegebenheiten einen hervorragenden Ausblick auf den splitterfasernackten Körper, der unter einer der kalkbedeckten Brausen stand. Mit breitem Grinsen hieß mich der Duschende willkommen, während er Seife auf seinem Körper verteilte.

 

„Hey, Theo, willst du auch duschen?“

 

Ich schluckte und nickte, bevor ich hastig den Blick abwandte und mit Handtuch und Waschzeug an den Rand des Raums flüchtete, in dem die Waschbecken untergebracht waren. Kilian. Ausgerechnet er. Warum nur? Warum? Und warum hatte ich nicht behauptet, mir nur die Zähne putzen zu wollen. Jetzt musste ich das Ausziehen so lange herauszögern, bis er fertig war. Hoffentlich merkte er das nicht.

 

Das Rauschen des Wasser übertönte zum Glück meinen pochenden Herzschlag, während ich mit leicht zittrigen Fingern in meinem Kulturbeutel herumkramte, als würde ich dort etwas suchen. Meine Brille beschlug, also setzte ich sie ab. So verhinderte ich wenigstens das Schlimmste. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?

 

Das Geräusch der Dusche verstummte und kurz darauf hörte ich patschende Schritte auf den weißen Fliesen, die langsam näherkamen. Ich war immer noch angezogen.

 

„Ich dachte, du wolltest duschen.“

 

Kilian stand jetzt kurz hinter mir. Den Geräuschen oder besser deren Fehlen nach zu urteilen tat er auch nichts anderes. Er starrte mich einfach nur an, während das Wasser seinen Körper herabrann. Der immer noch nackt war und nicht unbedingt schlecht gebaut. Keine gute Situation.

 

„Ja, ich … ich hab noch mein Duschgel gesucht.“

„Das steht doch da.“

 

Mein Blick richtete sich auf die blaue Flasche, die genau neben mir auf dem Waschtisch stand. Natürlich. Was für eine dumme Ausrede. Jetzt wurde es langsam peinlich.

 

„Ach, danke. Ich seh ja ohne Brille fast nichts.“

 

Für einen Moment krallte ich mich noch an meinem Handtuch fest, bevor ich langsam meine Finger einen nach dem anderen entspannte. Ich musste jetzt anfangen, mich auszuziehen, sonst …

 

„Sag mal, ist dir das unangenehm?“

 

Volltreffer. Ich spürte, wie ich rot anlief. Zum Glück waren die Spiegel vor mir ebenfalls beschlagen, sodass er das nicht sehen konnte. Jetzt nur nicht umdrehen.

 

„Nein, warum?“

„Na, weil du dich immer noch nicht ausgezogen hast.“

 

Ich spürte seinen Blick in meinem Nacken und wusste, dass ich jetzt irgendwie reagieren musste. Wahrscheinlich sollte ich einfach an etwas anderes denken und mich nicht darum kümmern. Es war ja nicht so, dass er wusste, dass ich schwul war. Und ich würde seinetwegen sicherlich keine körperlichen Anzeichen irgendwelcher Erregung bekommen. Also war es albern, mich davor zu fürchten, neben ihm zu duschen. Absolut dämlich. Nur weil ich mal kurz … hingesehen hatte. Aber das wusste er ja nicht. Außerdem war es keine Absicht gewesen. Es war nur sehr auffällig, dass er eben sehr … gut bestückt war.

 

Ich hörte ihn hinter mir schnauben, bevor seine Schritte an mir vorbeiliefen, sodass ich bei einem Seitenblick mit der Aussicht auf seinen Hintern belohnt wurde. Er griff nach einem Handtuch.

 

„Ach, vielleicht bist du ja auch nur ein bisschen prüde. Aber du brauchst keine Angst haben. Ich guck dir schon nichts ab.“

„Danke.“

 

Innerlich schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Jetzt hielt er mich auch noch für verklemmt. Konnte es noch schlimmer werden?

 

„Mein Kumpel hat da echt schon Dinge erlebt, das geht auf keine Kuhhaut. Da weigern sich echt welche von den Kameraden mit ihm zu duschen, nur weil er schwul ist. Absoluter Schwachsinn, wenn du mich fragst. Als wenn der sich an jedem hässlichen Vogel aufgeilen würde, der ihm vor die Flinte kommt. Also echt.“

 

Ich blinzelte verblüfft und wusste nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollte. Die Situation

wurde immer surrealer. Ich räusperte mich.

 

„Ich hätte da kein Problem damit“, sagte ich mit leicht belegter Stimme und fing nun doch endlich an, mich auszuziehen. Erst einmal die Socken und Hose. Das war ungefährlich, solange ich die Unterwäsche noch anließ.

 

„Macht ja auch gar keinen Sinn. Zumal einem schon nicht der Schwanz abfällt, nur weil da mal einer hinguckt. Ich war schon oft genug FKK unterwegs und da ist bisher alles am rechten Fleck geblieben.“

 

Er begann jetzt sich abzutrocken und zeigte dabei so gar keine Hemmungen, wie ich feststellen durfte. Das Handtuch berührte immer nur die notwendigsten Stellen. Davon aber auch wirklich alle.

 

„Klar war das in der Pubertät auch mal peinlich. Ich weiß noch, wie ich mal in der Schule beim Schwimmen einen Ständer gekriegt hab in der Dusche. Das lag garantiert auch nicht an den Typen um mich herum. Kann halt mal vorkommen, wenn man so im Saft steht. Solange man sein Ding nicht andern unter die Nase hält, ist doch alles paletti.“

 

Er lachte und ich wünschte mir irgendein Loch, in dem ich verschwinden konnte. Gleichzeitig merkte ich, wie langsam die Anspannung von mir abfiel. Kilian war cool damit, dass sein Kumpel schwul war. Er fand auch nichts dabei, neben ihm oder irgendeinem anderen Kerl zu duschen. Ich hatte mir also vollkommen umsonst einen Kopf gemacht. Nur sein Gelaber über Ständer unter der Dusche hätte ich echt nicht gebraucht.

 

„Tja, ist schon nicht einfach, ein Mann zu sein“, bemerkte ich scherzend und zog mir auch noch das T-Shirt über den Kopf.

 

Kilian lachte und begann jetzt endlich, sich etwas anzuziehen, während ich nur noch in meiner Unterhose vor ihm stand. In dem Moment stellte ich fest, dass ich mich vielleicht in Kilian getäuscht hatte. Sicherlich, seine Art war anstrengend und wir würden wohl niemals allerbeste Freunde werden, aber im Grunde genommen war er ein anständiger Kerl. Ein anständiger Kerl mit Goofy-Boxershorts. Ich unterdrückte in Grinsen.

 

„Was?“, wollte er wissen, aber ich schüttelte nur den Kopf.

„Nichts, ich geh dann mal duschen.“

 

Ohne ihn noch weiter zu beachten, entledigte ich mich auch noch des letzten Stoffstückes und schnappte mir mein Duschgel, um mich nun endlich unter die Brause zu stellen. Während das warme Wasser auf meinem Kopf niederrauschte, schloss ich für einen Moment die Augen. Es stimmte schon, unter dem Wasserstrahl zu stehen war absolut angenehm. Ich hörte, wie Kilian mir eine Verabschiedung zurief und dann offenbar nach draußen verschwand. Ich war allein.

 

Allein, aber nicht einsam.
 

Der Gedanke ließ ein kleines Lächeln auf mein Gesicht wandern. Wie lange war es her, dass es sich so angefühlt hatte? Sicherlich, wenn ich mich mit meinen Freunden traf, war ich auch nicht allein, doch gleichzeitig war da immer diese unsichtbare Mauer, die mich von ihnen trennte. Ein Teil von mir, den ich verstecken musste. Den ich niemand sehen lassen durfte. Sätze, die ich nicht aussprach, um mich nicht zu verraten. Bemerkungen, die ich zurückhielt, um mich nicht verdächtig zu machen. Dinge, die ich nicht tat, damit keiner auf dumme Gedanken kam. Doch jetzt gab es einen Platz dafür. Jemanden, mit dem ich auch Sachen teilen konnte, die ich sonst niemandem erzählte. Ich war nicht mehr allein.

 

Dieses Gefühl verflüchtigte sich allerdings ein wenig, als ich nach einer halben Ewigkeit endlich die Dusche verließ und nach einem Blick auf die Uhr feststellte, dass die Abendbrotzeit schon vergangen war. In Windeseile zog ich mich an und stürzte in Richtung Speisesaal. Dort waren gerade die Mädchen, die heute Schladi hatten, dabei, die Tische abzuwischen. Von Essen keine Spur mehr.

 

Als ich wie ein begossener Pudel vor den leeren Tafeln stand, entdeckte mich Susanne.
 

„Ah, Theo, wo kommst du denn her? Ich habe dich beim Abendessen vermisst.“

„Ich war duschen und habe die Zeit vergessen. Krieg ich noch was?“

 

Ich setzte einen Hundeblick auf und Susanne, die erst versucht hatte, mich streng anzuschauen, lachte über das ganze Gesicht.
 

„Na schön, setz dich da hin, ich bring dir gleich was. Soll niemand sagen, dass ich hier jemanden verhungern lasse. Aber wehe, du erzählst das herum, dann bekommst du hiermit eins übergebraten.“

 

Sie drohte mit mit einer Schöpfkelle und machte sich dann daran, in der Küche herumzuwerkeln. Keine fünf Minuten später stand ein Riesenteller Rührei und zwei dick mit Butter beschmierte Brote vor mir. Ich stöhnte.
 

„Wer soll denn das alles essen?“

„Na du“, meinte Susanne mit einem Grinsen. „Du bist ja schon ganz abgemagert. Junge Kerle wie du müssen ordentlich essen.“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass ich überhaupt nicht zu dünn war, aber dann fiel mir ein, dass ich heute Morgen schon festgestellt hatte, dass meine Hose ein wenig lockerer saß. Das lag vielleicht daran, dass ich in letzter Zeit keinen rechten Appetit gehabt hatte. Jetzt jedoch knurrte mein Magen und verlangte mit Nachdruck nach Nahrung.

 

„Na, dann mal los“, murmelte ich und begann, den Berg zu vernichten. Ich bemühte mich wirklich redlich, aber nach der halben Portion war endgültig Schluss. Ich war pappsatt.

 

„Susanne, ich kann nicht mehr, auch wenn es wirklich köstlich war.“

 

Sie grinste und ihre runden Wangen glänzten rot.
 

„Freut mich, dass es dir geschmeckt hat. Aber so ein Ei in die Pfanne zu hauen ist ja nun wirklich keine Kunst. Das könntest du auch selber machen.“

„Ich hab aber noch nie gekocht.“
 

„Nicht?“ Susanne zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. „Na, da wird es aber höchste Zeit. Du willst dich doch später nicht von Fertiggerichten ernähren müssen. Und mit Freunden zu kochen kann so viel Spaß machen. Ich bin ja der Meinung, so was sollte Schulfach sein und nicht dieser ganze Blödsinn, den sie euch da beibringen. Wenn die Menschen sich vernünftig ernähren, würden die Krankenkassen viel Geld sparen.“

 

„Und die Fitnessstudios pleite gehen.“

 

Ich grinste und Susanne lachte, bevor sie mit den Resten meiner Mahlzeit wieder in der Küche verschwand. Während ich sie dort hantieren hörte, dachte ich daran, dass ich früher gerne beim Kochen geholfen hatte. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Warum wusste ich nicht mehr, aber eigentlich fiel mir kein rechter Grund ein, warum ich nicht kochen lernen sollte.

 

Außer die blöden Bemerkungen von Christopher.

 

Und plötzlich wusste ich es wieder. Die vielen Gelegenheiten, in denen mein Bruder mich aufgezogen hatte. Mich getriezt hatte, weil ich „Mädchenkram“ mochte. Weil ich lieber unserer Mutter im Haus half, anstatt draußen unserem Vater zur Hand zu gehen. Natürlich war ich auch durch Pfützen gesprungen, hatte an Schneeballschlachten teilgenommen und war mehr als einmal mit aufgeschlagenen Knien nach Haus gekommen. Aber irgendwie war das immer das Gefühl geblieben, dass ich der Kleine war. Dass, was immer ich tat, weniger wert war.

 

Irgendwie bescheuert, dachte ich bei mir und befand, dass ich mir wohl ein dickeres Fell würde zulegen müssen. Ein bisschen mehr so wie Reike werden, wenn ich mich nicht auf ewig verstecken wollte. Denn das ich das nicht wollte, das wusste ich jetzt mit immerhin achtzigprozentiger Sicherheit. Ich wusste nur noch nicht so recht, wie ich das anstellen sollte.

 

 

Als ich kurze Zeit darauf mit meiner Gitarre am Lagerplatz ankam, waren noch nicht viele Kinder da. Die meisten von ihnen bevölkerten wohl noch die Waschräume und ich war froh darum, das Ganze schon hinter mir zu haben. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich jedoch Benedikt, der sich unweit seines üblichen Sitzplatzes auf einer Bank niedergelassen hatte und in die Flammen des Lagerfeuer starrte, das heute von Melina bewacht wurde. Ich grüßte sie, lehnte mein Instrument gegen einen der Stühle und schlenderte dann zu Benedikt hinüber. Als er mich bemerkte, hob er den Kopf.
 

„Hey“, rief er und lächelte. „Du siehst besser aus.“

 

„Tja, bin frisch geduscht und hatte ein halbes Dutzend Eier zum Abendbrot. Das muss einen ja wieder aufrichten.“

 

„Hört, hört“, spottete er und rutschte dann ein Stück zur Seite, damit ich neben ihm Platz fand.

 

Ein wenig zögernd setzte ich mich, während er wieder nach vorne sah.
 

„Und sonst?“, meinte er leise. „Auch wieder alles okay?“

 

Ich schob die Mundwinkel nach oben.

 

„Ja, besser. Danke nochmal.“

„Keine Ursache.“
 

Er sah mich kurz an und dann wieder in die Flammen. Schweigen breitete sich aus und ich überlegte. Sollte ich ihm das von Kilian erzählten? Warum eigentlich nicht?

 

Beton lässig lehnte ich mich ebenfalls nach vorne.
 

„Sag mal, warst du schon mal mit Kilian duschen?“

 

Ich erntete einen scheelen Seitenblick.
 

„Nein, wieso?“

„Na weil … weil ich vorhin reingeplatzt bin, als er unter der Dusche stand.“

 

Benedikts Lippen kräuselten sich amüsiert. „Und?“

 

„Na ja … es gab da Dinge, die einfach nicht zu übersehen waren.“

 

Er lachte auf. „So schlimm?“

 

„Schlimmer“, erwiderte ich mit Grabesstimme. „Jedes Pferd würde vor Neid erblassen.“

 

Einen Moment lang sah er mich noch verdutzt an, dann prustete er plötzlich los. Er lachte so laut, dass Melina uns einen irritierten Blick zuwarf und auch einige der Kinder zu uns rübersahen. Ich bemühte mich, ernst zu bleiben, aber Benedikts Lachen war so ansteckend, dass ich ebenfalls anfing zu grinsen.

 

Als wir uns endlich wieder beruhigt hatte, schüttelte Benedikt immer noch schmunzelnd den Kopf.

 

„Oh man, Theo. Dafür, dass du so lange gebraucht hast, bist du jetzt ja mit Feuereifer dabei.“

 

„Was denn?“, gab ich gespielt empört. „Ist ja nicht so, dass ich hinsehen wollte. Das war wie ein Unfall. Da hättest du auch geguckt.“

 

„Aber hundertpro.“

 

Der Satz kam mit solcher Überzeugung und dabei grinste er immer noch, sodass ich unwillkürlich auch lächeln musste. Ein Teil von mir wollte immer noch darauf bestehen, dass es falsch war, was ich getan hatte. Aber der andere deutete mit ausgestrecktem Arm auf Benedikt und verlangte zu wissen, warum es denn falsch sein sollte, wenn es für ihn offenbar okay war. Er musste schließlich wissen, wie es ging. Ich räusperte mich.
 

„Machst du … also machst du das eigentlich öfter? Hingucken meine ich.“

 

Er zuckte mit den Achseln.
 

„Na ja, in der Regel nicht. Bin ja kein Spanner. Aber bei so offensichtlichen Tatsachen. Da kann man schon mal einen Blick riskieren. Oder auch zwei, wenn nötig.“

 

Seine Augen funkelten mich belustigt an und dann zwinkerte er mir doch tatsächlich zu. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich behauptet, dass er mit mir flirtete. Aber natürlich war das Schwachsinn, denn schließlich hatten wir das geklärt. Wir hatten es geklärt! Trotzdem war da diese Frage, die sich mir förmlich aufdrängte und noch bevor ich wusste, was ich wirklich tat, hatte ich sie auch schon gestellt.

 

„Hast du bei mir auch schon mal geguckt?“

 

Sofort zog sich Benedikts Gesichtsausdruck etwas zu.
 

„Warum fragst du das?“

„Ach, nur so. Aus reiner Neugierde.“

 

Er atmete tief ein und aus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
 

„Ich würde wohl lügen, wenn ich Nein sagen würde. Aber ich hab nicht mit Absicht gespannt.“

„Weiß ich doch. Wollt’s nur wissen.“

 

Dass mir bei dem Gedanken ein kleiner, nicht unangenehmer Schauer über den Rücken rieselte, musste ich ihm ja nicht verraten. Allein die Vorstellung, dass er mich beobachtet und sich dabei womöglich ausgemalt hatte, mich zu küssen oder mehr, ließ das Blut in meinen Adern schneller kreisen. Es fühlte sich aufregend an. Ein bisschen verboten. So wie nachts im Freibad über den Zaun zu klettern. Man wusste, dass man es nicht tun sollte, aber trotzdem konnte man einfach nicht widerstehen.

 

Plötzlich wurde mir bewusst, wie dicht wir nebeneinander saßen. Ich hätte meine Hand nur ein kleines Stückchen ausstrecken müssen, um seine Finger zu berühren, die er neben sich auf die Bank gestützt hatte. Wie es sich wohl anfühlte, seine Hand zu halten?

 

Mein Blick wanderte höher, an seinem Körper entlang zu seinem Gesicht. Er schaute geradewegs nach vorn in die Flammen und der Abendwind spielte mit den dunklen Strähnen, die ihm in die Stirn fielen. Er sah gut aus. Gelöst, entspannt und mit sich im Reinen. Nicht so wie ich, der immer noch nicht so richtig wusste, was er wollte. Aber vielleicht war auch das okay. Vielleicht würde ich eben ein bisschen rumprobieren müssen, um zu sehen, welcher Schuh mir passte. Aber wenn ich es herausgefunden hatte, würde vielleicht endlich das Gefühl verschwinden, meinen Leben hinterherzurennen, ohne wirklich mit ihm Schritt halten zu können.

 

Benedikt wandte mir plötzlich den Kopf zu und sah mich fragend an.
 

„Ist was?“

 

Ich lächelte leicht und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, es ist nichts. Ich … ich muss aber langsam mal nach vorne gehen.“

„Ja, das musst du wohl.“

 

Für einen flüchtigen Moment berührten sich unsere Blicke und ich hätte schwören können, dass da Bedauern in seinem lag. Wenigstens ein ganz kleines bisschen. Aber vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet.
 

„Ich geh dann mal.“

„Okay.“

„Jetzt wirklich.“

„Ja, hab ich verstanden.“

„Ich …“

 

Er lachte. „Theo, jetzt geh endlich. Wir sehen uns doch morgen wieder.“

 

Ich biss mir auf die Lippen, um nicht das „Versprochen?“ herausrutschen zu lassen, dass mir bereits auf der Zunge lag. Stattdessen rettete ich mich in ein Grinsen.

 

„Na schön. Aber heute Abend spiel ich das Stachelschweinlied nur für dich.“

 

Er grinste nun ebenfalls und senkte ein wenig den Kopf, um meinem Blick auszuweichen.
 

„Dann gib dir aber mal richtig Mühe.“

„Für dich doch immer.“
 

Die Worte waren schneller aus meinem Mund, als ich sie zurückhalten konnte. Mein Atem stockte, als er mich wieder ansah. Da war Misstrauen in seinem Blick, aber auch noch etwas anderes. Etwas, dass mir Hoffnung machte. Bevor ich jedoch etwas Dummes dazu bemerken konnte, wandte ich mich lieber schnell ab, stand auf und stakste zu meinem Platz zurück. Dort saß ich mit klopfendem Herzen und konnte nur hoffen, dass mich niemand ansprach, bevor ich mich wieder beruhigt hatte. Denn in diesem Moment ließ es sich nicht mehr leugnen. Ich war in Benedikt verliebt und es würde verdammt schwierig werden, nur mit ihm befreundet zu sein.

Hand in Hand

„Ey Alter, lass das.“

 

„Ich mach doch gar nichts.“
 

„Jungs …“

 

„Ich hab gesagt, du sollst das lassen.“

 

„Jungs!“

 

„Jetzt hör endlich auf mit dem Scheiß.“

 

„Tim!“
 

„Ja, was denn? Ist doch voll schwul, hier nur rumzuliegen.“

 

Ein entnervtes Jungengesicht guckte mich an.

 

„Ich darf zu Hause auch immer aufbleiben“, meldete sich jetzt auch noch Lasse zu Wort und gab damit den Startschuss für einen Schwall an Beteuerungen und Verwünschungen, mit dem die Kids sich über die Ungerechtigkeit der erzwungenen Bettruhe beschwerten. Wer immer auch auf die Idee gekommen war, alle Kinder vor der Nachtwanderung eine Stunde zum „Vorschlafen“ zu schicken, hatte anscheinend nicht miteingerechnet, dass die Zehn- bis Elfjährigen so überhaupt nicht daran dachten, sich still und friedlich in ihre Betten zu legen.

 

Ich zählte nicht mehr bis zehn, sondern entließ meinen Unmut ebenso wie die anderen Zeltinsassen in die Freiheit.

 

„Noah, lass Tim endlich in Ruhe. Und du, Tim, mäßige dich gefälligst in deiner Wortwahl.“

 

Wütend blitzte ich den vorlauten Zwilling an, der offenbar ebenso wie Noah das Ärgern seines Nebenmannes zur einzig möglichen Beschäftigung erkoren hatte und somit das Epizentrum dieses Aufruhrs bildete.

 

„Mäßige dich in deiner Wortwahl“, äffte er mich nach, allerdings nur leise. Das Augenverdrehen, das er dazu machte, war allerdings laut genug.

 

„Es reicht jetzt“, donnerte ich und kam endgültig aus meiner liegenden Position hoch. „Noch ein Mucks von einem von euch und ihr bleibt alle hier. Das gesamte Zelt!“

 

Murrend legten sich die Jungen wieder auf ihre jeweilige Bettstatt und schmollten dort vor sich hin. Zum Glück gab es hier drinnen keinen Rauchmelder, denn der hätte bei der dicken Luft sicherlich schon längst Alarm geschlagen.

 

Wo Stephan bloß bleibt?

 

Solange er nicht da war, hatte ich das Oberkommando über die „Bilgenratten“, wie sie sich genannt hatten. Jedes der Zelte hatte ganz am Anfang einen Gruppennamen bestimmen müssen, und da Stephan so kreative Namensschöpfungen wie „Die Hundehaufen“ oder „Kackedus“ abgelehnt hatte, waren wir irgendwann bei diesem hier gelandet. Wobei ich zugeben musste, dass die Ratte im Matrosenkostüm, die Jasper auf unser Schild gemalt hatte, gar nicht mal schlecht aussah, selbst wenn die anderen gemosert hatten, das sie zu viel Ähnlichkeit mit Hein Blöd hatte.

 

Im Nachhinein wäre es mir lieber gewesen, wenn wir schimpfwortmäßig auf dem Fäkal-Niveau geblieben wären, aber als Finn das erste Mal die frühe Bettgehzeit als „schwul“ bezeichnet hatte, hatte ich ihn dummerweise gefragt, ob er denn überhaupt wisse, was das hieße.
 

„Blöd halt“, hatte er gemeint. „Sagt mein Bruder auch immer, wenn er Hausaufgaben machen muss.“

 

In dem Moment war mir klargeworden, auf was für dünnes Eis ich mich begeben hatte. Einerseits wollte ich es nicht unkommentiert lassen, andererseits war es nicht an mir, die Kinder zu erziehen oder gar aufzuklären. Also verbot ich ihnen das Wort einfach, was natürlich dazu geführt hatte, dass es jetzt erst recht in aller Munde war. Nicht in dem Sinne, in dem es andere gebrauchten, aber der Grundstein war damit alle Mal gelegt.

 

Ich bin so dämlich, dachte ich bei mir und war ehrlich erleichtert, als Stephan endlich zurückkam und wieder das Kommando übernahm.
 

„Alles in Ordnung hier?“, wollte er wissen und musterte mich kritisch.
 

„Ja, alles bestens. Ich geh aber nochmal raus.“

„Gut, aber denk dran, in einer halben Stunde geht’s los.“

„Bis dahin bin ich zurück.“

 

Ich schlüpfte durch die Plane nach draußen und hatte zum ersten Mal seit gefühlten zwei Stunden das Gefühl, frei atmen zu können. Ich wusste, dass es unnötig war, mich so darüber aufzuregen, aber eigentlich war es auch nicht das Wort an sich, das mich so gestört hatte. Es war mehr meine Unfähigkeit, mich in der Situation sinnvoll zu verhalten, die mich so aus der Bahn gebracht hatte.

 

Weil du Schiss hattest, dass sie was merken.
 

Dabei hatte ich doch gedacht, ich wäre jetzt cool damit. Doch diese Coolness reichte anscheinend auch nur bis zu meiner eigenen Nasenspitze. Ich schnaubte und machte mich auf den Weg zum Betreuerheim. Als ich eintrat, erwartete ich allein zu sein, doch an einem der Tische saß zu meinem Erstaunen jemand. Jemand, den ich hier nicht erwartet hatte. Sofort wurden meine Schritte langsamer.
 

„Hey“, machte ich und hob grüßend die Hand. „Stör ich dich?“

 

Benedikt sah von seinem Handy auf und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, warum?“

„Ach, nur so. Wollte nur sichergehen.“

 

Ich schloss die Tür hinter mir und machte dabei etwas langsamer, als ich eigentlich gemusst hätte. Die Gedanken ratterten durch meinen Kopf. Am liebsten hätte ich ihm sofort von dem Vorfall im Zelt erzählt. Vielleicht hatte er eine Idee, wie man mit so was umging. Gleichzeitig wollte ich ihm nicht zu sehr auf die Pelle rücken. Selbst Kilian hatte bereits mit dem ihm eigenen Taktgefühl festgestellt, dass wir in den letzten Tagen häufiger als vorher zusammen abhingen. Meist saßen wir sogar beim Essen an einem Tisch, obwohl ich ja eigentlich zu den „Ratten“ gehört hätte statt zu den „Gummibärchen“, wie sich Benedikts Zelt genannt hatte. Der Einzige, den das so überhaupt nicht störte, war Kurt.

 

„Ich find’s gut, dass ihr wieder miteinander redet“, hatte er dazu zu sagen gehabt. „Meine Mama sagt auch immer zu meinem Papa, dass man über Probleme sprechen muss.“

 

„Und was sagt dein Papa dazu?“, hatte Benedikt schmunzelnd gefragt.
 

„Gar nichts“, hatte der Knirps lapidar geantwortet und noch einmal von seinem Fischstäbchen abgebissen. „Der geht lieber angeln.“

 

Fürs Angeln war es jetzt allerdings etwas spät, daher atmete ich noch einmal tief durch und hoffte, dass man mir nicht ansah, dass mich gerade etwas umtrieb. Leider versagte diese Strategie bei Benedikt vollkommen. Kaum hatte ich mich an den Tisch gesetzt, zog er fragend die Augenbrauen nach oben.
 

„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Keine. Wieso?“

„Na, weil du so guckst.“

 

Ich seufzte.

 

„Ach nichts. Kinder sind anstrengend.“

„Erzähl mir was Neues.“
 

Er grinste und schob mir die Naschkiste rüber, an der er sich offenbar gerade bedient hatte. Ich spähte über den Rand und rümpfte die Nase.

 

„Nur noch Lakritze?“

„Oder diese Gummiteile.“

„Die sind mit Joghurt!“

„Na und?“

„Die schmecken nicht.“

 

Unverrichteter Dinge schob ich die Kiste wieder zurück.
 

„Wer hat das Zeug eigentlich gekauft, wenn es niemand isst?“

„So wie es schmeckt, war das die Betreuergeneration von 2015.“

 

Benedikt grinste und biss noch einmal ein Stück von der Lakritzschnecke ab, die er nach und nach abgerollt hatte.
 

„Nun spuck schon aus, was los ist.“

 

Ich seufzte noch einmal, bevor ich ihm erzählte, was im Zelt passiert war. Als ich geendet hatte, nickte er verständnisvoll.
 

„Ja, das ist ne blöde Situation. Aber wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn du das den Eltern oder Lehrern überlässt, solange nicht jemand direkt angegriffen wird. Zumal wenn sie gar nicht wissen, was es heißt.“

 

Ich nickte, weil ich mir das ja auch schon gedacht hatte, aber Benedikt warf mir trotzdem einen kritischen Blick zu.

 

„Passt dir nicht, oder?“

 

Ich seufzte noch einmal.

 

„Nein, eigentlich nicht. Ich … ich hab irgendwie das Gefühl, dass man da gleich einschreiten sollte, damit sie verstehen, wie verletzend das ist. Wenn das Wort nicht so stigmatisiert würde, könnte es helfen, dass Betroffene eher darüber reden können. Einfach weil es nicht in so einen negativen Kontext gesetzt wird. Das … ich glaube, mir hätte das geholfen.“

 

Ich wandte den Blick ab. Es kam mir komisch vor. Einerseits redete ich so klug daher wie die Infoseiten, die ich in letzter Zeit gelesen hatte. Andererseits fühlte es sich einfach anders an. Oder hatte sich anders angefühlt. Ich wollte nicht wieder dahin zurück, aber ich war mir nicht sicher, ob ich dem Druck von außen gewachsen war.

 

„Dabei hast du mich doch damals schon verteidigt.“

 

Benedikts Feststellung war leidenschaftslos. Lediglich eine Tatsache. Ein Fakt aus unserer gemeinsamen Vergangenheit. Trotzdem erinnerte ich mich sofort wieder an die Zeit, als ein ehemaliger Klassenkamerad Benedikt als bevorzugtes Opfer für seine Mobbingattacken auserkoren hatte. Ich weiß nicht, ob Oliver damals wirklich gewusst hatte, dass Benedikt schwul war, aber er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn als „Schwuchtel“ zu bezeichnen oder ihn sonst irgendwie zu drangsalieren. Damals hatte ich mein Möglichstes versucht, um das Unheil von Benedikt fernzuhalten. Hatte ich zumindest gedacht. Heute hatte ich das Gefühl, viel zu wenig getan zu haben. Vielleicht weil ich mich unterbewusst nicht selbst zur Zielscheibe hatte machen wollen.

 

Ich zuckte mit den Schultern.
 

„War vielleicht einfach … ich mochte dich halt.“

 

Immer noch wich ich Benedikts Blick aus. Ich ahnte, dass, wenn ich ihn jetzt ansah, er erkennen würde, wie es um mich bestellt war. Viel zu viele meiner Gedanken kreisten im Moment um ihn. Wenn ich morgens aufstand, war er das Erste, was mir in den Sinn kam, und abends im Zelt malte ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn wir … zusammen wären. Wie es wäre, ihn zu küssen, in seinen Armen zu liegen oder mit ihm zusammen einzuschlafen. Natürlich waren da auch andere Gedanken. Die Erinnerung von seinem Geschmack auf meinen Lippen, seiner Haut unter meinen Fingerkuppen. Das Gefühl seines Körpers über meinem und seiner Lippen an meinem Bauch. Meist stoppte ich meine Vorstellung dort, bevor sie sich zu sehr manifestieren konnte, aber ich hatte schon feststellen müssen, dass Träume sich ungleich schwerer steuern ließen. So langsam wurde es wirklich peinlich, jedem Morgen so steif aufzuwachen. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit mal etwas dagegen tun.
 

„Woran denkst du gerade?“
 

Die Frage katapultierte mich aus meiner Gedankenwelt zurück in die Realität. Ertappt sah ich zu Benedikt hoch. Er grinste.

 

„Ah ja, daran also.“
 

„Gar nicht“, schoss ich zurück und wusste im gleichen Moment, dass ich mich damit erst recht verraten hatte. Unwillkürlich musste ich auch grinsen.

 

Benedikt steckte sich das letzte Stück Lakritzschnecke in den Mund. Mein Blick blieb an seinen Lippen hängen. Wie er jetzt wohl schmeckte? Nach Süßholz mit einer leicht bitteren Note? Vielleicht auch ein wenig salzig. Oder doch eher süß? Ein wenig nach sich selber?

 

Wie von selbst begannen meine Gedanken zu wandern. Ich stellte mir vor, wie ich mich erhob, zu ihm hinüberging und mich auf seinen Schoß gleiten ließ. Seine festen Oberschenkel unter meinen, seine breite Brust direkt vor mir. Ich stellte mir vor, wie ich die Hände in seinen Nacken legte, die Finger in seinen Haaren vergrub und ihn zu mir heranzog. Sein Kopf legte sich leicht schräg und er empfing mich zu einem ersten, vorsichtigen Kuss. Er schmeckte tatsächlich nach Lakritze. Ich roch die Süßigkeit in seinem Atem, der über meine Haut strich. Plötzlich wollte ich mehr davon. Ich presste meine Lippen auf seine und er öffnete bereitwillig den Mund, um meine Zunge willkommen zu heißen. Die erste Berührung sandte einen Stromstoß direkt in meine Lenden und ich seufzte in den Kuss. Das war so gut. So unheimlich gut.

 

Ich rutschte näher und seine Arme schlossen sich um mich. Kräftige Hände fuhren meinen Rücken hinab, während sich unsere Zungen einen ungestümen Ringkampf lieferten. Blut pulsierte in meinem Schritt und ich spürte die deutliche Schwellung unter mir. Mit sanftem Nachdruck lehnte ich mich dagegen und entlockte endlich auch ihm ein Stöhnen. Er biss sanft in meine Unterlippe, saugte sie ein und ließ seine Zunge darüber streichen. Ich keuchte. Mittlerweile war ich vollkommen erregt und der Druck an meiner Vorderseite machte mich schier wahnsinnig. Gleichzeitig spürte ich, wie seine Hände tiefer glitten über meinen Po, wo sie schließlich zu liegen kamen und kräftig zudrückten. Die Sensation der Berührung durchfuhr mich heiß. Ich wollte das hier. Ich wollte ihn. Mehr als alles andere. Wie wild stürzte ich mich in den Kuss und vergaß die Welt um mich herum. Ich wollte ihm nur noch näher sein. Viel näher. Unendlich viel näher.
 

„Theo?“

 

Ich schreckte aus meinem Tagtraum hoch. Im mittlerweile herrschenden Halbdunkel konnte ich Benedikt lächeln sehen.

 

„Alles in Ordnung? Du schienst gerade ziemlich weit weg zu sein.“

 

Das belustigte Funkeln in seinen Augen konnte ich zwar nur erahnen, aber ich wusste, dass es da war. Er wusste, woran ich gedacht hatte, oder? Das war so dumm von mir. Hier vor ihm zu sitzen und mir vorzustellen, wie ich ihm die Klamotten vom Leib riss, war nicht gerade eine meiner geistigen Glanzleistungen. Zumal ich jetzt auch noch sichtbar erregt war. Wenigstens verschwand auch dieser Fakt im gnädigen Zwielicht unter der Tischplatte. Verlegen räusperte ich mich.
 

„Ich musste nur an Oliver denken“, änderte ich abrupt das Thema. „Daran, wie arschig er sich damals verhalten hat. Zum Glück gibt es bei uns nicht so viele dieser Leute.“

„Und trotzdem immer noch genug.“

„Wohl wahr.“

 

Ich fuhr mit dem Finger über die Tischplatte. Wie es wohl war, wenn man „schwul“ den Tag bestritt? Also im vollen Bewusstsein es zu sein. Als ich eine entsprechende Frage stellte, ließ Benedikt geräuschvoll die Luft entweichen.

 

„Na, ich denke, auch nicht anders als jeder andere. Ich meine, du läufst ja nicht durch die Gegend und geierst jedem hübschen Hintern hinterher, den du siehst. Aber ja, manchmal fallen dir schon Sachen auf. Reikes Regenbogenarmband zum Beispiel.“

 

Ich runzelte die Stirn. „Ach echt? Das hab ich gar nicht gesehen.“

 

„Es ist vom letzten CSD. Ich hab die Aufschrift gesehen.“

 

Ich überlegte. Natürlich hatte ich auch schon von den Demonstrationen zum Christopher Street Day gehört. Ich hatte Berichte im Fernsehen darüber gesehen und mir Fotos und Videos im Internet angeschaut.
 

„Hat sie das wegen ihrer Mütter?“

 

Inzwischen hatte selbst ich mitbekommen, dass Reike aus einem reinen Frauenhaushalt stammte.

 

„Auch. Aber sie meinte auch mal zu mir, dass sie wohl pan ist.“

„Sie ist was?“

„Pansexuell.“

 

Ich guckte in dem Moment bestimmt dumm aus der Wäsche. Zum Glück war gerade kein Spiegel in der Nähe.
 

„Und das heißt was? Steht sie auf Flötenspieler oder auf ziegenbeinige Sagengestalten?“

 

Benedikt lachte.
 

„Nein, das heißt, sie steht auf Menschen, egal welches Geschlecht sie haben.“

„Ich dachte, das heißt bi.“

„Nein, denn das bezieht sich nur auf Männer oder Frauen. Pansexuelle können Gefühle für jedes Geschlecht entwickeln. Auch Trangender, Nonbinär, Intersexuell oder was es sonst noch so gibt. Oder besser gesagt, es ist ihnen egal, was für ein Geschlecht ihr Partner hat. Sie lieben denjenigen einfach als Person.“

 

Ich versuchte einen Moment lang, mir das vorzustellen, aber ich kam nicht besonders weit. Benedikt hingegen schien kein Problem damit zu haben. Er wusste all diese Dinge. Ich schwankte zwischen Bewunderung für ihn und der Scham über meine eigene Unzulänglichkeit.

 

Es ist kein Wettbewerb, hörte ich ihn in meinem Kopf plötzlich sagen und musste ein wenig lächeln. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war es okay, wenn ich einfach mein Bestes gab und offen war für das, was auf mich zukam. Ich musste nicht über Grenzen gehen, die mir unangenehm waren. Ich hatte Zeit und auch dafür war Platz genug auf dieser Welt.

 

Du machst mich zu einem verdammt viel besseren Menschen, dachte ich und atmete einmal tief durch, weil ich ihm das nun wirklich nicht sagen konnte. Es hörte sich dämlich an, auch wenn es stimmte. Er hatte mir so viel gegeben, während ich … Ich seufzte innerlich.
 

„Warst du eigentlich auch da?“, fragte ich stattdessen, um nicht schon wieder eine peinliche Stille entstehen zu lassen. „Auf dem CSD meine ich.“

 

Benedikt nickte.
 

„Letztes Jahr das erste Mal. War ganz schön was los. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Vor allem nicht mit so wenig Kleidung am Leib. Es war groß und laut und bunt und verrückt“

 

Er lachte und ich stimmte mit ein. Er wirkte so glücklich, während er davon sprach. Ich konnte ihn mir richtig vorstellen, wie er mit einer Regenbogenflagge auf der Wange mit den anderen feierte. Ausgelassen und frei.

 

„Das würde ich auch gerne mal sehen“, entkam es mir, noch bevor ich richtig darüber nachgedacht hatte.
 

„Wenn du willst, können wir ja mal zusammen hingehen. Am Wochenende nach dem Zeltlager startet das Ganze wieder in Hamburg.“

„Das würdest du machen?“

„Klar, warum nicht?“

 

Ich hätte beinahe gelacht. Ja, warum nicht? Schließlich waren wir beide gay. Und Freunde, soweit ich das beurteilen konnte. Warum sollten wir also nicht zusammen dorthin fahren? War doch das Normalste der Welt.
 

„Find ich gut“, sagte ich und versuchte meine Freude über seine Zusage unter lange eingeübter Coolness zu verbergen. Es gelang nicht so recht, denn das Grinsen, das sich auf meinem Gesicht ausbreiten wollte, kämpfte mit harten Bandagen. Bevor es jedoch die Oberhand gewinnen konnte, stand ich auf und deutete auf das Fenster, hinter dem die Dämmerung bereits in vollem Umfang hereingebrochen war.

 

„Ich glaube, wir müssen so langsam.“

„Ja, wir sollten wohl. Lass uns gleich die Taschenlampen mitnehmen.“

„Wird gemacht.“

 

Ich ließ mir von Benedikt einen Beutel reichen, in der mindestens vier der schweren, an Suchscheinwerfer erinnernden Lampen steckten.

 

„Fehlen nur noch die Hunde“, witzelte ich und versuchte nicht zu deutlich zu erschaudern, als er dicht hinter mir durch die Tür trat. Wir hatten eine Verabredung. Nach dem Zeltlager. Ich konnte es kaum fassen.

 

„Na, komm. Gehen wir“, meinte Benedikt und ging voraus, sodass ich meinen Gesichtszügen endlich freien Lauf lassen konnte. Wir hatten eine Verabredung! Natürlich verkniff ich mir, deswegen in lautes Jubelrufen auszubrechen, und folgte Benedikt lieber den Berg hinab in Richtung der Zelte.

 

 

Am Fuß des Hügels angekommen, auf dem der Sportplatz lag, quoll uns bereits aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. Die Kinder redeten und liefen alle durcheinander, während die Betreuer versuchten, sie in Gruppen einzuteilen, damit nicht jemand auf der Strecke verloren ging.
 

„Sind jetzt alle da?“, fragte Wolfgang, der die Führung des Zugs übernehmen würde, nachdem wir einigermaßen Ordnung in das Chaos gebracht hatten.
 

„Ja, alle anwesend und abgezählt“, bestätigte Sönke.

 

Ronya und Annett hatten sich bereit erklärt, die „Daheimgebliebenen“ zu beaufsichtigen, denn die Nachtwanderung war keine Pflichtveranstaltung. Wer lieber schlafen wollte oder sich im Dunkeln fürchtete, konnte im Lager bleiben. Das waren allerdings die wenigsten. Die meisten der LaKis warteten aufgeregt, dass es endlich losging.

 

„Und denkt dran, nicht zu tief in den Wald gehen“, murmelte Kilian düster dreinblickend in die Runde, „sonst holt euch der böse Wolf.“

 

Im nächsten Moment sprang er mit lautem Gebrüll auf eine Gruppe Mädchen zu, die sofort in ohrenbetäubendes Kreischen ausbrachen und in alle Richtungen davon stürzten.

 

„Mensch Kischi, hör mit dem Mist auf!“, riefen sie aus sicherer Entfernung, doch er lachte nur und setzte Zweien von ihnen nach, die sich umdrehten und ins Dunkel davon rannten.
 

„Keiner entfernt sich zu weit von der Gruppe!“, rief Wolfgang ihm hinterher, bevor er Stephan kopfschüttelnd bat, doch mal nach dem Rechten zu sehen und die drei zurückzuholen.
 

„Ihr zwei bildet die Nachhut“, wies er im nächsten Moment Benedikt und mich an.
 

„Geht klar“, erwiderte Benedikt nur und gab die letzten zwei Taschenlampen an Reike und Thies aus, die in der Mitte den Weg leuchten würden. Zurück blieben ich, Benedikt und die letzte Lampe aus meiner Tasche.

 

„Na dann los. Auf zur Nachtwanderung.“

 

Er grinste mich an und ich grinste zurück, bevor wir uns beide auf den Weg machten, dem lärmenden Trupp zu folgen, der sich jetzt auf einem parallel zur Straße verlaufenden Feldweg in Richtung Wald in Bewegung gesetzt hatte.

 

 

Die Nachtluft wurde, sobald wir das Camp verlassen hatten, zunehmend frischer und ich schloss schon bald den Reißverschluss meiner Jacke, die ich mir vorsichtshalber aus dem Zelt geholt hatte. Auch Benedikt zog den Pullover über, den er mitgebracht hatte. Währenddessen hielt ich die Lampe. Danach trotteten wir weiter immer den Stimmen und Lichtern nach.

 

Um uns herum senkte sich schrittweise die Nacht herab. Die letzten Reste der blassen, noch von der Sonneneinstrahlung orange angehauchten Himmelsfärbung verschwanden und wurden mit jedem Schritt mehr zu einem Tiefen Blau. Alles um uns herum war nur noch scherenschnittartig zu erkennen. Wind kam auf und fuhr mir durch die Haare und unter die Jacke. Ich fröstelte.

 

„Frierst du?“, fragte Benedikt aus der Dunkelheit. Ich schüttelte den Kopf, bis mir aufging, dass er das vermutlich nicht gesehen hatte. Oder doch? Immerhin war ihm aufgefallen, dass ich den freien Arm um mich gelegt hatte.
 

„Ich kann sonst die Lampe nehmen.“

„Nein, nicht notwendig. Mir ist nicht kalt.“

 

Wieder gingen wir ein Stück schweigend nebeneinander her, bis im Schein der Taschenlampe eine kleine Gestalt auftauchte. Sie kam uns entgegen.

 

„Kurt?“

 

Ich leuchtete dem Jungen kurz ins Gesicht, um zu sehen, ob er es wirklich war, senkte dann aber den Lichtkegel, um ihn nicht zu blenden.

 

„Ja, ich hab euch gesucht“, antwortete der Kleine.

„Ach so? Warum das?“

„Weil ich mit euch gehen wollte.“

 

Der Knirps streckte Benedikt die Hand entgegen und der nahm sie in seine rechte, sodass Kurt jetzt zwischen uns ging. Plötzlich spürte ich eine Berührung an meinem linken Arm.

 

„Deine auch“, verlangte Kurt. Ich zögerte kurz, bevor ich ihm ebenfalls meine Hand reichte. Seine kleinen Finger waren warm zwischen meinen und er klammerte sich fest an mich.

 

„Jetzt können wir weiter“, meinte Kurt zuversichtlich. Ich schenkte ihm noch ein Lächeln, bevor wir in noch gemächlicherem Tempo als zuvor weitergingen. So legten wir eine ganze Strecke zurück, bis wir zum Waldrand kamen, wo man die Rufe der restlichen Gruppe zwischen den Bäumen hindurchschallen hörte. Die Schatten hatten sich hier noch einmal tiefer zusammengezogen und der Wind bewegte die Wipfel der Bäume hin und her wie unruhig schlafende Riesen.

 

„Mir ist das zu gruselig“, sagte Kurt plötzlich. Ich spürte den leichten Zug an meiner Hand, als er stehenblieb.
 

„Wir sind doch bei dir“, versuchte Benedikt ihn zu beruhigen.
 

„Ja, aber was, wenn doch Wölfe aus dem Wald kommen? Oder Monster?“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass es Monster gar nicht gab, doch dann sah ich mich um. Die Dunkelheit, die dort zwischen den Bäumen und Sträuchern saß wie ein lauerndes Tier. Die Ungewissheit, was sich darin befand. Es konnte alles sein. Natürlich wusste ich inzwischen, dass dem nicht so war. Ich fürchtete mich nicht mehr davor. Aber ich erinnerte mich daran, wie es war, Angst im Dunkeln zu haben.

 

„Möchtest du lieber zurückgehen?“, fragte ich und machte mich bereits mit dem Gedanken vertraut, die Strecke zum Lager erneut zurücklegen zu müssen. Kurt machte ein entrüstetes Geräusch.
 

„Nein, ich will die Nachtwanderung machen.“

 

„Aber es ist dunkel und wird im Wald noch dunkler werden“, gab ich zu bedenken. Ich hatte mich mittlerweile hingekniet, damit ich ihn besser ansehen konnte. Das hatte ich bei Benedikt beobachtet und festgestellt, dass es mir gefiel, mit den Kindern nicht von oben herab zu reden.

 

Kurt überlegte sichtbar. Er hatte sich halb in Richtung des Lagers gedreht, aber sein Blick wanderte immer wieder zurück zum Wald. Mittlerweile war nur noch das Rauschen des Nachtwindes in den Bäumen war zu hören. Es war, als wären wir gestrandet in einem Meer aus Dunkelheit. Eine kleine, mit drei Leuten besetzte Insel inmitten eines Ozeans. Die letzten Überlebenden belauert von den Bedrohungen der Welt.
 

„Nein“, sagte der kleine Kerl vor mir schließlich fest. Er setzte eine entschlossene Miene auf. „Ich kann das. Und ihr seid ja bei mir. Ich bin nicht alleine.“
 

„Ja, wir sind bei dir und wir gehen auch nicht weg“, versprach ich, bevor ich mich wieder aufrichtete und ihm erneut meine Hand anbot. Er nahm sie und sah zwischen mir und Benedikt hin und her.
 

„Sollen wir?“

 

Wir nickten beide und machten uns nun endlich auf den Weg in den dunklen Wald hinein. Als wir schon ein Stück gegangen waren, drückte ich noch einmal Kurts Finger.
 

„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Benedikt ist ja da und beschützt uns beide.“

„Dich auch?“, fragte Kurt erstaunt.
 

„Ja, mich auch“, sagte ich und lächelte. Ich wusste, dass Benedikt es vermutlich nicht sehen konnte, aber ich verließ mich darauf, dass er es hörte. So gingen wir weiter über den nur spärlich von der Taschenlampe erleuchteten Waldweg, während wir uns an den Händen hielten. Wenn ich mich ein kleines bisschen anstrengte, gelang es mir sogar, mir vorzustellen, dass es Benedikts Hand war, die ich da in meiner hielt. Wenigstens für eine Weile.

 

Wolken am Horizont

Der Pfad unter unseren Füßen wurde mit jedem Schritt unwegsamer und die Dunkelheit um uns herum zog sich Stück für Stück weiter zusammen. Je tiefer wir in den Wald kamen, desto schlimmer wurde es. Kein Laut war zu hören außer dem Rauschen des Windes in den Wipfeln. Es war nicht wirklich bedrohlich, aber die anhaltende Stille drückte auf meine Ohren und auf die Stimmung.
 

Irgendwann blieb ich stehen und ließ den Schein der Taschenlampe über die Umgebung wandern. Die Stämme der Bäume leuchteten braun und grün im hellen Licht. Sie standen dicht an dicht. Dazwischen der Waldboden voller Blätter und hier und dort ein querliegender Ast oder ein vereinzelter Busch. Der Weg war mit Gras überwuchert und sah nicht besonders benutzt aus. In einiger Entfernung konnte man den Waldrand erkennen. Von den anderen keine Spur.
 

„Sag mal, kann es sein, dass wir hier falsch sind?“
 

Ich hatte meinen Gedanken kaum ausgesprochen, als auch schon der Griff von Kurts Hand um meine Finger fester wurde.
 

„Heißt das, wir haben uns verlaufen?“
 

„Nein“, hörte ich Benedikts Stimme von Kurts anderer Seite. „Wir sind doch einfach geradeaus gegangen.“
 

„Bist du sicher?“, hakte ich vorsichtig nach. „Vielleicht haben wir ja im Dunkeln die Richtung verloren.“
 

„Quatsch. Das war bestimmt der richtige Weg.“
 

Benedikt klang leicht gereizt. Warum regte er sich denn so auf? Konnte doch mal vorkommen, dass man sich verlief. Als Kurt jedoch neben mir ein leises „Ich hab Angst“ von sich gab, ahnte ich mit einem Mal, warum Benedikt so reagiert hatte. Er wusste vermutlich ebenso wie ich, dass wir hier falsch waren, aber er hatte das vor Kurt nicht zugeben wollen, damit der Kleine nicht durchdrehte.
 

„Benedikt hat bestimmt recht“, versicherte ich Kurt daher schnell. „Wir haben uns nicht verlaufen. Außerdem war ich vor ein paar Tagen mit Reike und den anderen schon mal hier. Der Wald ist nicht so groß. Wir können hier nicht verloren gehen.“
 

Ich hörte, wie der Kleine leise aufatmete, und wünschte mir, ich hätte es ihm gleichtun können. Doch für mich stand jetzt quasi fest, dass wir uns verlaufen hatten. Irgendwo mussten wir falsch abgebogen sein.
 

„Weißt du, ich werde mal kurz ein Stück zurückgehen und sehen, ob ich … ob ich meine Uhr wiederfinde. Sie scheint mir irgendwie runtergefallen zu sein.“
 

Die Lüge war nicht besonders glaubhaft, aber ich spürte, wie Kurt seinen Griff lockerte. Im nächsten Moment knackte es ganz in der Nähe und sofort schlossen sich seine Finger wieder wie ein Schraubstock um meine Hand.
 

„Was war das?“, flüsterte er.
 

„Ein Reh?“, schlug ich vor. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was es sein konnte. Wieder knackte es und dieses Mal war das Geräusch schon näher. Jetzt hörte man auch noch ein lautes Schnüffeln und merkwürdiges Schnarren, das von irgendwo neben dem Weg kam. Es klang wie ein sehr großes Tier. Ein Tier, das offenbar keine Angst hatte, dass es irgendjemand hörte. Kurts Hände begannen zu schwitzen.
 

„Ist das ein Wildschwein?“, wisperte ich ebenso leise wie er, vielleicht sogar noch ein wenig leiser. Es gab nicht viele Tiere im Wald, die einem gefährlich werden konnten, aber die hauerbewehrten Rüsseltiere gehörten sicherlich dazu.
 

„Das müsste mehr Lärm machen“, antwortete Benedikt ebenso flüsternd.

„Bist du sicher?“

„Ja, ganz sicher.“
 

Das laute Schnüffeln verharrte jetzt an einem Platz. Man hörte Rascheln und Schnaufen und diese merkwürdigen Grunzlaute, die ziemlich aggressiv klangen. Was immer dort auch unterwegs war, ihm passte etwas ganz und gar nicht. Ich merkte, wie sich auch mir die Nackenhaare aufstellten. Einzig die Tatsache, dass Benedikt immer noch ganz ruhig blieb, hielt mich davon ab, schleunigst den Rückzug anzutreten.
 

„Leuchte mal dort drüben hin“, bat er mich und ich tat ihm den Gefallen. Tatsächlich schien das Schnaufen von irgendwo dort aus dem Unterholz zu kommen. Es raschelte immer noch, allerdings waren im Lichtkegel keine mordlüstern leuchtenden Wildschweinaugen auszumachen. Das war zwar schon mal gut, machte die Geräusche aber nicht weniger merkwürdig.
 

„Ich glaube, ich weiß, was das ist.“
 

Tatsächlich machte Benedikt jetzt einen Schritt nach vorn und winkte mich und Kurt näher heran.
 

„Kommt, schaut es euch an.“
 

Ich fasste Kurts Hand fester und trat mit ihm neben Benedikt. Dem ausgestreckten Arm folgend, senkte ich den Lichtstrahl der Lampe etwas, bis ich endlich die zwei Verursacher des Spektakels entdeckte. Sie waren ziemlich klein und umkreisten einander unablässig. Einer von ihnen verursachte offenbar das Schnüffeln, der andere, der sich nicht beschnüffeln lassen wollte, die komischen Knurrlaute.
 

„Aber das sind ja Igel“, rief Kurt aus. Sofort erstarrten die beiden Stachelkugeln und zwei leuchtende Augenpaare funkelten uns vom Waldboden aus an. Wir rührten uns nicht und im nächsten Moment begannen die beiden wieder mit ihrem komischen Kreisspiel. Einer schnüffelte, einer knurrte. Ratlos blickte ich Benedikt an.
 

„Was machen die da?“
 

Im Lichtschein der Lampe sah ich ihn grinsen.
 

„Wenn ich dir verrate, dass das knurrende Tier das Weibchen ist, weißt du es dann?“
 

Ich überlegte einen Augenblick, bevor mir ein Licht aufging.
 

„Das sollen also mal Igelbabys werden“, bemerkte ich trocken.
 

„Oh, wie süß“, rief Kurt. „Können wir die dann mal angucken?“
 

„Ich fürchte, bis die geboren werden, wird es wohl noch etwas dauern.“
 

Es war nicht schwer, Benedikts Amüsement bei dieser Aussage herauszuhören. Vermutlich bezog sich das darauf, dass die Zeugung eben jener kleinen Igel wohl auch noch etwas auf sich warten lassen würde. Wenigstens wenn das Igelweibchen weiter so rumknurrte und sich mit ihrem Verehrer mitdrehte, um ihm nur ja nicht ihre Hinterseite zu präsentieren. Das Stachelschwein-Lied ergab plötzlich einen ganz neuen Sinn.
 

„Wir sollten die beiden vielleicht nicht mehr weiter stören und langsam wieder zurückgehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die anderen nicht hier vorbeigekommen sind, sonst hätten sich die Igel bestimmt ein anderes Plätzchen gesucht.“
 

„Warum?“, fragte Kurt neugierig.
 

„Das erkläre ich dir, wenn du älter bist.“
 

Als wäre dieser Satz das Stichwort gewesen, hörten wir auf einmal in der Nähe Stimmen und zwischen den Bäumen wurden einzelne Lichter sichtbar. Wir gingen ein Stück des Weges zurück und kamen tatsächlich an einen Abzweig, an dem wir offenbar falsch vom Hauptweg abgebogen waren. Auf diesem kam uns jetzt die Gruppe entgegen.
 

„Sollen wir sie erschrecken?“, fragte Kurt. Durch das Zusammentreffen mit den Igeln hatte sich seine Angst anscheinend vollkommen in Wohlgefallen aufgelöst.
 

„Nein, besser nicht“, antwortete Benedikt. „Lass uns lieber ankündigen, dass wir ihnen entgegenkommen“
 

„Das mache ich“, rief Kurt, machte sich von meiner Hand los und lief dem Rest der Gruppe wild winkend entgegen.
 

„Hey ihr, stellt euch vor, wir haben Igel im Wald gesehen. Erst dachten wir, dass es Wildschweine wären, weil die so laut gegrunzt haben, aber dann …“
 

Der Rest seiner Erzählung ging im lauten Stimmengewirr unter. Jeder wollte jetzt die Igel beobachten, aber Wolfgang verbot den Ausflug in das Paarungsrevier der Tiere.
 

„Wir müssen langsam zurück und außerdem wollen wir sie nicht stören.“
 

Murrend und meckernd, aber immerhin gehorsam setzte die Gruppe sich wieder in Bewegung. Zwischen den Kindern sah ich Kilian auf uns zukommen. Er leuchtete sich selbst mit der Lampe ins Gesicht.
 

„Na, ihr seid mir ja zwei Helden“, rief er und grinste breit. „Macht einfach eure eigene Nachtwanderung.
 

„Tja, wir sind eben immer für eine Überraschung gut.“
 

Mit diesen Worten schloss sich Benedikt der Gruppe der jüngeren Jungen an, die sich bereits zum zweiten Mal von Kurt die Geschichte mit den Igeln erzählen ließen. Ich seufzte leise und schaltete meine Lampe aus. Für einen Augenblick wünschte ich mir, dass wir wieder auf dem einsamen Waldweg wären, aber dann ergab ich mich der Menge und trottete ebenso wie die anderen brav zurück zum Camp.
 

Als wenig später alle Kinder in ihren Schlafsäcken lagen, machte ich mich noch einmal auf, um die Taschenlampen zurück ins Betreuerheim zu bringen. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt und ich beeilte mich, rasch ins Trockene zu kommen. Im Aufenthaltsraum angekommen verstaute ich die Lampen im Schrank und wollte mich gerade auf den Rückweg machen, als es plötzlich wie aus Eimern zu schütten begann.
 

„Och nee, ernsthaft jetzt?“
 

Missmutig sah ich nach draußen, wo die Wassermassen zur Erde herniederstürzten. Wenn ich jetzt zum Zelt zurücklief, würde ich mit Sicherheit bis auf die Knochen durchnässt werden.
 

„Dann warte ich eben noch ab“, murmelte ich mir selber zu und setzte mich an den Tisch, an dem ich zuvor schon mit Benedikt gesessen hatte. Mein Blick fiel auf die Kiste mit Süßigkeiten. Gedankenverloren zog ich sie heran und betrachtete den Inhalt. Es waren immer noch nur Joghurtgummis und Lakritze darin.
 

„In der Not frisst der Teufel Fliegen.“
 

Ich nahm mir eine Lakritzschnecke und biss hinein. Der süße und gleichzeitig herbe Geschmack breitete sich augenblicklich in meinem Mund aus und ich schloss für einen Moment die Augen, um mir vorzustellen, dass Benedikt genau so geschmeckt hatte. Doch noch während ich versuchte, mir die Stimmung von vorhin noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, schob sich ein anderes Gesicht in meine Gedanken. Mia.
 

Ich seufzte leise.
 

Ich würde es ihr sagen müssen, aber wie? Wie sollte ich ihr beibringen, dass ich auf einmal festgestellt hatte, dass ich auf Männer stand? Dass ich mich gar in einen verliebt hatte? Das war doch der totale Wahnsinn. Sie würde es nicht verstehen. Ich verstand es ja selbst nicht. Wie sollte ich da die passenden Worte finden, um es jemand anderem zu erklären?
 

„Und wenn ich es ihr gar nicht sage, sondern einfach nur mit ihr Schluss mache?“
 

Ich sah auf die angebissene Lakritzschnecke in meiner Hand. Ich wollte den Rest nicht mehr essen, aber konnte ich sie deswegen einfach so in den Müll werfen? Oder musste ich das letzte Stück noch herunterwürgen, obwohl es mir nicht schmeckte? Musste ich nicht dazu stehen, wofür ich mich entschieden hatte?
 

Wie von selbst hob ich die Hand. Ich wollte diese Süßigkeit nicht und alles in mir sträubte sich. Trotzdem führte ich sie immer weiter zum Mund, bis ich mich schließlich selber stoppte.
 

Das macht es doch auch nicht besser.
 

Genervt stand ich auf und warf die halbe Lakritzschnecke in den Mülleimer. Zur Sicherheit schob ich noch ein zerknülltes Taschentuch darüber, damit sie niemand sah und womöglich anfing Fragen zu stellen, wer hier Lebensmittel wegwarf. Weil es immer noch regnete, setzte ich mich danach wieder zurück an den Tisch.
 

Ich zog mein Handy heraus und deaktivierte die Tastensperre. Es war schon kurz nach Mitternacht. Eigentlich höchste Zeit, um ins Bett zu gehen. Stattdessen öffnete ich den Messenger. Schon heute Morgen hatte mir das kleine Symbol neben dem Appzeichen angezeigt, dass ich eine neue Nachricht hatte. Sie war von Mia. Ich hatte sie nicht geöffnet, denn die Vorschau hatte mir bereits verraten, dass sie sich nach dem Besuchstag erkundigen wollte, der übermorgen stattfand. Es war keine weitere dazu gekommen. Das schätzte ich so an Mia. Sie drängelte nie, so wie es einige von Jos Freundinnen immer getan hatten.
 

Ich tippte auf die Nachricht, um sie vollständig anzeigen zu lassen. Nachdenklich betrachtete ich den kleinen Text. Ob ich ihr sagen sollte, dass sie vorbeikommen konnte? Was wohl Benedikt dazu sagen würde? Wieder seufzte ich, bevor ich mich daran machte, eine Antwort zu verfassen.
 

Tut mir leid. Betreuer können keinen Besuch bekommen. Wir sehen uns ja aber bald wieder.
 

Ich klemmte noch ein Herz dahinter und schickte es ab, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Ich wusste, dass es falsch war, aber ich wollte einfach nicht, dass sie sich Sorgen machte. Nicht, während ich hier festsaß. Es wäre genauso unfair gewesen wie alles andere. Und noch hatte ich mehr als die Hälfte der Lagerzeit vor mir. Genug Gelegenheit um mir zu überlegen, was ich Mia sagen wollte. Eine Gnadenfrist für uns beide.
 

Hinter einer guten Ausrede ist genügend Platz für ein Dutzend Feiglinge, hörte ich die Stimme meines Vaters. Ich ignorierte sie. Sie würde mir bei diesem Problem nicht helfen können. Ich steckte das Handy wieder weg und machte mich nun endgültig trotz des immer noch anhaltenden Regens auf den Weg zum Zelt, bevor mich noch jemand suchen kam. Immerhin würde der nächste Morgen nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.
 

Mit schlechtem Gewissen schlief ich ein und träumte in dieser Nacht von einem Stein, den ich an einer langen Kette hinter mir herzog. Wann immer ich versuchte, mich davon zu befreien, fing der Stein an zu weinen und mich anzuflehen, ihn nicht zu verlassen. Und so zog ich weiter mit ihm durch die Lande, bis mich irgendwann der morgendliche Weckruf aus den Federn scheuchte.
 

Müde und unausgeschlafen reihte ich mich in die Schlange zum Frühstück ein und hoffte, dass man mir die unruhige Nacht nicht allzu sehr ansah. Ich hoffte umsonst, denn kaum war Kilian auf der Bildfläche erschienen, durfte ich mir schon anhören, dass ich aussah wie der Tod auf Latschen.
 

„Haha“, grummelte ich und verzog mich mit meinem Brötchen an einen halbleeren Tisch. Dort frühstückte ich und versuchte, mit dem viel zu dünnen Früchtetee endlich die Spuren der Nacht fortzuspülen. Es half ein Stück weit, sodass ich nach dem Essen dem Tag schon ein wenig zuversichtlicher entgegensah. Leider bestand der Wettergott darauf, mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er hatte schon wieder die Schleusen geöffnet und tauchte das Lager in nasses Regengrau.
 

„Dann ist heute wohl drinnen spielen angesagt“, frohlockte Kilian und zum ersten Mal war ich ein wenig neidisch auf seine nicht zu erschütternde gute Laune.
 

„Dem kann aber auch gar nichts die Petersilie verhageln“, murrte Melina, bevor sie gähnte und sich mit den Worten „Ich brauch erst mal einen Kaffee“ in Richtung Betreuerheim verabschiedete.
 

Auch ich machte mich nach einem kurzen Abstecher ins Waschhaus auf den Weg zur allmorgendlichen Versammlung. Als ich ankam, saßen die meisten schon auf ihren Plätzen. Statt Shorts und T-Shirts, die in den letzten Tagen neben der Wikingerkluft an der Tagesordnung gewesen waren, herrschten jetzt Jeans und langärmlige Oberteile vor. Nur Kilian war ungeachtet der Temperaturen und des anhaltenden Regens in kurzen Sachen unterwegs.
 

„Ist schließlich Sommer“, verkündete er grinsend und pflanzte sich endlich auf einen Stuhl, damit wir anfangen konnten. Dafür erhob sich Wolfgang und schickte zunächst einmal einen guten Morgen in die Runde, bevor er die Besprechung eröffnete.
 

„Heute ist, wie ihr euch sicherlich schon gedacht habt, Alternativprogramm angesagt. Wenn es bis zum Nachmittag noch aufklart, werden wir heute Abend trotzdem grillen. Ansonsten verschieben wir die Stockbrot-Aktion auf die nächsten Tage, wenn es wieder trockener ist. Noch irgendwelche Fragen?“
 

„Was gibt’s zum Mittagessen?“ Kilian wieder.
 

„Gemüsesuppe“, antwortete Susanne, die heute ausnahmsweise mal früher im Camp war. „Ich brauche aber noch Hilfe beim Schnippeln. Wenn ihr also in den Zelten mal fragen würdet?“
 

„Ich mach auf jeden Fall mit“, bot Benedikt sofort an.
 

„Ich auch“, sagte ich schneller, als ich überlegen konnte. Benedikt warf mir einen amüsierten Blick zu, doch die anderen schienen froh, um die anstehende Arbeit herum gekommen zu sein.
 

„Na los, dann suchen wir uns mal noch ein paar fleißige Helferlein.“

„Geht klar.“
 

Da ich wusste, dass ich bei den Ratten erst gar nicht anzufragen brauchte, wollte ich gerade zu den Zelten der Mädchen gehen, als mir auch schon die drei großen L’s entgegenkamen. Luise, Lotte und Lena, die ältesten Mädchen aus Melinas Gruppe und Rädelsführer der „Honigbienchen“.
 

„Hey Mädels, wir brauchen noch Freiwillige für den Küchendienst. Irgendwer von euch?“
 

„Was müssen wir denn da machen?“, wollte Luise wissen.
 

„Gemüse schnippeln“, gab ich bereitwillig zur Auskunft.
 

„Örgs“, machte Lotte. „Schon wieder Gemüse? Ich glaube, ich brech gleich.“
 

„Das wäre schade, dann würdest du ja heute Abend das Lagerfeuer mit Würstchen und Stockbrot verpassen“, sagte ich übertrieben bedauernd.
 

„Spielst du dann auch wieder Gitarre?“, fragte Lena und strahlte mich unter ihrer braunen Ponyfrisur heraus an.

„Na klar.“

„Dürfen wir uns da auch mal was wünschen?“

„Wenn ihr jetzt beim Gemüseschnippeln helft, vielleicht.“
 

Ich setzte ein gewinnendes Lächeln auf und hatte schon im nächsten Moment drei willige Helferinnen gefunden, die förmlich darauf brannten, ihren Küchendienst abzuleisten. Ihre Freude wurde noch größer, als sie mitbekamen, dass ich auch dabei mitmachen würde. Als Benedikt mir entgegenkam, sah ich deutlich seine Verwunderung. Er hatte lediglich Kurt im Schlepptau.
 

„Du willst wohl deinen Fanclub erweitern?“, fragte er mit einem Kopfnicken auf die drei Mädchen, die bereits zusammen mit Kurt zum Küchengebäude rannten, um nicht allzu sehr durchnässt zu werden.
 

Ich hob lässig die Schultern.
 

„Man muss nehmen, was man kriegen kann.“
 

Er schüttelte den Kopf und dann sahen wir beide zu, dass wir ebenfalls aus dem Regen herauskamen. In der Küche erwartete uns bereits Susanne.
 

„Ah, da seid ihr ja. Ich hab die Kinder schon eingeteilt. Wir haben noch Kartoffeln und Rosenkohl zur Auswahl. Was wollt ihr putzen?“
 

„Rosenkohl“, sagten wir beide gleichzeitig und mussten im nächsten Moment lachen.
 

„Ich lasse ihn dir gerne“, sagte ich, doch Benedikt hob abwehrend die Hände.
 

„Du hast mehr Helfer organisiert, also bekommst du den Rosenkohl.“

„Nein du.“

„Du.“

Susanne lachte. „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, mache ich den Rosenkohl und ihr könnt beide Kartoffeln schälen.“
 

Wieder sahen wir uns an.
 

„Na gut“, sagte Benedikt und schob seine Ärmel nach oben. „Ich schäle, du schneidest.“
 

„Aber nicht vergessen, die Kartoffeln vorher nochmal zu waschen, damit kein Dreck mit reinkommt“, erinnerte Susanne uns, bevor sie sich daran machte, zwei Netze der grünen Röschen in Angriff zu nehmen, die neben Karotten, Paprika, Blumenkohl und grünen Bohnen ihren Weg in die Suppe finden sollten. Kurt, der von Susanne einen Hocker bekommen hatte, damit er an die Arbeitsfläche heranreichte, kämpfte mit einer Zucchini.
 

„Das blöde Ding ist viel zu lang“, meckerte er und sah missmutig auf die zwei ungleich breiten Stücke, die er fabriziert hatte.
 

„Dann schneide sie doch vorher in zwei Hälften und teil sie dann in der Mitte“, schlug Lotte vor, legte ihre Karotte beiseite und nahm Kurt die Zucchini aus der Hand.
 

„Darf ich mal? Siehst du, so. Dann ist es leichter, die einzelnen Hälften zu zerteilen.“
 

„Ui, danke“, sagte Kurt und wollte schon weitermachen, als Lotte nachsichtig lächelnd anfügte:
 

„Kein Problem. Ist doch klar, dass du das nicht weißt. Du bist ja schließlich ein Junge.“
 

Ich sah zu Benedikt rüber, der so eben eine Kartoffel zu Ende geschält hatte und sie ins Waschbecken legen wollte. Er machte eine unbestimmte Geste.
 

„Sind deine Fans“, brummte er so leise, dass die Mädchen es nicht hören konnten.
 

Ich atmete tief durch und wollte gerade anheben, eine Argumentation für „Männer am Herd“ von mir zu geben, als Luise sich bereits in das Gespräch einmischte.
 

„Das ist doch Blödsinn“, erklärte sie eine Paprika zur Bekräftigung schwenkend. „Mein Papa kann viel besser kochen als meine Mama. Dafür kann sie besser backen.“
 

„Genau“, meinte jetzt auch Lena, die sich dem Blumenkohl gewidmet hatte. „Ich will später auch mal einen Mann, der kochen kann. Sonst muss ich das ja alles alleine machen.“
 

„Eine sehr vernünftige Einstellung“, tat Susanne kund, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass Wolfgang zu Hause ebenso wenig in der Küche half wie mein Vater.
 

„Ich will später mal keine Frau“, verkündete jetzt Kurt und bevor ich noch erstaunt die Augenbrauen hochziehen konnte, fuhr er fort: „Ich werde nämlich Eisverkäufer und dann wohne ich im Eiswagen und da ist ja gar kein Platz für eine Frau. Höchstens für einen Hund. Oder einen Hamster.“
 

Ich verkniff mir ein Lachen und wandte mich lieber schnell wieder meinen Kartoffeln zu. Die stapelten sich mittlerweile im Waschbecken und der Haufen, der vor Benedikt gelegen hatte, war auf nur mehr ein Drittel geschrumpft.
 

„Du bist zu langsam“, urteilte er.

„Nein, du zu schnell.“

„Ich kann ja auch kochen“, erwiderte er in süffisantem Tonfall.

„Ah, Touché!“
 

Ich griff mir schauspielernd ans Herz, während er lachte und mich mit einem Stück Kartoffelschale bewarf.
 

„Mach lieber hin, du bist der Letzte.“
 

Ich sah mich um und tatsächlich waren die Kinder schon fertig mit ihren Gemüseportionen. Wie hatte das denn passieren können?
 

„Ich bin in der Küche wohl echt nicht zu gebrauchen“, seufzte ich, bevor ich mich nun endlich an die Kartoffeln machte.
 

„Daran hat sich also nicht viel geändert.“
 

Die beiläufige Bemerkung ließ mich für einen Augenblick stocken. Natürlich wusste ich, worauf Benedikt anspielte. Auf der Klassenfahrt hatten wir auch zusammen gekocht. Er hatte mir geholfen, mein Abendessen zu retten, nachdem Jo und Oliver mich im Stich gelassen hatten. Danach war es zu einer sehr merkwürdigen Szene zwischen uns gekommen und ich meinte noch einmal das Herzklopfen von damals spüren zu können. Wir hatten uns tief in die Augen gesehen, bevor er quasi aus der Küche des Campingplatzes geflüchtet war. Inzwischen ahnte ich, wie er sich dabei gefühlt haben musste. Demjenigen, in den man verliebt war, so nahe zu kommen und trotzdem den Eindruck zu haben, dass mindestens die Entfernung von hier bis zum Mond zwischen einem lag, war nicht besonders angenehm.
 

Ich atmete tief durch und versuchte, das Zittern zu verbergen, das sich meiner Stimme bemächtigen wollte.
 

„Vielleicht bringst du es mir ja mal bei“, sagte ich, während ich nun endlich den Kartoffeln zu leibe rückte und anfing, sie in kleine Stücke zu schneiden.
 

„Was?“

„Na, Kochen.“
 

Benedikt warf mir einen langen Blick zu.
 

„Dein Ernst?“

„Ja, warum nicht? Ich … ich würde das gerne lernen.“
 

Er zögerte einen Augenblick, bevor er nach der nächsten Kartoffel griff.
 

„Du könntest doch auch deine Mutter oder deinen Vater fragen, ob sie es dir zeigen.“
 

Das war nicht direkt eine Absage, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er eigentlich genau das gemeint hatte. Schnell legte ich ein Lächeln auf.
 

„Das ist natürlich auch eine Idee und bestimmt viel sinnvoller.“

„Bestimmt. Ich kann nämlich nur eine Handvoll Gerichte.“

„Das ist eine ganze Handvoll mehr, als ich kann.“
 

Ich grinste und er erwiderte es, aber da war ein kleiner Schatten auf seiner fröhlichen Miene. Einer, der mir nicht gefiel.
 

„Woher kennst du dich eigentlich so gut mit Igeln aus?", fragte ich, während ich scheinbar voll auf meine Arbeit konzentriert war. In Wahrheit sah ich aus den Augenwinkeln zu ihm rüber, um seine Reaktionen zu beobachten.
 

„Igel sind Josies Lieblingstiere.“

„Wer ist Josie?“

„Meine Nichte.“
 

Nichte? Ich staunte nicht schlecht. Das hieß Benedikt war schon Onkel.
 

„Ich wusste gar nicht, dass du Geschwister hast.“
 

Benedikt verzog den Mund.
 

„Doch, habe ich.“

„Bruder oder Schwester?“

„Eine Schwester. Ist aber acht Jahre älter als ich.“
 

„Aha“, machte ich nur in Ermangelung einer passenden Erwiderung. Irgendetwas sagte mir, dass er mir gerade auswich. Aber warum?
 

"Deine kleine Nichte mag also Igel", versuchte ich erneut das Gespräch in Gang zu bringen.
 

„Sie ist ganz wild darauf. Letztens war der Fernseher an und sie hat diese Tiersendung entdeckt. Daher wusste ich das mit den Igeln.“

„Du bist ganz schön schlau.“
 

Er machte eine wegwerfende Geste.
 

„Ich kann mir Sachen einfach gut merken, das ist alles. Es ist Segen und Fluch zugleich.“
 

Ich seufzte.
 

„Für mich klingt das traumhaft. Du musst doch bestimmt kaum lernen.“

„Na ja, es hält sich in Grenzen. Jeder hat halt so seine Stärken. Du kannst dafür Gitarre spielen.“
 

Er musterte mich noch einen Augenblick lag, bevor er sich den letzten Kartoffeln zuwandte. Ich hätte unsere Unterhaltung gerne weitergeführt, aber da die Mädchen mitbekommen hatten, dass es um mein musikalisches Talent ging, wurde ich sofort von ihnen belagert.
 

„Denk dran, dass wir uns jetzt was wünschen dürfen“, erinnerte mich Lena, während sie sich neben meinem Brett auf die Arbeitsfläche stützte. In der Hand hielt sie ein Stück Karotte, das sie aus der Schüssel stibitzt hatte
 

„Nein, das vergesse ich schon nicht.“, sagte ich leichthin und versuchte den Blick zu ignorieren, den mir Benedikt daraufhin zuwarf. „Was wollt ihr denn hören?“
 

„Keine Ahnung, was kannst du denn alles?“

„Oh, das ist ne Menge. Ich überleg mir was, okay?“

„Ja, toll. Danke.“
 

Die Mädchen verabschiedeten sich und nahmen auf dem Weg gleich Kurt mit nach draußen, der ebenfalls einen Haufen geschnittenes Gemüse zurückließ. Als sie draußen waren, hörte ich Benedikt aufatmen.
 

„So schlimm?“, fragte ich.

„Nein, schlimmer“, antwortete er und ich erkannte meine eigenen Worte wieder. Ich lächelte leicht.
 

Benedikt ignorierte es und wandte sich stattdessen an Susanne.
 

„Ich bin mit den Kartoffeln fertig. Brauchst du sonst noch Hilfe?“

„Nein, vielen Dank.“
 

Er wandte sich zum Gehen.
 

„Benedikt, warte mal.“
 

Ich legte die halb geschnittene Kartoffel zur Seite, trocknete mir die Hände ab und stand im nächsten Moment neben ihm.
 

„Bin gleich zurück“, sagte ich zu Susanne, bevor ich Benedikt quasi aus der Tür schob. Draußen atmete ich einmal tief durch, bevor ich ihn geradeheraus ansah.
 

„Wenn ich irgendwas Falsches gesagt habe, tut es mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
 

Er wandte den Kopf ab, bevor er ihn sacht schüttelte.
 

„Nein, schon in Ordnung. Ich … ich sollte einfach nicht so empfindlich sein.“

„Empfindlich?“
 

Er sah mich für einen Moment an, bevor auch er leise lächelte.
 

„Ach nichts, Theo. Es ist wirklich alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken.“
 

Damit verabschiedete er sich und ließ mich ratlos zurück. Er hatte gesagt, ich solle mir keine Gedanken machen, aber mit dieser Aussage hatte er genau das Gegenteil erreicht. Ich verstand nicht, was hier gerade vor sich ging. Im einen Moment war er lustig und wir blödelten herum, im Nächsten ging er wieder auf Distanz, so als hätte er es sich anders überlegt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber ich hatte auch keine Idee, was ich dagegen tun konnte.
 

Ich werde es einfach abwarten müssen, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, aber irgendwie wollte mir das nicht so recht gelingen. Nachdenklich ging ich zurück zu meinen Kartoffeln.

Dichterische Freiheit

Nach der Sache in der Küche rechnete ich fast damit, dass sich der restliche Tag zog wie ein zu lange gekauter Kaugummi. Zu meiner Überraschung fand ich mich jedoch zusammen mit Annett und Melina im Bastelteam wieder und hatte im nächsten Moment einen fröhlich dreinblickenden Kurt an meiner Seite.
 

„Ich will Igel basteln“, verkündete er mir und fragte ohne zwischendurch Luft zu holen Annett, was er denn dafür nehmen könnte. Sie bot ihm einige Tannenzapfen an und er machte sich sogleich daran, diese mit Filzgesichtern und Wackelaugen zu verzieren und kleine Beine aus Zahnstochern daran zu kleben. Bei letzterem musste ich ihm helfen, da die Kids nicht mit der Heißklebepistole herumhantieren durften. Binnen kürzester Zeit hatten wir zusammen eine ganze Familie lustig aussehender Stacheltiere fabriziert. Allerdings waren dann die Zapfen alle, denn Melina hatte den anderen Kindern gezeigt, wie man aus Zapfen und Pfeifenreinigern kleine Spinnen bastelte, mit denen sie sich voller Wonne gegenseitig erschreckten.
 

„Und jetzt?“, fragte Kurt und sah mich treuherzig von unten herauf an.

 

„Jetzt, äh …“ Ich sah hilfesuchend zu Annett.

 

„Jetzt bastelst du eben was anderes“, antwortete sie leichthin. „Schau, die anderen haben angefangen, Raupen aus Eierpappe zu machen.“
 

„Ich will Igel basteln“, empörte sich Kurt.

 

„Wir haben aber keine Zapfen mehr.“

„Ich will trotzdem Igel machen.“

 

„Aus Eierpappe kann man auch andere Tiere machen“, sprang ich Annett bei. „Guck mal, es gibt Quallen, Seesterne und Tintenfische.“

 

Ich wies auf das Bastelbuch, das auf dem Tisch lag. Auf der bunten Doppelseite waren allerhand sehr schöne Exemplare genannter Tiere abgebildet. Leider hatte ich die Rechnung ohne Kurt gemacht.
 

„Ich. Will. Aber. Igel“, verkündete er und legte die Stirn in gestrenge Falten. Ein wenig ratlos sahen Annett und ich uns an.
 

„Dann … äh … dann bastel doch Igel aus Eierpappe“, schlug ich vorsichtig vor. „Wir könnten kleine Äste als Stacheln daran kleben.“

 

„Ja, oder Zahnstocher.“

 

Kurts Miene hellte sich sofort auf und er lief los, um Susanne um noch mehr Zahnstocher zu bitten. Ich wischte mir den metaphorischen Schweiß von der Stirn.
 

„Unglück abgewendet“, meinte ich scherzend zu Melina, die das ganze Schauspiel mit großem Interesse vom Nebentisch aus verfolgt hatte. Sie lachte und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
 

„Du kannst gut mit Kindern.“

 

„Aber sie nicht mit mir“, gab ich zurück und wieder lachte sie. Dabei legte sie den Kopf ein

wenig schräg.

 

„Du bist lustig“, sagte sie und schenkte mir noch ein Lächeln, bevor sie sich einem Mädchen zuwandte, das Hilfe beim Kleben brauchte.

 

Ein wenig ratlos stand ich daher in der Gegend herum. Kurt hatte mittlerweile seine erbeuteten Zahnstocher auf den Tisch geschüttet und war dabei, ein Stück Eierpappe mit brauner Tusche zu bemalen, damit er es später spicken konnte. Auch die anderen Kinder bastelten fleißig oder spielten auf der anderen Seite des Raumes mit Ronya und Thies Brettspiele, sodass ich im Grunde genommen ohne Aufgabe war. Mein Blick wanderte zu den Fenstern. Draußen regnete es immer noch, auch wenn die Wolken nicht mehr ganz so finster waren wie am Morgen. Die Chancen standen somit gut, dass es gegen Nachmittag aufklaren würde und wir heute Abend das geplante Lagerfeuer veranstalten konnten. Lotte und die anderen würden also wohl zu ihrem Musikwunsch kommen.

 

Mit einem Blick auf die bastelnde Meute, wandte ich mich ab und verzog mich in Richtung Küche. In einer Ecke, in der man mich vom Tisch aus nicht sehen konnte, zog ich mein Handy heraus. Ich schmiss die Suchmaschine an und klickte mich durch die Liedauswahl, die angeblich bei Kindern beliebt war. Alles, was englisch war, schloss ich sofort aus. Allerdings landete ich so schnell bei „Schnappi, das kleine Krokodil“ und ähnlichen Scheußlichkeiten. Missmutig ließ ich das Gerät sinken. Es musste doch irgendwas dazwischen geben, was ich auch spielen konnte.

 

Wieder sah ich zum Fenster. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen. Das freute mich vor allem deswegen, weil ich wusste, dass Benedikt zusammen mit Sönke und Kilian dort draußen unterwegs war. Unter dem Motto „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung“ hatten sie vor allem die größeren Jungs eingepackt, um mit ihnen eine Wanderung um den See zu machen. Matschpfützenhüpfen inklusive. Ich beneidete sie nicht darum.
 

Wieder blickte ich auf mein Handy. Da war eine Idee, die am Rande meines Bewusstseins herumlungerte und sich nicht so recht traute, ins Rampenlicht zu treten. Natürlich hatte ich den Mädchen versprochen, ein Lied für sie zu singen, aber was, wenn …

 

Mein Daumen bewegte sich wie von selbst über das Display. Ich hatte eine neue Suchanfrage gestartet und die Ergebnisse ließen meinen Puls einen schnelleren Takt anschlagen. Vielleicht war es gewagt. Vielleicht würde es nicht klappen. Aber einen Versuch war es immerhin wert.

 

Ich stoppte, als ich bei einem bestimmten Lied ankam. Es war der Titelsong eines Films, den ich zusammen mit Mia geguckt hatte. Eine romantische Musikkomödie. Cyrano de Bergerac meets Sido für Arme. Damals war das Lied öfter im Radio gelaufen. Ein Duett einer weiblichen Stimme eine Soloversion gab. Ich kannte sie, weil ich Mia das Album zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich starrte das Bild der Sängerin an und lauschte den Stimmen, die in meinem Hinterkopf miteinander stritten.

 

Die eine zeterte, dass es falsch war, etwas zu verwenden, das mit Mia zu tun hatte. Dass es etwas anderes, neues und besseres sein müsste. Dass ich wieder einmal nur zu faul war, um mir richtig Mühe zu geben. Und dass sowieso ein Klavier eine viel geeignetere Begleitung für den Song gewesen wäre. Die andere flüsterte mir zu, dass aber genau dieses Lied perfekt war. Die perfekte Tarnung und die perfekten Lyrics um durchzuziehen, was ich vorhatte.

 

Wie um die erste Stimme Lügen zu strafen, rief ich den Text der Soloversion auf. Der größte Teil des Textes entsprach Wort für Wort der Filmmusik. Die zweite Strophe war ein wenig anders und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen so gut geeignet. Das einzige Problem stellte die erste Textzeile dar. Immerhin benutzte ich weder Lippenstift, noch konnte ich damit irgendwelche Graffitis taggen. Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute nachdenklich darauf herum.

 

Ich muss sie ersetzen. Durch etwas, das nur Benedikt versteht. Etwas, das ihn wissen lässt, dass das Lied für ihn ist, ohne dass die anderen es merken.

 

Noch während ich auf die verräterische Zeile starrte, wusste ich es. Es war so subtil und gleichzeitig so perfekt, dass ich es kaum glauben konnte. Jetzt musste ich nur noch bis heute Abend lernen, das Lied zu spielen.

 

Schnell war ein Tutorial gefunden, dass die verschiedenen Riffs erklärte. Ein Video mit „Karaoke“-Version zum selbst mitspielen. Wieder absolut perfekt. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, war Ruhe und ein Raum zum Üben. Ich hörte Susanne in der Küche hantieren. Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Als sie mich sah, lächelte sie.
 

„Na, Theo, was gibt’s denn?“

„Ich … ich hab mir überlegt, dass der Speisesaal über Mittag doch leersteht, oder?“

„Ja, warum?“

„Na, ich … ich müsste mal ein bisschen spielen üben. Ich hab Lena, Lotte und Luise versprochen, dass ich ihnen heute Abend was vorspiele und möchte sie gerne mit einem neuen Lied überraschen.“

 

Susannes Lächeln wurde breiter.
 

„Das ist ja lieb von dir. Natürlich kannst du hier üben. Komm nach dem Essen zu mir, dann gebe ich dir den Schlüssel.

„Super. Vielen Dank.“

 

Ich nickte ihr noch einmal zu, bevor ich mich umdrehte und innerlich die Hand zur Siegesfaust ballte. Es hatte geklappt. Wenn sich jetzt noch das Wetter dazu entschied mitzuspielen, konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen.

 

Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende geführt, setzte auch schon das Kaugummigefühl ein. Die Zeit bis zum Mittagessen schien einfach nicht vergehen zu wollen und selbst Kurts neuste Igelkreationen konnten es für mich nicht mehr rausreißen. Ich hatte ein Kribbeln in den Fingerspitzen; wollte endlich loslegen und spielen. Aber die Zeit tropfte in Zeitlupe von der Uhr über der Tür, bis Annett endlich das heiß ersehnte Ende der Bastelstunde ausrief. Natürlich gab es Gemurre, weil noch aufgeräumt werden musste, aber selbst das war mir lieber als noch weiter herumzusitzen und einen Eierkarton nach dem anderen zwischen meinen Fingern zu zerfasern. So konnte ich mir einen Besen schnappen und klar Schiff machen, bevor es endlich die angekündigte Gemüsesuppe geben konnte. Kaum waren die Tische gedeckt, klopfte es jedoch an der Tür.
 

„Immer herein, wenn’s kein Schneider ist“, rief Annett. Die Tür öffnete sich und ein grinsender Kilian steckte den Kopf hinein.
 

„Schneider nicht, aber Sani. Darf ich trotzdem rein?“

 

„So wie du aussiehst, bestimmt nicht“, wehrte Annett entsetzt ab. Sie wies auf Kilians Füße, die unter einer dicken Schlammkruste verschwunden waren. „Wir haben gerade erst saubergemacht.“

 

„Gut, dann kommt einer von euch raus. Ich sehe nämlich noch manierlich aus im Gegensatz zu den restlichen Dünenschweinen.“

 

Annett stöhnte und erhob sich.

 

„Ich geh schon. Aber lasst uns noch was übrig.“

 

Sie streifte sich die Kapuze ihres Pullovers über und stapfte leise vor sich hin fluchend nach draußen. Die Tür fiel hinter ihr zu. Es regnete immer noch.

 

„Wir haben Hunger!“, rief es da auch schon aus den Reihen der Kinder.

 

„Ja, wann gibt’s endlich Essen.“

„Hunger! Hunger! Hunger!“

 

„Jetzt, ihr neunköpfigen Raupen!“, verkündete in diesem Moment Susanne durch die Luke der Essensausgabe. „Alle Mann anstellen. Es ist noch Suppe da.“

 

Mit Jubelrufen machten sich die Kinder daran, eine Reihe zu bilden. Selbst die drei L’s hatten ihre Abneigung gegen das gesunde Gemüse abgelegt und standen genau wie alle anderen an, um sich von Susanne großzügig aufschöpfen zu lassen. Kind um Kind balancierte einen vollen Teller vor sich her zu seinem Platz. Bei den Kleineren halfen wir manchmal noch, die Größeren bekamen das prima selbst hin. Als endlich alle ohne größere Suppenunfälle versorgt waren, bekamen auch wir Betreuer unser Essen. Ich hatte mir gerade einen Teller vom Stapel genommen, als die Tür aufging und die ersten, frisch geduschten Ratten hereinkamen. Sofort war ich mein gerade erst ergattertes Geschirrteil wieder los, denn Finn nahm es mir kurzerhand mit einem frechen „Danke!“ aus der Hand und drängelte sich an mir vorbei zur Ausgabe.

 

„Man, hab ich Kohldampf“, schob jetzt auch Tim hinterher, während sein Bruder Tom sich darauf beschränkte, sich einen Teller zu greifen und gleich drei Brötchen in die Taschen seiner Jeans zu stopfen.
 

„Jeder nur ein Brötchen“, versuchte ich einzuwerfen, aber es war hoffnungslos, denn Tom war mit seiner Beute schon auf dem Weg zum Tisch.
 

„Lass sie essen“, meinte Susanne lachend. „Essen hält Leib und Seele zusammen.“

 

Ich versuchte mich an einem Lächeln. Wenn man sich die Gesichter der Kinder so ansah, mochte da sogar etwas Wahres dran sein. Mir, so fürchtete ich, konnte jedoch keine Suppe der Welt mehr helfen. Immer, wenn die Tür aufging, hoffte ich wieder, dass es dieses Mal Benedikt war, der hereinkam. Doch ein ums andere Mal wurde ich enttäuscht. Mittlerweile waren die Tische schon voll besetzt und er war immer noch nicht da.

 

Als Kilian als Letzter den Raum betrat, fragte ich ihn nach Benedikt.
 

„Der ist noch duschen“, sagte er, während er sich einen der letzten Teller griff. „Wir haben erst die Lakis fertig gemacht, damit die essen können. Jetzt wollte er selbst noch duschen.“

 

Für einen Moment war ich in Versuchung, mich nach draußen zu stehlen und nachsehen zu gehen, ob Benedikt noch unter der Dusche stand. Die Vorstellung, dass er gerade jetzt warmes Wasser über seinen Körper laufen ließ, so wie Kilian es letztens getan hatte, war durchaus verführerisch. Aber dann riss ich mich zusammen und ließ mir lieber von Susanne etwas zu essen geben. Wenn alles glatt lief, würde ich ja vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt Gelegenheit bekommen, Benedikt nackt bewundern zu dürfen.

 

Die Vorstellung sorgte für ein eigenartiges Summen in meinem Kopf. Wollte ich das wirklich? So echt und ganz? Konnte ich das? Und würde er das überhaupt wollen?

 

Die plötzlich aufkommenden Zweifel schnürten mir den Hals zu. Nicht einen Löffel der Suppe, die lustig und bunt auf meinem Teller herumschwamm, bekam ich herunter. Stattdessen rührte ich nur die Gemüsestücke durcheinander und sah ihnen dabei zu, wie sie langsam zerfielen.
 

Was, wenn ihm das Lied nicht gefiel? Wenn er es zu mädchenhaft fand? Zu kitschig? Was, wenn ich meine Chance ohnehin bereits ein für allemal verspielt hatte? Wenn ich mich total lächerlich machte, weil ich versuchte, ein totes Pferd zu reiten, das bereits drei Meilen gegen den Wind stank?

 

Noch während ich das dachte, ging auf einmal die Tür auf. Benedikt kam herein. Frisch geduscht, die Haare noch feucht. Er hatte sich rasiert, das konnte ich sehen. Heute Morgen hatte er noch einen deutlichen Schatten gehabt, der jetzt verschwunden war. Er schüttelte sich wie ein Hund und zog den Kapuzenpullover über den Kopf, den er als Schutz gegen den Regen angehabt hatte. Dabei rutschte sein T-Shirt hoch und offenbarte für einen Augenblick einen Streifen nackter Haut. Ich schluckte, während mein Herz mit voller Macht gegen meinen Brustkorb wummerte. Selbst hier inmitten eines Speisesaals voller Kinder, hatte ich plötzlich Mühe damit, ruhig sitzen zu bleiben. Alles an mir wollte aufstehen und mich neben ihn setzen. Einfach nur in seiner Nähe sein, seine Stimme hören, sein Lächeln …

 

Ich stockte, als ich merkte, dass er mich ansah. Das Lächeln, von dem ich gerade noch geträumt hatte, erstarb plötzlich auf seinen Lippen. Fast schon unangenehm berührt drehte er sich weg, nahm sich einen Teller und trat an die Ausgabetheke. Hastig senkte ich ebenfalls meinen Blick. Wieder kamen mir meine Zweifel in den Sinn. Ob das mit dem Lied wirklich so eine gute Idee war? Aber andererseits: Was hatte ich zu verlieren? Wenn er nicht darauf reagierte, wusste ich, woran ich war. Dann konnte ich ihn mir aus dem Kopf schlagen oder es wenigstens versuchen.

 

Mit diesem Vorsatz tauchte ich nun endlich den Löffel in meine Suppe. Sie war inzwischen nur noch lauwarm.

 

„Isst du das noch?“, fragte mich Tim, der mir gegenüber saß und auf mein Brötchen schielte.
 

„Nein, nimm nur“, antwortete ich und schob es ihm rüber. Ich hatte ohnehin keinen Hunger mehr.

 

 

Die Zeit nach dem Mittagessen stellte meine Geduld erneut auf eine harte Probe. Zunächst schien es, als würden die hungrigen Mäuler heute einfach kein Ende finden. Selbst als die Schüsseln mit Quarkspeise schon bis auf den Grund geleert waren, saßen immer noch einige an den Tischen und hatten es anscheinend auch nicht eilig, von dort zu verschwinden.

 

„Die letzten müssen beim Schladi helfen!“, rief ich in den Raum. Das war zwar gelogen, führte aber dazu, dass auch die letzten Bummler sich endlich verzogen. Danach räumten die mittleren Jungs zu Ende ab und wischten die Tische. Natürlich im Schneckentempo.
 

„Wisst ihr was? Ihr könnt gehen. Ihr fallt ja schon fast um vor Müdigkeit“, verkündete ich und nahm Marcel, einem der Chaoten aus Sönkes Zelt, den Lappen aus der Hand, mit dem er ohnehin nur den Dreck von rechts nach links verteilt hatte.
 

„Haste gehört?“, johlte er sogleich und brauchte nur ungefähr drei Sekunden, bis er bei seinem Kumpel war und ihn kräftig geschubst hatte. „Ich bin ein Dominostein. Haha.“
 

„Ich geb dir gleich Domino“, meckerte sein Freund zurück und gab Marcel einen Stoß vor die Brust.

 

„Spinnst du? Das tat weh!“

„Selber schuld. Du hast doch angefangen.“

„Kinder.“

„Aber du hast viel doller gemacht.“

„Kinder!“

„Gar nicht!“

„Wohl!“

 

Kurz bevor die beiden sich so richtig in eine Keilerei stürzen konnten, kam Sönke rein.
 

„Frederik! Marcel! Ab mit euch ins Zelt. Es ist Mittagsruhe.“

„Wir haben doch Schladi.“

„Dann beeilt euch gefälligst und dann nichts wie ab.“

 

Sönke wollte sich gerade wieder umdrehen, als ich die beiden Störenfriede kurzerhand am Schlafittchen packte und sie hinter Sönke herschob.
 

„Nimm sie mit, ich mach das schon.“

„Aber sie sollten doch …“

„Bitte!“

 

Sönke verkniff sich sichtlich ein Lachen.
 

„Na schön, dann räum du auf, Ich nehm die beiden Plagegeister mit.“

„Danke.“

 

Innerlich und äußerlich aufseufzend wischte ich die Tische zu Ende und brachte die liegengebliebenen Besteckteile zurück, die es wie bei jeder Mahlzeit irgendwie unter die Tische geschafft hatten und dann dort vergessen worden waren. Anschließend nahm ich noch ein Geschirrhandtuch zur Hand, um Susanne beim Abtrocknen der Suppentöpfe zu helfen, in denen sie das Mittagessen gekocht hatte.

 

Als die Küche endlich blitzte und blinkte und nirgends auch nur das kleinste Staubkörnchen zu sehen war, war die Mittagspause bereits halb rum.

 

„Wer hat an der Uhr gedreht …“, sang ich leise vor mich hin und lachte mich selber aus. Es war heute wirklich wie verhext.
 

„Brauchst du noch was?“ Susanne sah mich fragend an.

 

„Nein, alles gut. Ich brauche nichts. Ganz ehrlich.“

 

Susannes Lächeln wurde breiter.
 

„Na, ich seh schon, ich lasse den Künstler mal alleine. Aber brauchst du nicht noch dein Instrument?“

 

Ich zuckte zusammen. Das hatte ich vollkommen vergessen. Wenn ich die Gitarre erst jetzt aus dem Betreuerheim holte, würden es sicherlich alle mitbekommen. Ob jemand Fragen stellen würde?
 

„Soll ich sie dir holen?“

 

Ich sah nach draußen. Es regnete nicht mehr, aber es war trotzdem nass und ungemütlich. Wahrscheinlich machte ich mir also ganz umsonst einen Kopf. Das Lagerfeuer würde heute bestimmt gar nicht stattfinden.
 

„Nein, ich geh schon.“

 

Ich verabschiedete mich von Susanne und eilte zu dem kleinen Häuschen am Sportplatz. Zu meiner Erleichterung war drinnen nicht viel los. Ronya saß auf dem Sofa und las, Melina kochte sich gerade einen Tee und Thies hatte es sich mit seinem Handy auf einem Stuhl bequem gemacht. Ohne sie groß zu beachten, ging ich zu meiner Gitarre, die in ihrer Hülle an der hinteren Wand stand. Als ich sie hochhob, sah Ronya auf.
 

„Hey, Theo, willst du uns was spielen?“
 

Ertappt blieb ich stehen und schob ein Lächeln auf mein Gesicht.
 

„Nein, ich … ich will nur etwas üben. Das bisschen Gezupfe abends reicht nicht, damit ich nicht einroste. Aber ich will euch nicht stören, deswegen gehe ich in den Speisesaal.“

 

Ich war fast erstaunt, wie gut die Lüge über meine Lippen kam. Ich wurde nicht mal ansatzweise rot.
 

„Ach, okay. Dann mal viel Spaß.“

„Danke.“

 

Ohne mich noch einmal umzusehen eilte ich zum Küchengebäude zurück. Der Schlüssel klimperte in meiner Tasche. Als ich endlich die Tür hinter mir schließen konnte, merkte ich erst, wie angespannt ich war. Die ganze Sache zerrte an meinen Nerven. Ob ich so überhaupt spielen konnte?

 

Zur Sicherheit schloss ich die Tür von innen ab und suchte mir einen Platz, den man von draußen nicht ohne Weiteres einsehen konnte. Anschließend nahm ich die Gitarre aus ihrer Hülle. Sie war kalt und ich ahnte bereits, dass ich die Seiten ein paar Mal würde nachspannen müssen. Trotzdem begann ich schon mal, mir das Tutorial anzusehen. Die Griffe waren nicht ohne, aber da es nicht allzu viele waren, hatte ich den Dreh nach einiger Zeit raus. Jetzt fehlte nur noch der Gesang.
 

„Na dann los“, machte ich mir selbst Mut und begann zu üben. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf das Spielen und den Text. Als ich an die Stelle kam, die ich ändern wollte, zögerte ich kurz, doch dann flossen die Worte wie von selbst von meinen Lippen. Es passte wirklich wie Faust aufs Auge. Ich hoffte nur, dass Benedikt sich auch noch daran erinnerte.

 

 

Am Nachmittag tat mir die Sonne endlich den Gefallen, am Himmel zu erscheinen, und als die Mittagspause beendet war und die Kinder sich ihren Nachmittagssnack abholen kamen, hatte Susanne bereits begonnen, den Teig für das Stockbrot vorzubereiten.
 

„Damit er in Ruhe gehen kann“, erklärte sie mir, bevor sie mich ebenso wie den Rest der Kinder nach draußen scheuchte.

 

Eigentlich waren für die Zeit bis zum Abendbrot Spiele im Freien angesagt, aber meine Konzentrationsfähigkeit ließ merklich zu wünschen übrig. Ich versagte bei „Marco Polo“, wurde beim Verstecken immer als Erster gefunden und als ich bei „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser“, zum dritten Mal hintereinander „Drei Meter“ sagte, wurde ich einstimmig abgewählt.

 

„Am besten gehst du mal beim Feuer helfen“, meinte Stephan. Ich nickte und tat so, als würde ich mich dorthin trollen, aber stattdessen schlich ich mich heimlich zu den Toiletten. Ich verzog mich in eine der wenigen Kabinen, klappte den Deckel herunter, setzte mich darauf und zog die Beine an. Zwar verriet die abgeschlossene Tür, dass sich jemand hier drinnen befand, aber ich hoffte, dass man so nicht sofort erkannte, dass ich es war. Seufzend legte ich den Kopf auf die Knie.

 

Du bist wirklich ein Held, spottete ich. Versteckst dich auf dem Klo wie ein Fünftklässler, der Angst vor dem Schulhof-Rowdy hat. Erwachsen ist wirklich anders.

 

Andererseits war ich so müde und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, nicht stillstehen zu können. Ich wollte mich bewegen. Eine Runde auf dem Rad drehen vielleicht. Ich vermisste das Gefühl, in die Pedale zu treten und alles und jeden hinter mir lassen zu können. Den Kopf freimachen und nicht nachdenken müssen. Einfach nur bewegen. Aber das ging nicht. Ich konnte hier nicht weg, egal wie sehr ich es mir wünschte.

 

Statt irgendetwas zu tun, verfiel ich in eine merkwürdige Starre. Ich blendete meine Umgebung aus und konzentrierte mich darauf, immer wieder und wieder die Lyrics des Liedes zu wiederholen. Es mochte stumpfsinnig sein, aber es half, meine wild umherspringenden Gedanken zu beruhigen. So lange, bis irgendwann zwei Jungen kamen, um die Pissoirs zu benutzen. Als sie wieder gegangen waren, gab ich meinen unbequemen Sitzplatz auf und erhob mich mit steifen Knochen. Wie lange ich hier gesessen hatte, wusste ich nicht, aber als ich nach draußen trat, traf mich der volle Sonnenschein. Die Welt um mich herum dampfte wie eine überdimensionierte Waschküche, aber von Regen war weit und breit nichts mehr zu sehen.

 

Das Lagerfeuer wird stattfinden. Bei dem Gedanken machte mein Herz einen kleinen Hüpfer. Ich würde das Lied singen können. Endlich.

 

 

Dieses Mal waren am Feuer Tische aufgebaut worden, auf denen Teller und Würstchen lagen. Es gab einen Behälter mit Stöcken für das Stockbrot und sage und schreibe vier große Schüsseln mit Teig.
 

„Wer soll das denn alles essen?“, fragte Kilian mit weit aufgerissenen Augen.
 

„Na ihr“, gab Susanne ungerührt zurück. „Das ist mein Geheimrezept. Das schmeckt jedem.“

 

Tatsächlich gab es großes Gerangel um das Stockbrot. Jeder wollte seines zuerst zubereiten, doch die Anzahl an Plätzen war begrenzt, sodass Reike und Melina am Ende dazu übergingen, die Stöcke vorzubereiten und immer einer gewissen Anzahl Kinder in die Hand zu drücken. Erst, wenn die fertig waren, gab es eine neue Ladung.
 

Als schließlich alle satt und zufrieden waren, wurde gesungen. Das Stachelschwein-Lied und andere reihten sich schier endlos aneinander. Ich wurde mit jedem Stück nervöser und verspielte mich sogar manchmal. Susanne, die heute wegen der Knetarbeit am Teig vom Gitarre spielen ausetzte, bedachte mich ab und an mit einem fragenden Blick, den ich jedoch jedes Mal gekonnt ignorierte. Ich vermied es auch, in Benedikts Richtung zu sehen, der wieder mit Kilian in der letzten Reihe auf meiner linken Seite saß. Ich wusste, dass ich vermutlich schreiend aufspringen würde, wenn ich ihn entdeckte.
 

Dann endlich, als die Dämmerung schon hereingebrochen war, standen plötzlich die drei L’s vor mir.

 

„Du wolltest uns noch was spielen“, sagte Lotte und die beiden anderen nickten dazu.

 

Ich lächelte. „Na dann setzt euch mal. Ich hab euch was rausgesucht.“

 

Die Augen der Mädchen begannen zu leuchten und sie zischten den anderen zu, still zu sein. Ich atmete tief durch und rief mir noch einmal die Akkorde ins Gedächtnis. A-Dur, E-Dur, H-Dur und Cis-Moll. Nicht schwer, nicht kompliziert. Ich würde das hinkriegen.

 

Mit immer noch klopfendem Herzen legte ich die Finger auf die Seiten. Der straffgespannte Kunststoff vibrierte unter meiner Berührung, fast so, als könne auch er es nicht erwarten endlich vorzutragen, was wir so lange geübt hatten. Noch einmal schloss ich die Augen, atmete tief ein und begann zu spielen.
 

Sobald die ersten Töne erklungen waren, verstummte auch noch das letzte Gemurmel. Stille breitete sich über dem Lagerplatz aus und nur das Knacken des Feuers und meine Gitarre waren noch zu hören. Ich lehnte mich in den Rhythmus, die Melodie. Stellte mir vor, dass ich wieder ganz alleine im Speisesaal wäre, anstatt 70 Paar Augen auf mir zu haben. Und endlich fand ich den Mut zu singen. Es waren nicht meine eigenen Worte, aber sie drückten perfekt aus, wie es in mir aussah.

 

Ich wusste nicht, was mir gefehlt hat

Bis du alles verdreht hast

Machst die schönsten kleinen Fehler

Bist irgendwie anders, ich finde, dir steht das

Wenn du wüsstest, was abgeht

Wenn du einfach nur dastehst

Verlier mich in deinem Blick

Kann mir irgendwer sagen, ob das mit uns klargeht?

 

Immer wenn ich an dich denk

Raubst du mir den Atem

Ich würd so gern mit dir häng’n

Aber trau mich nicht zu fragen

 

Schon mit dem Beginn des Pre-Chorus hörte ich, dass einige anfingen mitzusingen und spätestens beim Refrain war mindestens die Hälfte mit dabei. Die Kinder kannten das Lied und sie mochten es. Es würde also nicht auffallen, dass ich den Song nicht zufällig aufgewählt hatte. Trotzdem war ich noch nervös. Im Film kam jetzt der Rapteil, doch ich hatte vor, als nächstes meine veränderte, zweite Strophe zu singen. Würde Benedikt es verstehen? Würde er sich daran erinnern?

 

Du malst mit Buntstift ein’n Sakura

Ich schenk dir ’n Song zum Geburtstag

Klaue uns ein Motorrad

Wir fliegen durch die Nacht, häng’ n ’n bisschen auf dem Mond ab

Sind die Scheiben beschlagen

Dann schreib’ ich deinen Namen

Und ich wollt’s dir nie sagen

Lauf jeden Tag ’n Umweg durch deine Straße

 

Schon während ich den unbekannten Text sang, merkte ich, wie die Kinder unruhig wurden. Das änderte sich erst, als ich wieder zum Refrain überleitete, bei dem jetzt schon mehr mitsangen. Es war fast wie ein Background-Chor. Ein Meer aus Kinderstimmen vor einer dunklen Bühne, auf der nur ich stand. Ich wusste nicht, ob der, für den ich das hier sang, im Publikum saß und es wusste. Ich traute mich nicht, in seine Richtung zu sehen. Stattdessen nahm ich Anlauf und sprang mit vollem Lauf in die Bridge, die mich noch einmal zum rettenden Chorus bringen würde.

 

Meine Knie werden weich

Und mir fällt wieder nichts ein

Mit dir geht mein Puls hoch

Werd dieses Gefühl nicht mehr los, nein

Mit dir hab ich ’n Kribbeln im Bauch

Benehme mich wie ein Clown

Mit dir seh’ ich nur noch Sterne

Und ich möchte ein bisschen sterben

 

Und Refrain! Mit voller Begeisterung waren jetzt fast alle miteingefallen. Zumindest kam es mir so vor. Der Text war eingängig genug und so sangen wir gemeinsam noch einmal den Chor:

 

Immer wenn wir uns seh’n

Fängt mein Kopf an zu dreh’n

Es gibt viele, doch ich spür’ du bist anders

Immer wenn wir uns seh’n

Bleibt mein Herz wieder steh’n

Und mein Kopf leer, wo soll ich anfang’n?

Immer wenn wir uns seh’n

Muss ich sofort wieder geh’n

Weil ich rot werde, wenn du mich anlachst

Immer wenn wir uns seh’n

Immer wenn wir uns, wenn wir uns

Immer wenn wir uns, wenn wir uns seh’n

 

Mit den letzten Tönen wagte ich endlich, die Augen zu öffnen. Ich wollte sehen, ob Benedikt verstanden hatte, dass dieses Lied für ihn gewesen war. Dass ich das hier nur gemacht hatte, weil ich mich nicht traute, ihm offen zu sagen, was ich für ihn empfand. Ich wollte sehen, ob die Message angekommen war.

 

Mein Blick wanderte nach links. Unzählige Gesichter, große und kleine. Doch das, das ich suchte, war nicht darunter. Ich stutzte und hätte beinahe die Gitarre fallen lassen. Da saß Kilian auf dem üblichen Platz. Kurt, Ronya, deren Augen eben leuchteten wie die der kleinen Mädchen. Melina, Sönke, Stephan, Thies und all die anderen. Doch Benedikt war nicht da. Nirgends. Ich hatte versagt.

 

Mit dem letzten Anschlag legte ich die Finger auf die Seiten und der Ton des Instruments verstummte. Fast augenblicklich brandete Applaus auf. Fast alle klatschten, einige riefen nach einer Zugabe, doch ich nahm das alles nur am Rande wahr. Meine Gedanken kreisten um die Tatsache, dass Benedikt das Lied nicht gehört hatte und darum, wie ich mich fühlte. Da war ein Riesenberg Enttäuschung, der sich über mich wälzte und mich zu erdrücken drohte. Der mir die Luft abschnürte und mich daran hinderte frei zu atmen. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, das ich so nicht erwartet hatte. Es war Erleichterung.

Freunde

Ich sah Benedikt an diesem Abend nicht wieder. Erst beim Bettfertigmachen tauchte er plötzlich auf, als wäre er nie weg gewesen. Ich versuchte kurz, seinen Blick einzufangen, aber er war offenbar so damit beschäftigt, die Gummibärchen in Reih und Glied zu halten, dass er mich nicht bemerkte.

 

Ein wenig enttäuscht wandte ich mich ab. Natürlich hatte ich nicht erwartet, dass er mir vor versammelter Mannschaft in die Arme fiel; trotzdem war dieses vollkommene Ausbleiben einer Reaktion ziemlich … unbefriedigend. Wenn er mir gesagt hätte, dass er kein Interesse hatte, wäre das zwar hart gewesen, aber ich hätte wenigstens gewusst, woran ich war. So jedoch tappte ich weiterhin im Dunkeln. War ihm das Ganze zu kitschig gewesen? Zu albern? Zu aufdringlich? Oder war er vielleicht gar nicht wegen des Liedes gegangen? Vielleicht hatte er sich nur an einem nicht ganz durchgebratenen Würstchen den Magen verdorben und deswegen fluchtartig den Platz verlassen. Konnte doch sein.

 

Wen willst du damit eigentlich überzeugen?

 

Ich schnaubte leise, als ich an diesen Spruch denken musste, den Mia mir während der Klausurvorbereitungen geschickt hatte. „Solange der letzte Strohhalm, an den man sich klammert, in einem Cocktail steckt, geht’s eigentlich.“ Den Strohhalm hatte ich schon mal, nur der Cocktail fehlte noch. Leider konnte ich mir den nicht so einfach herbeilügen.

 

Ich könnte jetzt wirklich was zu trinken vertragen.

 

Ich merkte, wie ich mit dem Gedanken spielte, mir von Susanne unter einem Vorwand die Autoschlüssel zu borgen, um mir tatsächlich an irgendeiner Tankstelle Alkohol zu besorgen. Natürlich würde ich es nicht tun. Wenn das irgendwer mitbekam, würde ich mit Sicherheit rausfliegen und meine Eltern würden davon erfahren. Ebenso Benedikt. Die Meinung, die er sich dann über mich bildete, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Jetzt war ich wenigstens nur jemand, der ihm ein schnulziges Liebeslied vorgesungen hatte. Das war … nicht so schlimm, wenn man es genau betrachtete. Im Grunde genommen war es sogar besser, dass er nicht reagierte. Das hieß doch, dass wir so weitermachen konnten wie bisher. Wir konnten immer noch Freunde bleiben.

 

Jetzt muss ich es nur noch hinkriegen, nicht mehr in ihn verliebt zu sein.

 

Mit diesem Gedanken schlief ich ein und erwachte damit am anderen Morgen. Meine Nacht war von vielen, kleinen Unterbrechungen gezeichnet gewesen. Geträumt hatte ich nicht. Trotzdem war mein Schlafsack nassgeschwitzt und mein T-Shirt klebte unangenehm an meiner Haut. Ich fühlte mich zerschlagen und dreckig.

 

„Ich geh mal duschen“, murmelte ich Stephan zu und verließ das Zelt, bevor er mich aufhalten konnte. Mit gesenktem Kopf schlich ich durch das Lager und ignorierte die Kinder um mich herum. Die schienen bereits zu dieser frühen Stunde mit unendlicher Energie gesegnet, wenn man dem fröhlichen Treiben Glauben schenken durfte.

 

Hoffentlich finde ich die nach der Dusche auch wieder.

 

Momentan fühlte ich mich eher wie eine Marionette mit ausgeleierten Fäden. Ich zog und zog, aber nichts passierte. Noch einmal versuchte ich mir zu sagen, dass es alles nicht so schlimm war, aber ich merkte deutlich, dass es nicht so recht klappen wollte.

 

Jetzt reiß dich mal zusammen, herrschte ich mich selbst nach einem Blick in den Spiegel an. Es ist nicht das Ende der Welt. Steht er eben nicht auf dich. Auch nicht schlimm. Es wird vorbeigehen.

 

Der kleinen Stimme, die dagegen aufbegehren wollte, stopfte ich eine dreckige Socke in den Mund. Sie würde mich womöglich noch dazu bringen, irgendetwas Unüberlegtes und wirklich Peinliches zu tun. Benedikt direkt danach fragen zum Beispiel. Solange ich es nicht genau wusste, konnte ich mich wenigstens in der Illusion ergehen, dass er nur aus reiner Höflichkeit nichts sagte. Ich konnte mein Gesicht wahren und darauf kam es doch an.

 

Mit diesem Gedanken streifte ich meine verschwitzte Kleidung ab und ging duschen. Das warme Wasser brachte tatsächlich die erhoffte Erleichterung und ich spürte, wie das Spannungsgefühl, das sich um meinen Kopf gelegt hatte, etwas abebbte.

 

Es ist weniger geworden, dachte ich, während ich Liter um Liter erhitztes Nass über mich hinwegrauschen ließ. Zu Hause hätte ich sicherlich schon längst wieder eine Schmerzattacke gehabt, doch hier im Lager war ich wirklich lange davon verschont geblieben.

 

Liegt vielleicht an der vielen frischen Luft.

 

Die Erklärung knackte und knirschte zwar an allen Ecken und Enden, aber es war die beste, die ich zur Hand hatte. Die Hauptsache war doch, dass es mir besser ging. Vielleicht war es wirklich nur der Prüfungsstress gewesen, der jetzt langsam von mir abfiel. Also keine Müdigkeit vorschützen und weitermachen. Immerhin hatten wir heute als Abschluss der Wikinger-Woche das große Drachenbootrennen geplant. Da musste ich fit sein.

 

Ich wusch gerade das Shampoo wieder aus meinen Haaren, als ich ein Wirrwarr aus hellen Stimmen näherkommen hörte. Im nächsten Moment betraten die ersten Kinder den Waschraum. Ich überlegte nicht lange, sondern drehte mich sofort mit dem Gesicht zur Wand. Es war ja nicht so, dass ich etwas Verbotenes tat. Es war allerdings auch nicht gerade angenehm, der einzig Nackte im Raum zu sein. Anders als Kilian hatte ich da keinerlei exhibitionistische Veranlagung.

 

„Guten Morgen, Theo!“

 

Das war Kurt. Ich erwiderte seinen Gruß und wollte mich nicht weiter darum kümmern, als ich hörte, dass einige der Kinder fragten, ob sie auch duschen dürften. Daraufhin antwortete eine andere, weitaus tiefere Stimme:

 

„Dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Also los, Zähne putzen und dann ab.“

 

Benedikt. Verdammt! Natürlich musste ausgerechnet er derjenige sein, der mit den Kids hierher kam. Warum konnte es nicht Sönke sein? Oder Thies oder Stephan? Meinetwegen auch Kilian. Aber nein, das Schicksal hatte anscheinend Spaß daran, mir immer wieder Knüppel zwischen die Beine zu werfen und dann noch einmal nachzutreten, wenn ich schon am Boden lag. Zumal in diesem Moment auch noch die Dusche über mir verstummte. Ich schluckte und überlegte.

 

Eigentlich war ich sauber. Es war also an der Zeit, mich abzutrocknen. Leider hatte ich mein Handtuch auf dem Waschtisch liegen lassen, statt es an einen der Haken in der Nähe der Duschen zu hängen. Um es zu bekommen, würde ich also zwischen den Kinder hindurchspazieren müssen. Alternativ konnte ich den Druckknopf der Dusche nochmal und nochmal betätigen, bis mir hier drinnen Schwimmflossen gewachsen waren, und hoffen, dass es niemandem auffiel. Da ich so viel Glück vermutlich nicht haben würde, blieb wohl nur, in den sauren Apfel zu beißen und meinen walk of shame anzutreten.

 

Gerade als ich mich umdrehen und loslaufen wollte, durchfuhr mich der nächste Schreck. Ich hatte vergessen, frische Sachen mitzunehmen. Das hieß, dass ich auch noch nur mit dem Handtuch bekleidet zurück zum Zelt würde gehen müssen. Am liebsten hätte ich den Kopf ein paar Mal gegen die Fliesen geschlagen. Wenn ich dann bewusstlos zusammenbrach, blieb mir wenigstens die Peinlichkeit erspart, halbnackt durch die Gegend zu laufen. Nur mit Turnschuhen an den Füßen und einem Handtuch vor den wichtigsten Körperstellen. Noch lächerlicher ging es nun wirklich nicht. Dann schon lieber auf einer Trage rausgebracht werden. Auf der würde man mich wenigstens vollständig bedecken.

 

„Hier, Theo, dein Handtuch.“

 

Kurts Stimme holte mich wieder aus meinen Tagträumen von Rettungswagen und hübschen Assistenzärzten, die Benedikt erstaunlich ähnlich gesehen hatten. Mit einem strahlenden Lächeln hielt mir der Knirps das hellblaue Stück Frottee entgegen.

 

„Danke“, entschlüpfte es mir verblüfft. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich endlich in der Lage war zuzugreifen, um ihm das Handtuch auch abzunehmen.

 

„Benedikt hat es mir gegeben“, sagte Kurt immer noch voller Begeisterung. „Er hat gemeint, du würdest hier drinnen sonst noch Wurzeln schlagen.“

 

Ich erwiderte Kurts Lächeln mit einem Grinsen.

 

„Ach schade. Dabei wollte ich doch eigentlich noch ein bisschen für meinen Freischwimmer üben.“

„Was ist das?“

„Ein Schwimmabzeichen.“

„Echt? Cool. Ich hab schon fast Seepferdchen.“

„Das ist klasse.“

 

Während ich mich mit Kurt unterhielt, war es mir beinahe gelungen auszublenden, was er am Anfang gesagt hatte. Dass Benedikt ihm das Handtuch gegeben hatte. Als der Gesprächsstoff versiegte, drängte der Gedanke sich jedoch wieder in den Vordergrund. Hieß das, dass Benedikt mich beobachtet hatte? Dass er meine Zwangslage bemerkt und mir deswegen geholfen hatte?

 

Ich wagte einen Blick in seine Richtung, aber er schien mich nicht zu beachten. Ich seufzte leise.

 

Interpretier lieber nicht zu viel hinein, gemahnte ich mich selbst, während ich mir das Handtuch möglichst fest um die Hüften wand. Er ist nicht interessiert. Lass einfach die Finger davon.

 

„Soll ich dir eine Zahnbürste machen?“, wollte Kurt wissen.

 

„Ich kann das schon selber“, wollte ich sagen, aber dann nickte ich nur. Mit einem leichten Lächeln verfolgte ich, wie Kurt sich abmühte, aus meiner fast leeren Tube noch etwas herauszuquetschen. Ich würde mir wohl …

 

„Hier, nimm meine“, hörte ich plötzlich Benedikt sagen. Er reichte Kurt seine Zahnpasta und der lud gleich einen Riesenberg des blauen Gels auf die weißen Borsten.

 

„Äh, danke, das reicht“, rief ich eilig und nahm die Bürste vom Waschtisch, bevor sie noch umkippen konnte. Ich murmelte ein Danke in Benedikts Richtung und steckte mir das überquellende Ding in den Mund. Frischer Pfefferminzgeschmack mit einer leichten Süße flutete meine Geschmacksknospen. Zwar hatte ich Schwierigkeiten, die schiere Menge an Zahnpasta sinnvoll zu verteilen, aber während ich das tat, konnte ich die ganze Zeit an nichts anderes denken, als dass das hier in meinem Mund Benedikts Zahnpasta war. Der Gedanke ließ irgendwas in meinem Magen merkwürdig kribbeln.

 

Das kann nur peinlich werden, echote es in meinem Kopf und so beeilte ich mich, überall ein wenig herumzuschrubben, bevor ich das Wasser andrehte um auszuspucken. Ein dickes „HALT!“ von Kurt hielt mich auf.

 

„Man muss mindestens zwei Minuten putzen“, erklärte er mit gewichtiger Miene. „Hat meine Mama gesagt. Sonst wirkt die Zahnpasta nicht.“

 

Ich wünschte Kurt mitsamt seiner Mutter auf den Mond, steckte aber gehorsam die Bürste wieder in den Mund und putzte weiter.

 

„Darf ich jetzt ausspülen“, fragte ich undeutlich und drehte mich zu Kurt um. Dabei traf sich mein Blick mit Benedikts. Er wandte sich hastig ab und begann, seine Siebensachen zusammenzusammeln. Und ich? Ich stand da, nur mit einem Handtuch bekleidet, die Zahnbürste in der Hand, den Mund voller Schaum und kam mir dumm vor. Gleichzeitig hatte die kleine Stimme in meinem Hinterkopf anscheinend ihren Socken ausgespuckt und versuchte mich darauf hinzuweisen, dass er mich schon wieder beobachtet hatte.

 

Hat er?, fragte ich zweifelnd zurück. Ich bekam keine Antwort. Stattdessen tat Kurt mir hoheitsvoll kund, dass ich jetzt meine Morgentoilette beenden durfte. Ich tat es, war aber nicht bei der Sache. War da nun etwas gewesen oder nicht? Der Gedanke machte mich ganz kirre. So sehr, dass ich sogar vergaß, dass ich mich eigentlich hatte rasieren wollen. Das fiel mir erst auf, als ich nun endlich mit meinem Handtuch um die Hüfte die Flucht antrat. Fast wäre ich in der Tür stehen geblieben und hätte mich wieder umgedreht, doch da das nur umso peinlicher gewesen wäre, ließ ich es bleiben. Würde ich eben einen auf Wikinger machen oder zumindest so tun.

 

Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein, summte es in meinem Kopf und ich fühlte ein Lachen meine Kehle hinaufwandern. Das war so dämlich, dass ich darüber beinahe meinen Aufzug vergaß. Er kam mir jedoch schnell wieder ins Bewusstsein, als ich fast in Ronya hineinrannte. Ihre Augen glitten an meinem Oberkörper hinab, bevor sie sie schnell wieder in Richtung meines Gesichts schnappen ließ. Ich kam mir nackt vor.

 

„Äh, hi“, grüßte sie und schien ungefähr so verlegen, wie ich mich fühlte. „Du, äh … hast das Frühstück verpasst. Ich soll dir von Susanne ausrichten, dass sie dir ein Brötchen in den Kühlschrank gelegt hat. Sie, äh, geht gleich einkaufen.“

 

„Ah, ja, danke.“ antwortete ich und überlegte gerade, ob es unhöflich wäre, mich nun einfach aus dem Staub zu machen, als Ronya schon wieder den Mund auftat.

 

„Ich fand dein Spiel gestern toll. Das Lied von Lea. Ich mag die total.“

„Ja, äh, ich … also meine Freundin auch.“

 

Ronya lächelte wieder.

 

„Bei der zweiten Strophe hast du dich aber im Text geirrt. Im Original heißt es …“

 

„Ich weiß“, unterbrach ich sie schnell. Die ersten Gummibärchen waren gerade an mir vorbeigekommen und ich wollte nun wirklich nicht mit Ronya ausgerechnet die Textstelle diskutieren, während Benedikt es mitbekam. Selbst wenn ein kleiner Teil von mir darauf brannte, ihm das noch mal unter die Nase zu reiben, um sicherzugehen, dass er auch wirklich nicht interessiert war.

 

„Ich hab die geändert, weil … weil das mit dem Lippenstift so albern gewesen wäre, wenn ich es singe.“

„Ja, aber …“

„Ronya, bitte sei mir nicht böse, aber ich muss mir jetzt echt was anziehen. Du entschuldigst mich?“

„Äh, ja klar. Sorry!“

 

Sie grinste noch ein wenig verlegen, während ich mich nun endgültig auf den Weg ins Zelt machte. Dabei hatte ich das Gefühl, sämtliche Blicke auf mich zu ziehen. Vermutlich war das nicht weiter verwunderlich. Ich trug immerhin nur ein Handtuch. Und Turnschuhe.

 

Mit tiefgehender Erleichterung schlüpfte ich kurz darauf endlich in meine Sachen, bevor ich mich mit einem Umweg über das versprochene Brötchen auf den Weg zur Betreuerversammlung machte. Immer noch kauend traf ich dort ein. Wolfgang und Sönke fehlten, da sie mit Susanne zum Einkaufen gefahren waren. Dementsprechend übernahm Stephan als ältester Betreuer den Vorsitz.

 

„So, das Wochenende ist überstanden, heute geht es wieder in die Vollen. In einer halben Stunde kommen die vom Kanuverein und liefern die Boote. Pro Boot haben bis zu 18 Kinder Platz plus einen Trommler. Außerdem bekommt jedes Boot einen Betreuer, der das Steuern übernimmt. Die Gruppen sollten möglichst gemischt sein, da die kleineren sich sicherlich nicht so kräftig in die Riemen legen können. Am besten löst ihr das, indem ihr die Kinder Lose ziehen lasst. Wir bekommen insgesamt fünf Boote, also lasst ihr sie einfach die Zahlen 1-5 aus dem Hut ziehen. Noch Fragen?“

 

„Was gibt’s zum Mittag?“

 

Kilian erntete einige Lacher, während ich nur die Augen verdrehte. Anscheinend wollte er diesen Witz zum Running Gag ausbauen.

 

„Wie sieht’s mit Schwimmwesten aus?“

 

Eine sinnvolle Frage, die dieses Mal von Benedikt kam.

 

„Hat der Kanubetreiber alles dabei. Die liefern dafür ein Rundum-Paket. Ihr müsst nur schauen, dass die Kinder die Westen auch richtig anlegen.“

 

Zufrieden nickend nahm Benedikt das zur Kenntnis. Ich hätte an so was vermutlich nicht gedacht. Dabei wusste ich doch, dass einige der kleineren Kinder noch nicht sicher schwimmen konnten. Der Gedanke, dass vielleicht Kurt ins Wasser fallen und einfach untergehen konnte, weil ich zu leichtsinnig gewesen war, ließ das gerade erst gegessene Brötchen in meinem Magen zu Stein werden. Erfolglos versuchte ich, meine Gedanken wieder von diesem dunklen Loch fortzuziehen. Anscheinend empfand irgendwas in meinem Kopf geradezu makabere Freude daran, mir eine kurtgroße Wasserleiche vorzustellen. Ich schluckte, als mein Mageninhalt sich wieder von mir verabschieden wollte.

 

„Ist dir nicht gut? Theo? Hallo? Hörst du mich?“

 

Reikes sanfte Stimme und ihre Hand auf meiner brachte mich wieder zurück in die Realität. Sie musterte mich besorgt. Auch der Rest der Truppe sah mich merkwürdig an.

 

„Ich … äh … ja. Mir geht’s gut. Die Jagdwurst war vielleicht nicht mehr ganz frisch.“

 

Reike sah mich noch einen Augenblick lang zweifelnd an, bevor sie sich wieder Stephan zuwandte, der die Einteilung der Betreuer zu den verschiedenen Stationen vornahm. Es überraschte mich nicht, dass ich in einem der Boote landete.

 

„Kriegst du das hin?“, fragte mich Reike auf dem Weg nach draußen. Anscheinend war meine schauspielerische Leistung in Bezug auf meinen Zustand nicht besonders überzeugend gewesen.

 

„Ja, klar. Ich war vorhin nur ein bisschen neben der Spur.“

„Und warum?“

 

Tja, warum? Eine gute Frage. Ich hatte, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wo diese kalte Strömung hergekommen war, die mich da erwischt und einfach nach unten gezogen hatte. Gerade noch hatte ich gedacht, dass alles okay war, da passierte so was. Unschlüssig hob ich die Achseln.

 

„Keine Ahnung. Ich hab nicht so gut geschlafen heute Nacht.“

„Wenn du möchtest, mache ich dir heute Abend einen Tee. Der hilft, den angestrengten Geist zu beruhigen.“

„Äh, ja danke.“

„Gerne.“

 

Ich bezweifelte zwar stark, dass mich irgendwelche mit heißem Wasser überbrühten Blätter zum Schlafen bringen würden, aber schließlich hatte man früher auch Weidenrinde ausgekocht, um daraus den Vorläufer von Kopfschmerztabletten zu machen. Vielleicht half es also doch, wenn man daran glaubte.

 

 

Nach dem Mittagessen und einer verkürzten Mittagsruhe brachen wir zusammen mit den Kindern auf zur Anlegestelle des Sees, wo bereits einige der Betreuer sowie der Kanuverleiher mit den bereitgestellten Drachenbooten wartete. Kaum, dass wir angekommen waren, legte der Typ mit dem Vollbart und der gelben Schirmmütze auch schon los.

 

„Na gut, alle mal herhören. Ihr habt ja diese Woche schon eine ganze Menge über Wikinger gelernt. Ihr habt gejagt, gekocht, gebacken, Waffen, Werkzeuge und Kleidung hergestellt. Aber das, was Wikinger natürlich am allerbesten konnten, war …? Na, wer weiß es?“

 

Unzählige Hände schossen nach oben und eines der größeren Mädchen antwortete, als sie drangenommen wurde: „Sie waren Seefahrer.“

 

„Richtig“, röhrte die Schirmmütze und ihr Bauch wackelte beim Lachen. „Sie sind zur See gefahren. Nun haben wir zwar kein wild tosendes Meer vor der Tür, aber einen prima Binnensee und auf dem wollen wir heute mal ausprobieren, wie seefest ihr seid. Dazu muss man wissen, dass die Boote, die wir heute benutzen, nicht aussehen wie die der Wikinger damals. Die wurden ja von großen Männern gesegelt und nicht von so kleinen Butschern wie euch. Ich habe euch daher heute einen Bootstyp mitgebracht, der ursprünglich aus China stammt. Deswegen sehen die kleinen Drachen, die vorne an der Spitze befestigt sind, auch aus wie aus dem Chinarestaurant. Aber das soll uns nicht stören, schwimmen tun sie allemal. Also los! Alle Mann in die Boote!“

 

Dieser Aufforderung folgte ein wildes Gedränge. Jeder der Betreuer, die selbst mitfahren würden, hielt ein Tuch in einer der Farben der Drachenboote hoch. Ich schwenkte somit ein rotes Fähnchen über meinem Kopf, während sich um mich alle diejenigen versammelten, denen die Zahl drei zugelost worden war. Reike sammelte in grün die Vieren, Benedikt in blau alle Einser, Thies in weiß die Zweier und die gelben Fünfer landeten bei Kilian. Nacheinander wurden die Boote beladen. Sie waren schmal und sahen ein bisschen aus wie überlange Kanus. Auf den insgesamt neun Bänken konnten immer zwei Kinder nebeneinander sitzen. Am Heck gab es noch einen Platz für den Steuermann, während am Bug des Bootes eine Art Klappstuhl und eine große Trommel angebracht worden waren. Damit würde später beim Rudern eines der Kinder den Takt angeben.

 

„Blaues Boot los“, gab die Schirmmütze bekannt und schon begann wildes Gepaddel, das erst einmal dazu führte, dass die eine Seite des Bootes vom Steg wegdriftete, während die andere dagegen schlug.

 

„Halt, halt, ihr müsst alle gemeinsam paddeln“, erklärte die Schirmmütze noch einmal. „Alle zusammen im gleichen Takt. Nur so kommt ihr voran.“

 

Die Mannschaft des blauen Bootes probierte es erneut und dieses Mal legte das Boot tatsächlich vom Steg ab. Auch bei Thies’ Mannschaft gab es wenig Probleme. Unser Team war als Nächstes dran.

 

„Einer nach dem anderen und nicht so wackeln“, rief ich, während ich beim Einstieg half. Zum Glück wurden die Boote an beiden Enden festgehalten, sodass sie nicht abdriften und jemand in der entstandenen Kluft verschwinden konnte. Trotzdem atmete ich hörbar auf, als alle im Boot waren.

 

„So, Lena, fertig. Du kannst den Takt vorgeben.“

 

Lena grinste mich an.

 

„Na, dann mal los.“

 

Gleichmäßig begann sie, mit den dicken Schlägeln die Trommel zu bearbeiten. Die Kinder hoben und senkten im Takt dazu ihre Paddel in kurzen, dreieckigen Bewegungen, ganz so wie es der Kanuverleiher es uns gezeigt hatte. Dabei wurde schnell deutlich, dass die größeren Kids besser mit den etwa ein Meter langen Paddeln zurechtkamen. Ich zählte allein vier oder fünf Kinder, bei denen ich mir schon ausrechnen konnte, dass sie innerhalb der nächsten Minuten die Segel streichen würden. Trotz dieser Leerläufer bewegte sich das Boot immerhin in die richtige Richtung. Kaum waren wir allerdings ein Stück auf den See hinausgeschippert, kreischte ein Mädchen plötzlich los.

 

„Eine Schlange! Eine Schlange!“

 

Sofort war der Teufel los. Zwei der Bootsinsassen ließen ihre Paddel fallen, einige versuchten aufzustehen, andere gar aus dem Boot zu klettern. Einer sogar, um die Schlange zu fangen. Es herrschte ein heilloses Durcheinander.

 

„Seid ihr verrückt“, schrie ich. „Im Wasser ist doch die Schlange. Also hinsetzen, sonst fallt ihr rein.“

 

Die Warnung wirkte. Sofort setzten sich alle wieder auf ihre vier Buchstaben und hielten sogar den Mund. Dadurch konnte man umso deutlicher das Gelächter von Kilians Mannschaft hören, die noch am Ufer stand.

 

„Beruhigt euch mal!“, rief er zu uns rüber. „Das ist nur ne Ringelnatter. Die tut nichts.“

 

Jetzt sah auch ich den schmalen Strich, der in einiger Entfernung durch das Wasser glitt und schließlich im Schilfgürtel verschwand. Auf genau den steuerten jetzt auch die verlorenen Paddel zu.

 

„Wartet, wir geben sie euch rüber“

 

Reikes Boot war mittlerweile gestartet und eines der Mädchen sammelte die Paddel ein. Geschickt steuerte Reike das Riesenkanu an unsere Längsseite und meine Mannschaft bekam ihre Paddel zurück.

 

„So, und jetzt schön festhalten“, sagte Reike noch, bevor sie wieder ablegten. Bei ihr sah das total leicht aus. Wir jedoch drehten uns irgendwie im Kreis, obwohl ich das Steuer total gerade hielt.

 

„Ihr müsst mal gleichmäßiger paddeln“, rief ich und besah mir meine Mannschaft zum ersten Mal genauer. Täuschte ich mich oder hatte ich tatsächlich besonders viele kleine Kinder dabei? Ronyas Zelt schien sich beinahe vollständig in meinem Boot versammelt zu haben. Ein Blick auf Kilians wild grölende Horde bestätigte mir, was ich mir schon fast gedacht hatte. Er hatte ungewöhnlich viele der großen Jungs dabei.

 

„Wer von euch hat seinen Zettel getauscht?“

 

Einige Hände erhoben sich zögerlich. Ich seufzte leise. Es war so klar gewesen.

 

„Na gut, ist nicht schlimm. Dabei sein ist schließlich alles. Ihr horcht jetzt einfach auf den Takt, den Lena vorgibt, und in dem paddelt ihr. Und ich versuche dann, dass wir die richtige Richtung treffen.“

 

„Aye, Aye, Käpt’n!“, rief Nils, einer der Gummibärchen. Beim Versuch zu salutieren schlug er seinem Nebenmann fast sein Paddel um die Ohren. Ich stöhnte innerlich. Das konnte ja heiter werden.

 

 

Entgegen meiner ersten Befürchtungen machten sich die Kinder jedoch ganz gut. Wir kamen zwar als Letzte durchs Ziel der ausgewiesenen Rennstrecke, die sich vom diesseitigen Ufer bis zur Badestelle des Lagers erstreckte, aber es fiel niemand ins Wasser und es tauchten auch keine weiteren Schlangen auf. Trotzdem war ich froh, endlich wieder festen Grund unter den Füßen zu haben. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich das Gefühl bekam, der Steg würde schwanken.

 

„Ist normal“, meinte der Kanuverleiher und grinste. „Bist wohl nicht so recht seefest.“

 

„Nein, wohl nicht“, gab ich ein wenig irritiert zurück.

 

„Was ist denn los?“, wollte jetzt ausgerechnet Benedikt wissen. Er und seine Mannschaft waren knapp hinter Reike als Dritte ins Ziel gegangen.

 

„Er ist landkrank“, gab der Mützenmann zur Auskunft. „Am besten stützt du ihn ein bisschen, damit er nicht ins Wasser fällt.“

 

„Haha, sehr witzig“, fauchte ich und ließ sowohl ihn wie auch Benedikt einfach stehen. Das fehlte mir gerade noch, dass ich jetzt wie ein Kleinkind vom Steg geführt wurde, damit ich nicht hinfiel. Als ich jedoch fast die Stufe übersah, die wieder auf den Sandstrand hinunterführte, war ich froh um die Hand, an der ich mich festhalten konnte. Ich sah auf und Benedikt genau in die Augen.

 

„Äh, danke“, sagte ich und wusste nicht, ob ich jetzt wieder wegsehen und weitergehen oder das Gespräch mit ihm suchen sollte.

 

„Keine Ursache“, gab er in ähnlich bedächtigem Tonfall zurück. „Geht’s … geht’s dir gut?“

„Ja, alles bestens.“

„Gut.“

„Gut.“

 

Das „Gespräch“ wäre sicherlich noch in jede Menge Schweigeminuten übergegangen, doch glücklicherweise rief uns Stephan, damit wir beim Aufladen der Boote auf den Hänger des Bootsverleihers halfen. Zu viert wuchteten wir die langen Dinger in ihre Halterungen. Am Ende sahen wir aus, als wären wir in den See gefallen.

 

„Das üben wir aber nochmal“, meinte der Mützenmann grinsend, bevor er sich daran machte, die Boote zu vertäuen. Ich seufzte, während ich an mir herabschaute.

 

„Ich würde sagen, da ist Umziehen angesagt.“

 

Ich blickte rüber zu Benedikt, der genauso durchnässt war wie ich.

 

„Kommst du mit?“

 

Für einen Moment zögerte er, doch dann nickte er zur Bestätigung.

 

„Kilian hat gemogelt“, sagte ich, als wir ein Stück des Weges gegangen waren. Wie ich feststellte, waren wir ganz allein.

 

„Mhm, ich glaube, das waren eher die Ratten. Die haben sich die gleichen Nummern ertauscht.“

„Was für Ratten!“

 

Benedikt sah mich einen Moment lang komisch an, dann begann er zu grinsen. Ich grinste zurück und wusste, dass es von jetzt an wieder besser laufen würde. Nicht zusammen, nicht als Paar, aber immerhin wieder auf der gleichen Wellenlänge. Als Freunde.

Abschied nehmen

Die Siegerehrung des Drachenbootrennens fand am Abend im Speisesaal statt. Wir hatten die Tische beiseite geräumt und aus Getränkekisten ein Podest gebaut. Auf dem würde später ein Vertreter jeder Siegermannschaft stehen. Noch war es allerdings nicht so weit, denn immer noch strömten Kinder in den bereits gut gefüllten Raum. Der Lärmpegel stieg mit jedem von ihnen ein kleines bisschen weiter an.

 

Ich saß in der letzten Reihe auf einer Fensterbank. Kurt baumelte neben mir mit den Beinen und sah recht zufrieden aus, obwohl er mit Thies’ Mannschaft als Vierter ins Ziel gegangen und somit nur knapp an einer Platzierung vorbeigeschrammt war.

 

„Ich fand das Bootfahren toll“, sagte er jetzt auch noch und strahlte mich an.

 

„Ja, ich auch“, antwortete ich, ohne es wirklich zu meinen. Rückblickend war es zwar nicht unbedingt eine Katastrophe gewesen, aber irgendwie … Ich konnte den Finger nicht recht darauf legen. War es wirklich nur die Tatsache, dass wir als Letzte das Ziel erreicht hatten, die mich so störte?

 

Während ich den Grund für meine Unzufriedenheit zu ergründen versuchte, wanderte mein Blick wie von selbst durch den Raum. Er blieb an Benedikt hängen, der unübersehbar in einer der vorderen Reihen stand. Offenbar klärten er und seine Mannschaft gerade, wer von ihnen später auf dem Treppchen stehen würde. Als hätte er meinen Blick bemerkt, hob er den Kopf. Er lächelte kurz, bevor er sich wieder den Kindern zuwandte. Ich hingegen konnte meine Augen nicht von ihm nehmen. Etwas in meinem Inneren kitzelte meine Aufmerksamkeit, aber noch bevor ich mir dessen so richtig bewusst werden konnte, wurde ich von rechts angestupst.

 

„Kommen deine Eltern morgen auch?“, wollte Kurt wissen

 

Ich zog die Stirn kraus. Wie kam Kurt denn darauf? Sah ich etwa so aus, als würde ich keine drei Wochen ohne elterlichen Beistand aushalten? Oder lag es daran, dass ich in seiner kindlichen Wahrnehmung nicht viel mehr als ein zu groß geratener Spielkamerad war? Der Gedanke gefiel mir irgendwie nicht.

 

„Nein, ich … meine Eltern müssen arbeiten“, antwortete ich etwas verspätet.

 

Kurt zog eine Schnute. „Ach, das ist ja schade. Was arbeiten sie denn?“

 

„Wir haben einen Bauernhof, auf dem man Urlaub machen kann.“

 

Kurts Augen wurden groß. „Echt? Einen Bauernhof? Habt ihr da auch Tiere?“

 

Ich lächelte. „Na klar. Wir haben Kühe, Pferde, Ponys, Hühner, Ziegen und auch ein paar Katzen.“

 

Ich hatte nicht geglaubt, dass Kurts Augen noch größer werden konnten, aber er verblüffte mich. Gleich darauf zerbarst sein Gesichtsausdruck in pure Begeisterung.

 

„Kann ich dich da auch mal besuchen kommen?“

„Na klar. Wenn du magst.“

 

Ich wusste, dass ich ohne Probleme zusagen konnte. Seine Eltern würden sicher einen Weg finden, seinen Wunsch wieder und wieder zu verschieben, bis er ihn irgendwann vergessen hatte. Gleichzeitig wünschte ich mir, dass sie es nicht taten. Ich hätte mich gefreut, ihn nach den Ferien noch einmal wiederzusehen.

 

 

Die Siegerehrung begann. Wolfgang hatte sich ein Mikrofon organisiert, sodass seine Stimme laut und deutlich aus den Lautsprechern in den Ecken des Raumes zu hören war. Er hielt zuerst eine Ansprache, anschließend wurden die selbstgemachten Urkunden überreicht. Unter viel Geklatsche und Gejohle nahmen die Ratten als Letzte den Preis für den ersten Platz entgegen. Es waren wirklich fast alle von ihnen in Kilians Boot gewesen.

 

Ich beobachtete das Ganze mit gemischten Gefühlen. Ich wusste, was es hieß, ganz oben mit dabei zu sein. Den Stolz über die erbrachte Leistung in den Adern kreisen zu fühlen, die Bewunderung, die Blicke, die auf einem ruhten. Doch ich wusste auch, was es hieß, zu den Letzten zu gehören. Zu denen, die ausgelacht und herumgeschubst wurden.

 

Bei diesem Gedanken fiel mir das Foto ein, das bei uns zu Hause auf dem Klavier stand. Es stammte von Christophers Einschulung. Während er mit stolzgeschwellter Brust seine Schultüte in die Kamera hielt, stand ich mit unbewegter Miene daneben. Das linke Auge unter der Brille von einem Pflaster verklebt und mit einem noch nicht vollständig verheilten Kratzer auf der Wange. Den hatte ich bekommen, als mich ein Junge im Kindergarten in die Büsche geschubst hatte. Ich hatte es nicht erzählt, sondern behauptet, dass ich beim Laufen gestürzt war. Daraufhin waren wir zum Augenarzt gefahren und ich hatte das dumme Pflaster bekommen.

 

„Wenn wir es nicht aufkleben, musst du ins Krankenhaus und operiert werden“, hatte meine Mutter damals gesagt. Die Drohung hatte mich vor Schreck erstarren lassen. Ich hatte mitgemacht und war prompt von Christopher ausgelacht worden, als ich nach Hause gekommen war.

 

„Hey, Schielauge, bist du jetzt unter die Piraten gegangen?“, hatte er gerufen und von meiner Mutter sofort einen Rüffel kassiert.

 

„Wenn das Pflaster wieder ab ist, wird er nicht mehr schielen“, hatte sie erklärt und mich angelächelt. Ich hatte es erwidert, aber im Stillen schon gewusst, was mich am nächsten Tag erwarten würde. Eine Reise in die Dornenhecke am Rand des Spielgartengeländes. Dort, wo die Erzieher einen nicht sehen konnten. Es war der Platz, an den die größeren Kinder ihre Opfer immer verschleppten, um sie zu quälen. Wer den Mund aufmachte, wurde nur umso härter bestraft. Also hielten wir durch und freuten uns heimlich auf den Tag, an dem wir die Großen sein würden.

 

Ich schüttelte leicht den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden. Diese Zeit war lange vorbei und das Pflaster hatte tatsächlich geholfen. Von meinem Schielen war lediglich ein leichter Silberblick zurückgeblieben, den man nur sah, wenn ich sehr müde oder alkoholisiert war. Einzig die Brille hatte ich noch. Manchmal fragte mich jemand, warum ich eigentlich keine Kontaktlinsen trug. Ich hatte mich jedoch nie mit dem Gedanken anfreunden können, mir irgendwas in die Augen zu setzen, das dort den ganzen Tag herumschwamm. Und außerdem … inzwischen lachte niemand mehr über mich. Ich hatte den Spott abgelegt wie ein zu klein gewordenes Kleidungsstück. Seit dem schwamm ich bei den Gewinnern mit und hatte wohl über die Zeit vergessen, wie es war, wenn man ganz unten saß. Unbeachtet in der letzten Reihe.

 

Ich sah rüber zu Kurt, der mit einem seligen Grinsen im Gesicht verfolgte, was vorne auf der Bühne vor sich ging. Wolfgang und Susanne hatten begonnen, die Trostpreise an die Kinder zu verteilen, die keine Urkunde bekommen hatten. Es gab goldglänzende Schokotaler.

 

„Die sind eh viel besser als die blöden Urkunden“, urteilte Kurt und machte sich auf den Weg, um sich seine Süßigkeit abzuholen. Insgeheim befand ich, dass er und die anderen viel eher eine Auszeichnung verdient hatten. Aber so lief es eben nicht im Leben. Preise gab es immer nur für die ersten Plätze.

 

 

Der nächste Tag brachte den lange erwarteten Besuchstag und mit ihm jede Menge Unruhe. Alle paar Minuten fragten die Kinder, wann es denn endlich soweit wäre, und als die ersten Autos auf den Parkplatz rollten, waren nicht nur die Kinder rechtschaffen erleichtert.

 

Eröffnet wurde die Veranstaltung nach einer kurzen Ansprache von Wolfgang mit einem Picknick auf der Rasenfläche des Sportplatzes. Überall standen, saßen und liefen Kinder herum, während die Erwachsenen es sich auf den mitgebrachten Decken gemütlich gemacht hatten. Ebenso unterschiedlich wie die besuchenden Eltern waren auch die Mitbringsel, die allerorts ausgepackt wurden. Während die eine Familie gesundes Obst und Gemüse in wiederverwendbaren Tupperdosen zutage förderte und artig herumreichte, riss man auf der Decke nebenan einfach eine große Chipstüte auf, aus der sich alle gleichzeitig bedienten. Es dauerte nicht lange, da hatten sich regelrechte Tauschketten entwickelt, bei denen zum Schluss niemand mehr aß, was eigentlich für ihn vorgesehen war. Da beäugte der Chipsvater kritisch die selbstgebackenen Dinkelstangen in der Hand seines Juniors, während die Bio-Mutter mit süßsaurem Gesichtsausdruck auf ihr Kind einflötete, doch bitte nicht so viele gehärtete Fette zu sich zu nehmen.

 

Als trotzdem irgendwann alle satt und zufrieden waren, wurden die Eltern mit der Lagerhymne und anderen gründlich einstudierten Darbietungen unterhalten. Sie durften die bisher gefertigten Bastelarbeiten begutachten, die Zelte und sanitären Anlagen besichtigen, die wir am Vormittag natürlich noch auf Hochglanz gebracht hatten, und wurden allgemein von A nach B gezerrt, damit sie sich noch dieses und jenes unbedingt ansahen. Die meisten ließen das willig über sich ergehen, was vielleicht auch daran lag, dass diejenigen, die zu lange an einer Stelle standen oder gar saßen, zu sportlichen Wettkämpfen zwangsverpflichtet wurden. Dabei wurde „Rasen-Ski“ mit Abstand zur unbeliebtesten Disziplin gekürt, die jedoch die meisten Lacher beim Publikum hervorrief. Alternativ konnte man sich auch noch im Sackhüpfen, Eierlaufen, Dreibeinrennen oder Gummistiefel-Weitwurf versuchen. Auf die weniger Sportlichen wartete eine Station mit dem „Heißen Draht“, Lieder gurgeln oder das große Wikinger-Quiz, bei dem immer zwei Elternteile gegeneinander antraten. Ganz besonders Mutige durften sich schließlich auf den Barfußpfad begeben, den Reike zusammen mit den Kindern angelegt hatte.

 

Bei der Verabschiedung am gemeinsamen Lagerfeuer kam es dann zu den ersten Tränen dieses ereignisreichen Tages. Aber auch die, die nicht weinten, waren aufgewühlt und kaum zur Ruhe zu bringen. Es dauerte lange, bis am diesem Abend alle Kinder im Bett waren. Das war der Moment des zweiten großen Aufatmens auf Betreuerseite.

 

„Ist jedes Mal so“, erklärte mir Stephan, während wir uns selbst für die Nacht fertig machten. „Wir haben schon überlegt, den Besuchstag ganz ausfallen zu lassen, aber das wäre für die meisten der kleineren Kinder doch zu lang.“

 

„Vielleicht sollte man das Lager verkürzen“, schlug ich vor. „Oder einfach zwei Lager anbieten für verschiedene Altersgruppen.“

 

„Das solltest du bei der nächsten Betreuersitzung mal zur Sprache bringen. Neue Impulse von außen sind nie verkehrt.“

 

Vermutlich hätte ich mich nicht so über dieses Lob, das eigentlich keines war, freuen sollen. Doch Stephans Zuspruch weckte in mir den Wunsch, noch mehr zum Gelingen der Gemeinschaft beizutragen. Mehr zu sein als nur der Springer mit der Gitarre. Ich wollte mich wirklich einbringen, statt wie bisher nur mitzulaufen.

 

Ich werde es ihnen beweisen, nahm ich mir vor und begann gleich am nächsten Tag, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Was immer es zu erledigen galt, ich war der Erste, der dafür die Hand hob. Ich bereitete die Pizzaralley mit vor, sägte Holz für das Insektenhotel zurecht, gab den Kindern Surfunterricht, bis meine Lippen blau waren und ich vor lauter Zähneklappern nicht mehr zu verstehen war. Ich half in der Küche, beim Holz hacken, beim Müllsammeln rund um den See und beim Toilettendienst. Ich war sogar so beschäftigt, dass ich nicht einmal dazu kam, mir über Benedikt Gedanken zu machen. Wenn ich doch mal ein paar Minuten Luft hatte, achtete ich darauf, nicht zu viel Zeit mit ihm zu verbringen. Nicht zu oft in seine Richtung zu sehen. Mich beim Essen nicht immer in seine Nähe zu setzen. Ich spielte ein pedantisches Wechselspiel aus Nähe und Entfernung und die Rechnung schien aufzugehen.

 

Er wurde entspannter in meiner Gegenwart. Lachte öfter. Machte Scherze. Zwar verbrachten wir so gut wie nie Zeit allein, aber wenn es sich mal ergab, war da etwas zwischen uns. Etwas, das ich nicht benennen konnte. Nicht in Worte fassen. Ich hatte keine passende Bezeichnung für dieses halbe Lächeln, das er manchmal auf dem Gesicht hatte, wenn er mich ansah. Diese Blicke, die meine für einen Moment einfingen, bevor er den Kopf wieder in eine andere Richtung drehte. Die körperliche Nähe, die sich ab und an für ein paar Herzschläge ergab, ohne dass einer von uns sie kommentiert hätte. Ich spürte sie jedes Mal überdeutlich, doch ich gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte das, was sich zwischen uns entwickelte, nicht gleich wieder kaputtmachen. Stattdessen redeten wir über belangloses Zeug. Musik, Filme, Bücher, unsere Klassenkameraden und was noch viel wichtiger war: unsere Lehrer. Allzu persönliche Themen ließen wir aus, aber dann und wann ließ Benedikt ein Stück Information fallen. Ich sog alles gierig auf wie ein Schwamm. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich heimlich Fotos von ihm machte, und man hätte mich für einen Stalker halten können. Trotzdem war es irgendwie … gut. Vertraut. Und ich genoss es in vollen Zügen.

 

 

Zu meinem Glück hielten sich auch meine Kopfschmerzen in einem Rahmen, der es mir erlaubte, unentdeckt zu bleiben. Nur einmal musste ich Annett um eine Tablette bitten. Sie händigte mir kurzerhand die ganze Schachtel aus.

 

„Hast du genug getrunken?“, wollte sie wissen und stellte damit eine der Standardfragen, die man anscheinend zwangsläufig zu hören bekam, wenn man Kopfschmerzen hatte.

 

„Ja, daran liegt es nicht“, antwortete ich, während ich gleich zwei Tabletten herausdrückte.

 

Annett beobachtete das mit gerunzelter Stirn.

 

„Willst du die beide auf einmal nehmen?“

„Ja, das mach ich öfter. Ist nicht weiter … wild.“

 

Ich stockte, als mir auffiel, dass ich wohl ein wenig zu viel verraten hatte. Annetts Augen wurden schmal.

 

„Wie oft hast du das?“

„Nicht so oft“, log ich ohne zu zögern. „Es ist nur … selten so schlimm.“

„Auch nachts?“

„Manchmal.“

„Mhm.“

 

Annett musterte mich jetzt kritisch von oben bis unten. Man sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete.

 

„Hast du noch andere Symptome?“

„Nein.“

 

Wieder eine Lüge, wenn auch nur eine kleine. Ich hatte ja sonst keine Schmerzen. Ich schlief nur manchmal schlecht, was wohl einfach an der Wärme lag. Genau wie die Tatsache, dass ich mich hier und da nur mit Mühe beherrschen konnte, um nicht eines der Kinder anzufahren, wenn es Blödsinn machte oder aus der Reihe tanzte. Mir fehlte vermutlich der Sport. Die Touren mit dem Rad. Daran änderte auch das bisschen Lauftraining nichts, das ich manchmal in den Morgenstunden absolvierte. Ebenso wenig wie die Massen an Kaffee, die ich mittlerweile trank, etwas an meiner Müdigkeit änderten.

 

Annett nickte scheinbar beruhigt.

 

„Wenn es häufiger vorkommt, solltest du trotzdem mal damit zum Arzt gehen. Vielleicht ist es Migräne.“

 

„Ja, okay, ich merk’s mir“, sagte ich, ohne wirklich in Erwägung zu ziehen, ihrem Rat Folge zu leisten. Es würde schon wieder weggehen.

 

 

Die Kopfschmerzen kamen nicht noch einmal in der Heftigkeit zurück. Doch mit jedem Tag, der verging, rückte der Zeitpunkt näher, an dem das Zeltlager sein Ende finden würde. Man hätte wehmütig sein können, wenn nicht auch den Kindern anzumerken gewesen wäre, dass sich inzwischen auch die hartgesottensten unter ihnen nach ihrem Zuhause sehnten. Leider zeigte sich das besonders bei den älteren dadurch, dass sie vermehrt Streit suchten, Ge- und Verbote mutwillig missachteten oder sich so demonstrativ langweilten, dass selbst den motiviertesten Betreuern langsam die Puste ausging. Gerade als Ronya sich während einer Mittagspause mal wieder darüber beschwerte, machte ich meinen Vorschlag mit den zwei getrennten und dafür kürzeren Lagern. Ronya war sofort Feuer und Flamme.

 

„Das wäre so super“, stöhnte sie. „Dann melde ich mich nur noch für die Kleinen an. Der Zickenkrieg der pinken Panther ist echt nicht auszuhalten.“

 

„Und ich bin dann bei den Prä-Teens dabei“, ließ sich Annett vernehmen. „Ich hab’s nicht so mit diesem Dutzi-Dutzi-Getue für die ganz Kleinen.“

 

„Klingt ja fast so, als wäre das bereits beschlossene Sache“, urteilte Kilian und streckte sich demonstrativ auf dem Sofa aus. „Also ich wäre bei beidem dabei. Meinetwegen auch insgesamt vier Wochen.“

 

„Zehn Tage wären für die Kleinen wohl ausreichend“, gab Reike zu bedenken.

 

„Dann eben zweimal zehn Tage. Was haltet ihr davon?“

 

Kilian sah erwartungsvoll in die Runde, die mehr oder weniger einstimmig nickte.

 

„Na prima, dann machen wir das nächstes Jahr so.“

 

„Halt, halt“, rief Stephan lachend. „Wir müssen das erst mit dem Träger abstimmen.“

 

„Ja ja, stimmt ihr mal“, erwiderte Kilian gähnend. „Und weckt mich, wenn es Zeit fürs Mittagessen ist. Die Gummibären haben mich heute Nacht kein Auge zutun lassen. Ich brauche dringend eine Mütze voll Schlaf.“

 

Während er sein Nickerchen in Angriff nahm, fragte mich Ronya, ob ich wüsste, wo Benedikt sei.

 

„Nein, keine Ahnung. Warum?“

„Ach, nur so. Ihr beide steckt doch ständig zusammen.“

 

Ich hielt für einen Moment den Atem an. Hatte Ronya etwas gemerkt? Sie schien jedoch mehr daran interessiert, sich mit ihrer Illustrierten Luft zuzufächeln.

 

„Na ja, er wird schon irgendwo sein.“

 

„Ich glaube, ich hab ihn zum See runtergehen sehen“, meinte Kilian mit geschlossenen Augen vom Sofa aus.

 

„Ach so.“

 

Ronyas Neugier schien befriedigt, meine hingegen war geweckt worden. Was wollte Benedikt alleine unten am See? Und würde es auffallen, wenn ich ihm einen Besuch abstattete? Ich trommelte mit den Finger auf der Tischplatte herum, bis mich Annett anmaulte, das entweder zu lassen oder mal ne Runde um den Platz zu joggen.

 

„Okay, okay, ich bin ja schon weg“, sagte ich mit einem entschuldigenden Grinsen. Besser hätte es nicht laufen können. Was konnte ich denn dafür, wenn Annett mich rausschmiss?

 

Immer noch fröhlich vor mich hin grienend machte ich mich auf den Weg zum Strand. Ich fand Benedikt auf dem gleichen Baumstamm, auf dem auch ich am ersten Tag gesessen hatte. Er bemerkte mich nicht, sondern schaute weiter auf den See hinaus.

 

„Hey, hier bist du“, rief ich daher schon von Weitem. „Ich hab dich gesucht.“

 

Benedikt drehte sich zu mir und lächelte leicht. „Dann hast du mich jetzt gefunden.“

 

Ich überlegte einen Augenblick, bevor ich mich ohne zu fragen einfach ein Stück von ihm entfernt auf dem Stamm niederließ. Von dort aus richtete ich meinen Blick ebenfalls auf das Wasser, das in der Mittagshitze ruhig und spiegelglatt dalag.

 

Nach einer Weile räusperte ich mich.

 

„Ich … ich hab gehört, dass eure Nacht heute ganz schön unruhig war. Ist mit Kurt alles in Ordnung?“

„Ja, alles bestens. Ihm war nur zu warm, genau wie den anderen.“

„Kann ich verstehen. Bei uns stand die Luft auch.“

 

Wieder breitete sich Schweigen aus. Ich warf einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln auf meinen Sitznachbarn. Er trug heute abgeschnittene Jeans und ein dunkelgrünes T-Shirt mit einem blauen Schriftzug. Ich versuchte gerade, ihn zu entziffern, als ich bemerkte, dass ich beobachtet wurde. Benedikt sah mich fragend an.

 

„Hast du was Interessantes entdeckt?“

„Äh, nein. Ja! Also … ich hab nur gelesen, was da drauf steht“, stotterte ich.

„Und bist du jetzt schlauer?“

„Ja?“

 

Ich hatte das Bedürfnis zu flüchten und er grinste.

 

„An deinen Ausreden musst du aber noch feilen, wenn du unauffällig Typen abchecken willst.“

„Wer sagt, dass ich dabei unauffällig bleiben will?“

 

Ich wusste nicht, wo der Spruch gerade hergekommen war, aber ich dankte welchem Gott auch immer dafür. Benedikt wandte den Blick ab, doch ich sah genau, dass er sich sehr bemühen musste, seine Mundwinkel unter Kontrolle zu behalten. Das gab mir neuen Aufwind.

 

„Außerdem musst du dich nun wirklich nicht verstecken“, schob ich hinterher. Das brachte ihn dazu, mich kurz anzusehen und den Kopf zu schütteln, bevor er ihn wieder in Richtung Seemitte drehte.

 

„Was?“, fragte ich und tat so, als wäre mir meine Starrerei von vorhin so gar nicht peinlich. „Ich sage nur, wie es ist.“

 

Wie es immer schon gewesen ist.

 

Im Nachhinein hätte ich mich ohrfeigen können, dass ich so blind gewesen war. Benedikt war … heiß. Und sich dessen offenbar nicht bewusst. Zumindest wenn man seinem Gesichtsausdruck Glauben schenken konnte.

 

„Das sagst du wahrscheinlich jedem Kerl“, brummte er ein wenig unwirsch.

 

Nein, nur dir, hätte ich am liebsten geantwortet, aber dann ließ ich es bleiben. Ich hatte ohnehin schon viel zu viel gesagt. Stattdessen tat ich das einzig Richtige und hielt endlich die Klappe. Schweigend blieben wir nebeneinander sitzen, bis es Zeit wurde, die Kinder zu wecken. Als man Kilians Stimme über den Zeltplatz schallen hörte, stand Benedikt einfach auf und ging. Ich sah ihm noch einen Moment lang nach, bevor ich mich ebenfalls erhob und schweigend hinter ihm drein trabte.

 

 

Die letzten drei Tage des Lagers zogen sich mit Baden, Spielen und der großen Disko, die wir am Vorabend des letzten Tages im Speisesaal veranstalteten. Der ganze Raum war mit Girlanden und Luftschlangen geschmückt; jemand hatte eine Musikanlage und sogar eine Diskokugel besorgt. Die Kinder tanzten, was das Zeug hielt. Zwischendurch sorgte Susanne für kühle Getränke und Würstchen im Schlafrock sowie allerlei andere Köstlichkeiten, die sie, Melina und ich am Nachmittag im Schweiße unseres Angesichts zusammengebastelt hatten. Immer wieder kamen Mädchen, die mich zum Tanzen aufforderten, ich lehnte jedoch jedes Mal dankend ab. Beim fünften Mal, schnalzte Ronya vorwurfsvoll mit der Zunge.

 

„Du brichst ihre kleinen Herzen“, warf sie mir vor.

 

„Was denn?“, gab ich empört zurück. „Soll ich sie etwa noch ermutigen?“

„Nein, aber wenigstens nicht jedes Mal Nein sagen. Guck mal da! Selbst Benedikt tanzt mit.“

 

Ich schwenkte meinen Blick zurück zur Tanzfläche. Natürlich hatte ich gesehen, dass er zusammen mit Kurt und einigen anderen Gummibären vor sich hin zappelte. Er war einer der Gründe, warum ich auf meinem Stuhl hockenblieb.

 

„Ich bin kein großer Tänzer“, meinte ich achselzuckend.

„Nicht? Dabei würdest du bestimmt eine gute Figur machen. Und du hast Rhythmusgefühl. Da müsste Tanzen doch ein Leichtes sein.“

 

Ich lächelte und dachte mit Grausen an den Tanzkurs, zu dem mich meine Eltern mal angemeldet hatten. Zum Glück war ich zusammen mit Jo dort gewesen, sonst wäre das Ganze nicht zu ertragen gewesen. Auch die Tatsache, dass sich gleich zwei Mädchen aus unserer Klasse dazu bereiterklärt hatten, mit uns zusammen hinzugehen, war eine Erleichterung gewesen. Das Vorhandensein einer Tanzpartnerin hatte mich davor bewahrt, an irgendein wildfremdes und womöglich an mir interessiertes, weibliches Wesen zu geraten. Witzigerweise war mir das Nicht-Vorhandensein von Interesse an Mädchen immer als ein Zeichen von Reife ausgelegt worden. Im Nachhinein war es geradezu ironisch.

 

„Na komm, nun hab dich nicht so“, holte Ronya mich wieder in die Realität zurück. Sie griff nach meiner Hand und zog mich einfach von meinem Stuhl hoch. Plötzlich stand ich inmitten der Menge, mit Ronya vor mir, die eigenartige Verrenkungen zur Musik machte. Ich musste lachen.

 

„Kann ich auch tanzen wie normale Leute?“

„Mir egal. Hauptsache du tanzt überhaupt. Sonst komme ich mir dämlich vor.“

 

Sie grinste mich an und ich gab meinen Widerstand auf. Ein bisschen Tanzen würde mich schon nicht umbringen. Ich sah Benedikt im Hintergrund feixen und schickte ihm einen finsteren Blick, der ihn nur umso breiter grinsen ließ. Ich seufzte und bewegte pflichtschuldig meine Füße. Das hier war definitiv nicht meine Welt.

 

 

Nichtsdestotrotz war ich traurig, als zwei Tage später die ersten Kinder von ihren Eltern abgeholt wurden. Ich hatte die Aufgabe bekommen, den großen Gepäckhaufen zu bewachen, damit nicht auf den letzten Metern noch jemand Unfug damit trieb. So gab ich Tasche um Tasche an die Kinder heraus, die sich bei der Gelegenheit gleich von mir verabschiedeten. Einige nur mit einem Gruß, einige inniger. So wie Kurt, der von seinen Eltern aus mit einem riesigen Strahlen auf dem Gesicht auf mich zugerannt kam.

 

„Theo! Stell dir vor! Ich bekomme einen Hund zum Geburtstag. Der ist nämlich nächste Woche. Wie findest du das?“

 

„Einen Hund?“, fragte ich lachend. „Kannst du denn überhaupt schon auf so ein Tier aufpassen?“

 

„Na klar. Ich weiß alles über Hunde. Ich werde ihn füttern und bürsten und mit ihm spazieren gehen und nachts schläft er bei mir im Bett.

 

„Na, da reden wir aber nochmal drüber“, sagte sein Vater und nahm Kurts große Reisetasche in Empfang. Ich drückte den Kleinen noch einmal an mich, bevor Kurt davonschoss, um sich auch noch von Benedikt zu verabschieden. Als er und seine Familie schließlich ins Auto stiegen, kam Benedikt zu mir herübergeschlendert.

 

„Ich werde auch gleich abgeholt“, sagte er. „Ausgerechnet heute ist meine Mutter mal früher dran. Angeblich hat sie mir was Tolles zu erzählen.“

„Ihr bekommt auch einen Hund?“, orakelte ich.

„Vermutlich eher noch ein Baby. Meine Schwester faselt schon die ganze Zeit davon, dass sie ja unbedingt noch ein Geschwisterchen für Josie will.“

„Dann bist du zweifacher Onkel.“

„Ja, das bin ich dann wohl.“

 

Für einen Moment lag mir auf der Zunge zu sagen, dass er bestimmt ein ganz toller Onkel war oder sonst irgendwelchen Schwachsinn, aber meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Ich brachte keinen Ton heraus.

 

Hinter ihm fuhr ein kleines, rotes Auto auf den Parkplatz. Ich erkannte es als das seiner Mutter wieder. Der Moment des Abschieds war gekommen.

 

„Tja, ich … also, wir sehen uns dann, oder?“

„Ja, das tun wir.“

 

Ich nickte. Das hier war so schwer. Fast so, als würde ich ihn tatsächlich nie wiedersehen.

 

„Steht unsere Verabredung für nächstes Wochenende noch?“

 

Ich blinzelte überrascht.

 

„Verabredung?“

„Du wolltest mit mir zum CSD gehen.“

 

Ach ja. Das hatte ich total vergessen. Und eigentlich hatte ich gedacht …

 

„Ich hatte gedacht, dass du nicht mehr mit mir hingehen willst.“

 

Er runzelte die Stirn.

 

„Warum nicht?“

„Weiß nicht. War nur so ein Gefühl.“

 

Benedikt lächelte einmal mehr dieses halbe Lächeln.

 

„Doch, will ich. Mehr als alles andere.“

 

Während ich noch überlegte, wie er das wohl gemeint hatte, hörte ich Benedikts Mutter nach ihm rufen. Er verdrehte die Augen.

 

„Du hörst es ja. Mein Typ wird verlangt. Also dann, Theo. Mach’s gut.“

 

Ich kam nicht dazu zu antworten, da war er schon vorgetreten und hatte mich in eine kurze Umarmung gezogen. Die Berührung war so flüchtig und gleichzeitig so kraftvoll, dass sie mir glatt den Atem nahm. Er lächelte mir noch einmal zu, dann drehte er sich um und stiefelte auf seine Mutter zu, die bereits mit einem breiten Lächeln auf ihn zukam. Er kassierte einen Kuss auf die Wange und ebenfalls eine Umarmung, bevor sich die beiden auf den Weg zurück zum Auto machten. Und ich stand da und hatte das Gefühl, im Innern auseinanderzubrechen. Da waren so viele, verschiedene Empfindungen, dass ich gar nicht wusste, welche ich zuerst fühlen sollten. Also atmete ich tief durch, wandte den Blick ab und mich dem nächsten Elternpaar zu, das die Tasche ihres Nachwuchses in dem bereits geschrumpften Haufen suchte.

 

Als schließlich auch das letzte Kind abgeholt worden war, wurde es auch für uns Betreuer Zeit, unsere Sachen zu packen. Reike war die Erste, die damit fertig war und sich von allen verabschiedete. Als ich an die Reihe kam, nahm sie meine Hand und legte mir etwas hinein. Es war eine kleine, gedrehte Muschel aus hellem Holz etwa halb so groß wie mein kleiner Finger.

 

„Die Muschel ist ein Symbol des Erwachens. Ich denke, du wirst sie brauchen können.“ Sie nickte mir zu. „Ich wünsche dir eine gute Zeit, Theodor, und viel Kraft für deinen weiteren Weg.“

 

Damit lächelte sie mir noch einmal mit diesem geheimnisvollen Lächeln zu und ihre großen, braunen Augen betrachteten mich ein letztes Mal, bevor sie ihren Motorradhelm aufsetzte und mit festen Schritten zu ihrer Maschine ging. Ich sah ihr nach mit der Muschel in der Hand und wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Im nächsten Moment war jedoch schon Kilian heran und zog mich einfach in eine Umarmung.

 

„Mach’s gut, Theo, altes Haus. Und immer schön geschmeidig bleiben.“

 

„Äh, ja“, machte ich. „Gleichfalls.“

 

Er zwinkerte mir noch zu und übergab den Staffelstab an Thies und Stephan, der ersteren zum Bahnhof bringen würde. Sie beließen es ebenso wie Sönke bei einem einfachen Handschlag. Ronya hingegen umarmte mich wieder.

 

„Hat mich gefreut, Theo.“

„Mich auch.“

„Kommst du nächstes Jahr wieder?“

 

Ich hob unschlüssig die Schultern.

 

„Mal sehen. Ich weiß noch nicht, was ich mache, wenn ich mit der Schule fertig bin.“

 

Ronya grinste mich an.

 

„Na, vielleicht kommst du ja noch auf den Geschmack und wirst Kindergärtner.“

„Im Leben nicht!"

 

Sie lachte und umarmte mich noch einmal, bevor sie in Annetts Auto stieg. Darin saß bereits Melina, die sich zuvor von mir verabschiedet hatte. Blieb nur noch Annett.

 

„Na schön, Großer. Dann lass dich mal drücken:“

 

Bevor ich reagieren konnte, hatte sie schon einen sehnigen Arm um mich geschlungen und mich an ihre Brust gedrückt. Sie fühlte sich hart und schmal in meinen Armen an.

 

„Bleib gesund, ja?“

„Na klar.“

 

Ich rückte meine Brille wieder zurecht, während sie mir noch einmal das „Ich beobachte dich“-Zeichen machte, bevor sie ins Auto stieg und losfuhr. Zurück blieben nur noch Wolfgang, Susanne und ich.

 

Mit einem merkwürdigen Gefühl in der Brust ließ ich meinen Blick noch einmal über den verwaisten Platz schweifen. Da waren so viele Erinnerungen, große und kleine, die ich mit diesem Ort verband. Jetzt von hier fortzumüssen war irgendwie seltsam. Gleichzeitig glich das Lager ohne die vielen Kinder einer Geisterstadt. Man erwartete fast, einen losen Busch zu sehen, der über die Straße zwischen den Zelten geweht wurde.

 

Susanne lachte, als sie meinen vermutlich ziemlich verräterischen Gesichtsausdruck sah.

 

„Was denn? Hast du jetzt schon Heimweh?“

 

Ich erwiderte ihr Lächeln. „Vielleicht ein bisschen.“

 

„Dann komm doch einfach nächstes Jahr wieder. So jemand wie dich können wir immer brauchen.“

 

„Ich überleg’s mir“, antwortete ich und stieg endlich in den bis an die Decke beladenen Kastenwagen, damit wir losfahren konnten.

 

 

Am Hof meiner Eltern angekommen, ließ Susanne mich bereits an der Straße raus.

 

„Bei uns kommen heute die Handwerker“, erklärte sie mir. „Da muss ich pünktlich zu Hause sein.“

 

Ich klopfte noch einmal bestätigend an die Wagenseite, bevor ich meine Tasche und die Gitarre schulterte und die breite Einfahrt zu unserem Domizil hinaufschritt.

 

Auf dem Hof hatte sich nicht viel verändert und doch konnte man hier und dort Unterschiede erkennen. Vor den Ferienwohnungen lagen andere Fußmatten und die Blumenkästen vor den Fenstern waren neu bepflanzt worden. Großblütige Petunien in intensivem Violett und Pink wippten im warmen Sommerwind. Ansonsten war niemand zu sehen. Die Feriengäste hielten vermutlich gerade Mittagsruhe. Irgendwo muhte eine Kuh.

 

Ich schloss die Haustür auf und rief einen Gruß, aber auch hier antwortete mir niemand. Ein Zettel auf dem Esstisch informierte mich schließlich darüber, dass meine Eltern in die Stadt gefahren waren, um fürs Wochenende einzukaufen. Sie würden erst am Nachmittag zurückkommen.

 

Mit einem leichten Anflug von Enttäuschung legte ich den Zettel zurück auf den Tisch. Irgendwie hatte ich gedacht, dass jemand hier sein würde, wenn ich heimkam. Aber … ich war ja schon groß. Da musste man sich nicht mehr um mich kümmern.

 

Ich ließ meine Tasche mit der dreckigen Wäsche im Flur stehen als Zeichen, dass ich wieder daheim war, bevor ich den Gang in den zweiten Stock antrat. Die Luft hier oben war warm aber nicht abgestanden. Meine Mutter hatte gelüftet und offenbar auch ein wenig aufgeräumt. Die Sachen, die ich vor meiner Abreise noch wild im Zimmer verstreut hatte, waren zu einem ordentlichen Stapel auf meinem Schreibtisch zusammengetragen worden. Ich strich mit den Fingerspitzen darüber und ließ sie dann weiter wandern zu meinen Instrumenten, die auf den Ständern an einer Seite des Raumes standen. Wie lange hatte ich nicht mehr auf ihnen gespielt? Es schien mir eine Ewigkeit her zu sein.

 

Trotzdem fühlte ich auch jetzt kein Verlangen danach. Mein Blick fiel auf mein Bett. Es war gemacht und frisch bezogen. Ich legte mich darauf und steckte meine Nase in das aufgefluffte Kissen. Der Geruch von zitronigem Waschmittel und frischer Luft umfing mich. Meine Mutter hatte die Sachen draußen auf der Leine getrocknet.

 

Ich wusste nicht, wie lange ich so dalag und der Zeit beim Verstreichen zusah. In meinem Kopf herrschte eine Leere, in der nur das Lachen von Kindern, das Prasseln eines Lagerfeuers und der ruhige Klang einer männlichen Stimme nachhallte. Irgendwann hörte ich, wie sich unten die Haustür öffnete. Meine Eltern waren zurück. Meine Mutter rief nach mir. Ich brauchte einen Augenblick, bevor ich reagierte. An meinen Gliedern schienen Bleigewichte zu hängen.

 

„Ich komme“, rief ich nach unten und erhob mich endlich. Dabei kullerte etwas aus meiner Hosentasche. Es war die Muschel, die Reike für mich geschnitzt hatte. Ich betrachtete sie noch einmal von allen Seiten, bevor ich sie auf den Schreibtisch legte und zur Tür ging. Die Ferien waren vorbei. Jetzt wurde es wieder Zeit für den Ernst des Lebens.

Verraten

„Scheiße!“

 

Klirren und Scheppern folgte meinem Ausruf, als sich der halbe Inhalt des Waschbeckenschranks vor meine Füße ergoss. Eine Dose Rasierschaum polterte zu Boden und rollte mit einem auf- und abschwellenden Scharren bis zu dem kleinen Läufer, wo sie anklagend liegenblieb. Der Rest bildete einen unordentlichen Haufen aus umgestoßenen Flaschen, Tuben und verstreuten Wattestäbchen. Ich kümmerte mich nicht darum, sondern riss auch noch die letzten Reste der im Schrank befindlichen Tiegel und Döschen heraus. Mein Atem hallte von den Wänden des Badezimmers wieder.

 

Fuck! Fuckfuckfuckfuck! Wo sind sie? Ich weiß genau, dass ich noch welche hatte.

 

Doch wohin ich auch schaute, die Kopfschmerztabletten waren und blieben verschwunden. Dafür wurde der Druck in meinem Kopf immer größer. Mit einem Stöhnen ließ ich mich zu Boden sinken und presste meinen Handflächen gegen die Stirn. Es fühlte sich an, als würde alles da drinnen von einem überdimensionalen Helm zusammengequetscht. Ab liebsten hätte ich den Kopf abgeschraubt und aus dem Fenster geworfen.
 

„Scheiße!“, entfloh es mir noch einmal.

 

Zwischen dem Druck bewegten sich meine Gedanken wie Aale in einem Eimer voll Schlamm. Ich hatte Mühe, sie auseinanderzuhalten oder einen von ihnen zu fassen zu bekommen. Wahrscheinlich waren unten im Medizinschrank noch Tabletten. Dort, wo ich zuerst welche geholt hatte. Nach den ersten paar Malen war die Packung leer gewesen und ich hatte eine neue gekauft, ohne meinen Eltern etwas davon zu erzählen. Als ich sie jedoch in den Schrank legen wollte, war mir aufgefallen, dass ich die falsche Sorte gekauft hatte. Also hatte ich nur einen Blister in die alte Verpackung gestopft und den Rest bei mir gebunkert. Die nächste Packung war dann gleich in meinen geheimen Vorrat gewandert. Aber jetzt waren die Tabletten weg!
 

Was mach ich denn jetzt?

 

Ich musste mich beeilen, denn mein Vater wartete bereits auf mich. Er wollte irgendetwas am Hof reparieren und hatte mich zum Helfen beordert. Natürlich hatte ich verschlafen und hätte bereits vor einer halben Stunde unten sein sollen. Stattdessen saß ich hier zusammengesackt auf dem Fußboden meines Badezimmers und hielt mir den dröhnenden Schädel.

 

Wenn sie mich sehen, krieg ich gleich doppelt Ärger. Aber ich brauche diese Tabletten.

 

Ich überlegte gerade, wie ich wohl ungesehen nach unten kommen könnte, als ich Schritte auf der Treppe hörte. Ich erstarrte. Das durfte nicht wahr sein.

 

„Theodor? Bist du da?“

 

Meine Mutter. Mist! Was wollte die denn jetzt?

 

„Ja, ich bin gleich fertig“, rief ich und versuchte meine Stimme möglichst normal klingen zu lassen. „Sag Papa, dass ich nur noch duschen muss.“

 

„Ist gut, mache ich“, hörte ich meine Mutter durch die Tür antworten. „Ich dachte nur, ich hätte etwas gehört. Da wollte ich mal nach dir sehen.“

 

Die Aale in meinem Kopf überschlugen sich. Anscheinend hatten die umfallenden Dosen mehr Lärm verursacht, als ich angenommen hatte. Oder sie war gerade im Zimmer darunter gewesen. Ich musste ihr sagen, dass alles in Ordnung war, damit sie wieder verschwand.
 

„Ich … ich hab ein bisschen was umgeworfen. Aus dem Schrank. Ist nicht schlimm. Ich räum es gleich wieder ein.“

 

Für einen Moment herrschte Schweigen auf der anderen Seite der Tür. Ich wollte schon aufatmen, meine Mutter erneut zu sprechen begann.
 

„Bist du sicher, dass alles okay ist?

„Ja, Mama.“

 

Meine Stimme klang bereits leicht gereizt. Warum ging sie denn nur nicht? Was wollte sie denn noch? Sie sollte endlich verschwinden!

 

„Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?“

„Ja, Mama.“

 

Über alles. Nur nicht über das, was hier gerade abging. Es war ein Schmierentheater allererster Güte mit mir in der Hauptrolle. Nur dass ich keinen Text hatte, keinen Souffleur und kein Publikum, das mir nach einer gelungenen Darbietung applaudierte. Ich hatte nichts. Nur mich selbst und meine Intuition. Sie allein war meine Stütze bei dem Versuch, niemanden merken zu lassen, was mit mir los war. Bisher hatte ich gedacht, dass ich damit erfolgreich gewesen war.

 

 

Die Vorstellung hatte in dem Moment begonnen, in dem ich vor drei Tagen zu meinen Eltern in die Küche getreten war. Sie hatten die Einkäufe ausgepackt und in die Schränke geräumt und sich dabei unterhalten. Sie hatten gelacht. Alles war ganz normal gewesen. In dem Moment hatte ich gewusst, dass ich es ihnen nicht sagen konnte. Es hätte ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Ich hatte mir einfach nicht vorstellen können, zu ihnen zu gehen und zu sagen: „Mama, Papa, ich bin schwul.“ Sie wären aus allen Wolken gefallen. Genau wie ich.

 

Also hatte ich es gelassen. Ich hatte getan, als wenn nichts besonderes passiert wäre in den drei Wochen Ferienlager, und doch war alles passiert. Ich wusste jetzt, dass ich auf Jungs stand. Auf Männer, Kerle, Typen, wie immer man es auch ausdrücken wollte. Und einerseits war es … gut, das zu wissen. Zu wissen, dass ich Benedikt nicht einfach nur mochte, sondern … mehr, war unheimlich schön. Ich wollte das mit ihm teilen. Ich wollte mit ihm dort sein. Aber gleichzeitig war das hier mein Zuhause. Die Welt, in die ich gehörte, in der ich aufgewachsen war. Was würde passieren, wenn ich mich offenbarte? Was würden meine Eltern dazu sagen? Mein Bruder? Meine Freunde? Wie viele von ihnen würde ich verlieren? Was würde mit unserer Familie passieren? Würden wir damit zurechtkommen? Oder würde schweigende Enttäuschung an die Stelle des fröhlichen Lachens meiner Mutter treten? Würde mein Vater den Blick abwenden und den Raum verlassen, wenn ich ihn betrat? Würden Familientreffen in Zukunft von Angespanntheit und den bissigen Kommentaren meines Bruders untermalt sein, der mir unterschwellig immer wieder vorwarf, alles kaputtgemacht zu haben? Weihnachten unterm Tannenbaum mit der neuen Schwiegertochter. Meine Mutter, die ein paar gestrickte Babysocken auspackte und daraufhin in Freudentränen ausbrach. Mein Vater, der meinem Bruder wohlwollend auf die Schulter klopfte. Und ich, der mit einem mitleidigen Blick ebenfalls dazugebeten wurde, weil ich ja schließlich trotzdem Familie war.

 

Ich wusste nicht, wie ich ausgerechnet gerade darauf kam. Vielleicht wegen Benedikt und seiner Schwester. Ob es bei ihm so gewesen war? Ich wischte mir über die Augen. Das war doch alles kacke.

 

„Theodor?“

 

Meine Mutter war immer noch da. Sie stand vor der Tür. Ich konnte sie förmlich vor mir sehen. Ihr besorgtes Gesicht. Die Falten, die um ihren Mund erschienen, wenn sie so dreinsah. Meine Mutter hatte nie Falten gehabt. Nur beim Lachen. Jetzt lachte sie nicht.

 

„Könntest du vielleicht die Tür aufmachen?“

„Nein.“

 

Alles nur das nicht. Wenn sie mich jetzt sah, wie ich … nein! Das kam überhaupt nicht in Frage.

 

Sie atmete hörbar aus.
 

„Na schön. Wenn du nicht mit mir sprechen willst, ist das natürlich in Ordnung. Ich will dich nicht zwingen. Ich möchte nur, dass du weißt, dass … dass Christopher die Tabletten gefunden hat. Auch die leeren Schachteln im Müll. Er hat mir davon erzählt und gemeint, dass die Menge, die du da hast … dass die gefährlich ist. Dass man sich damit … umbringen könnte.“

 

Die letzten Worte hatten sie Kraft gekostet. Ich hatte gehört, wie ihre Stimme gezittert hatte. Sie hatte Angst. Angst um mich!

 

So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf. Ich hetzte zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie. Meine Mutter stand davor. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen schimmerten.
 

„Ich hab die Tabletten nicht mehr“, stieß ich hervor.

 

Mein Herz hämmerte in meiner Brust und meine Finger krampften sich um den Türgriff. Ich musste furchtbar aussehen. Dunkle Ringe unter den Augen, die Haare völlig zerwühlt. Ich trug lediglich ein vom Schlaf verknittertes T-Shirt und Boxershorts. Kein Aufzug, in dem ich mich normalerweise vor meiner Mutter zeigte. Wenn ich nach unten kam, war ich stets ordentlich gekleidet. Heute nicht. Heute war alles anders.

 

„Und was hast du damit gemacht?“, fragte sie langsam. Nicht vorwurfsvoll. Nicht wütend. Verletzlich. So unglaublich verletzlich.

 

„Ich … ich hab sie genommen.“

 

Ich wollte weiter sprechen, aber Scham und Schuld wanden sich um meinen Hals wie lebendige Schlangen. Sie schnürten mir die Luft ab. Hinderten mich daran, meiner Mutter zu sagen, dass sie sich nicht zu sorgen brauchte. Dass ich alles im Griff hatte. Die Lüge wurde zu einem weiteren Strick, an dem ich nur allzu bald baumeln würde. Ich hatte nichts unter Kontrolle und ich wusste es. Das Ganze hatte sich längst verselbstständigt und ich hatte meinen Kopf viel zu bereitwillig in die Schlinge gelegt. Jetzt war ich aufgeflogen und konnte mich nicht mehr verstecken. Jetzt würde alles herauskommen.

 

Gleichzeitig fühlte ich Widerstand in mir aufsteigen wie brodelndes Gift. Ich ballte meine Hand zur Faust. Was hatte Christopher eigentlich in meinem Zimmer zu suchen? Er hatte hier nichts verloren. Das hier oben war mein Reich. Es ging niemanden etwas an, was ich hier tat oder unterließ. Aber mein Bruder hatte sich einfach über diese Grenze hinweggesetzt. Er hatte geschnüffelt und seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn überhaupt nichts angingen. Am liebsten hätte ich ihm dafür eine reingehauen.

 

Der heiße Strom, der durch meine Adern jagte, prallte schon im nächsten Moment auf den eisigen Klumpen in meinem Bauch. Schließlich war es meine Schuld, dass Christopher überhaupt etwas hatte finden können. Wenn ich nicht so nachlässig gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert. Warum hatte ich die Packungen nicht gleich in die Mülltonne entsorgt? Warum hatte ich sie hier quasi offen herumliegen lassen? Warum war ich nur so dämlich gewesen? Warum?

 

Ich merkte, wie ich zu zittern begann. Meine Beine wollten unter mir nachgeben. Sie trugen die Last einfach nicht mehr, die auf meine Schultern drückte. Nicht mehr lange und ich würde zusammenbrechen wie der Esel aus dem Märchen. Zurückbleiben würde nur ein schrumpliges, graues Etwas; ein klägliches Abbild dessen, was ich die ganze Zeit versuchte der Welt vorzuspielen. Ich war ein erbärmlicher Versager.

 

Meine Mutter verzog den Mund zu einem schmalen, verzweifelten Lächeln. Ich senkte den Kopf, um es nicht sehen zu müssen.

 

„Du siehst blass aus“, sagte sie leise. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

 

„Kopfschmerzen“, würgte ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei. „Deswegen die Tabletten.“

 

Sie atmete hörbar durch.

 

„Am besten, du legst dich erst einmal wieder hin. Nicht, dass du noch umkippst. Ich sage deinem Vater Bescheid.“

 

Damit drehte sie sich um und verließ den Raum.

 

Unfähig zu antworten oder auch nur eine eigene Entscheidung zu treffen, tat ich, was sie mir geheißen hatte. Ich ging zu meinem Bett und ließ mich darauf fallen. Der Gedanke, jetzt einfach wieder unter die Decke zu kriechen, war verlockend. Gleichzeitig war da diese Unruhe in mir. Das Bedürfnis, dagegen anzukämpfen. Zu beweisen, dass ich nicht krank war. Dass es mir gutging. Dass ich niemanden brauchte und alleine zurechtkam. Ich schaffte es nicht, mich gegen die Müdigkeit durchzusetzen. Ermattet ließ ich mich auf mein Kissen sinken. Nur ein wenig ausruhen.

 

Ich hörte, wie meine Mutter wieder ins Zimmer kam. Die Matratze senkte sich ein Stück, als sie sich an mein Bett setzte.
 

„Hier. Ich habe dir von unten was gegen die Schmerzen geholt.“

 

Mühsam richtete ich mich auf. Ich konnte jetzt nicht mit ihr reden oder sie ansehen. Stattdessen nahm ich die Tablette aus ihrer Hand, schüttete sie in meinem Mund und schluckte sie ohne zu zögern herunter. Erst danach leerte ich das Glas Wasser, das mir meine Mutter ebenfalls gebracht hatte. Sie nahm es wieder zurück, blieb aber weiter sitzen. Ich spürte ihren Blick auf mir.

 

„Du weißt, dass so viele Schmerzmittel nicht gut für dich sind?“

 

Ich nickte kaum merklich. Was sollte ich auch sonst sagen? Natürlich wusste ich das. Und selbst wenn nicht, war es mir jedes Mal von den Apothekern gesagt worden, wenn ich mir Nachschub geholt hatte. Und jedes Mal hatte ich mir wieder geschworen, dass dies die letzte Packung sein würde, die ich kaufte. Es hatte es leichter gemacht, die Warnung zu ignorieren.

 

„Wenn du öfter solche Kopfschmerzen hast, solltest du damit mal zum Arzt gehen. Ich mache dir einen Termin, wenn du möchtest.“

„Nein!“
 

Der Ausruf war schneller aus meinem Mund, als ich das Wort auch nur denken konnte. Ich würde bestimmt nicht zu unserem alteingesessenen Hausarzt gehen, der unsere Familie schon seit Jahrzehnten kannte. Er würde es womöglich herumtratschen und meine Eltern in Verruf bringen. Das konnte ich nicht riskieren.

 

„Du weißt, dass nichts von dem, was du mit Doktor Wichmann besprichst, irgendwer anders erfahren müsste. Wir nicht und auch sonst niemand. Du wärst bei ihm in guten Händen.“

 

Wieder nickte ich, obwohl ich das mit der Schweigepflicht in diesem Moment vergessen hatte. Aber selbst wenn. Ärzte waren auch nur Menschen. Sie machten Fehler. Am Ende kam es immer heraus.

 

„Trotzdem. Ich … ich will zu einem anderen Arzt, wenn überhaupt. Ich bin doch nicht krank.“

 

Meine Mutter seufzte.
 

„Man ist nicht erst krank, wenn man den Kopf bereits unter dem Arm trägt. Ich dachte, dass wenigstens du in dieser Beziehung schlauer wärst als dein Vater.“

 

Ich musste automatisch lächeln, aber innerlich zuckte ich zusammen. Da war es wieder. Die Feststellung, dass ich anders war als mein Vater. Anders als Christopher. Wenn sie gewusst hätte, wie anders …

 

„Ich kümmere mich um einen Termin“, sagte ich mit möglichst fester Stimme. „Allein.“

 

Meine Mutter nickte verhalten. Sie sah müde aus.
 

„Na schön. Aber ich verlasse mich darauf. Es soll einfach mal jemand nachsehen, ob da etwas nicht in Ordnung ist. Versprichst du es mir?“

„Mache ich.“

„Im Ernst, Theodor.“

„Ja, Mama.“

 

Ich hob meinen Blick und setzte ein Lächeln auf.
 

„Ich rufe an. Ganz fest versprochen.“

 

Sie griff nach meiner Hand, drückte sie kurz und lächelte mich aufmunternd an.
 

„Dann ruh dich jetzt erst einmal aus. Ich sehe später noch nach dir.

„Danke, Mama.“

 

Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand, rollte mich zusammen und schloss die Augen. Meine Mutter seufzte noch einmal leise, bevor sie sich erhob. Sie zog die Bettdecke ein wenig weiter über meine Schulter und ging anschließend zum Fenster. Ich hörte, wie sie die Jalousien nach oben schob. Es wurde dunkler, ihre Schritte entfernten sich und schließlich klappte die Tür. Ich lag da und fühlte mich merkwürdig. In meinem Kopf drückte es immer noch und jede Faser meines Körpers schrie nach Schlaf. Gleichzeitig war ich hellwach. Meine Gedanken drehten sich immerfort im Kreis. Darum, was mein Vater wohl sagen würde, wenn er von den Tabletten erfuhr. Oder Christopher. Der würde mit Sicherheit einen Kommentar dazu abgeben. Womöglich sogar meine Großeltern. Und der Arzt? Was würde er dazu sagen? Ein gesunder, junger Mann, der in seine Praxis kam und ihm erzählte, dass er Schmerztabletten zu sich nahm wie andere Leute Bonbons. Den folgenden, verbalen Katzenkopf konnte ich mir bereits bildlich vorstellen.

 

Aber was, wenn ich wirklich krank bin? Wäre es dann nicht gut, Hilfe zu bekommen?

 

Der Gedanke war einerseits verlockend, andererseits machte er mir auch Angst. Ich wusste nicht, wie ich mich in Bezug auf das Vorhandensein einer wirklichen Krankheit fühlen sollte. Erleichtert, weil es tatsächlich einen Grund für all das gab? Oder beunruhigt, weil ich vielleicht versäumt hatte, rechtzeitig zum Arzt zu gehen? Was, wenn schon irgendwelche Schäden entstanden waren? Wenn die Tabletten bereits irgendwelche von den Nebenwirkungen verursacht hatten, die so lang und breit im Beipackzettel beschrieben waren. Was dann?

 

Und was war mit dieser anderen Sache? Ich wusste, dass auch das irgendwann herauskommen würde. War es da nicht besser, wenn ich gleich reinen Tisch machte? Andererseits hatte ich meiner Mutter jetzt schon so viel Kummer bereitet. Da wäre es unverantwortlich gewesen, ihr noch mehr aufzubürden. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, nicht zwei Komödien zur selben Zeit spielen zu können. Ich musste doch etwas tun. Oder nicht? Was war besser? Was war der richtige Weg? Wie sollte ich mich entscheiden?

 

 

Irgendwann in diesem Gedankenkarussell musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, saß jemand an meinem Bett. Ich erkannte den Umriss sofort. Es war Mia.
 

„Hey“, sagte sie leise und ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. „Ich war in der Nähe und als ich gehört habe, dass du krank bist, da dachte ich …“

 

Sie sprach nicht weiter. Wahrscheinlich, weil ich nicht reagierte. Ich wusste, dass ich mich jetzt normal verhalten musste. Aber was war normal in so einer Situation?
 

„Hat … hat meine Mutter das gesagt?“, brachte ich schließlich hervor. Meine Stimme klang eigenartig.

 

„Ja. Als du nicht auf meine Nachrichten reagiert hast, habe ich hier angerufen. Sie hat mir erzählt, dass du wieder Kopfschmerzen hast. Ist es sehr schlimm?“

„Jetzt nicht mehr. Der Schlaf hat mir gutgetan.“

 

Es war die Wahrheit. Es ging mir ttatsächlich besser; die Kopfschmerzen waren verschwunden. Gleichzeitig wusste ich, dass das bedeutete, dass ich Mia jetzt Rede und Antwort stehen musste, warum ich sie seit Tagen vertröstete. Es sei so viel liegengeblieben, meine Eltern wollten keine Besuche am Sonntag, mein Vater brauchte mich. Das waren die Antworten gewesen, die ich ihr gegeben hatte, als sie mich nach einem Treffen gefragt hatte. Ausreden, die nicht unbedingt aus der Luft gegriffen waren. Es wäre mir dennoch möglich gewesen, sie zu sehen, wenn ich denn gewollt hätte.

 

Die Wahrheit war jedoch, dass ich mich nicht mit ihr hatte treffen wollen. Ich hatte Angst vor dem, was ich ihr sagen musste. Angst vor ihrer Reaktion. Ich wusste, dass ich unsere Beziehung früher oder später beenden musste. Weil es das Richtige war. Dennoch hatte ich nicht den Mut gehabt, mich diesem Gespräch zu stellen. Ich hatte mich damit herausgeredet, dass ich es zuerst meinen Eltern sagen wollte. Dass es besser war, wenn sie es zuerst erfuhren. Doch das entscheidende Gespräch hatte nie stattgefunden und so war das Geständnis an Mia immer weiter nach hinten gerückt. Jetzt jedoch war sie hier und ein Ausweichen nicht mehr möglich.

 

„Ich sollte erst mal duschen“, sagte ich leise. Ich musste Zeit gewinnen. Zeit, um darüber nachzudenken, was ich jetzt tun sollte.
 

„Okay,“ sagte Mia nur. „Soll ich … soll ich lieber wieder fahren?“

 

In diese Moment wusste ich, dass sie ahnte, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie war beunruhigt, weil ich sie nach all der Zeit nicht treffen wollte. Ich brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass es ihr schlecht ging. Ich rang mich zu einem Lächeln durch.
 

„Nein, auf keinen Fall. Ich … ich würde mich freuen, wenn du bleibst.“

 

Ein Lächeln war die Antwort und ein kurzer Kuss, den sie mir auf die Lippen hauchte.
 

„Ist gut, dann warte ich.“

„Ich beeile mich.“

„Okay, bis gleich.“

 

Mit einem letzten Blick auf Mia erhob ich mich und ging ins Bad. Mein Herzschlag pulsierte in meinen Ohren. Es war falsch was ich tat. In so vielerlei Hinsicht. Aber ich konnte es ihr einfach nicht sagen. Ich konnte nicht.

 
 

Frisch geduscht, mit geputzten Zähnen und sauberen Sachen kam ich kurz darauf in mein Zimmer zurück. Mia hatte die Fenster geöffnet. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie stickig es hier oben gewesen war. Nun, da wieder Durchzug herrschte, wehte frische Sommerluft herein. Es war immer noch warm, aber auf eine angenehme Art und Weise. Nicht die drückend heiße Mittagsluft, die ich erwartet hatte. Wie lange hatte ich geschlafen?
 

Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass bereits Nachmittag war. Die Gardinenpredigt, die ich mir von meinem Vater deswegen würde anhören müssen, konnte ich quasi schon hören. Andererseits: Ich war krank gewesen, oder nicht? Das konnte er mir kaum zum Vorwurf machen.

 

Mia lächelte, als ich den Raum betrat. Sie stand auf, kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen.
 

„Ich hab dich vermisst“, sagte sie. Ihre hellblauen Augen strahlten. Sie war so schön.

 

„Ich dich auch“, sagte ich und zog sie in eine Umarmung. Ihr Körper war warm und weich. Ich spürte, wie sich ihre Brüste an meinen Körper pressten. Unsere Lippen fanden sich zu einem Kuss. Ich schloss die Augen und versuchte, mich in das Gefühl fallen zu lassen. Mich daran zu erinnern, wie sehr ich Mia liebte. Doch da war nichts. Ich konnte es nicht. Nicht mehr.
 

Sehr viel schneller als ich gewollt hatte, unterbrach ich den Kuss wieder.

 

„Kommst du mit runter?“, fragte ich. „Ich muss meinen Eltern Bescheid geben, dass ich noch unter den Lebenden weile.“

„Na klar.“
 

Da war kein Argwohn in ihrer Stimme. Kein Gedanke daran, dass ich sie anlügen könnte. Mein Magen Magen krampfte sich zusammen. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich.
 

„Und du solltest was essen“, ergänzte Mia lachend. Sie nahm meine Hand.
 

„Soll ich dir ein Sandwich machen? Du weißt, ich bin gut darin.“

 

„Die Beste“, gab ich zu. Mias Sandwiches waren wirklich toll. Sie gab sich immer so viel Mühe.
 

„Na dann los. Sehen wir mal, was eure Küche so hergibt.“

 

Ich ließ mich von ihr mitziehen und warf im Vorbeigehen einen Blick auf mein Handy. Ob Benedikt mir geschrieben hatte? Ich hatte ihm gestern eine Nachricht geschickt und gefragt, ob er tatsächlich noch einmal Onkel werden würde. Er hatte mir nicht geantwortet.
 

„Kommst du?“, fragte Mia und ich riss mich von dem Gedanken an ihn los. Ich hatte eine Rolle zu spielen und die verlangte meine volle Aufmerksamkeit.

 

 

Unten angekommen inspizierte Mia wie selbstverständlich den Inhalt unseres Kühlschrankes. Sie war hier schon fast zu Hause. Kein Wunder. Wir waren immerhin schon über zwei Jahre zusammen. Eine lange Zeit. Viele Erinnerungen. Erinnerungen, die ich im Begriff war in den Schmutz zu ziehen. Wie sich Mia wohl fühlte, wenn ich es ihr gestand? Würde sie denken, dass ich ihr die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hatte? Dass sie nicht gut genug war? Nicht hübsch genug? Würde sie denken, dass es ihre Schuld war?

 

„Also wir haben Schinken, Käse, Salami, Tomaten, Mozzarella, Gurke, Oliven und hier sind noch zwei hartgekochte Eier. Was davon möchtest du?“

 

Mia sah über die Schulter zu mir rüber. Sie lächelte. Ich hatte mich auf den Tresen gelehnt und betrachtete sie.

 

„Schinken und Ei klingt gut.“

„Alles klar, kommt sofort.“

 

In Windeseile hatte Mia zwei Scheiben Weißbrot herausgeholt und hauchdünn mit Mayonnaise bestrichen. Darauf bettete sie den Schinken und das in feine Scheiben geschnittene Ei und garnierte das Ganze zum Schluss noch mit einem Salatblatt. Es knirschte vor Frische, als sie die zweite Brotscheibe darauf legte und leicht andrückte. Zum Schluss schnitt sie das Sandwich diagonal in der Mitte durch. Es hätte wirklich nur noch der kleine Zahnstocher gefehlt, und man hätte das Ganze in einem Restaurant servieren können. Als sie jedoch auch noch eine Garnitur aus Gurke und Radieschen zurechtschneiden wollte, hielt ich sie auf.
 

„Danke, ich glaube das reicht. Ich verhungere sonst, bevor du fertig bist.“

„Oh, ja. Natürlich. Hier hast du.“

 

Sie stellte den Teller vor mich hin und strahlte mich an. Ich erwiderte ihr Lächeln, aber in meinem Inneren schrie eine Stimme gefoltert auf.

 

Du musst es ihr sagen. Du musst!

 

„Ich … ich muss dir was erzählen.“

 

Entgegen meiner Behauptung, gleich vor Hunger umzukippen, schob ich den Teller beiseite. Mias Lächeln begann zu flackern. Sie wusste es! Ich war so ein verdammter Lügner. Ein Betrüger. Ich würde ihr wehtun. So sehr.
 

„Meine Mutter, sie … hat die Tabletten gefunden. Also eigentlich war es Christopher. Sie hat mich heute deswegen zur Rede gestellt.“

„Oh.“

 

Anstelle der Angst trat jetzt Mitleid in Mias Blick. Ich wand mich darin wie ein Wurm im Fegefeuer. Ich hatte das nicht verdient. Ich war ein Schwein. Ein Feigling. Ein egoistisches Arschloch. Nichts von den Gefühlen, die Mia mir entgegenbrachte, hatte ich verdient. Und doch machte ich weiter. Ich erzählte ihr, dass die Kopfschmerzen so schlimm geworden waren, dass ich regelmäßig Tabletten schluckte und dass ich jetzt deswegen zum Arzt gehen sollte. Mia hörte sich das alles mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht an. Sie erinnerte mich an meine Mutter.
 

„Und jetzt? Wirst du zum Arzt gehen?“

 

Ich hörte deutlich, dass auch sie das für das Beste hielt.

 

„Sollte ich wohl.“

 

Mia lächelte und trat an mich heran. Sie umarmte mich.
 

„Ich helfe dir, wenn du willst.“

„Das wäre schön.“

 

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich Mia verlieren würde. Wenn ich ihr erzählte, dass ich schwul war, würde sie mich im gleichen Augenblick verlassen. Weil sie es nicht ertragen würde, mich glücklich in den Armen eines anderen zu sehen. Das konnte ich ihr nicht antun. Ich liebte sie doch. Nicht auf die gleiche Weise, wie sie mich, aber ich wollte ihr nicht wehtun. Ich wollte nicht, dass sie litt.

 

Alles nur Ausreden, flüsterte es in meinem Kopf, aber ich schüttelte die Hand, die sich auf meine Schulter gelegt hatte, mit Leichtigkeit ab. Ich hatte Übung darin, mich selbst zu belügen. Warum also nicht auch jetzt? Warum nicht, wenn es Mia so viel Leid ersparte. Was war denn falsch daran? Wem tat ich damit weh?
 

Dir selbst. Und auch ihr, wisperte die Stimme noch einmal, aber sie war bereits so leise, dass ich sie kaum mehr verstand. Der Klang der Lüge übertönte alles und ließ mich falsch und freundlich lächeln.
 

„Ich glaube, ich sollte mich trotzdem mal wieder hinlegen. Aber du kannst gerne bleiben und mir Gesellschaft leisten. Wollen wir einen Film gucken?“

 

Mias Gesicht hellte sich auf.

 

„Gern. Hast du was Bestimmtes im Auge?“

„Nein, du darfst aussuchen.“

 

Ich wusste, was das für mich bedeutete. Kitsch und rosa Plörre. Aber vielleicht war es genau das, was ich gerade brauchte. Eine einfache Geschichte mit garantiertem Happy End am Schluss. Das würde mich wenigstens für eine Weile von dem Chaos ablenken, in das sich mein Leben verwandelt hatte.

 

„Was hältst du von '50 erste Dates'? Den haben wir lange nicht gesehen.“

 

Als sie den Titel nannte, hätte ich beinahe laut gelacht. Ich wusste, dass sie den Film nur ausgewählt hatte, um mich nicht allzu sehr in Zuckerwatte zu ertränken. Dabei war es in geradezu paradoxer Weise passend, dass in dem Film ein Typ mit Hilfe von allerlei Tricks versuchte zu erreichen, dass die an Amnesie leidende Hauptdarstellerin sich vom Fleck weg in ihn verliebte. Wieder und wieder feilte er an seiner Taktik, um die perfekte Illusion zu erzeugen. Natürlich veränderte er sich dadurch im Film auch innerlich und wurde tatsächlich zu dem wunderbaren Traummann, den er ihr Tag für Tag vorgespielte. Im Grunde hatte er jedoch die ganze Zeit über nichts weiter gemacht, als ihr eine dicke, fette Lüge nach der anderen aufzutischen, um sie rumzukriegen. Es war somit wohl der Film, den ich mehr als alle anderen verdient hatte.
 

„Klar, warum nicht?“, brachte ich dessen ungeachtet in lockerem Ton über die Lippen. Ich war so zum Kotzen perfekt darin.

 

„Fein, ich such schon mal die DVD.“

 

Mia hauchte mir noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie aus der Küche hinaus in Richtung Treppe verschwand. Ich blieb allein zurück und starrte auf das Sandwich, dass sie mir gemacht hatte. Wieder knurrte mein Magen. Trotzdem musste ich sehr an mich halten, um nicht den Teller zu nehmen und mit voller Wucht an die Wand zu werfen. Ich war so ein Trottel.

 

Ich muss es ihr sagen, nahm ich mir noch einmal vor, während ich nach dem Teller griff und ihr langsam nach oben folgte. Aber nicht heute.

 

 

Als ich in mein Zimmer kam, hatte Mia schon alles vorbereitet. Mit einem warmen Lächeln saß sie auf meinem Bett und erwartete mich. Ich sah zu ihr rüber und wollte mich ihr gerade anschließen, als ich auf einmal ein Geräusch hörte. Ich hatte eine Nachricht bekommen.

 

„Ich geh nochmal schnell ins Bad“, sagte ich, während ich den Teller abstellte und gleichzeitig nach meinem Handy griff. Unauffällig ließ ich es in dder Hosentasche verschwinden. Erst, als ich die Badtür hinter mir abgeschlossen hatte, holte ich es wieder heraus.

 

Eilig entsperrte ich den Bildschirm. Das Symbol der Messengerapp zierte eine kleine Drei. Mit klopfendem Herzen tippte ich auf das Symbol. Eine der Nachrichten war von Jo. Er fragte, ob ich schon zurück war und ob wir mal wieder was unternehmen wollten. Die anderen beiden waren von Benedikt. Mein Herz machte einen freudigen Sprung. Was er wohl geschrieben hatte?

 

Für einen Moment riss ich meinen Blick von dem kleinen Bildschirm los und presste ihn gegen meine Brust. Was ich da gerade im Begriff war zu tun, hatte nichts mehr mit dem einfachen Verschweigen von Geschehnissen in der Vergangenheit zu tun. Ich war im Begriff, meine Freundin zu hintergehen. Nicht körperlich, wie beim ersten Mal, aber auf jeden Fall gedanklich. Ich wusste, dass es falsch war, hier mit feuchten Händen und einen grenzdebilen Grinsen auf dem Gesicht zu stehen, weil ich eine Nachricht von einem Typen bekommen hatte, während nebenan meine Freundin auf mich wartete. Ebenso gut hätte ich hier derweil Sex mit ihm haben können. Den Schritt dahin hatte ich schon einmal getan und ich wusste, dass ich es wieder tun würde, wenn ich die Gelegenheit dazu bekam. Ich war wirklich ein absoluter Arsch.

 

Ich drückte trotzdem den Knopf, der den Chat mit Benedikt öffnete. Er hatte nur kurz geschrieben. Trotzdem ließen die Worte mein Herz erstarren.

 

'Kein neues Baby. Meine Mutter hat Urlaub gebucht. Für nächste Woche. Versuche gerade, ihr das auszureden.'

 

Erst, als ich die zweite Nachricht las, nahm mein Körper wieder seine gewohnte Arbeit auf.

 

'Es hat geklappt. Wir sehen uns nächsten Samstag.'

 

Ich biss mir auf die Lippen, während ich wieder und wieder seine Worte las. Vorfreude sprudelte durch meine Adern wie flüssiges Brausepulver.

 

Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich schon viel zu lange hier drinnen war. Ich betätigte die Toilettenspülung, ließ das Wasser einen Augenblick lang laufen und ging dann zu Mia zurück. Sie saß immer noch da, wo ich sie zurückgelassen hatte.

 

„Alles in Ordnung? Du hast so lange gebraucht.“
 

„Ja, alles bestens“, log ich und ignorierte den Stich, den mir mein Gewissen dabei versetzte. Es fühlte sich an wie ein zwölf Zentimeter langer Dolch, den es mit voller Wucht in meinen Rücken rammte.

 

„Lass uns mit dem Film anfangen.“

 

Ich machte es mir neben Mia gemütlich, nahm den Teller mit dem Sandwich und blickte mit gespanntem Gesichtsausdruck auf den Fernseher, der in der Ecke meines Zimmers auf einer Kommode stand. In Wirklichkeit bekam ich jedoch nichts von dem mit, was auf der Mattscheibe vor sich hin flimmerte. Meine Gedanken drehten sich einzig und allein um Benedikt und unser Treffen am nächsten Wochenende. Selbst, als Mia sich irgendwann an mich kuschelte und ich den Arm um sie legte, konnte ich nicht aufhören daran zu denken.

 

'Wir sehen uns nächsten Samstag.'

 

Pümpel und Pläne

Ich hätte gerne behauptet, dass die nächste Woche wie im Flug verging. Leider hielt sie nach dem so katastrophal schiefgegangenen Zusammentreffen mit Mia noch einige andere, unangenehme Überraschungen bereit. Es begann gleich am nächsten Tag damit, dass einer der Feriengäste verkündete, dass das Wasser in seinem Waschbecken nicht abliefe. Zum Glück war die Gastfamilie verständnisvoll. Sie verabschiedete sich bereits früh am Vormittag an den Strand, während mein Vater und ich mit dem Werkzeugkasten unter dem Arm die Wohnung betraten. Kurz hinter der Tür blieb ich stehen.

 

„Sollen wir die Schuhe ausziehen?“, fragte ich. Die Ferienwohnung wirkte trotz der darin wohnenden Gäste tipptopp aufgeräumt. Nirgends lag etwas herum, wenn man von den Vorräten in der Küche absah. Selbst der dunkle Boden wirkte wie frisch gewischt.

 

„Nur, wenn du nasse Füße haben willst“, entgegnete mein Vater, bevor er weiter in Richtung Badezimmer stapfte. Ich ließ also meine Schuhe an und folgte ihm.

 

Der Stil des Raumes glich unserem eigenen Bad. Cremefarbene Fliesen, Holz und Chrom ergänzten sich zu einem anheimelnden und gleichzeitig modern wirkendem Ambiente, das in puncto Funktionalität keine Wünsche offenließ. Wenn man einmal von der schmutziggrauen Brühe absah, die in dem ovalen Waschbecken stand. Ein fauliger Geruch hatte sich im Raum ausgebreitet. Er ließ mich mühsam schlucken. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, trat ich zum Fenster und öffnete es. Mein Vater knurrte.

 

„Hab ja gleich gesagt, das Zeug taugt nix. Aber nein, deine Mutter fand es ja so schick, dass es ausgerechnet dieser Mist sein musste. Jetzt haben wir den Salat.“

 

Er setzte den Werkzeugkasten auf den Boden und griff zum mitgebrachten Pümpel.

 

„Mal sehen, ob wir dem nicht so beikommen.“

 

Einige Versuche später schwamm auch in der Dusche eine dunkle Pfütze, während sich am Waschbecken wenig getan hatte. Mein Vater knurrte wieder.

 

„Geh und hol einen Eimer“, wies er mich an.

 

Ich tat, wie befohlen. Als ich wiederkam, hatte mein Vater bereits den Unterschrank beiseite geräumt.

 

„Wenn wir Glück haben, ist es nur der Siphon. Wenn es die Rohre sind, müssen wir vielleicht jemanden kommen lassen.“

 

Ich nickte nur und reichte ihm den Eimer. Viel mehr konnte ich ohnehin gerade nicht tun. Eigentlich wusste ich nicht einmal, warum er mich mit dabei haben wollte. Sein Vertrauen in meine handwerklichen Fähigkeiten war ungefähr so groß wie in einen Fisch, wenn es ums Fahrradfahren ging. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte mir erklärt, an welchem Ende man einen Hammer anfassen musste. Nichtsdestotrotz bestand er darauf, mich immer wieder zu irgendwelchen Tätigkeiten als Handlanger anzustellen.

 

„Das hängt fest. Gib mir mal die Rohzange.“

 

Ich öffnete den Werkzeugkasten und griff nach dem gewünschten Werkzeug. Postwendend bekam ich es retour.

 

„Nicht die rote. Die blaue.“

 

Ich rollte mit den Augen, nahm die rote Rohrzange wieder entgegen und tauschte sie gegen die größere blaue. Wenn er gleich die richtige Zange verlangt hätte, hätte ich sie ihm ja geben können.

 

„Eimer“, bellte mein Vater und ich reichte das Gewünschte. Plätschern und Platschen folgte, und noch mehr Gefluche, während sich der Inhalt des Waschbeckens in den Eimer ergoss. Prompt verstärkte sich der Geruch um das Dreifache. Ich konnte ein Ächzen nicht unterdrücken.

 

„Hier“, sagte mein Vater und reichte mir ein gebogenes Metallrohr. „Mach das mal sauber.“

 

Beim Anblick des völlig verdreckten Rohres hob sich mein Magen. Die schleimige Schmierschicht, die zentimeterdick in dessen Inneren saß, schien kurz davor neues Leben hervorzubringen und definitiv keines von der guten Sorte.

 

„Wie soll ich das denn sauber kriegen?“

„Keine Ahnung. Lass dir was einfallen.“

 

Mit spitzen Fingern nahm ich das Rohrstück und sah mich nach einer Möglichkeit um, es zu reinigen. Mein Blick fiel auf die Dusche. Kaum hatte ich mich jedoch in diese Richtung bewegt, wurde ich auch schon zurückgepfiffen.

 

„Nicht da drin. Dann haben wir den Dreck ja im nächsten Rohr. Mach es draußen. Am besten schabst du es erst mal über der Mülltonne aus. Aber sieh zu, dass die Dichtung nicht verlorengeht, sonst muss ich eine neue besorgen. Und bring mir mal ein altes Handtuch.“

 

Während ich nach draußen ging, hörte ich ihn noch etwas vor sich hin murmeln. Es klang nicht sehr freundlich. Ob sich das jetzt auf mich, die Rohre oder die Urlauber, die einfach alles im Waschbecken runterspülten, bezog, war nicht erkennbar.

 

Ich suchte mir zuerst einen Stock, mit dem ich das Rohr notdürftig reinigte. Danach schmiss ich ihn mitsamt dem daran klebenden Dreck in die Mülltonne. Anschließend spülte ich das Rohr mit dem Gartenschlauch durch. Als es wieder in einem einigermaßen vorzeigbaren Zustand war, brachte ich es zurück.

 

„Und das Handtuch?

 

Ich legte das Rohr ab und machte mich erneut auf den Weg. Dieses Mal, um mir von meiner Mutter ein altes Handtuch geben zu lassen. Sie stand in der Küche und bereitete das Mittagessen vor.

 

„Kommt ihr gut voran?“

„Ja ja.“

„Na, das klingt aber begeistert.“

 

Sie lachte, während ich das Gesicht verzog.

 

„Es ist ein Abflussrohr. Was hast du erwartet?“

 

Sie lachte und schüttelte den Kopf, wurde dann aber gleich wieder ernst.

 

„Hast du schon beim Arzt angerufen?“

 

Ich antwortete nicht und wandte den Blick ab. Natürlich hatte ich noch nicht angerufen. Immerhin war ich quasi vom Frühstückstisch zum Rohreinigen abkommandiert worden.

 

„Hast du es Papa eigentlich erzählt?“

 

Aus den Reaktionen meines Vaters war nicht abzulesen gewesen, ob er von den Tabletten wusste, und ich hatte vermieden, ihn danach zu fragen.

 

„Nein, habe ich nicht. Ich fand, dass du das selbst tun solltest.“

„Mhm.“

 

Ich starrte auf das Handtuch in meinen Händen. Es war dunkelbraun und einige Fäden ragten heraus. Vermutlich war es tatsächlich schon uralt. Aus den geheimen Vorräten meiner Urgroßmutter oder so.

 

„Ich sollte mal wieder rübergehen.“

„Mach das. Und rede mit ihm:“

„Ja, ist gut.“

 

Ich trottete nach draußen. Das Handtuch schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Sollte ich es meinem Vater wirklich erzählen? Was, wenn er sagte, dass ich einfach damit aufhören sollte, so viele Tabletten zu nehmen? Dass man wegen so ein bisschen Kopfschmerzen nicht zum Arzt ging? Dass ich mich nicht so anstellen sollte? Ein Indianer kennt keinen Schmerz.

 

Am Eingang der Ferienwohnung blieb ich stehen. Die Tür stand offen und ich konnte meinen Vater drinnen werken hören. Es wäre ein Leichtes gewesen, jetzt zu ihm zu gehen und es ihm einfach zu sagen. Hinzugehen und zu sagen, dass ich mal zum Arzt gehen würde, um mich durchchecken zu lassen. Daran war nichts Verwerfliches. Deswegen war ich noch lange kein Weichei. Es war … notwendig. Ich hatte Schmerzen, also ging ich zum Arzt. Die einfachste Sache der Welt.

 

Und doch hast du Angst, dass er dich dafür verurteilt.

 

„Das ist doch Schwachsinn“, sagte ich zu mir selbst. „Na los, du kannst das.“

 

Mit einem zunehmend mulmigen Gefühl im Bauch betrat ich den im Gegensatz zum sonnenbeschienenen Hof beinahe dunklen Flur. Die Geräusche aus dem Bad wurden lauter. Zusätzlich stieg mir dieser Geruch in die Nase. Ein wenig metallisch und irgendwie schmierig. Der Geruch ließ mich unweigerlich an Handwerker denken. Mein Vater roch meistens nach Heu, frischer Luft und manchmal nach Bier, wenn er es sich abends vor dem Fernseher gemütlich machte. Dieser Geruch jedoch war einer nach Werkstatt, nach Männerschweiß und dreckigen Händen. Nach öltriefenden Motoren und rostigen Muttern. Ich schmeckte ihn förmlich auf meiner Zunge.

 

„Hast du das Handtuch?“

 

Die Stimme meines Vaters holte mich wieder aus meinen Erinnerungen. Früher als Kind hatte ich diesen Geruch geliebt. Ich wusste nicht mehr warum.

 

„Hier“, sagte ich und gab ihm das Handtuch. Er wischte damit an dem Rohr herum, bevor er unter dem Ausguss hervorkam und Wasser in das Becken laufen ließ. Es lief nicht ab. Mein Vater fluchte halblaut.

 

„Na gut, ich hol die Spirale. Bau du den Siphon mal wieder ab.“

 

Damit ging er nach draußen und ließ mich allein. Ich starrte auf das Rohr, den dreckigen Fußboden und das verstreute Werkzeug. Sollte ich jetzt wirklich …? Aber er hatte gesagt, ich sollte es abbauen. Also machte ich mich daran, das Rohr erneut zu entfernen. Als mein Vater wiederkam, stand das Bad unter Wasser. Er hob die Augenbrauen.

 

„Hast du den Eimer druntergestellt?“

„Äh … nein?“

 

Er stöhnte.

 

„Geh und hol einen Mob.“

„Okay.“

 

Auf dem Weg nach draußen hörte ich ihn wieder murmeln. Dieses Mal war ich mir sicher, dass es irgendeine Bemerkung über meine Unfähigkeit war. Darüber, dass ich ein Träumer war. Ständig mit dem Kopf in den Wolken hing. Für alles zu lange brauchte. Immerzu etwas vergaß. Dass ich nicht zuhörte und Anweisungen nicht zu Ende befolgte. Dass ich andauernd Hilfe bei irgendetwas brauchte und nichts auf die Reihe bekam. Was nur später mal aus mir werden sollte.

 

All das ging mir wieder und wieder durch den Kopf, während ich mich daran machte, die Sauerei zu entfernen, die ich verursacht hatte, und mein Vater mit der Drahtspirale das Rohr reinigte. Es dauerte, bis wir fertig waren. Als ich jedoch das letzte Mal den Mob auswrang, stellte sich mein Vater neben mich und brummte:

 

„Jetzt haben wir uns ein Bierchen redlich verdient.“

 

Ich nickte ebenfalls und versuchte, mein Lächeln zu verbergen. Für dieses Lob würde ich sogar das Bier in Kauf nehmen, das mein Vater immer trank. Extra herb. Ich mochte es nicht, aber eine Flasche würde ich wohl ertragen.

 

„Komm, wir gehen hinten rum. Dann merkt deine Mutter nichts.“

 

Wir schlichen uns in den Garten und mein Vater verschwand im Geräteschuppen. Als er wiederkam, hatte er zwei geöffnete Bierflaschen in der Hand. Eine davon reichte er mir.

 

„Hier. Auf uns.“

 

Wir stießen die Flaschenböden gegeneinander. Feuchtigkeit kondensierte auf dem gekühlten Glas. Die Grillen zirpten und die Luft flimmerte vor einem wolkenlos blauen Himmel.

 

Während ich einen ersten vorsichtigen Schluck nahm und mein Vater begann, mir etwas von dem Nachbarn zu erzählen, der angefragt hatte, ob er ein Stück unserer Weide dazupachten konnte, beschloss ich im Stillen, ihm noch nichts von dem Arztbesuch zu sagen. Sollte die Untersuchung tatsächlich etwas ergeben, konnte ich ihn immer noch davon in Kenntnis setzen. Es war unnötig, vorher die Pferde scheu zu machen.

 

„Willst du noch eins?“, fragte mein Vater und deutete mit dem Kopf in Richtung des Schuppens.

 

„Klar,“, antwortete ich und beeilte mich, meine erste Flasche zu leeren, bevor ich sie ihm zurückgab. Eine zweite würde ich schon auch noch hinunterkriegen.

 

 

Am nächsten Tag hielt die eingetretene Ruhe leider nur bis kurz nach dem Mittagessen. Eines der Gastkinder war bei einer Fahrradtour gestürzt und meine Mutter bat mich nach einer ersten Versorgung der Schürfwunden, Kind und Mutter zum Krankenhaus zu fahren, damit der Vater mit den zwei anderen Geschwistern in der Ferienwohnung bleiben konnte. Ich verbrachte somit den halben Tag in der Notaufnahme, bis wir endlich mit einem erfolgreich eingegipsten Kind das Krankenhaus wieder verlassen konnten.

 

Die Mutter bedankte sich tausend Mal für die Hilfe und bestand darauf, mir einen ziemlich großen Schein für meine Mühen zuzustecken. Als hätte er es gerochen, rief Jo an dem Abend an.

 

„Hey, T, was geht? Seit wann bist du wieder im Lande?“

„Letzten Donnerstag.“

„Waaas? Und da meldest du dich nicht? Wir hätten doch Samstag was machen können.“

„Ging nicht. Mia war hier.“

 

Ich hörte ein Schnauben am anderen Ende der Leitung.

 

„Sie hätte ja mitkommen können.“

„Oh ja, da hat Mia bestimmt Lust drauf. Den Abend bei dir abzuhängen und Fußball zu gucken und sich anschließend mit uns zusammen vollaufen lassen.“

 

Wieder grunzte Jo und schmiss sich den Geräuschen nach zu urteilen auf sein Bett.

 

„Dann halt nächsten Samstag. Bist du dabei?“

 

Jetzt war ich es, der zumindest innerlich stöhnte. Ich kniff die Augen fest zu.

 

„Keine Zeit.“

„Warum nicht?“

„Weil … ich mit Mia verabredet bin. Wir wollen ins Kino.“

 

Ich konnte ihm schließlich kaum verraten, was ich am Samstag tatsächlich vorhatte. Prompt begann mein bester Freund zu quengeln.

 

„Könnt ihr das nicht Freitag machen?“

„Nein, geht nicht. Muss Samstag früh raus. Mein Vater …“

„Man könnte echt meinen, du wärst sechs. Oder 60.“

 

Der Frust, der aus seiner Stimme sprach, kannte keine Grenzen. Ich lachte leicht.

 

„Soweit ich weiß, zähle ich immer noch nur knackige 19 Lenze. Also lass uns doch einfach Donnerstag abhängen.“

„Gute Idee. Am Donnerstag ist im Club Ein-Euro-Party. Da können wir uns das Vorglühen sparen.“

 

Wenn Jo mich jetzt hätte sehen können, hätte er vermutlich das wissende Grinsen bemerkt, das ich auf dem Gesicht hatte. Denn DAS hatte ich natürlich schon vorher gewusst.

 

„Klingt gut. Und zur Feier des Tages werde ich fahren und lade dich ein.“

„Hast du im Lotto gewonnen?“

„So ungefähr.“

 

Ich berichtete von meinem unverhofften Nebeneinkommen. Jo pfiff anerkennend durch die Zähne.

 

„Dann hat es sich wenigstens ein bisschen gelohnt, dass du Holger solange fremdgegangen bist. Der hat übrigens nach dir gefragt. Er braucht jemand, der Freitag spontan ne Schicht übernehmen kann.“

„Alles klar, ich ruf ihn gleich an.“

 

Kaum dass ich aufgelegt hatte, wählte ich erneut und hatte fünf Minuten später den nächsten Arbeitseinsatz für Freitagnachmittag an der Backe. Aber wenigstens gab es dafür Kohle.

 

Als Nächstes war Mia an der Reihe. Nachdenklich betrachtete ich das Display mit ihrer Nummer. Eigentlich hätte ich sie jetzt auch einfach angerufen, aber ich traute mir nicht recht zu, sie am Telefon ebenso leicht einzulullen wie Jo. Dafür kannte sie mich inzwischen viel zu gut. Schließlich öffnete ich mit einem Seufzen den Messenger und schrieb ihr stattdessen eine Nachricht, dass ich Donnerstag mit Jo verabredet sei und Freitag arbeiten müsse. Ob sie Lust hätte, abends mit mir ins Kino zu gehen.

 

Ich schickte die Nachricht ab und betete, dass sie nicht auf die Idee kam, nach einem Treffen für morgen zu fragen. Ihre Antwort war bestand jedoch nur aus einer Zusage für Freitagabend. Einigermaßen entspannt lehnte ich mich wieder auf meinem Stuhl zurück. Jetzt musste ich nur noch meinen Eltern verkaufen, dass ich den ganzen Samstag über nicht da sein würde.

 

Als es Zeit zum Abendessen wurde, versuchte ich es ausnahmsweise mal mit der Wahrheit. Zumindest fast.

 

„Hey“, sagte ich, während ich meinem Vater den Aufschnitt reichte. „Ich wollte dich fragen, ob du noch was für mich zu tun hast. Ich hab von Holger schon wieder ne Schicht aufs Auge gedrückt bekommen und am Samstag wollte ich mit einem Kumpel was unternehmen. Wir müssten das dann also morgen oder übermorgen einplanen, weil ich den Tag über nicht da bin.“

 

„Mhm“, machte mein Vater. „Ich hatte eigentlich überlegt, das Dach vom Schuppen neu zu teeren.“

 

„Das könnt ihr doch auch noch machen, wenn es nicht mehr so heiß ist“, mischte sich meine Mutter ein. „Lass dem Jungen noch ein bisschen was von seinen Ferien.“

 

„Ach, und wenn dann wieder Schule ist, heißt es, er hat keine Zeit, weil er lernen muss“, grummelte mein Vater.

 

„Aber doch nicht gleich in den ersten Wochen. Bitte, Papa.“

 

Mein Vater brummte noch einmal, nickte aber. Ich grinste ihn an und widmete mich wieder meinem Abendessen, den fragenden Blick meiner Mutter wohlweislich ignorierend. Sie geduldete sich bis zum Abräumen, bis sie mich beiseite nahm und fragte, ob ich nun inzwischen schon beim Arzt angerufen hätte. Ich unterdrückte ein Stöhnen.

 

„Ich mache es morgen. Wirklich. Fest versprochen.“

„Hast du denn schon jemanden herausgesucht.“

„Nein. Mache ich jetzt sofort.“

„Gut.“

 

Damit war das Thema anscheinend erst einmal wieder vom Tisch. Ich schlich mich hoch in mein Zimmer und machte dir Tür fest hinter mir zu. Der Tag saß mir in den Knochen. Trotzdem suchte ich wie versprochen noch die Nummer eines Arztes in der nahegelegen Stadt heraus. Ich legte den Zettel gut sichtbar auf meinen Schreibtisch, für den Fall das meine Mutter hereinkam, und legte mich dann aufs Bett, das Handy in der Hand. Für einen Moment schloss ich die Augen, doch obwohl ich so fertig war, juckte es mich in den Fingern.

 

Nach einigen Augenblick schnaufte ich genervt, drehte mich auf den Bauch und öffnete den Chat mit Benedikt. Wieder las ich seine Nachrichten. Ob ich ihm noch darauf antworten sollte? Aber was?

 

'Was machst du gerade?'

 

Zu abgedroschen.

 

'Wo treffen wir uns Samstag eigentlich?'

 

Ja, das war gut. Immerhin hatten wir noch nicht wirklich was abgemacht und irgendwie mussten wir schließlich nach Hamburg kommen. Ich tippte die Nachricht ein und schickte sie ab. Eine Weile beobachtete ich das Display, aber es passierte nichts. Genau in dem Moment, in dem ich das Handy beiseite legen wollte, änderte sich jedoch die Farbe der beiden Häkchen und Benedikt wurde mir als online angezeigt. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

 

Einige Momente lang passierte gar nichts, dann begann er zu schreiben, wie mir seine Statusnachricht verriet. Ich kam hoch und setzte mich im Schneidersitz aufs Bett. Warum dauerte das so lange? Da, endlich! Die Nachricht erschien.

 

'Weiß nicht. Hatte überlegt, mit dem Zug zu fahren. Parkplatz suchen in Hamburg ist massig.'

'Assig.'

'Dämliche Autokorrektur. :P'

 

Ich grinste, während ich anfing, eine Antwort zu tippen.

 

'Wollen wir dann zusammen fahren?'

 

'Klar, warum nicht', kam prompt zurück. 'Ich such mal eben ne Verbindung raus.'

 

Ich wartete, bis er wieder zu tippen begann.

 

'Die Demo geht um 12 los, von daher sollte es reichen, wenn wir den Zug um 9.55 nehmen. Schaffst du das?'

 

Was sollte denn die Frage? Natürlich schaffte ich das und schickte die Antwort ab. Danach biss ich mir auf die Unterlippe. Und jetzt? Jetzt war eigentlich alles geklärt. Trotzdem wollte ich irgendwie nicht „auflegen“. Also begann ich doch die Frage einzutippen, was er jetzt gerade machte. Da sah ich, dass auch er etwas schrieb. Mit über dem Display schwebenden Daumen wartete ich, was jetzt kam. Doch es passierte nichts. Er hörte einfach auf zu schreiben. Argh, wieso das denn?

 

Ich löschte meine Nachricht wieder und begann mit einer neuen Nachricht. Als ich fertig war, wartete ich noch ab. Kam von ihm noch etwas, das ich beantworten konnte, statt diese total dämliche und aus der Luft gegriffene Frage abzuschicken? Nein? Na gut, dann musste es wohl sein.

 

'Was zieht man denn da eigentlich an?'

 

Ich krümmte mich innerlich zusammen bei dieser absolut idiotischen Klischee-Frage, aber mir war auf die Schnelle nichts anderes eingefallen. Die Nachricht wurde gelesen und Benedikt begann sofort zu antworten.

 

'Na irgendwas, in dem du dich wohlfühlst. Ist doch keine Modenschau.'

 

Ich schlug mir mit dem Handy gegen die Stirn. Natürlich war die Frage dumm gewesen und er hatte ebenso unverständig darauf reagiert, wie es jeder andere halbwegs normal denkende Mensch auch getan hätte.

 

Doch was war das? Während ich mich mit dem Handy malträtiert hatte, hatte er noch mehr geschrieben. Ich las und begann wieder zu grinsen.

 

'Du kannst natürlich auch gerne im regenbogenfarbenen Einhorn-Onesie kommen.'

 

„Ha, na warte“, grollte ich und schrieb zurück.

 

'Der ist gerade in der Wäsche. Geht auch das rosa Tutu?'

 

Wieder kam Benedikts Antwort binnen weniger Sekunden.

 

'Aber nur, wenn du auch einen Zauberstab und Flügel mitbringst.'

 

Jetzt schickte er mir doch tatsächlich einen Feen-Emoji. Ich schüttelte den Kopf und grinste immer noch. Als ich gerade überlegte, was ich noch fragen könnte, schrieb er wieder.

 

'Nee, mal im Ernst. Ist alles ganz locker.'

'Es sei denn, du willst jemanden aufreißen.'

'Dann sollte es sexy sein.'

 

Ich beobachtete das Display, ob er noch etwas schrieb, aber es kam nichts mehr. Wie hatte er das gemeint? Ich überlegte gerade, ob ich noch einmal nachfragen sollte, doch da war er schon offline gegangen.

 

Sexy? Was verstand er denn unter sexy? Und was sollte der Spruch mit dem Aufreißen? So etwas in die Richtung hatte er letztens schon gesagt. Ob er vorhatte, jemanden abzuschleppen? Die Gelegenheit war vermutlich günstig. Soweit ich wusste, war das Ganze neben einer gesellschaftlichen und politischen Präsenzaktion vor allem eine große Party. Die Gelegenheit, jemanden zu finden, der ähnlich tickte wie man selbst, war dort vermutlich ungleich höher.

 

Du kannst es ihm nicht verbieten, wisperte es in meinem Kopf. Ermattet ließ ich mich zurück auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Es stimmte. Ich war nicht in der Position, Benedikt irgendetwas zu verbieten. Gleichzeitig wünschte ich, dass ich es gewesen wäre. Es hätte so vieles so unendlich viel leichter gemacht.

 

Eine unmögliche Aufgabe

Der nächste Tag hielt bereits am frühen Morgen eine neue Unannehmlichkeit für mich bereit. Da mein Vater im Stall und meine Mutter noch mit dem Frühstück für die Feriengäste beschäftigt war, nutzte ich die Gelegenheit, mich gleich nach einer schnell heruntergeschlungenen Schüssel Cornflakes ans Telefon zu klemmen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm die Nummer zur Hand, die ich gestern herausgesucht hatte. Es klingelte zweimal, bevor es klickte und mir eine freundliche Stimme verkündete, dass die Praxis zurzeit im Urlaub sei und der vertretende Arzt unter folgender Nummer zu erreichen.

 

Ich stöhnte innerlich, legte auf und wählte gleich noch einmal neu, bevor ich die Zahlen vergessen hatte. Wieder klingelte es, jemand hob ab und eine freundliche Frauenstimme erkundigte sich nach meinem Begehr.

 

Ich schluckte kurz. Musste ich am Telefon schon sagen, worum es ging?

 

„Ich … äh … bin auf der Suche nach einem neuen Hausarzt.“

„Sind Mitglieder Ihrer Familie bereits in unserer Praxis Patient?“

„Nein, eher nicht.“

„Mhm, dann bedaure ich. Wir nehmen zurzeit niemanden mehr auf.“

„Aber ich habe ziemliche Kopfschmerzen.“

 

Die Frau am anderen Ende seufzte.

 

„Na warten Sie, ich sehe mal nach, ob nicht noch etwas frei ist. Wir haben momentan die Vertretung für zwei weitere Praxen übernommen, da ist es etwas voller.“

 

Ich hörte sie blättern und einige Stimmen im Hintergrund, bevor sie mich wieder ansprach.

 

„Hören Sie? Ich hätte nächste Woche am Mittwoch um halb zehn noch was frei.“

 

Ich verzog das Gesicht.

 

„Da bin ich in der Schule.“

„Ach …“

 

Offenbar hatte sie mich für älter gehalten. Ich hörte sie wieder blättern.

 

„Dann hätte ich nur noch übernächste Woche am Donnerstag einen Termin um halb fünf. Reicht Ihnen das?“

 

Ich überlegte. Das waren noch zwei Wochen. Vermutlich wäre meine Mutter nicht sehr begeistert. Außerdem wollte ich das lieber so schnell wie möglich hinter mich bringen.

 

„Ich nehme den Termin am Mittwoch.“

 

So viel würde ich in der Schule an dem Tag schon nicht versäumen.

 

„Gut, wie war nochmal Ihr Name?“

„Von Hohenstein.“

„Und der Vorname?“

„Theodor.“

„Gut, Herr von Hohenstein, dann sehen wir uns nächsten Mittwoch. Und vergessen Sie bitte Ihre Chipkarte nicht.“

 

Damit legte sie auf und ich fühlte mich merkwürdig. Herr von Hohenstein war bisher immer mein Vater gewesen. Nicht einmal Christopher hatte bisher jemand so angeredet. Es klang falsch in meinen Ohren. Wie jemand, der ich nicht war.

 

Es ist nur ein Arzttermin, sagte ich mir selbst und atmete noch einmal tief durch. Du wirst das hinkriegen.

 

 

Um für gute Stimmung zu sorgen, half ich meinem Vater in den nächsten zwei Tagen, so gut ich konnte. Ich mistete die Ställe aus, kümmerte mich um die Ziegen und Hühner, ging meiner Mutter im Haus zur Hand. Sie kommentierte das nicht, aber ich merkte, wie sie mich manchmal ansah. In diesen Momenten fragte ich mich unwillkürlich, ob sie wohl wusste, was Sache war. Dementsprechend froh war ich, als ich am Donnerstagabend endlich bei Jo aufschlug. Er öffnete erst nach dem zweiten Klingeln. Aus dem Hintergrund dröhnte laute Musik.

 

„Hey T, hab dich gar nicht gehört.“

 

Seine Augen glänzten verdächtig und auch seine Aussprache war nicht mehr ganz astrein. Ich sah ihm mit skeptischen Blick entgegen.

 

„Ich dachte, du wolltest das Vorglühen sparen.“

„Das war, bevor Leon mit dem Tequila vor der Tür stand.“

 

Mit einem Grinsen bat Jo mich herein und ich folgte ihm und den wummernden Bässen bis zu seinem Zimmer. Dort saßen bereits Leon und Phillip inmitten der allgemeinen Unordnung. Zwischen ihnen stand ein Tablett mit einer halbleeren Flasche, Zitronenscheiben und einem Salzstreuer. Ich hob die Augenbrauen.

 

„Na ihr seid ja gut dabei.“

 

Ohne mich groß um Leons Füße zu kümmern, die der erst im letzten Moment zur Seite ziehen konnte, ließ ich mich auf das Bett fallen. Leon faltete seine lange Gestalt zusammen und kam in den Sitz hoch.

 

„Mensch, T, dass man dich auch mal wiedersieht. Wir dachten schon, du bist verschollen.“

„Nee, war im Ferienlage.“

 

„Dein Ernst?“, wollte Philipp wissen. Seine dunkelbraunen Haare standen wie üblich wirr vom Kopf ab, was ihm einen leicht verpeilten Ausdruck gab, der leider nur zum Teil trügte.

 

„Jepp, war drei Wochen Kinder hüten.“

„Und, wie war’s?“

„Frag lieber nicht.“

 

Damit war das Thema vom Tisch und ich atmete innerlich auf. Bei weiteren Nachfragen hätte ich womöglich ausgeplaudert, dass ich dieses Vergnügen mit Benedikt geteilt hatte. Das musste hier und jetzt nicht unbedingt erwähnt werden. Die anderen störten sich auch nicht weiter an meiner Anwesenheit, sondern nahmen nahtlos ihre Diskussion wieder auf. Wann die Fußball-Saison endlich wieder losgehen würde, wer die größten Chancen auf den Titel hatte, wer auf- und wer absteigen würde und so weiter und so fort. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und tat, als würde mich das Ganze interessieren. Natürlich wusste ich, wovon sie sprachen, aber ich war nie so wirklicher Fan irgendeiner bestimmten Mannschaft gewesen. Hand- oder Basketball begeisterten mich da schon eher.

 

Nachdem sowohl die erste wie auch die zweite Bundesliga abgehakt worden war, blickte Jo auf die Uhr. Es war halb elf.

 

„Bah, noch zu früh. Wenn wir jetzt schon in den Club einreiten, treffen wir da womöglich noch Sina und ihre Herde.“

 

Phillip, dem dieser Seitenhieb galt, verzog das Gesicht.

 

„Nun hör endlich auf, immerzu auf ihr rumzuhacken. Nur, weil sie dir mal einen Liebesbrief geschrieben hat, ist sie noch lange keine blöde Kuh.“

 

„Da behauptest du sonst aber was anderes“, frotzelte Leon und griff noch einmal nach der Tequilaflasche. Er goss die drei kleinen Gläser voll und sah auffordernd in die Runde.

 

„Für Jo ist das aber der letzte“, legte ich fest, denn mein Freund sah schon reichlich hinüber aus. „Ich helf ihm nachher nicht wieder beim Reihern.“

 

„Ah, dabei kümmert sich keiner so gut um mich wie du“, meinte Jo grinsend und griff nach dem Glas. „Du bist wie eine Mutter für mich.“

 

„Ich geb dir gleich mal Mutter.“

 

Ich griff mir sein Kopfkissen und warf damit nach Jo. Der fing das gefederte Geschoss geschickt auf und pfefferte es mit voller Wucht Leon ins Gesicht, der daraufhin seinen Tequila über das Bett verteilte.

 

„Spinnst du?“, maulte er und leckte sich den Alkohol von der Hand. „Ich wollte das noch trinken.“

 

„Und ich wollte darauf noch schlafen“, gab Jo zurück. „Also sind wir quitt.“

 

Phillip schüttelte nur den Kopf.

 

„Den hält man ja heute echt im Kopf nicht aus. Ein Glück, dass du wieder da bist, T. Auf dich hört er wenigstens.“

 

Ich enthielt mich eines Kommentars und grinste nur wissend. Jo war offenbar unausgelastet und ich konnte mir denken, woran das lag. Allerdings war ich da nicht der Einzige. Leon schien meine Theorie zu teilen.

 

„Am besten besorgen wir ihm mal wieder ne Freundin, dann kann er sich mit der austoben“, gab er kund und zu wissen und griff schon wieder nach der Flasche. Wenn er in dem Tempo weitermachte, würden wir heute noch hier versacken.

 

„Wir könnten Sina fragen.“

 

Phillip, der anscheinend beabsichtigte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem er seine kleine Schwester mit einem seiner besten Freunde verkuppelte, grinste breit. Leider hatte er seine Rechnung da ohne Jo gemacht.

 

„Oh bitte nicht“ , wehrte der entschieden ab. „Ich ficke doch keine Kinder“

„Sina ist 17.“

„Siehste, sag ich ja.“

 

Leon ging das Ganze entspannter an. Er runzelte die Stirn und dachte offenbar scharf nach.

 

„Wie wäre es denn mit Vanessa?“

„Nee, nicht mein Typ.“

„Mia-Sophie?“

„Zu eingebildet.“

„Nele?“

„Hatte ich schon.“

„Dann die Schnalle von der Tankstelle.“

„Wie bitte? Die ist mindestens 30 und hat einen total fetten Hintern. Nee danke. Da nehm ich lieber weiter Handbetrieb in Kauf.“

 

So ging es noch eine Weile weiter, bis Leon irgendwann wieder zur Uhr sah. Sie zeigte Viertel vor zwölf.

 

„Los, Leute, jetzt kommt mal in die Puschen. Wenn wir zu spät kommen, sind die besten schon weg.“

„Oder besoffen.“

„Dann passen sie ja bestens zu dir.“

 

Jo quittierte Phillips Bemerkung mit einem Stinkefinger, bevor er sich sein altes Shirt einfach über den Kopf zog und es achtlos zu Boden warf. Mit entblößtem Oberkörper warf er sich in Pose.

 

„Seht ihr, das entgeht den Hühnern, wenn sie mich nicht nehmen.“

„Eine Hühnerbrust?“

 

Phillip fiel vor Lachen über Leons Spruch fast vom Bett, während Jo offenbar schon wieder nach einem Wurfgeschoss Ausschau hielt. Als er keines fand, beschränkte er sich auf eine drohende Geste.

 

„Du Affe, das nennt man athletisch.“

„Nee, T ist athletisch. Du bist ein halbes Hemd.“

„Oder halbes Hähnchen.“

 

Wieder kringelte sich Phillip auf dem Bett zusammen, während Jo langsam aber sicher rot zu sehen drohte. Ich befand, dass es an der Zeit war, einzuschreiten.

 

„Jetzt hört endlich mit dem Schwachsinn auf. Mit einem blauen Auge lassen sie euch erst recht nicht rein. Also spart euch euer Testosteron für wann anders auf.“

 

Jo war jedoch noch nicht zufrieden.

 

„Die lachen über mich“, meckerte er und deutete an sich herab. „Jetzt sag du doch mal. Das ist doch ein einwandfreier Körperbau, oder nicht?“

 

Ich vermied es, meinen Blick allzu lange auf ihn zu richten. Natürlich wusste ich, wie er nackt aussah. Wir waren schon oft genug schwimmen gewesen oder zusammen in einer Umkleidekabine. Er hatte dünne, sehnige Beine, schmale Hüften, einen wenig definierten Oberkörper und relativ schmale Schultern. Dazu kamen noch die leicht abstehenden Ohren, die man wegen der an den Seiten abrasierten Haare nur umso besser erkennen konnte, und ein Gesicht, das an eine Maus erinnerte, weil seine Nase ein wenig zu spitz war. Die Tatsache, warum ich ihn nicht ansehen konnte, war also weniger die, dass ich Angst hatte, ihn plötzlich attraktiv zu finden. Die Sache, die mir dabei Kopfzerbrechen bereitete, war die, wie er reagieren würde, wenn er irgendwann herausfand, dass ich schwul war. Würde er da an all die Gelegenheiten denken, bei denen er sich neben mir ausgezogen hatte? Würde er das in Zukunft nicht mehr tun? Würde er überhaupt noch mit mir reden?

 

Während mir all das durch den Kopf ging, sah mich Jo immer noch um Bestätigung heischend an. Ich verzog spöttisch den Mund.

 

„Ja, du bist total männlich und furchteinflößend. Wie ein Babyhamster. Können wir dann los?“

 

Ich klatschte mit Leon und Phillip ab, während Jo mich anknurrte, dass ich ein arroganter Arsch sei. Ich dankte es ihm mit einem freundschaftlichen Rempler, als ich an ihm vorbeiging.

 

„Nun mach dir mal nicht ins Hemd. Wir finden schon was Passendes für dich.“

„Und du zahlst.“

„Aber nicht für Dienstleistungen.“

 

Ich bekam meinen Rempler zurück, bevor wir uns endlich auf den Weg zum Auto machten.

 

 

Am Club angekommen hatte sich vor der Tür bereits eine Schlange gebildet. Der Schuppen, der eigentlich eine ganz normale Disko war und sich in einem schon ein wenig heruntergekommenen Industriegebiet befand, hatte schon verschiedene Besitzer und verschiedene Namen hinter sich gebracht. Da aber sowieso alle nur vom „Club“ sprachen, hatte der neue Inhaber vor ein paar Jahren beschlossen, das Ding einfach so zu nennen, obwohl von draußen nur Wellblech dranpappte und sich Risse durch den Asphalt des Parkplatzes zogen, über den wir gerade gegangen waren. Aber irgendeinen Vorteil musste es ja haben, die einzige Location innerhalb von 30 km Umkreis zu sein. Die zahlende Kundschaft konnte es sich schlichtweg nicht leisten, nicht zu kommen.

 

Leon hingegen schien wegen der Schlange auf einmal auf Krawall gebürstet zu sein. Er nörgelte los, noch bevor wir unseren Platz am Ende der Hühnerleiter bezogen hatten.

 

„Maan, jetzt müssen wir wegen euch Spacken wieder warten.“

 

Glücklicherweise kannten wir das von ihm schon und wussten, was zu tun war.

 

„Nerv nicht und nimm dir ’n Snickers“, gab Jo mitleidlos zurück.

 

„Du bist einfach nicht du, wenn du hungrig bist“, fiel Phillip mit ein.

 

„Ich hab eben einen regen Stoffwechsel“, erklärte Leon und rieb sich den nicht vorhandenen Bauch. „Kann ich doch nichts dafür.“

 

Ich schüttelte nur den Kopf.

 

„Ich hab dich gefragt, ob wir noch zu Mäkkes wollen vorher. Du hast Nein gesagt.“

„Weil der Fraß nicht satt macht.“

„Ach, aber Baguette mit Pilzen schon oder was?“

„Klar.“

„Du wirst dich noch irgendwann vergiften mit dem Zeug.“

 

Zu unserem und Leons Glück ließen die Türsteher heute jedoch nur wenige von ihren üblichen „Willkommen im Club“-Sprüchen vom Stapel. So konnten wird schon kurze Zeit später durch die Schleuse am Eingang in das halbdunkle Innere vordringen. Sofort nach dem Erhalt des obligatorischen Eintrittsstempels steuerte Leon die Bistro-Ecke an, um sich seine üblichen zwei Pilzbaguettes zu bestellen. Der Rest von uns lief den rot und orange gestrichenen Gang entlang an den Toiletten und der „Lounge Area“ vorbei, bis wir zum „Mainfloor“ kamen, auf dem heute guter, alter Rock gespielt wurde. Wir holten uns an der Theke was zu trinken und suchten uns einen Tisch auf der oberen Ebene, von dem aus man die Tanzfläche überblicken konnte. Sofort scannte Jo den weiblichen Teil der Gäste.

 

„Was hältst du von der da?“, fragte er an Phillip gewandt. Er wusste schon, dass ich mich mit meinem Urteil meistens zurückhielt. Alternativ machte ich mir einen Spaß daraus, ihm alle seine Kandidatinnen madig zu machen. Eine Rolle, die heute anscheinend Philipp zufiel.

 

„Nee, zu alt“, sagte er prompt, als er das erste Mädel in Augenschein genommen hatte. Jo gab jedoch nicht so schnell auf.

 

„Wie wäre dann die?“

„Die ist ja flach wie ein Brett.“

„Und die?“

„Mhm, könnte gehen. Aber ich glaube, die hatte hier schon was mit jedem. Also wenn, dann nur mit Gummi.“

„Ach, fuck.“

 

Frustriert ließ sich Jo wieder auf die Bank sinken und kippte die Hälfte seines Biers in sich rein, bevor er Phillip böse anfunkelte.

 

„Du verdirbst einem echt den ganzen Spaß.“

 

Phillip grinste nur und hielt sein Handy in die Höhe.

 

„Ich könnte immer noch Sina für dich anrufen.“

„Sag mal, kriegst du Prozente, wenn du die an den Mann bringst, oder was?“

 

Jo schien jetzt ernsthaft angepisst zu sein. Er vernichtete auch noch den Rest seines Biers, bevor er die Flasche auf den Tisch knallte.

 

„Ich geh schiffen. Wenn ich wiederkomme, steht hier besser ein neues.“

 

Damit rauschte er ab und ließ Phillip und mich allein am Tisch zurück. Ich sah ein wenig zweifelnd zu Phillip rüber.

 

„Also ein bisschen verstehe ich ihn ja. Was hast du nur heute mit deiner Schwester?“

 

Phillip seufzte und begann das Etikett von seiner Bierflasche zu polken.

 

„Sina geht mir auf den Zeiger. Die redet neuerdings die ganze Zeit von Sex und dass sie endlich entjungfert werden will und all so’n Schwachsinn. Und da denk ich mir, wenn meine kleine Schwester sich schon irgendeinem Kerl an den Hals schmeißt, dann doch wenigstens einem, den ich leiden kann.“

„Und da suchst du dir ausgerechnet Jo aus?“

 

Phillip zuckte mit den Schultern.

 

„Der ist doch ganz scharf drauf, mal wieder eine zu knallen. Außerdem wird er immer so klein mit Hut, wenn er ne Freundin hat. Der tut doch nur so und in Wirklichkeit ist er voll der Softi. Außerdem glaub ich nicht, dass er arschig zu Sina wäre. Immerhin weiß ihr großer Bruder, wo er wohnt.“

 

Phillip wackelte bedeutsam mit den Augenbrauen. Ich lachte.

 

„Na, wenn du meinst. Aber wetten würde ich nicht darauf. Du weißt doch: Jo wechselt die Freundinnen häufiger als seine Unterwäsche.“

„Ach, wenn mal die Richtige kommt, wird er schon bei ihr bleiben. So wie bei dir und Mia.“

 

Phillip lächelte und prostete mir zu, aber ich musste schwer an mich halten, um nicht einen gequälten Laut von mir zu geben. Wenn der wüsste. Nicht nur, dass ich die ganze Zeit dieses angetrunkene Gelaber ertragen musste über Titten und Ärsche und wie geil es wäre, mal wieder „eine geile Schnalle so richtig durchzubürsten“, jetzt musste mich Phillip auch noch an Mia erinnern. Ich nippte noch einmal an meinem Bier, bevor ich es zurück auf den Tisch stellte und Phillip über den gerade aufgelegten Evergreen hinweg zubrüllte, dass ich mal für Nachschub sorgen würde. Als er verständnislos guckte, nahm ich Jos leere Flasche und wedelte damit vor seiner Nase herum, bevor ich mich wieder auf die untere Ebene begab.

 

Da an der Bar ziemliches Gedränge herrschte, musste ich einige Zeit warten, bis ich dran war. Als sich der Barkeeper endlich in meine Richtung drehte und ich gerade bestellen wollte, rief eine Stimme neben mir:

 

„Zwei Wodka-O.“

 

Ich drehte mich zu dem Vordrängler um und erstarrte. Der Typ sah nicht nur gut aus, er grinste mich auch noch rotzfrech an. Sein hautenges Shirt spannte über der Brust. Da blieb wirklich nichts der Fantasie überlassen. Außerdem legte es viel zu viel gebräunte Haut und einen Ansatz von Brusthaar frei. Dunkle Augen unter vollen, schwarzen Locken funkelten mich herausfordernd an.

 

„Was gefunden, das dir gefällt?“, wollte der Latinlover wissen. Ich schluckte und schüttelte stumm den Kopf.

 

„Schade“, meinte er immer noch grinsend, zwinkerte mir zu, nahm seine Bestellung und verschwand damit in der Menge. Erst die Stimme des Barkeepers, der zu wissen verlangte, was ich denn nun haben wollte, brachte mich wieder zurück auf die Erde. Was war das denn jetzt gewesen?

 

Das nennt sich Anmache, informierte mich mein Gehirn, während ich ganz automatisch zwei Bier bestellte. Ich bekam sie, bezahlte und ging dann wie in Trance wieder zurück zum Tisch. Ich konnte es einfach nicht glauben. Hatte mich doch tatsächlich ein Kerl angegraben. Das war mir noch nie passiert. Ob ich neuerdings irgendwelche Signale aussendete? Welche, von denen ich gar nichts wusste?

 

„Hey, da bist du ja endlich. Oh, gleich zwei. Wie praktisch.“

 

Jo schnappte sich postwendend die beiden Flaschen aus meiner Hand und reichte eine an Leon weiter, der inzwischen auch zu uns gefunden hatte. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie meine Freunde wohl reagiert hätten, wenn ich ihnen erzählte, dass ich gerade von einem Mann angeflirtet worden war. Vermutlich wären sie außer sich gewesen. Die beknackten Sprüche, die dann gefolgt wären, konnte ich mir lebhaft vorstellen.

 

Du kannst es ihnen nicht sagen, beschloss ich und hielt mich den Rest des Abends an meinem Fahrerbier fest. Jo versuchte zwar mehrmals, mich als Wingman zu engagieren, um irgendwelche hässlichen Freundinnen zu okkupieren, während er dem Objekt seiner Begierde näherkam, aber ich lehnte jedes Mal ab. Ich war heute nicht in Stimmung. Er gab sich mit Leon zufrieden und erntete doch tatsächlich zwei Telefonnummern.

 

„Mal sehen, ob ich sie anrufe“, meinte er grinsend und bestellte sich auf meine Kosten noch ein Bier für die Heimfahrt. Als ich ihn und die beiden anderen zu Hause abgesetzt hatte, machte ich mich allein auf den Weg zurück.

 

 

In meinem Zimmer angekommen schälte ich mich aus meinen Klamotten. Sie stanken nach Qualm und würden am nächsten Tag in die Wäsche wandern. Nur mit Shorts bekleidet setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Meine Augen brannten und alles an mir schrie nach Schlaf. Gleichzeitig war es viel zu warm und die kreisenden Gedanken in meinem Kopf würden mich ohnehin nicht zur Ruhe kommen lassen.

 

Für einen Moment war ich versucht, nach meinem Handy zu greifen, doch dann zögerte ich. Selbst wenn ich das tat, wen wollte ich anrufen? Mitten in der Nacht um kurz vor halb vier sicherlich niemanden mehr. Aber wenn; wessen Nummer würde ich wählen?

 

Ich schloss die Augen, als die Antwort klar und deutlich vor mir erschien. Ich wusste, dass ich mich schon längst entschieden hatte. Es noch länger herauszuzögern, machte alles nur noch schlimmer. Statt jedoch nach meinem Telefon zu greifen, nahm ich mir Stift und Papier und begann zu schreiben.

 

Unsere Füße geh’n gemeinsam

Doch sie teilen keinen Weg

Weil nichts mehr von „uns“ zurückblieb

Kommen wir nicht mehr vom Fleck

Wo vorher Lachen war, herrscht Schweigen

Keiner traut sich umzudreh’n

Denn nicht einer von uns beiden

Hat das Unglück kommen seh’n

 

Unser Himmel, er wird dunkel

Regen zieht von Ferne ran

Kann das Gewitter fast schon spüren

Erste Tropfen zieh’n die Bahn

Und sie waschen fort was einmal

Zwischen uns war irgendwann

Rinnen abwärts wie die Tränen

Die man nicht mehr sehen kann
 

Weil du was viel Besseres

verdient hast als mich

Jemand der es so meint

Wenn er sagt: „Ich liebe dich“

Der dich auf Händen trägt

Und der dir dann und wann

Einen Stern vom Himmel holt

Was ich nicht mehr kann

 

Wir haben uns geliebt, du warst die Einz’ge für mich

Mein Herz gehörte nur dir und es schlug nur für dich

Wir waren einmal glücklich, doch das ist so lange her

Denn es ist die reine Wahrheit: Ich liebe dich nicht mehr

 

Ich würd’ so gerne sagen, das geht wieder vorbei

Dass wir wieder ein Paar werden, du und ich, nur wir zwei

Aber ich hab viel zu lang gelogen, schob es immer vor mir her

Denn es ist die reine Wahrheit: Ich liebe dich nicht mehr

 

Nachdem ich den Text beendet hatte, ging ich endlich todmüde ins Bett. Am Horizont waren bereits die ersten Vorboten des Sonnenaufgangs zu sehen, doch ich fiel wie ausgeknipst in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es war der erste seit langem.

 

 

Ich erwachte erst um die Mittagszeit wieder, als meine Mutter klopfte und mich daran erinnerte, dass ich in einer Stunde zu meiner Schicht erscheinen müsse. Ich quälte mich mühsam in die Senkrechte, während sie die Tür einen Spalt breit öffnete.

 

„Ist alles okay bei dir?“

„Ja, Mama.“

„Hast du wieder Kopfschmerzen?“

„Nein, ich war nur zu lange wach.“

„Ah, in Ordnung.“

 

Sie sprach nicht weiter, aber ich wusste, welche Frage ihr auf dem Herzen lag. Also erzählte ich ihr, dass ich nächste Woche den Termin beim Arzt hätte. Ein schmales Lächeln glitt über ihr Gesicht.

 

„Gut. Es freut mich, dass du dich darum gekümmert hast.“

 

„Ja, Mama“, sagte ich nur und wusste, dass ich mich noch um etwas anderes würde kümmern müssen. Etwas, das selbst die schlimmste, ärztliche Untersuchung nicht aufwiegen konnte.

 

 

Die Zeit im Sportgeschäft schien sich ewig hinzuziehen. Es war nur wenig los, aber Holger hatte einen Termin und deswegen den Laden nicht schließen wollen. Den größten Teil des Nachmittags saß ich allein herum und bediente in der ganzen Zeit lediglich drei Kunden. Als Holger wiederkam, fragte ich ihn daher, ob ich früher gehen könnte.

 

„Dann bezahle ich aber nicht die volle Zeit“, mahnte er mich und ich gab ihm zu verstehen, dass mir das recht war. Ich wollte es nur endlich hinter mich bringen.

 

„Na, dann hau schon ab“, meinte Holger lachend und merkte dabei gar nicht, dass ich nicht wie üblich miteinfiel. Wie es schien waren mir meine Schauspielkünste für heute abhanden gekommen. Ich schwang mich auf mein Rad und musste noch einmal an das Lied denken, dass ich heute Nacht geschrieben hatte. Es erschien mir passender denn je.

 

 

Als das Haus von Mias Eltern in Sicht kam, hätte ich am liebsten auf der Stelle wieder kehrtgemacht und wäre ins Geschäft zurückgefahren. Oder ich hätte mich freiwillig als Bikinimodell im Freibad zur Schau gestellt oder Bettpfannen im Altersheim gereinigt. Alles, nur um mich vor dem zu drücken, was ich vorhatte zu tun. Trotzdem lehnte ich mein Fahrrad von innen gegen den weißen Gartenzaun und ging mit klopfendem Herzen den steinernen Weg zwischen den gepflegten Rabatten zur Haustür hinauf. Als ich klingelte, kündigte ein melodiöser Gong meinen Besuch an. Die Tür öffnete sich und Mias Mutter stand vor mir. Sie war ebenso blond wie Mia und fast ebenso hübsch. Die Verwandtschaft der beiden war nicht zu übersehen.

 

„Ach, hallo Theo. Du bist aber früh dran“, wunderte sie sich.

 

Ich lächelte, obwohl mir nicht danach war.

 

„Ich wollte Mia überraschen. Ist sie da?“

„Ja, sie ist oben. Geh nur hoch.“

„Okay.“

 

Ich zog die Schuhe aus und folgte der mit hellgrauem Flor bezogenen Treppe in den ersten Stock. Hier befand sich neben dem elterlichen Schlaf- und dem Gästezimmer auch Mias eigenes Reich. Vor ihrer Tür holte ich noch einmal tief Luft, bevor ich leise klopfte. Mia antwortete mir sofort. Als sie mich sah, wurden ihre Augen groß.

 

„Theo.“

 

Sie saß an ihrem Schreibtisch am Computer. Offenbar hatte sie gerade etwas gesucht. Jetzt schloss sie schnell den Browser und drehte sich zu mir um. Sie trug nur eine kurze, hellblaue Sweathose und ein weißes Top. Selbst jetzt sah sie aus wie aus einem Katalog. So perfekt.

 

„Hallo, Mia.“

 

Meine Stimme war leise. Vorsichtig. Als würde sie sich nicht heraustrauen aus Angst vor dem, was kommen sollte. Dabei wollte ich doch stark sein. Ich wollte das hier gut über die Bühne bringen. Mia den Abschluss geben, den sie verdiente. Einen, aus dem sie möglichst unbeschadet hervorging. Ein Blick in ihre Augen zeigte mir jedoch, dass es dafür längst zu spät war. Sie wusste, warum ich hier war. Trotzdem versuchte sie den Schein zu wahren. Ebenso wie ich.

 

„Du bist früh dran.“

 

Ich hörte die Tränen, die sie nur mühsam zurückhielt. Auch in meiner Kehle saß ein dicker, fester Pfropfen. Kein Laut wollte daran vorbeidringen. Und doch musste ich es sagen. Ich musste es aussprechen. Aber es war so schwer.

 

„Das hat deine Mutter auch schon gesagt“, sagte ich stattdessen. Sinnlose Konversation. Ich war so geübt darin.

 

„Wir wollten ja ins Kino“, erwiderte sie auf die gleiche Weise. Auch sie beherrschte die Kunst, mit vielen Worten nichts zu sagen, perfekt. Wir beide wussten das und verabscheuten es gleichermaßen. Wenn wir miteinander geredet hatten, war es immer anders gewesen. Bis jetzt. Jetzt traute sich keiner von uns beiden, den ersten Schritt zu machen auf die Brücke, die unter unseren Füßen zusammenbrechen würde. Wir wussten es, aber wir konnten nichts dagegen tun.

 

Es war Mia, die schließlich das Schweigen brach.

 

„Ich habe eine Nachricht von Jo bekommen. Möchtest du sie lesen?“

 

Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Trotzdem nickte ich. Noch ein kleines bisschen Zeit. Noch ein winziger Aufschub.

 

Mia griff nach ihrem Handy, entsperrte den Bildschirm und rief die Nachricht auf. Dann gab sie sie mir zu lesen. Ich stutzte ein wenig anhand der kreativen Rechtschreibung, die sicherlich dem Zeitpunkt ihres Verfassens geschuldet war, doch als der Sinn der Worte zu mir durchdrang, wurde mein Magen zu Eis. Das war noch viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Mit einem Gesicht, das sicherlich weiß wie die sprichwörtliche Wand war, ließ ich das Gerät sinken. Mia sah mich an.

 

„Möchtest du mir erklären, warum Jo mich fragt, ob wir unser Date morgen Abend verschieben können, damit er mit dir zu dieser Beachparty gehen kann?“

 

Ich wollte. Ich wollte es erklären, aber das hätte bedeutet, ihr alles zu sagen. Und mit „ alles“ meinte ich wirklich alles. Jede noch so kleine Kleinigkeit. Es würde sie vernichten.

 

„Ich … ich kann das erklären“, begann ich mit einem Satz, der vermutlich in die lange Reihe berühmter letzter Worte gehörte

 

Mia atmete tief ein. „Kenne ich sie?“

 

Wieder brauchte ich einen Augenblick, bevor ich verstand, wovon sie sprach. Ich schüttelte den Kopf.

 

„Ich … es ist nicht so, wie du denkst.“

„Was denke ich denn?“

„Dass ich dich betrüge. Aber das ist nicht der Fall. Nicht mehr.“

 

An Mias Gesicht sah ich, dass ich die falschen Worte gewählt hatte. Eilig setzte ich hinzu:

 

„Hör zu, ich erkläre es dir. Wirklich. Aber du darfst nicht …“

 

Ich verstummte. Ich war nicht in der Position etwas zu verlangen. Also schloss ich die Augen, atmete noch einmal tief durch und begann noch einmal ganz von vorne.

 

„Ich … ich habe gelogen. Ich hab Jo gesagt, dass ich morgen mit dir verabredet bin. Aber in Wahrheit bin ich mit jemand … anderem verabredet, aber … es ist kein Mädchen, Mia. Und wir haben auch kein Date, sondern wir wollen zusammen zum … zum Christopher Street Day. Aber nicht nur als Zuschauer, sondern als … Teilnehmer. Weil ihn das Thema etwas angeht. Und mich auch.“

 

Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Es war erbärmlich wenig, was ich da von mir gegeben hatte. Viel zu wenig, um der Tragweite dessen, was es bedeutete, auch nur annähernd gerecht zu werden. Trotzdem sah ich, wie sich ganz langsam Verstehen auf Mias Gesicht ausbreitete. Wie Wellen auf einem Teich, in den jemand einen Stein geworfen hatte.

 

„Zum … Christopher Street Day?“, fragte sie noch einmal nach. Ich nickte.

 

„Aber das ist eine Demonstration für die Rechte von … Homosexuellen.“

 

Wieder nickte ich.

 

„Es sind sogar noch ein paar mehr Gruppierungen, aber im Großen und Ganzen, ja.“

 

Erneut wartete ich, wie Mia reagieren würde. Würde sie verstehen, was ich ihr damit versuchte zu sagen? Würde sie verstehen, dass ich …

 

„Willst du mir damit sagen, dass du …?“

 

Ich nickte, bevor sie es aussprach.

 

„Es tut mir leid“, flüsterte ich so leise, dass man mich kaum hören konnte. Ich schämte mich dafür, dass ich ihr das jetzt sagen musste. Dafür, dass ich es nicht schon früher erkannt hatte. Und ich hasste mich für den Ausdruck, der jetzt in ihr Gesicht trat. So schockiert und verletzt. In meiner Brust wurde es eng.

 

„Aber du hast doch … wir sind doch …“

 

„Ich weiß“, sagte ich leise und konnte ihrem Blick nicht mehr standhalten. Stattdessen sah ich hinunter auf den flauschigen, weißen Teppich, der in ihrem Zimmer lag. Wer außer Mia konnte so einen Teppich haben?

 

„Und ich versichere dir, dass es nichts mit dir zu tun hat, auch wenn das jetzt wie ein abgedroschener Spruch klingt. Ich … ich habe es selbst lange nicht gewusst oder nicht wahrhaben wollen. Ich habe immer gedacht, dass ich wie alle anderen bin. Dass ich ganz normal bin.“

 

Ich konnte nicht verhindern, dass mir in diesem Moment die Tränen in die Augen schossen. Ärgerlich fuhr ich mir unter der Brille über die Augen. Verdammte Axt nochmal! Mia war hier diejenige, die Grund hatte zum Weinen. Weil sie so einen Arsch als Freund hatte. Einen der sie hinterging, belog und betrog und das alles nur, weil er zu feige war, sich einzugestehen, dass er schwul war.

 

Ich zog die Nase hoch und blickte durch den Tränenschleier zu Mia hinüber. Die sah mich nur an und in ihren Augen stand tiefe Trauer.

 

„Mia“, sagte ich wieder und wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Immer noch schwammen meine Augen. Ich nahm die Brille ab, um sie zu trocknen. Das war doch alles scheiße.

 

„Warum hast du nie was gesagt?“, wollte sie wissen.

 

„Ich wusste es nicht“, antwortete ich leise. „Ich … ich habe es selbst erst gemerkt, als es schon viel zu spät war. Ich dachte immer, es geht wieder weg.“

 

Ein kleines, flüchtiges Lächeln umspielte Mias Lippen.

 

„Das hast du ehrlich gedacht?“

„Ich hatte es gehofft.“

 

Plötzlich musste ich lachen. Es war so surreal, ausgerechnet in dieser Situation damit herauszuplatzen, und doch konnte ich es nicht verhindern. Auch Mia grinste ein bisschen, bevor sie wieder ernst wurde.

 

„Ach, Theo.“

 

Sie ließ sich von mir in eine Umarmung ziehen. Ich war so erleichtert, dass sie mich nicht von sich stieß. Dass sie es verstand, wenigstens einen Teil davon.

 

„Es tut mir wirklich so leid“, wisperte ich in ihre Haare, die wie immer nach Apfelshampoo rochen. „Wenn ich es früher gewusst hätte, dann wäre das alles nicht passiert.“

 

Jetzt hörte ich auch Mia schniefen. Ich wusste, dass sie weinte.

 

„Aber wenn du es früher gewusst hättest, dann hätten wir uns nicht gehabt. Und das hätte ich sehr schade gefunden.“

„Aber ich …“

 

„Theo.“ Mia machte sich von mir los und sah mich an. Ihre Augen waren feucht und doch lächelte sie. „Ich liebe dich. Immer noch. Aber ich weiß, was es bedeutet, wenn du mir sagst, dass du … dass du zu diesem Event gehen willst. Und ich bin die Letzte, die dich dabei aufhalten würde.“

 

„Oh, Mia.“ Ich konnte nicht mehr sagen, denn der Rest meines Satzes ging in einem Schluchzen unter. Jetzt war sie es, die mich hielt. Ich fühlte mich furchtbar, denn ich hatte das nicht verdient. Nicht nach dem, was ich ihr gerade angetan hatte. Gleichzeitig war ich so glücklich. So glücklich, dass es endlich heraus war. Dass ich es nicht mehr verstecken musste. Nicht vor Mia.

 

 

Nachdem der erste Sturm vorbei war, redeten wir den ganzen Abend lang. Ich erzählte ihr alles, aber auch wirklich alles. Sogar, dass ich sie letzten Sommer betrogen hatte. Sie hörte sich die ganze Geschichte an und ich kam mir mit jedem Wort schlechter vor. Aber ich wusste, dass ich nichts auslassen durfte, wenn das hier funktionieren sollte. Am Ende schwiegen wir beide und wieder war es Mia, die nach schier unendlich langer Zeit das Wort ergriff.

 

„Und jetzt?“, fragte sie und drückte das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand noch ein wenig fester zusammen. „Wirst du es ihm sagen?“
 

„Dass ich in ihn verliebt bin?“

 

Auch diesen Teil hatte ich nicht ausgelassen. Es erschien mir gleichzeitig richtig und vollkommen falsch, dass sie es erfuhr.

 

„Ja.“

„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass er …“

„Dass er interessiert ist?“

 

Mia lachte auf und gab mir einen Faustschlag gegen die Schulter, der sich gewaschen hatte.

 

„Also wenn du das denkst, dann bist du ein noch viel größerer Schafskopf, als ich angenommen hatte. Natürlich ist er interessiert.“

 

„Aber ich … ich hab mich ihm gegenüber wie ein Arsch verhalten.“

 

Mia schnaubte.

 

„Das kann man wohl sagen. Aber wer tut das nicht ab und an? Dann kann man hingehen und sagen, dass es einem leidtut.“

„Aber das habe ich getan.“

„Wirklich?“

 

Sie nahm mich mit ihren klaren, blauen Augen gefangen und nagelte mich damit förmlich an die Wand.

 

„Also so, wie ich das sehe, hat nur er bisher zugegeben, dass er in dich verliebt war. Du hast dich lediglich dafür entschuldigt, dass du dich nicht bei ihm gemeldet und keine Rücksicht auf seine Gefühle genommen hast. Von deinen ihm gegenüber hast du nichts gesagt.“

„Aber er hat ...“

„Nein, Theo.“

 

Mias Stimme war fest und duldete keinen Widerspruch.

 

„Wenn du willst, dass das mit Benedikt funktioniert, musst du ehrlich zu ihm sein. So ehrlich, wie du es heute zu mir warst. Nur wenn er dir dann wirklich verzeiht, habt ihr eine Chance darauf, glücklich zu werden.“

 

Ich seufzte schwer.

 

„Und wenn nicht?“

„Wenn nicht, hast du hoffentlich etwas daraus gelernt.“

 

Ich ließ den Kopf noch ein bisschen tiefer hängen. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Aber die Aussicht, mich dem auch noch stellen zu müssen, schien nach dem Kraftakt heute vollkommen unmöglich.

 

„Wenn du willst, helfe ich dir dabei“, sagte Mia mit einem Mal. Mein Kopf schnellte nach oben.

 

„Wie?“, keuchte ich. Das konnte ich jetzt einfach nicht glauben.

 

„Nun, zum Beispiel indem ich Jo sage, dass wir beide Morgen verabredet sind und er nichts dagegen machen kann. So hast du wenigstens einen Tag, wenn nicht sogar zwei Tage Zeit, das mit Benedikt auf die Kette zu kriegen. Am Montag, wenn die Schule wieder losgeht, möchte ich mit Fug und Recht sagen können, dass ich für etwas Sinnvolles abserviert worden bin.“

 

„Aber Mia“, jammerte ich. „Wie soll ich das denn anstellen?“

 

Sie grinste lediglich breit und mir wurde klar, dass ich den Teufel vor mir hatte. Den Teufel in der Gestalt eines Engels.

 

„Da lass dir mal schön etwas einfallen. Bei dieser Aufgabe wirst du nämlich ganz auf dich allein gestellt sein.“

Geständnisse

Schon von Weitem konnte ich das große, rotgeklinkerte Gebäude mit dem Logo der Deutschen Bahn erkennen. Es lag in dem Teil der Stadt, der am weitesten von unserem Dorf entfernt war. Ich hatte mich somit schon früh am Samstagmorgen aus dem Bett gequält, um meinen Zug und somit meinen Tag mit Benedikt nicht zu verpassen. Dementsprechend war nach Duschen und Rasieren die Wahl des Outfits auch relativ schnell gefallen. Ich wusste nicht, ob man das, was ich trug, unter „sexy“ verbuchen konnte. Vermutlich fielen Jeans, weißes, ärmelloses T-Shirt und kariertes Hemd eher unter „lässig“, aber ich hatte in meinem Schrank einfach nichts finden können, das sich in die Kategorie „aufreizend“ stecken ließ. Allenfalls die Jeans mit dem Riss am Hintern, die ich immer zum Arbeiten anhatte, aber da die dementsprechend aussah, war auch diese Möglichkeit weggefallen.
 

Ich steuerte den schon fast vollständig belegten Fahrradständer an, der sich gleich vor dem Eingang der Bahnhofshalle befand, und kettete mein Rad an. Das Schloss und der dicke Stahlstrang waren sicherlich stabil genug, um auch den ambitioniertesten Radräuber vor einige Schwierigkeiten zu stellen. Ansonsten hätte ich es wohl lieber mitgenommen, aber wir wollten ja keine Fahrradtour machen. Als ich damit fertig war, sah ich mich um.
 

Auf der T-Kreuzung, an dessen Längsseite der Bahnhof lag, herrschte relativ wenig Verkehr. Gerade hielt ein Bus an der gegenüberliegenden Haltestelle und ich erwartete fast, Benedikt aussteigen zu sehen. Es kamen jedoch nur eine alte Frau und zwei Halbwüchsige mit Skateboards aus dem fast leeren Bus. Ansonsten war auf dem Bürgersteig lediglich ein Mann mit einem Rollkoffer unterwegs, der direkt auf das Bahnhofsgebäude zusteuerte. Vermutlich um sich noch eine Zeitung für die Reise zu kaufen. Ich kam ihm zuvor und besorgte mir am Kiosk der bestimmt noch aus den 60er Jahren stammenden und ganz in gelb gehaltenen Eingangshalle eine kleine Flasche Wasser. Mit der in der Hand trat ich durch eine große Schwingtür auf den Bahnsteig. Es gab nur zwei Schienenstränge. Einer führte von Norden nach Süden, der andere in die entgegengesetzte Richtung. Wie ich nach einem Blick auf die Anzeigentafel feststellen musste, stand ich am falschen.
 

Ich sah nach rechts und links, konnte jedoch keinen Überweg entdecken. Wie kam ich denn jetzt auf die andere Seite? Wild entschlossen, niemanden danach zu fragen, fing ich an, unter der Überdachung den Bahnsteig entlangzuwandern. Der entscheidende Hinweis kam schließlich in Form eines Schildes. „Zu Gleis B“ stand darauf. Ich ging in die ausgewiesenen Richtung und entdeckte zwischen Bahnhofshalle und Parkplatz den Zugang zu einer Unterführung. Gerade alsich mich auf den Weg nach unten machen wollte, fuhr ein kleines, rotes Auto auf den Parkplatz, der gleich neben dem Bahnhof lag. Ich erkannte es sofort wieder.
 

Langsam steuerte ich statt des Fußgängerüberwegs also den Parkplatz an. Mit jedem Schritt wurde das Kribbeln in meinem Magen und auch noch ein wenig tiefer stärker. Als Benedikt endlich aus dem Auto stieg, war ich ein nervliches Wrack.
 

„Hey,“ rief er, kaum dass er die Fahrertür geöffnet hatte. „Sorry, dass ich so spät bin. Ist genetisch bedingt.“
 

„Ach, kein Problem“, rief ich zurück. „Bin auch gerade erst angekommen.“
 

Dass ich eine geraume Weile wie ein blindes Huhn über den Bahnsteig geirrt war, musste ich ihm ja nicht unbedingt erzählen.
 

Benedikt kam auf mich zu und ich sah, dass er ähnlich gekleidet war wie ich. Nur dass er statt des Hemds eine Sweatjacke in der Hand hatte und sein T-Shirt dunkelblau war. Ich atmete auf.
 

„Hi“, sagte ich noch einmal, als er bei mir ankam. Mein Herz klopfte immer noch viel zu schnell und es kostete mich einiges an Überwindung, meine Mundwinkel nur ein Stück weit zu heben. Ich wollte nicht, dass er merkte, wie sehr ich mich auf diesen Tag freute.
 

Benedikt atmete einmal tief durch, bevor er meine erneute Begrüßung erwiderte. Er räusperte sich.
 

„Ich, äh … Wir sollten vielleicht zum Bahnsteig gehen. Sonst fährt der Zug noch ohne uns.“

„Ja, dann los.“
 

Einträchtig trabten wir nebeneinander die Fußgängerunterführung hinab. Im Halbdunkel sah man die Graffitis, die hier und da an die gekachelten Wände gesprüht waren. Keine großen Kunstwerke. Meist nur einfache Schriftzüge. Schmierereien. Nicht mal das hatte unsere Stadt zu bieten.
 

Auf dem Bahnsteig trafen wir die zwei Jungs mit den Skateboards wieder. Sie rollten den Bahnsteig rauf und runter und versuchten sich in einfachen Sprüngen. Ich sah ihnen einige Augenblicke lang zu.
 

„Ob die auch nach Hamburg wollen?“, fragte ich mehr um überhaupt etwas zu sagen. Benedikt sah zu den beiden Jungs rüber.
 

„Mhm, keine Ahnung. Zum CSD wollen die aber bestimmt nicht.“

„Warum nicht?“

„Weiß nicht. Ist so ein Gefühl.“
 

Ich nickte, obwohl ich nicht so recht wusste, was er damit meinte. Vielleicht sprach da die Erfahrung aus ihm. Ich holte noch einmal tief Luft.
 

„Ich bin am Donnerstag im Club angemacht worden. Von einem Typen.“
 

Benedikts Lippen umspielte ein Lächeln.
 

„Und? Hast du seine Nummer?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil …“
 

Ich stockte. Eigentlich wäre das der perfekte Aufhänger gewesen, um ihm zu erzählen, dass ich auf ihn stand. Aber er war vor nicht einmal fünf Minuten angekommen. Da erschien mir das nicht passend. Warum hatte ich überhaupt mit dem Thema angefangen?“
 

„Ich war mit Jo und den Jungs da“, antwortete ich statt einer richtigen Erklärung. Benedikt nickte trotzdem verstehend.
 

„Hat halt manchmal auch Vorteile, wenn man keine Freunde hat.“
 

Er grinste, während er das sagte. Trotzdem machte mich das ein wenig betroffen.
 

„Was ist mit Anton“, fragte ich deswegen. Es war ja nicht so, dass er gar keine Freunde hatte.
 

„Den kannst du doch nirgendwo mit hinnehmen. Asthma und so Außerdem ist das Nachtleben nicht so seine Welt. Wir waren aber schon mal im Kino.“
 

„Ah,“ machte ich und überlegte, wie ich das Gespräch jetzt weiterführen konnte. Die Frage, was sie gesehen hatten, bot sich zwar an, aber eigentlich wollte ich nicht wirklich über Anton sprechen. Also fragte ich Benedikt stattdessen, ob er denn abends immer alleine weggehen würde.
 

Er bewegte den Kopf in einer Mischung aus Nicken und Kopfschütteln hin und her.
 

„Ich gehe nicht so häufig aus. Aber wenn, dann alleine. Ist ja nichts dabei.“
 

Ich runzelte die Stirn. Ganz allein in den Club oder eine andere Disko zu gehen, konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. In eine Bar oder zum Billard schon gleich gar nicht. Ich sah auf den kaugummiübersäten Bahnsteig hinunter.
 

„Wir könnten ja öfter mal was machen“, schlug ich vor, als am Horizont schon der Zug auftauchte. Der Blick, den ich daraufhin zugeworfen bekam, war eigenartig. Fast so, als würde Benedikt denken, dass ich ihn veralberte.
 

„Mhm, mal sehen“, antwortete er, während er sich erhob. „Vielleicht ergibt sich ja mal was.“
 

Ich hätte gerne gefragt, warum er die Idee nicht gut fand, aber der einfahrende Zug unterband unsere Konversation. Die Bremsen quietschten und das Gefährt kam zischend zum Stehen. Eine unverständliche Durchsage schallte über den Bahnsteig. Niemand stieg aus.
 

Wir öffneten die Tür des Waggons und suchten uns im Inneren des fast leeren Abteils eine der karierten Sitzbänke aus. Als Benedikt sich neben mich fallen ließ, berührten sich unsere Beine flüchtig. Ich sah zu ihm hoch und er im gleichen Moment zu mir herüber. Für Bruchteile von Sekunden verhakten sich unsere Blicke ineinander, bevor wir beide schnell wieder woanders hinschauten. Ich starrte blind aus dem Fenster und bohrte meine Fingerkuppen in das Sitzpolster. War da jetzt was gewesen, oder nicht? Hatte ich mir diesen Blickwechsel nur eingebildet? War er ebenso nervös wie ich oder projizierte ich nur meine eigene Unsicherheit in sein Verhalten hinein?
 

Du musst ehrlich zu ihm sein, meinte ich wieder Mias Stimme zu hören. Aber wie sollte ich das anstellen? Ich konnte ja wohl kaum mit der Tür ins Haus fallen. Zumal er anscheinend zwar heute gerne mit mir nach Hamburg fahren wollte – so viel hatte er immerhin zugegeben – aber an weiteren Treffen nicht interessiert zu sein schien. Es war wirklich zum gegen den nächsten Baum treten. Ich wusste einfach nicht, woran ich bei ihm war.
 

„Wie … wie läuft das heute eigentlich ab?“, fragte ich, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Häuser, Bäume und Wiesen glitten in zunehmenden Tempo am Fenster vorbei.
 

„Na ja“, meinte Benedikt und zuckte mit den Schultern. „Da ist zum einen die große Demonstration, die durch etliche Straßenzüge der Innenstadt verläuft, bis sie schließlich auf einem großen Festplatz endet. Der Bereich ist weitäumig abgesperrt und zumeist voller Menschen. Es gibt ein Straßenfest, Gastrostände, Live-Musik, eine Showbühne. Du kannst feiern und Party machen, aber es gibt auch viele politische Veranstaltungen. Da werden Reden gehalten, die Parteien, die sich engagieren wollen, geben Infos raus, du bekommst an allen Ecken und Enden kostenlose Kondome …“
 

Na dem Satz grinste er mich an. Ich merkte, wie meine Ohren warm wurden. Dabei war ich ja nun wirklich nicht verklemmt, aber das war einfach … neu. Und die Vorstellung, die ich mit der Erwähnung der Verhütungsmittel verband, war andere als bisher. Ich schluckte.
 

„Hast du … also … hast du eigentlich schon mal …?“
 

Vermutlich war das eine total dämliche Frage, aber mein Mund war mal wieder schneller gewesen, als gut für mich war.
 

„Was? Sex auf dem CSD gehabt?“

„Äh, ja. Nein. Also überhaupt.“
 

Ich schlug mir innerlich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Mein Gestotter klang wie das eines verpickelten 13-järhigen, der eine Frau – oder einen Mann – gerade mal im Traum mit dem kleinen Finger berührt hatte. Benedikt schmunzelte jedoch nur.
 

„Du willst also wissen, ob ich noch Jungfrau bin. Tut mir leid, aber da muss ich dich enttäuschen.“
 

Ich versuchte, mir meinen inneren Tumult nicht anmerken zu lassen.
 

„Und wie war das so?“

„Schön.“

„Äh … okay.“
 

Er machte ein amüsiertes Gesicht.
 

„Willst du noch wissen in welcher Stellung und ob ich oben oder unten gelegen habe?“
 

„Nein! Natürlich nicht“, wehrte ich sofort ab, obwohl mich genau das eigentlich brennend interessiert hätte.
 

„Kannst ja mal raten.“
 

Ich verdrehte die Augen.
 

„Nein, bestimmt nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil das albern ist.“

„Du hast doch mit dem Thema angefangen.“

„Na ja, aber nur weil …“

„Weil was?“
 

Benedikt musterte mich aufmerksam, sodass ich den Blick abwandte und wieder aus dem Fenster sah. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Natürlich wusste ich theoretisch, was so abging. Ich hatte genug Pornos gesehen, um zu wissen, wie was wo reingesteckt wurde. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass zwischen den Hochglanzbildern und dem echten Erlebnis ein meilenweiter Unterschied bestand. Die Typen auf der Leinwand machten das schließlich professionell. Die hatten nicht im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen voll, wenn sie daran dachten, mit einem Kerl ins Bett zu gehen. Die machten sich keine Gedanken darum, ob sie wohl irgendwas falsch machten. Dafür gab es beim Film ja schließlich Regisseure und vermutlich sogar jemanden, der sich darum kümmerte, wenn etwas nicht so ablief wie geplant. Und wenn doch mal was schiefging, wurde das eben rausgeschnitten. So was gab es im wahren Leben nicht. Da musste alles auf Anhieb klappen.
 

„Hey“, machte Benedikt neben mir und stupste mich mit dem Ellenbogen an. „Das war doof. Tut mir leid. Wenn du was wissen willst, frag ruhig.“
 

Ich atmete einmal mehr tief durch.
 

„Mir tut’s auch leid. Es … es geht mich ja gar nichts an, mit wem du schon alles im Bett warst.“

„Na, so viele waren es nun auch wieder nicht.“

„Wie viele denn?“
 

Er machte ein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Doch noch bevor ich mich für meine erneute Zudringlichkeit entschuldigen konnte, seufzte er.
 

„Drei, wenn du’s genau wissen willst.“

„Mehr nicht?“

„Wer bin ich? Casanova? Ist ja nicht so, als wenn die Schwulen hier auf Bäumen wachsen würden. Und für so Sachen wie Grindr oder so bin ich mir echt zu schade. Die wollen doch alle nur das Eine.“

„Und du nicht?“
 

Ich wusste, dass ich mich mit meinen Fragen vermutlich immer weiter reinritt, aber wenn wir schon mal beim Thema waren …
 

Benedikt schüttelte den Kopf.
 

„Nee. Hab ich ausprobiert. Ist nicht meins. Mag ja sein, dass einige Typen total auf One-Night-Stands ohne Verpflichtungen stehen, aber mir hat mal einer verraten, dass für ihn gerade mal in einem von zehn Fällen wirklich guter Sex dabei herauskommt. Der Rest ist eher so meh.“

„Im Ernst?“

„Kannst dich ja mal umhören.“
 

Der Vorschlag klang zunächst eigenartig, aber gleichzeitig … Allein die Vorstellung, dass man sich tatsächlich mit anderen darüber austauschen könnte. Ein paar dumme Fragen stellen, ohne ausgelacht zu werden. Sich wirklich offen und ehrlich mit jemandem darüber zu unterhalten, wie es war, ein „schwules“ Leben zu leben, war irgendwie … Ich fand keine Worte dafür. Plötzlich war ich nicht nur aufgeregt, weil ich diesen Tag mit Benedikt verbringen würde. Ich würden zudem auf einen riesigen Haufen Menschen treffen, für die es okay war, dass ich war wie ich war. Der Gedanke machte mir Angst und gleichzeitig Hoffnung.
 

Ich spürte ein Kribbeln in meiner Nase. Himmel, das war doch jetzt nicht wahr. Deswegen würde ich ganz bestimmt nicht schon wieder heulen. Schnell nahm ich meine Wasserflasche zur Hand und trank einen Schluck. Es war lauwarm und ohne Kohlensäure. Ich hatte mich vergriffen.
 

„Was ist los?“, wollte Benedikt wissen. Er beobachtete mich immer noch viel zu genau.
 

„Das Wasser ist ohne Sprudel.“

„Und deswegen machst du so ein Gesicht?“

„Ja?“
 

Es war nicht zu überhören, dass ich log, aber …
 

„Okay, ich war gerade einfach ein bisschen überwältigt. Diese ganze Sache schafft mich ziemlich. Ich meine, bis vor ein paar Wochen wusste ich nicht mal, dass ich auf Kerle stehe und jetzt fahre ich mit dir zu dieser Riesenveranstaltung wo mich zigtausend Leute sehen werden. Ich weiß nicht, wie ich das finde. Das ist alles so groß. So viel. So …“
 

Ich spürte plötzlich eine Hand auf meiner. Benedikts Finger drückten sie ganz vorsichtig.
 

„Hey, bleib locker. Ich … ich meine, wenn es dir nicht gefällt, dann können wir immer noch woanders hingehen. Ich hatte beim ersten Mal auch Schiss. Zumal ich da ganz alleine angereist bin. Aber du wirst sehen, dass dich da wirklich alle mit offenen Armen empfangen. Das Gefühl ist toll.“
 

Ich sah ihn an. Er lächelte. Da war so viel Wärme in seinem Blick, dass es etwas tief in mir berührte. Ich holte geräuschvoll Luft und erwiderte seinen Händedruck für einen Augenblick, bevor ich ihn wieder losließ.
 

„Danke. Fürs Runterbringen.“

„Ach, kein Ding. Ich will ja nicht, dass die uns womöglich in Pinneberg aus dem Zug schmeißen, nur weil du ne Panikattacke hast.“

„In Pinneberg? Nee, das geht nun wirklich nicht.“
 

Das Lachen, in das wir beide im nächsten Moment einfielen, war befreiend. Die Anspannung wich Stück für Stück und als der Schaffner kam, um unsere Fahrkarten zu kontrollieren, hatte ich mich schon wieder so weit im Griff, dass meine Hände nicht mehr zitterten. Das kam erst wieder, als die ersten Ausläufer von Hamburg in Sicht kamen. Die Gleise neben uns wurden zahlreicher, die Besiedlung dichter. Wir fuhren unter Brücken und Tunneln hindurch, bis wir schließlich in die riesige Halle des Hauptbahnhofs einfuhren. Dort empfingen uns mit Regenbogenfahnen bewaffnete Menschenmassen, von denen ein guter Teil bereits an früheren Bahnstationen zu uns in den Waggon gestiegen war. Wir hatten uns nicht zu erkennen gegeben, aber als wir jetzt aus dem Zug stiegen, holte auch Benedikt ein buntes Tuch heraus und band es sich um das Handgelenk. Als ich ihn verständnislos ansah, grinste er.
 

„Was? Hast du gedacht, ich geh heute los, ohne Flagge zu zeigen?“

„Nein. Ja. Keine Ahnung. Ich bin wohl wirklich schlecht vorbereitet.“
 

Ich senkte den Blick, aber er lächelte nur. Da war wieder dieser Ausdruck in seinem Gesicht. Einer, der mich gefangen hielt und nicht mehr losließ. Mein Herz hüpfte in meiner Brust. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen.
 

„Ja, das bist du allerdings. Aber das kenn ich ja schon von dir. Deswegen hab ich dir was mitgebracht.“
 

Er langte in seine Tasche und zog ein zweites Tuch heraus.
 

„Wenn du willst. Du musst aber nicht. Es ist deine Entscheidung.“
 

Ich sah auf das Tuch, das in allen Regenbogenfarben leuchtete. Um uns herum trubelten hunderte Menschen durch die Bahnhofshalle und es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis uns irgendjemand anrempelte, weil wir mitten im Weg herumstanden und den Durchgang versperrten. Langsam hob ich die Hand.
 

„Danke“, sagte ich und nahm das Tuch fast schon andächtig entgegen. Das hier war meine goldene Eintrittskarte, mein Hogwartsbrief, das Fläschchen, auf dem „Trink mich“ stand. Ich würde auch ohne ins Wunderland reisen können, aber mit ihm würden alle Bewohner wissen, dass ich zu ihnen gehörte. Wie in Zeitlupe hob ich es hoch und wand es mir um den Hals. Ich sah Benedikt dabei nicht an, aber als ich fertig war, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich musste wissen, wie er es fand.
 

„Und?“, fragte ich vorsichtig. Ich spürte einen Luftzug auf meinen Armen, denn mein Hemd hatte ich mir mittlerweile um die Hüften geknotet. Eine Gäsehaut kroch über meinen Körper. „Wie seh ich aus?“
 

Benedikt war noch nie besonders gut darin gewesen, seine Gefühle zu verstecken. Ich mochte das. Aber was ich jetzt gerade sah, raubte mir den Atem. Da war so viel, das in seinem Blick lag. So viel … Liebe, Begehren, irgendwas. Irgendwas, das ich haben und festhalten wollte.
 

„Du siehst toll aus“, würgte er schließlich hervor. „Heiß. Da wirst du bestimmt jemanden finden, mit dem du dich vergnügen kannst.“
 

Als er das sagte, zogen Wolken über den eben noch so strahlend blauen Himmel. Ich schluckte schwer.
 

„Aber ich will nicht irgendjemanden“, sagte ich leise. „Ich … ich will dich.“
 

Er sah mich an, als hätte ich so eben erklärt, dass Hamburgs Bürgermeiste eine Dragqueen war. Irgendwann nach schier unendlich langen Minuten, die sich für mich wie Stunden anfühlten, lachte er bitter auf.
 

„Ja, klar.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich … das hatten wir doch schon.“
 

„Dieses Mal ist es anders.“
 

Benedikt, der sich schon umgedreht hatte, um zum Ausgang zu gehen, blieb stehen. Er schnaufte, drehte sich wieder zu mir herum und fasste mich scharf ins Auge.
 

„Anders?“, fragte er und klang dabei gereizt wie ein Stier mit einem roten Tuch vor der Nase. „Inwiefern? Weil du jetzt weißt, dass du schwul bist? Ja, okay, herzlichen Glückwunsch nochmal. Ich freue mich für dich, ganz ehrlich. Und ich möchte dir wirklich helfen, dabei die ersten Schritte zu machen. Aber ich kann … ich werde mich nicht noch einmal auf dich einlassen.“
 

Ich sah ihn nur an und konnte einfach nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Es schien, als hätte er den Spiegel zerschlagen, hinter dem mein Wunderland hätte liegen sollen. Lange, hässliche Risse zogen sich durch das Bild und warfen mein Gesicht tausendfach gebrochen wieder zurück. Als hätte jede einzelne meiner Lügen sich gegen mich gewandt.
 

„Aber warum nicht?“, wollte ich wissen. Meine Stimme drohte im Gedränge des Bahnhofs unterzugehen.
 

„Warum nicht?“, schnauzte Benedikt regelrecht. „Ich kann dir sagen, warum nicht. Weil du nicht gut für mich bist. Du weißt nicht, was du willst. Heute gefällt es dir vielleicht, schwul zu sein. Aber das nächste Mal, wenn deine Freunde oder noch besser, deine Freundin, auftauchen, da verkriechst du dich wieder im Schrank und lässt mich allein im Regen stehen. Und ich kann das nicht mehr. Ich will das auch nicht mehr. Ich hab mein Herz schon viel zu lange für dich aufgehoben, Theodor. Es ist vorbei.“
 

Ich stand da, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen. Es stimmte alles, was er sagte. Aber ich wollte es doch besser machen. Ich wollte. Und ich hatte sogar schon damit angefangen. Zählte das denn gar nicht?
 

„Ich hab mit Mia Schluss gemacht.“
 

Ich hatte nicht gewusst, wann und wie und ob ich es ihm heute überhaupt sagen sollte. Es klang so einstudiert. Gewollt. Aber jetzt war ohnehin alles egal. Ich hatte nichts mehr zu verlieren.
 

Benedikt sah aus, als hätte er einen Eimer kaltes Wasser abbekommen. In seinem Gesicht kämpften die verschiedensten Emotionen um die Vorherrschaft.
 

„Schluss gemacht? Aber … warum?“
 

Ich atmete tief durch. Diesen Satz hatte ich mir immerhin schon überlegt. Ich wusste, was ich sagen wollte. Trotzdem zögerte ich. Es konnte immer noch schiefgehen. Er konnte mir nicht glauben. Er konnte es lächerlich finden. Aufgesetzt. Pathetisch. Alles war möglich. Aber ich würde es nur herausfinden, wenn ich es aussprach. Also würde ich es tun. Ich würde ihm sagen, welcher Gedanke mich tief in der Nacht dazu bewegt hatte, diese Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung, die den Rest meines Lebens betreffen würde. Selbst, wenn er sich nicht für mich entschied.
 

„Weil es Zeit ist, endlich der zu werden, der ich wirklich bin.“

Du und ich

Benedikt sah mich immer noch an. Er rang um Worte. Ich konnte es sehen. Er wusste nicht, wie er jetzt reagieren sollte. Ich versuchte ein Lächeln.

 

„Ich weiß, das hört sich dumm an. Und ich hab, ehrlich gesagt, auch keine Ahnung, wie ich das anstellen soll oder wo die Reise hingehen wird. Aber ich weiß, dass ich das nicht alleine schaffe. Und deswegen brauche ich dich, Benedikt. Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich wiederhole es gerne noch einmal: Ich brauche dich.“

 

Ich sah genau, dass er sich erinnerte. Dass er sich erinnerte, wie ich es in dieser einen, gemeinsamen Nacht zu ihm gesagt hatte. Denn ja, ich traute mich nicht allein über die Schwelle. Die Furcht, auf der anderen Seite ganz allein dazustehen, saß zu tief. Vielleicht war es armselig, so um Hilfe zu betteln, aber ich brauchte sie wirklich ganz dringend.

 

„Aber das … das reicht nicht“, erwiderte er mit kratziger Stimme. „Ich hab dir gesagt, dass ich dir helfe, aber … mehr nicht.“

 

„Aber warum nicht?“

„Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich auch Angst habe.“

 

Die Heftigkeit, mit der er mir diesen Satz entgegenschleuderte, ließ mich zusammenzucken. Plötzlich wurde mir wieder bewusst, dass hinter den Erfahrungen und der Abgeklärtheit immer noch jemand saß, der verletzlich war. Jemand, den ich verletzt hatte. Mehr als einmal. Weil ich in meiner egozentrischen Blindheit nicht richtig hingesehen hatte. Weil ich mich versteckt und ihn im Stich gelassen hatte. Der Schmerz darüber schnitt tief in mein Herz. Aber gleichzeitig klopfte es schneller und schneller in meiner Brust. Weil der Grund, warum ich ihn so tief hatte treffen können, einer war, der mich hoffen ließ. Hoffen darauf, dass doch nicht alles verloren war. Selbst jetzt, als er sich abwandte und sein Gesicht vor mir verbarg, weil er es nicht ertrug, mich noch länger anzusehen. In diesem Moment verstand ich, was ich Benedikt wirklich angetan hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das je wieder gutmachen konnte, aber ich wusste, dass ich es versuchen musste.

 

Noch während ich danach trachtete, die richtigen Worte zu finden, tippte mir auf einmal jemand auf die Schulter. Ich sah zur Seite und dann nach oben, von wo mich ein mit glitzerndem Lidschatten, falschen Wimpern und einem tiefviolett geschminkten Kussmund versehenes Gesicht ansah. Die ehemals wohl sehr viel üppigeren Augenbrauen waren pinselstrichdünn gezupft und bildeten einen perfekten Rahmen um das fast schon maskenhaft anmutende Ensemble. Das Ganze schwebte über einem Stretchkleid aus fliederfarbenen Pailletten, das sich zwar an den richtigen Stellen ausbuchtete, aber mit Sicherheit keinen Frauenkörper verbarg. Daran änderte auch die platinblonde Langhaarperücke nichts.

 

„Hey, Schätzchen, sag mal. Was ist hier los?“, wollte die „Dame“ von mir wissen.

 

„Ich … äh. Ich versuche ihm gerade klarzumachen, dass ich in ihn verliebt bin.“

 

„Ach wie aufregend“, kiekste die violette Queen und klatschte zweimal in die Hände. „Und wie hat er reagiert?“

 

Ich verzog das Gesicht. „Nicht besonders gut.“

 

Sie maß mich einmal von oben bis unten mit einem Blick, der ohne Probleme bis zu meiner Unterwäsche vorzudringen schien.

 

„Und warum nicht? Du bist doch ein ziemliches Schnittchen.“

 

Ich lächelte wegen des Kompliments, wurde jedoch sofort wieder ernst. Erneut sah ich hinüber zu Benedikt. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht, aber er ging auch nicht.

 

„Weil ich einen Riesenfehler begangen habe und zwar noch einen viel größeren, als ich eigentlich angenommen hatte.“

 

Die Queen wedelte mit ihren künstlichen Fingernägeln.

 

„Ach, papperlapapp. Jeder macht mal einen Fehler. Dann kann man hingehen und sich entschuldigen.“ Ich wollte gerade erwidern, dass eine Freundin mir das auch schon geraten hatte, als die Queen ungerührt fortfuhr: „Und dann hat man geilen und schmutzigen Versöhnungssex und die Sache ist wieder geritzt.“

 

Ich konnte nicht anders, ich musste einfach ein bisschen lachen. Auch die Mundwinkel der großen Lady hoben sich.

 

„Siehst du, so sieht die ganze Sache doch gleich viel freundlicher aus. Und wie überzeugen wir jetzt dein Schnuckelchen davon?“

 

Ich ließ meinen Blick von der üppig geschminkten Königin der Nacht wieder zu Benedikt wandern. Anschließend schenkte ich der Queen ein verzweifeltes Lächeln.

 

„Ich glaube, da gibt es nur eine Möglichkeit. Drück mir die Daumen, dass es funktioniert.“

 

Ich ging ein paar Schritte auf Benedikt zu. Mein Herz hämmerte dabei zunehmend schneller gegen meine Rippen und meine Handflächen begannen zu schwitzen. Ich befand mich mitten in einem Bahnhof voller Menschen und war im Begriff, das absolut Bescheuertste zu tun, das man an so einem Ort wohl tun konnte. Gleichzeitig erschien mir das die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb. Die einzige Möglichkeit geradezubiegen, was ich verbockt hatte. Die einzige Möglichkeit auf eine zweite Chance. Dieses Mal durfte ich es nicht wieder vermasseln.

 

Ich wartete noch, bis ein Pulk wild grölender Jungs vorbeigezogen war und als ihre Pfiffe verhallt waren, öffnete auch ich den Mund, um zu singen. Laut und klar und für alle hörbar.

 

Du und ich

Das könnte so gut sein

Das könnte so groß sein

 

Als die ersten Worte des Refrains erklangen, ruckte Benedikts Kopf nach oben. Ich konnte es anhand seiner Haltung nur erahnen, aber ich hatte das Gefühl, das er für einen Moment den Atem anhielt. Als er sich zu mir umdrehte, stand sein Mund offen. Fast glaubte ich, seine Gedanken zu hören. Zwischen all den Menschen, den Stimmen, den Zügen und Gleisdurchsagen war er wie ein Leuchtfeuer. Alles an ihm schrie danach zu fliehen. Sich endlich aus dem Staub zu machen. Sich und seine Gefühle vor dem Monster in Sicherheit zu bringen, dass da vor ihm stand und ihn mit süßer Sirenenserenade lockte. Doch ich … ich hoffte, dass er mich erhörte. Dass er mir glaubte, dass ich sein Schiff nicht auf die Klippen locken wollte. Dass ich es dieses Mal wirklich besser machen wollte. Ich hoffte, dass er den vielen Stimmen nicht folgte, sondern nur der einen. Der, die mit mir im Einklang sang.

 

Vorsichtig wagte ich ein Lächeln. Ich wusste, dass mich die Leute vermutlich angafften, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber das war mir egal. Der einzige Mensch, der für mich zählte, war Benedikt. Deswegen versuchte ich es noch einmal.

 

Mein Herz versucht mich bei der Hand zu nehmen

Es sagt: Hab nur Mut

Aber mein Kopf zählt mir tausend Dinge auf

Die mich wieder zweifeln lassen

 

Doch du und ich

Das könnte so gut sein

Das könnte so groß sein

 

Benedikt ballte die Hände zu Fäusten. Ich wusste nicht, ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Doch wenn ich den Ausdruck in seinen Augen sah, dann war das vielleicht … eine Chance.

 

Ich hörte auf zu singen. Die Bahnhofsgeräusche übernahmen wieder die Kulisse und eine Gruppe junger Leute fiel sich auf dem Bahnsteig nebenan lachend und laut rufend in die Arme. Sie hatten Plakate und Schilder dabei und waren über und über mit Regenbogenfahnen geschmückt. Anscheinend waren auch sie auf dem Weg zur Demonstration. Ich schluckte leicht.

 

„Und?“, fragte ich so leise, dass Benedikt es eigentlich gar nicht hören konnte. „Was sagst du? Mach ich mich lächerlich?“

 

Benedikt antwortete nicht sofort. Er stand einfach nur da, als hätte ihn jemand an den Boden genagelt. Passanten eilten vorbei und ich sah, wie sich die Gruppe mit den Schildern im Hintergrund auf die großen Rolltreppen zubewegte. Ein Zug aus Frankfurt wurde angekündigt und eine Verspätung durchgegeben. Ich hörte nicht mehr zu. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf Benedikts Reaktion.

 

„Ich … ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll.“

 

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich neben mir ein Schnaufen.

 

„Gott, Schätzchen. Der Kerl hier hat einen Hintern zum Nüsseknacken. Und er hat dir gerade vor all diesen Leuten ein Ständchen gebracht. Was willst du denn noch?“

 

Die Queen in dem violetten Paillettenfummel verdrehte die Augen, aber Benedikt beachtete sie kaum. Sein Blick ruhte immer noch auf mir.

 

„Ich glaube, er wartet noch auf eine Erklärung“, sagte ich mehr um mich selbst das entscheidende letzte Stück voranzuschieben. Denn ich war noch nicht fertig. Wieder wagte ich ein halbes Lächeln.

 

„Ich hab dir im Zeltlager schon gesagt, dass das Lied nicht für Mia war. Als ich es geschrieben habe, hatte ich niemand bestimmten im Sinn. Dachte ich zumindest. Aber eigentlich … eigentlich habe ich das Stück für dich geschrieben. Ich hab mir damals eingeredet, dass ich dich nur beeindrucken wollte. Dass ich nur irgendwas Cooles singen wollte, damit du … mich leiden kannst. Ich wollte dir was vormachen, so wie ich es mit fast allen mache. Aber bei dir funktioniert das nicht. Du lässt dich von dem ganzen Schnick und Schnack nicht täuschen. Du bist echt. Genau wie meine Gefühle für dich. Und ich … ich wünschte wirklich, dass ich das schon früher erkannt hätte. Ich weiß nicht, ob es wirklich geklappt hätte. Ob ich … ob wir das damals hingekriegt hätten. Aber wenn ich noch einmal mit dir an diesem Strand säße, dann wüsste ich, was ich tun würde.“

 

Ich machte eine kleine Pause, um zu sehen, wie er es aufnahm. An Benedikts Gesicht war nichts abzulesen. Absolut gar nichts. Er starrte mich einfach nur an. Trotzdem nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte auch noch das Letzte, was es zu sagen gab.

 

„Also wenn ich wirklich unglaublich viel besser in Physik wäre, als ich es tatsächlich bin – und wir wissen beide, dass ich in dem Fach eine absolute Niete bin – und wenn es entgegen aller bisher bekannten Naturgesetze irgendwie möglich wäre, eine Zeitmaschine zu bauen, dann würde ich zu diesem Punkt zurückreisen. Und ich würde mich für dich entscheiden. Weil es schon immer du gewesen bist, den ich gewollt habe. Schon immer und ewig.“

 

Als ich meine Ansprache beendet hatte, klappte ich meinen Mund wieder zu. Ich hatte alles getan und alles gegeben, was ich zu geben hatte. Jetzt war es an Benedikt zu entscheiden.

 

Ich hörte die Queen neben mir scharf einatmen. Danach folgte ein Seufzen, das sich gewaschen hatte. Es zerstörte die Anspannung und ich sah ein wenig irritiert zu den vielen glitzernden lila Pünktchen hinüber, die sich jetzt hektisch bewegten, als die Queen in ihrem unglaublich kleinen Handtäschchen herumnestelte.

 

„Ach Gottchen, Jungs. Ehrlich. Ihr kostet mich noch meinen Lidstrich. Das dumme Fixierspray war nämlich alle und das ausgerechnet heute. Ist denn das zu glauben? Zwei Stunden Arbeit und dann alles für die Katz. Wo hab ich denn nur ... Ach scheiße!“ Sie sah hoch und mich mit glasigen Augen an. „Hast du mal ein Taschentuch für mich?“

 

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte kein Taschentuch einstecken. Hatte ich schon früher nie gehabt.

 

„Hier“, sagte da plötzlich eine Stimme dicht vor mir. Als ich mich umdrehte, stand ich direkt vor Benedikt. Er reichte der Queen doch tatsächlich ein sauberes und unbenutztes Papiertaschentuch. Sie nahm es und tupfte damit vorsichtig und unter äußerster Konzentration an ihren Augenwinkeln herum. Als sie damit fertig war, strahlte sie Benedikt an.

 

„Danke, Schätzchen. Du hast meinen Tag gerettet.“

 

Er nickte, offenbar auch etwas überfordert von diesem penetranten Publikum, aber die Queen war noch nicht fertig. Sie legte ihre wirklich große Hand mit den zentimeterlangen Gelnägeln auf Benedikts Schulter, und drückte sie ein wenig.

 

„Und weil Bella B. keinen Gefallen unerwidert lässt, will ich dir jetzt mal einen Rat geben, Süßer. Wenn ich in meinem Leben alle Männer abgewiesen hätte, die mich später unglücklich gemacht haben, dann säße ich heute als alte, vertrocknete Jungfrau irgendwo in Bargteheide herum und hätte mindestens 37 Katzen. Also schnapp dir den Prachtkerl und zieh ihn durch die Laken, bis ihr beide nicht mehr sitzen könnt. Und das meine ich ganz wörtlich. Ihr seid nur einmal jung. Macht was draus.“

 

Damit ließ die Queen Benedikt wieder los und warf einen Blick auf ihre strassbesetzte und an ihrem Handgelenk unglaublich winzig wirkende Armbanduhr.

 

„Huch!“, machte sie und richtete sich auf. „Ich muss flitzen. Wenn ich auf diesen Absätzen länger als ne halbe Stunde laufen muss, fallen mir heute Abend die Füße ab. Also dann. Man sieht sich.“

 

Sie schenkte uns beiden noch ein strahlendes, knallviolettes Lächeln, bevor sie sich in Pose warf und mit den längsten Schritten, die ihr enges Kleid gerade noch erlaubte, den Bahnsteig entlang eilte. Ich blickte ihr noch einen Augenblick lang nach, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder Benedikt zuwandte. Er schaute mich ebenfalls an.

 

„Und jetzt?“, fragte ich leise.

 

Er atmete hörbar aus.

 

„Ich weiß nicht“, sagte er ehrlich. „Ich … ich hab mir diese Frage in den letzten Tagen schon so oft gestellt. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ein Teil von mir wünscht sich wohl, dass es tatsächlich wahr wäre. Dass dies ein Märchen wäre und es am Ende ein Happy End gibt. Aber … das hier ist kein Märchen. Keine Kindergeschichte, wo am Ende alle wieder aufstehen und zusammen ein Schlusslied singen. Das hier ist echt.“

 

Ich ließ den Kopf ein wenig nach unten hängen. Mit dieser Antwort hatte ich rechnen müssen. Natürlich hatte ich gehofft, dass sie anders ausfallen würde, aber …

 

„Gib mir einfach noch ein bisschen Zeit“, sagte er leise. „Ich … ich muss erst noch darüber nachdenken."

 

„Okay.“

 

Ich versuchte wirklich, diese absolut uneloquente Aussage mit einem Lächeln zu unterstreichen, aber es gelang mir nicht. Bleigewichte zogen meine Mundwinkel unablässig nach unten.

 

Benedikt räusperte sich.

 

„Wollen wir … also … wollen wir trotzdem noch auf die Demo?“

 

Ich blinzelte. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, warum wir hier waren. Der ursprüngliche Grund war hinter meinem persönlichen Drama zurückgetreten. Aber er hatte Recht. Eigentlich waren wir ja wegen etwas anderem hergekommen. Ich nickte leicht.

 

„Ja, lass uns gehen“, antwortete ich. Jetzt schaffte ich es sogar, ein wenig zu lächeln.

 

Wie in Trance folgte ich dem Menschenstrom, der sich immer noch auf die großen Rolltreppen zubewegte. Über uns spannte sich das verglaste Kuppeldach der Halle und öffnete den Blick auf den wolkenlosen Sommerhimmel. Es war ein wundervoller Tag, überall gab es große und kleine Regenbögen. Menschen, die ausgelassen feiern wollten. Die sich hierher bewegt hatten, um für die Rechte und die Freiheit für so Ochsen, wie ich einer war, einzutreten. Da sollte ich ein wenig dankbarer sein.

 

Dankbar? Dankbar wofür? Dass ich gerade einen Tritt in den Allerwertesten bekommen habe, der sich gewaschen hat? Wohl kaum!

 

Die nörgelnde Stimme wollte sich noch weiter echauffieren, aber ich ließ sie nicht. Ich gab ihr ebenfalls einen Tritt und beförderte sie irgendwo zwischen die Gleise, wo sie mit gebrochenen Gliedern liegenblieb und langsam vor sich hin siechte. Als Nächstes wollte ich mich dazu bringen, den Kopf wieder zu heben. Dem Tag entgegenzusehen, auf den ich schon so lange gewartet hatte. Aber noch bevor ich so weit kam, spürte ich plötzlich eine Berührung an meinem Arm. Es war Benedikt, der mich gepufft hatte.

 

„Hey, ich hab nicht Nein gesagt. Ich hab nur gesagt, dass ich noch ein bisschen Zeit brauche, um mich an den Gedanken zu gewöhnen.“

 

Wie von selbst begann sich ein Lächeln auf meinem Gesicht auszubreiten.

 

„Heißt das, ich bekomme meine Chance?“

 

Benedikt vermied, mich anzusehen. Sein Blick irrte überall hin. Hinauf zum Glasdach, über die vielen Leuchtreklamen und Werbeplakate, die Züge und die Gesichter der Menschen, die wie emsige Ameisen um uns herumströmten und uns einfach mitrissen. Der Metallboden einer Rolltreppe erschien plötzlich unter meinen Füßen und ohne groß darüber nachzudenken, trat ich auf eine der Stufen. Benedikt folgte mir und stellte sich neben mich. Jetzt endlich sah er mich an.

 

„Hast du das Lied echt für mich geschrieben?“

„Ja.“

 

Er schien zu überlegen. Seine Stirn kräuselte sich und die erste Ahnung eines Grinsens huschte über sein Gesicht.

 

„Singst du es mir auch nochmal ganz vor?“

„So oft du willst.“

 

Wieder wandte er den Blick ab, aber ich hatte gesehen, dass er lächelte. Unwillkürlich schoben sich auch meine Mundwinkel weiter nach oben und ein Kribbeln begann sich von meinem Bauch aus in meinem gesamten Körper zu verbreiten. Es fühlte sich an, als würde man mit einem Fahrstuhl viel zu schnell nach unten fahren. Dabei waren wir doch auf dem Weg nach oben. Wir waren auf dem Weg nach oben!

 

„Ich singe dir jedes Lied, das du willst“, versprach ich. „Meinetwegen auch um drei Uhr nachts oder vor der gesamten Schule. Ich … ich will einfach nur, dass du … dass wir …“

 

Ich wollte eigentlich noch viel mehr sagen, aber dann erinnerte ich mich gerade noch rechtzeitig daran, dass Benedikt sich Bedenkzeit ausgebeten hatte. Daher klappte ich den wieder Mund zu und schwieg. Innerlich glaubte ich jedoch gleich platzen zu müssen. Er hatte gesagt, er würde es sich überlegen. Ich musste nur warten. Nur noch ein kleines bisschen warten, dann würde er ... vielleicht ...

 

Die Rolltreppe erreichte das obere Ende und ergoss ihre Passagiere in die Massen, die sich hier oben auf der Promenade bereits dicht an dicht drängten. Trotzdem floss der „Verkehr“. Auch Benedikt und ich wurden unweigerlich mitgerissen und einem der Ausgänge aus der Wandelhalle zugetragen. Ich konnte nur hoffen, dass es der richtige war.

 

Kurz davor, als das Gedränge dichter wurde, weil es sich durch das Nadelöhr der breiten Ausgangstür quetschen musste, fühlte ich plötzlich eine Berührung an meiner Hand. Es war Benedikt, der nach meinen Fingern griff.

 

„Damit wir uns nicht verlieren“, erklärte er und konnte mir dabei nicht in die Augen sehen. Er war wirklich ein schlechter Lügner.

 

Trotzdem nahm ich die Ausrede an. Ich griff ebenfalls nach seiner Hand und gemeinsam ließen wir uns nach draußen treiben. Dort war es warm und laut und man konnte schon von Weitem die ersten Wagen der großen Parade sehen, die in diesem Augenblick startete. Man hörte ein Aufjubeln, das durch die Menschenmenge ging, die sich am Straßenrand versammelt hatte.

 

„Es geht los“, sagte Benedikt unnötigerweise. Er fasste meine Hand fester und zog mich nach vorne in Richtung der Absperrungen. Wie wir es schafften, uns durchzuschummeln, war mir zwar ein Rätsel, aber irgendwann standen wir ganz vorne an den rot-weiß gestreiften Bändern. Benedikt hielt immer noch meine Hand und durch die beengten Gegebenheiten, wurden wir beide dicht aneinander gedrängt. Ich fühlte seinen Körper an meinem ebenso wie den regenbogengestreiften Plüschanzug meines Nebenmannes. Der wieherte, als das erste Spruchband in Sicht kam.

 

„Also ich nicht. Ich bin ein Einhorn.“

 

Ich hörte ihn noch einmal wiehern und sah dann endlich, worauf er sich bezog. Ganz vorne hinter einigen Polizeiwagen ging eine Reihe von Menschen, unter denen ich auch den Bürgermeister der Stadt entdeckte. Sie trugen ein Plakat vor sich her, das neben der in allen Farben gestreiften Regenbogenflagge noch viele weitere zeigte. Da waren violette und grüne, schwarz, grau und rosa, gelb und blau gestreifte. Keine davon sah aus, als würde sie zu einem Land gehören, dass ich kannte.

 

„Wofür stehen die Flaggen?“, wollte ich wissen. Benedikt legte die Stirn in Falten.

 

„Also alle kenne ich auch nicht, aber ich vermute mal, dass das alles LGBTQ-Flaggen sind. Die rosa-gelb-blaue steht zum Beispiel für Pansexuelle. Die violett-weiß-grau-schwarze ist das Zeichen für Asexualität. Die mit dem Regenbogen dürftest du ja kennen und die rosa, weiß, hellblaue ist die für Transgender.“

 

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Jetzt erschloss sich mir auch der Sinn des Spruchs, der zwischen den bunten Symbolen prangte. Er war ganz in schwarz gehalten und lautete:

 
 

Weil wir alle nur Menschen sind

 

Über das "nur" hatte jemand ein dickes, rotes Kreuz gesetzt.

 

„Ich hab gelesen, dass es dieses Jahr nicht nur um gleiche Rechte gegenüber Heterosexuellen geht, sondern auch um Toleranz innerhalb der Community. Das war übers Jahr gesehen immer mal Thema.“

 

Benedikt hatte mich nicht angesehen, als er das sagte, aber ich verstand trotzdem, was er gemeint hatte.

 

„Auch für so Spinner wie mich?“

 

Nach meiner Frage drehte Benedikt sich nun doch zu mir um. Er lächelte.

 

„Besonders für so Spinner wie dich.“

„Und wenn diese Spinner wieder Schiss kriegen und sich im Schrank verstecken wollen?“

„Dann helfen wir ihnen eben wieder heraus.“

„Und wenn …?“

 

Benedikt ließ mich nicht ausreden.

 

„Dann kriegen wir auch das gemeinsam hin.“

 

Ich schluckte und ich wusste, dass ich mich wahrscheinlich um Kopf und Kragen redete, aber ich musste es einfach wissen.

 

„Und uns? Kriegen wir das auch hin?“

 

Benedikts Antwort bestand aus einem Schnauben.

 

„Oh man, Theo. Du bist echt eine Nervensäge, weißt du das?“

 

Damit drehte er sich wieder dem Umzug zu und ich dachte schon, dass ich es jetzt endgültig vergeigt hatte, da hörte ich ihn noch einmal schnauben.

 

„Ach scheiß drauf“, fluchte er, machte sich von meiner Hand los, drehte sich zu mir um, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und presste seinen Mund ganz fest auf meinen.

 

Ich war im ersten Moment wie gelähmt. Wusste nicht, was ich tun sollte. Doch dann ging mir plötzlich auf, dass er mich küsste. Er küsste mich! Und wie er das tat. Mit einer Leidenschaft und Hingabe, die meine Knie weich und mich in seinen Armen zu Wackelpudding werden ließ. Erst, als er den Kuss beendete, wurde mir bewusst, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.

 

Benedikt lächelte leicht und fuhr mit dem Daumen über meine Wange, bevor sein Gesicht wieder ernst wurde.

 

„Der war für Singen und der hier“, er berührte kurz meine Lippen mit seinen, „ist dafür, dass du den Mut hattest, es zuzugeben. Aber mehr gibt es jetzt nicht. Und wenn du und diese Bella euch auf den Kopf stellt und mit dem Arsch Fliegen fangt. Weitere Zuneigungsbekundungen musst du dir erst noch verdienen.“

 

Ich grinste, immer noch ganz berauscht von dem Kuss, und nickte.

 

„Ich werd mir Mühe geben.“

„Na das will ich doch stark hoffen.“

 

Damit griff er wieder mit der einen Hand nach meiner, hob mit der anderen das Absperrband und zog mich einfach darunter hindurch.

 

„Jetzt wird aber erst mal demonstriert.“

 

Ich ließ mich von ihm mit in den Pulk ziehen und versuchte, mir nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen, ob und wer uns jetzt alles dabei zusah. Im Grunde hatte ich dem hier ja schon zugestimmt, als ich zu Hause in den Zug gestiegen war. Und plötzlich war es auch gar nicht mehr so wichtig, ob mich jemand aus der Welt, aus der ich kam, hier sehen würde. Es machte mir nichts mehr aus, denn ich wusste, dass ich endlich angekommen war. In „meiner“ Welt. Und dass sich das einfach mal verdammt gut anfühlte.

Liebe unterm Regenbogen

Während ich inmitten der Menschenmenge voranschritt, die sich in einem schier endlosen Zug durch die Straßen von Hamburg wälzte, oder mich ab und an mit Benedikt an den Rand stellte, um noch mehr von dem ganzen Spektakel zu sehen zu bekommen, kamen meine Augen kaum hinterher, die unglaubliche Vielfalt zu erfassen, die um mich herum tanzte, feierte, lachte und sich von ihrer buntesten Seite zeigte.

 

Da gab es schillernde Dragqueens, die unsere Begegnung mit Bella B. mit Leichtigkeit in den Schatten stellten. Menschen in Verkleidungen aller Art vom nur mit einigen Federn bedeckten Paradiesvogel bis hin zum Ganzkörper-Lederoutfit inklusive Maske und Hundeleine. Es gab Kinder, die in ihren Buggys fleißig Regenbogenflaggen schwenkten, und gleich daneben eine ältere Dame mit einem Rollator, die sich mit einem großen, bunten Regenbogenschirm vor der Sonne schützte. Wir bewunderten junge Männer, die nichts trugen außer einem Bodypainting und einem mehr als knappen String, und schwarz vermummte Gothics, bei denen es mich wunderte, dass sie in ihren stoffgewaltigen Outfits bei der Hitze nicht umkippten.

 

Schwarze Engel wechselten sich mit guten Feen ab. Weitere Einhörner sprangen durch den Zug ebenso wie Schmetterlinge, Meerjungfrauen, Frösche und Froschprinzessinnen. Es gab Vertreter aus anderen Ländern, in denen Homosexualität immer noch gesetzlich verboten war, neben Menschen mit Pappschildern, auf denen sie Umarmungen für jedermann anboten. Wir trafen auf schwule und lesbische Fußballfans, Motorradfahrer, Skateboarder, Metalheads, Technojünger, Schlagerkönige und -königinnen und sie alle waren vereint unter den Farben des Regenbogens. Dazwischen fuhren immer wieder die großen Partytrucks, die ebenfalls voller bunt gekleideter Leute waren und einen Hit nach dem anderen in die feiernde Menge pumpten. Vor allem aber gab es tausende und abertausende ganz normale Menschen. Menschen, wie mich und Benedikt, die einfach nur hier hergekommen waren, um einen Tag lang für ein besseres und freieres Leben für alle zu demonstrieren.

 

In der großen Einkaufsstraße, in der sich Geschäft an Geschäft reihte, blieb der Zug stehen. An der Spitze hielt jemand eine Rede, deren Wortlaut per Megafon zwischen den Häusern widerhallte. Ich verstand zwar nur die Hälfte dessen, was gesagt wurde, aber als mir das gepiercte Mädel mit den grünen Haaren und dem schwarzen Lippenstift, das neben mir stand, mit einem breiten Lächeln die Hand reichte, ergriff ich sie einfach. An der anderen Seite hielt ich Benedikts Hand, der wiederum die eines bierbäuchigen Bartträgers mit einer Plastikblumenkette um den Hals erfasst hatte. Ich wusste, dass wir an einem anderen Tag oder an einem anderen Ort vermutlich nie ein Wort mit den beiden gewechselt hätten. Aber hier und heute waren wir alle Teil eines großen Ganzen. Teil von etwas, das nicht zu übersehen war, und das genau richtig war, so wie es war. Heute musste ich nichts erklären. Ich musste keine Angst haben. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, ob mein Gegenüber verstehen würde, wie es mir ging, oder ob mich derjenige komisch, abstoßend oder sonst irgendwas finden würde. Heute befand ich mich unter „meinesgleichen“ und das war so unheimlich befreiend, dass ich mir vorkam wie der eiserne Heinrich im Märchen, dem die Bande um sein Herz zersprangen, weil sein Herr endlich von dem bösen Fluch befreit worden war. Heute war alles möglich.

 

 

Als der Demonstrationszug schließlich am Jungfernstieg zu Ende ging und die Teilnehmer nach und nach begannen, sich in alle Richtungen zu verstreuen, fand ich mich mit Benedikt zusammen auf dem Straßenfest wieder. Rund um die Binnenalster warteten allerlei Stände auf zahlungswillige Kundschaft und auf verschiedenen Bühnen wurden große und kleine Showacts geboten. Wie es aussah, gab es hier nichts, was es nicht gab, von der einfachen Würstchenbude bis hin zum mobilen Tätowierstudio. Während ich noch dabei zusah, wie sich jemand das Logo des diesjährigen CSD auf dem linken Schulterblatt verewigen ließ, stieß mich Benedikt in die Seite.

 

„Hey, wie sieht's aus? Hast du Hunger?“

 

Seine Frage ließ mich zum ersten Mal seit Stunden wieder daran denken, dass es mehr gab als Zuschauen, Tanzen und Feiern.

 

„Nein, nicht wirklich. Aber was zu Trinken wäre vielleicht ganz gut.“

 

Ich spürte gerade zwar weder Hunger noch Durst, doch ich wusste, dass die kleine Flasche Wasser, die wir uns während der Demonstration geteilt hatten, bei Weitem nicht ausreichte, um uns über den Tag zu bringen. Wir steuerten also einen der Stände an, an denen Essen und Trinken unter das Regenbogenvolk gebracht wurden, und setzten uns eine ziemlich lange Wartezeit später jeder mit einem Becher in der Hand auf eine Bank. Eigentlich war es mehr ein langer Betonklotz, den irgendjemand an die Alster gesetzt hatte, aber da die behelfsmäßigen Sitzgelegenheiten auch von anderen fleißig benutzt wurden, befanden wir uns in guter Gesellschaft. Mit einem nicht sehr prunkvollen Klappern stießen wir unsere Trinkgefäße gegeneinander.

 

„Happy Pride!“, sagte Benedikt, bevor er einen großen Schluck nahm und mich danach angrinste. „Und? Bereust du es, mitgekommen zu sein?“

 

Ich antwortete nicht sofort, sondern ließ meinen Blick zunächst über die Alster wandern. Die berühmte Wasserfontäne spritzte vor dem Hintergrund der vielstöckigen, weißen Stadthäuser bestimmt fast hundert Meter hoch in die Luft, um uns herum redeten, lachten, aßen und tranken die Leute und der Wind wehte Musik von den verschiedenen Bühnen zu uns herüber. All das bildete im Hintergrund ein wuselndes und wimmelndes Geräuschmischmasch, das hier am Wasser jedoch eigenartig gedämpft erschien. Es war, als wäre man von der Bühne hinter die Kulissen geraten, wo nach einer gelungenen Premiere alle erst einmal verschnaufen mussten, bevor am Abend die zweite Vorstellung sattfinden würde. Es war die Ruhe nach oder vor dem Sturm, je nachdem wie man es betrachten wollte. Am Ende kehrte mein Blick zu Benedikt zurück, der mich immer noch erwartungsvoll ansah.

 

„Nein, gar nicht“, versprach ich mit einem Lächeln.

„Ganz sicher nicht?“

„Ganz sicher nicht.“

 

Er lächelte, bevor er sich zu mir rüberbeugte und mir einen Kuss auf die Wange hauchte. Es war nur eine kurze Berührung. Wesentlich weniger intensiv, als all die Schmatzer, die ich während der Parade bekommen hatte. Und doch war das hier viel intimer. Statt mich jedoch zurückzuziehen, wie ich es eigentlich im ersten Moment tun wollte, rückte ich ein Stück näher an ihn heran. Unsere Schultern berührten sich und ich lehnte meinen Kopf an seinen. Ich spürte, wie er erneut lächelte.

 

„Was denn? Bist du etwa kuschelig?“

„Keine Ahnung. Sag du es mir.“

 

Ich grinste, während ich das sagte, und hörte ihn im Gegenzug leise lachen.

 

„Keine Ahnung. Ist schon lange her, dass ich das herausfinden konnte. Und ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht so wirklich, ob wir danach gekuschelt haben.“

 

Ich lächelte und schob die Erinnerung daran, wie dämlich ich mich am nächsten Tag benommen hatte, beiseite. Stattdessen griff ich wieder nach Benedikts Hand. Er verschränkte unsere Finger ineinander. Eine Weile lang saßen wir einfach nur da und sahen aufs Wasser hinaus. Ich merkte, wie ich immer ruhiger wurde. Es war wahnsinnig schön, hier mit ihm zu sitzen und der Zeit beim Verstreichen zuzusehen. Irgendwann drehte ich den Kopf und sah Benedikt an.

 

„Was?“, fragte er und lächelte dabei. Ich erwiderte es.

 

„Ich hab mich grad gefragt, ob eigentlich deine Ansage aus dem Zeltlager noch gilt.“

„Welche?“

„Dass ich dich nicht einfach küssen darf.“

 

Er blinzelte. Ich konnte sehen, wie er darüber nachdachte. Wir wussten beide, dass mehr hinter dieser Frage steckte. Ich war einen Schritt auf ihn zugekommen. Eigentlich sogar zwei. Jetzt war es an ihm, den nächsten zu machen. Er öffnete den Mund.

 

„Werde ich es bereuen, wenn ich es dir erlaube?“

 

Mein erster Impuls war es, einfach Nein zu sagen. Aber andererseits … ich wollte ihn. Nicht nur kurz. Ich wollte ihn ganz. Mit allem, was dazu gehörte. Das würden sicherlich nicht nur gute Zeiten werden. Wenn ich daran dachte, was zu Hause noch auf mich wartete, war mir klar, dass es nicht einfach werden würde. Dass uns der eine oder andere Kampf bevorstand. Gegen innere und äußere Dämonen. Aber andererseits war da dieser … Mann, Junge, was auch immer, der hier vor mir saß und von dem ich einfach wusste, dass er es war. Die Vorstellung machte mir Angst und war gleichzeitig so wunderbar, dass es mir den Atem nahm.

 

Ich versuchte ein Lächeln.

 

„Keine Ahnung“, gab ich zu. „Aber wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nicht herausfinden.“

 

Ich sah, dass er immer noch zögerte. Also kam ich ein Stück näher und flüsterte ihm ins Ohr:

 

„Ich kann auch nochmal singen, wenn das hilft.“

 

Eine hauchzarte Gänsehaut kroch seinen Hals empor und seine Kiefermuskeln bewegten sich, als er erneut leise lachte.

 

„Du meinst wohl, dass du mich damit rumkriegst.“

 

Ich grinste ihn an.

 

„Weiß nicht. Funktioniert es?“

 

Er lehnte sich zurück, um mich anzusehen. In seinen Augen lag ein warmer Glanz.

 

„Ja, tut es“, sagte er leise. „Leider viel zu gut.“

 

Meine Augenbrauen zuckten. Wie meinte er das? Warum leider? Als ich ihn danach fragte, wurde sein Lächeln schmaler.

 

„Weil du … weil du jemand bist, den man nicht für sich allein haben kann. Da gibt es immer andere um dich herum, die dich bewundern, die dich anhimmeln. Und ich hab Angst, dass du … dass du mich irgendwann einfach ersetzt.“

 

Er sah jetzt traurig aus. Der Anblick schnürte mir das Herz ab.

 

„Aber wie kommst du darauf?“

 

Er seufzte.

 

„Erinnerst du dich noch an den Abend im Camp, als du für die drei L’s gesungen hast? Ich saß an dem Abend im Publikum und gab mir die ganze Zeit gewünscht, dass du dieses Lied für mich singst und nicht für irgendein Mädchen. Aber auf der anderen Seite war mir klar, dass …“

 

„Dass du ein riesengroßer Idiot bist?“, unterbrach ich ihn schnell.

 

Ich lachte, denn das war nun wirklich zu komisch. Benedikt sah mich verdattert an.

 

Idiot? Warum das denn?“

„Na weil das Lied für dich war. Hast du denn den Anfang der zweiten Strophe nicht erkannt? Die Stelle mit dem Sakura. Damit warst du gemeint. Weil du doch damals im Kunstunterricht diesen Kirschblütenzweig gemalt hast. Es war der Tag, an dem ich dich gefragt habe, ob du bei Holger im Laden arbeiten willst. Weißt du noch?“

 

Verstehen tröpfelte langsam auf Benedikts Gesicht und breitete sich darauf aus. Seine Mundwinkel zuckten.

 

„Im Ernst jetzt?“

„Ja!“

 

Er lachte leicht und sah zu Boden.

 

„Oh man“, machte er und schüttelte den Kopf, bevor er mich wieder ansah. Sein Gesicht schien von innen heraus zu leuchten. „Ich … ich hab es damals nicht ausgehalten und bin gegangen, bevor die Stelle kam.“

 

Jetzt war ich es, der dumm aus der Wäsche schaute.

 

„Du meinst, du hast das gar nicht gehört?“

„Nein.“

„Ohne Scheiß jetzt?“

„Ohne Scheiß.“

 

Ich sah ihn noch einen Augenblick lang an, bevor ich anfing zu lachen. Ich lachte und lachte, sodass mich die Leute schon komisch anguckten, aber das war mir egal. So was von herzlich egal.

 

Als unser gemeinsames Gelächter langsam abebbte und wir nur noch vereinzelt glucksten, zog Benedikt mich näher an sich heran.

 

„Also“, sagte er langsam und klang dabei seltsam feierlich, „hiermit erteile ich dir die Erlaubnis, mich zu küssen, wann und wo immer du es willst.“

 

Ich tat, als müsste ich überlegen.

 

„Auch mitten in der Nacht?“

„Ja.“

„Auch vor allen Leuten?“

„Ja.“

„Auch morgens nach einem Abend, an dem ich gesoffen und Döner mit extra viel Knoblauchsoße gegessen habe?“

 

Das Lächeln auf Benedikts Gesicht verschwand.

 

„Äh, na ja. Also wenn ich es mir recht überlege …“

 

Ich grinste. Auf diese Frage hatte ich gar kein Ja erwartet. Dafür war die nächste Frage umso wichtiger.

 

„Und jetzt?“, flüsterte ich fast unhörbar. „Darf ich dich jetzt küssen?“

 

Benedikt sagte nichts. Er zog mich nur an sich und legte seine Lippen auf meine. Für einen Moment verharrten wir so, bevor wir den Kuss wieder lösten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.

 

„Das war aber keine Antwort auf meine Frage“, sagte ich leise und lächelte, als er belustigt schnaubte.

 

„Nicht?“

„Nein.“

„Dann muss ich wohl noch etwas deutlicher werden.“

 

Mit diesen Worten zog er mich wieder näher und küsste mich. Dieses Mal mit mehr Gefühl und mehr Leidenschaft. Ich spürte seine Lippen, die meine einluden, mit ihnen zu spielen. Ein Kribbeln lief meine Wirbelsäule entlang und endete in einem Ziehen in meinem Unterleib. Mein Atem wurde schneller. Ganz automatisch öffnete ich den Mund und strich mit der Zungenspitze über seine Lippen. Er antwortete auf die gleiche Weise und als unsere Zungen sich das erste Mal berührten, jagte ein Blitzgewitter durch meine Adern. Ich unterdrückte ein Keuchen. Allein diese Küsse machten mich so an, dass ich mehr wollte. Viel mehr. Unendlich viel mehr.

 

Meine Hände begannen auf Wanderschaft zu gehen. Ich vergaß, wo wir waren. Vergaß alles um mich herum. Ich wollte nur noch eines: Ihm so nah wie möglich sein. So wie es schon bei unserem allerersten Kuss gewesen war. Die Magie des Augenblicks nahm mich gefangen und noch bevor ich wusste, was ich tat, war ich auf seinen Schoß gerutscht. Der harte Beton, auf dem er saß, drückte gegen meine Knie, aber das kümmerte mich nicht. Ich wollte ihn nur spüren.

 

Unsere Münder nie mehr als Sekundenbruchteile voneinander getrennt, küssten wir uns wieder und wieder. Ich spürte ihn unter mir. An mir. Um mich herum. Seine Hände, die über meinen Rücken strichen und schließlich auf meinem Hintern landeten. Meine Hände, die ihn enger an mich pressten. Durch seine Haare fuhren. Die ein winziges Stück nackte Haut ertasteten an der Stelle, wo sein T-Shirt hochgerutscht war und dieses kostbare bisschen Mehr von ihm freigelegt hatte. Als ich jedoch begann, sein Shirt nach oben zu schieben, legte er seine Hand auf meine und löste den Kuss.

 

„Halt, nicht hier.“

„Wo dann?“

 

Er sah mich von unten herauf an. Seine Augen waren dunkel und spiegelten mein Gesicht vor dem hellen Sommerhimmel. Seine Lippen waren leicht gerötet und seine Frisur, wenn es denn eine gewesen war, war hinreichend zerstört. Ich hätte ihn umgebracht, wenn er das bei mir gemacht hätte. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass er irgendwann wieder anders aussah oder mich anders ansah. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte diesen Moment eingefroren und ihn bis in alle Ewigkeit festgehalten.

 

„Ich … also …“ Er unterbrach sich, um einmal schwer aufzuatmen. Es kostete ihn sichtbar Überwindung, sich wieder aus der Situation zu lösen. „Ich denke, wir sollten vielleicht noch ein wenig den CSD auskosten. Der nächste ist schließlich erst wieder in einem Jahr. Bis dahin haben wir noch viel Zeit.“

 

Ich hätte jetzt enttäuscht sein können. Mich abwenden. Aber statt mich darauf zu konzentrieren, dass er mich gerade – berechtigterweise – abgewiesen hatte, sah ich ihm tief in die Augen.

 

„Viel Zeit?“, hakte ich nach. „Wie viel?“

„So lange du willst.“

 

Meine Antwort darauf bestand in einem langen Kuss. Einem der Klatschen und Pfiffe zur Folge hatte und uns irgendwann ein wenig verschämt aufsehen ließ. Die Gruppe anderer junger Männer, alle mit freiem Oberkörper, die uns lautstark applaudierten und uns anfeuerten, uns weiter auszuziehen. Ich sah Benedikt an. Er wirkte trotz des Publikums immer noch entspannt und … glücklich. Ich grinste und wandte mich wieder der Gruppe zu.

 

„Wenn wir uns ausziehen sollen, müsst ihr aber anfangen.“
 

Die Kerle johlten und einer von denen ließ doch tatsächlich die Shorts fallen. Herausfordernd streckte er das Kinn vor.

 

„Na los, jetzt du.“

 

Ich schluckte noch einmal, bevor ich nach unten griff und mir einfach mein Shirt über den Kopf zog. Lautes Jubelgeheul und Lachen schallte mir entgegen und einer von den Fünfen rief Benedikt zu, was er für ein Glück gehabt hätte, mich an Land gezogen zu haben. Danach trollten sich die Kerle wieder und ließen uns allein zurück. Ich sah auf Benedikt runter, auf dessen Schoß ich immer noch saß, jetzt mit freiem Oberkörper, das Shirt immer noch in der Hand. Sein Blick glitt an mir herab bis zum Hosenbund und ich glaubte, jeden einzelnen Wimpernschlag wie einen Gluthauch auf meiner Haut zu spüren. Ich atmete tief ein.
 

„Wollen wir … wollen wir noch weiter?“
 

Er räusperte sich.

 

„Unbedingt. Da hinten soll nachher noch eine Dragshow stattfinden. Das ist bestimmt toll. Und außerdem wollte ich mit dir noch woanders hin.“

 

Ich erhob mich von meinem Sitzplatz und bot Benedikt meine Hand an. Er ließ sich von mir in den Stand ziehen und zögerte auch nicht, mir dabei noch einmal tief in die Augen zu schauen. Wieder lief ein Schauer über meinen Rücken, aber ich verdrängte das Gefühl, indem ich mir wieder mein Shirt über den Kopf zog. Dafür würden wir später immer noch Zeit haben. Wenn nicht heute, dann an einem anderen Tag. Das sagen zu können, löste ein leises Kribbeln in meinem Magen aus, das auch noch anhielt, als wir uns bereits auf den Weg gemacht hatten.

 

 

Entschlossen drängten wir uns durch die Massen, die immer wieder stoppten, um an den verschiedenen Musikspots in ausgelassene Partystimmung auszubrechen. Im Grunde war gar kein Platz, um wirklich zu tanzen. Das Ganze erinnerte an eine riesige, vollkommen überfüllte Freiluftdisco. Trotzdem war die Stimmung ausgelassen und niemand beschwerte sich, wenn wir uns an ihm vorbeischlängelten. Im Gegenteil. Manchmal bekamen wir Umarmungen, Küsse oder sogar freie Shots angeboten. Meist lehnten wir ab, aber ab und an ließ sich Benedikt dazu überreden, sich in den Arm nehmen zu lassen. Ich folgte seinem Beispiel irgendwann und als mich eine dünne Blonde mit einem Käppi und einem übergroßen Pride-T-Shirt in den Arm schloss, fühlte ich wieder diese unglaubliche Verbundenheit. Allein zu wissen, dass auch sie vielleicht irgendwann die gleichen Gedanken gehabt hatte wie ich. Dass sie festgestellt hatte: „Hey, ich gehöre nicht dazu“, machte uns alle zum Teil eines großen Ganzen.
 

„Viel Spaß noch euch beiden“, rief sie und es war ihr anzusehen, dass sie es ehrlich meinte.
 

„Dir auch“, gab ich zurück und winkte zum Abschied. Ich wusste, ich würde sie nie wiedersehen, und doch hatten wir diesen Moment geteilt. Diesen Moment, der für uns beide besonders gewesen war.

 

 

Es kamen noch eine ganze Menge anderer Begegnungen dazu, aber als wir uns auf einen Stand zubewegten, an dem groß „Schüler für Toleranz und Vielfalt“ stand, wurde mir doch ein wenig anders. Auch Benedikt hatte wohl gemerkt, dass ich langsamer geworden war, als es das Gedränge ohnehin verlangte. Er blieb stehen und sah mich fragend an.
 

„Alles okay? Ich … Also wenn du nicht willst, müssen wir nicht.“

 

Ich schluckte. Das da vorn war irgendwie so … nah. Der Rest des Tages war zwar toll gewesen, aber eben auch etwas Einmaliges, Besonderes. Etwas, das weit weg von allem stattfand. Das dort war eine Verbindung zu dem Leben, das mich erwartete, wenn ich wieder in den Zug stieg und nach Hause zurückkehrte. Das da war anders.

 

Benedikt kam näher. Er lächelte leicht.
 

„Ich hatte beim ersten Mal auch Angst. Aber glaub mir, es wird dir gefallen. Die sind alle ganz locker drauf. Du musst nichts machen, was du nicht willst.“

 

Ich schluckte noch einmal, bevor ich wieder ein Lächeln aufsetzte. Ich hatte doch gesagt, dass ich das hier wollte, dann gehörte auch dieser Schritt dazu. Zumal wir immer noch weit weg von Zuhause waren. Die Gefahr, jemanden zu treffen, der mich kannte, war somit gleich Null. Ich würde das schaffen.
 

„Na los, gehen wir“, sagte ich mit mehr Zuversicht in der Stimme, als ich eigentlich hatte. Benedikt lächelte noch einmal und drückte meine Hand, bevor er mich endgültig in Richtung des bunt geschmückten Standes zog.

 

„Hey, willkommen. Wollt ihr bei unserer Umfrage mitmachen?“
 

Der Typ hinter dem Tresen war mit Sicherheit kein Schüler mehr. Mit Mitte bis Ende 40 schätzte ich ihn eher als Lehrer oder Sozialarbeiter ein. Er trug ein Vereins-Shirt und hielt einen kleinen Fragebogen hoch. Benedikt nahm einen der Zettel.

 

„Worum geht es denn?“

„Wir machen eine Umfrage zum Thema 'Was würdet ihr euch an eurer Schule wünschen'. Also Sachen wie besseren Aufklärungsunterricht, Beratungsangebote vor Ort, Projekte zum Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften und so weiter.“

 

Benedikt nickte.
 

„Klingt cool. Ich mach mit. Theo?“

 

Ich zuckte ein wenig zusammen, bevor ich mir ebenfalls einen Fragebogen geben ließ. Ich überflog die Antworten und kreuzte zum Schluss zwei Sachen an, bevor ich den Zettel wieder zurückgab. Er wanderte in eine Box und wir bekamen noch eine Karte zugesteckt, auf der die Rufnummer der Hamburger Hilfe für homosexuelle Jugendliche stand. Als wir von dem Tresen zurücktraten, atmete ich auf.
 

„Immer noch Schiss?“, fragte Benedikt mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht.
 

„Ein bisschen“, gab ich zu.

 

Irgendwie konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, mit einem unserer Biologielehrer über schwulen Sex zu reden und wenn es dabei dreimal vordergründig um die Vermeidung potenzieller Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten ging. Gleichzeitig hatte die Vorstellung, dass niemand mehr auf dem Schulhof mit „schwule Sau“ beschimpft wurde, schon etwas für sich. Denn wie sollte man sich zu etwas „bekennen“, das von allen so offensichtlich mit einer negativen Bedeutung bedacht wurde. Allein die Vorstellung, mich offen schwul mit den anderen zusammen in einer Umkleidekabine umzuziehen, bereitete mir Magenschmerzen. Natürlich wusste ich, dass ich nichts von ihnen wollte, aber umgekehrt sah das leider ganz anders aus. Ich hatte so überhaupt keine Lust, mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen. Der Gedanke hatte etwas durch und durch Falsches. Trotzdem folgte ich Benedikt zu der Gesprächsrunde, die sich gerade unter einem der großen Sonnenschirme gebildet hatte.

 

Ein ziemlich feminin wirkender Junge mit leicht näselndem Tonfall ereiferte sich gerade darüber, dass er dauernd wegen seiner Kleidung dumm angemacht wurde. Ein anderer lachte nur.

 

„Du bist ja auch ein wandelndes Klischee. Nicht falsch verstehen, wenn das für dich passt, ist mir das vollkommen recht. Aber viele Jungs, denen das nicht zusagt, fürchten sich nun mal, als genau das abgestempelt zu werden, wenn sie sich als schwul outen. Dabei gibt es doch gar nicht den Schwulen an sich. Es gibt einfach nur viele unterschiedliche Leute, von denen einige auf Männer und andere auf Frauen stehen. Ist doch nichts dabei. Und es ist einfach verdammt scheiße, nicht sagen zu können, dass man irgendjemanden gut findet, nur weil das nicht dem Bild entspricht, das sich jemand anderes von einem gemacht hat.“

 

Zustimmender Beifall wurde laut. Ein Mädchen protestierte jedoch.
 

„Ich find’s scheiße, dass man sich überhaupt outen muss. Die anderen sagen doch auch nicht, dass sie hetero sind. Warum also dieses ganze Theater?“

 

Ein Mann, der die Runde offenbar moderierte, mischte sich ein.
 

„Ich weiß, was du meinst. Aber ich habe oft Jugendliche, die zu mir kommen und sagen, dass es für sie total hilfreich war, wenn jemand anderer sich zu seiner Sexualität bekannt hat. Dass sie dann auch den Mut hatten zu sagen, auf was sie stehen, und dass es genau dadurch ein Stück weit normaler wurde. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn das Denken schon so weit wäre, dass ein Outing nicht notwendig wäre. Aber solange noch vollkommen falsche Bilder in den Köpfen der Menschen vorliegen, kann es helfen, sich als Beispiel für ganz normale Schwule, Lesben oder Transpersonen anzubieten, um zu zeigen: Wir sind anders und trotzdem Teil des Teams.“

 

Ein Mädchen, das ein T-Shirt mit zwei ineinander verflochtenen Weiblichkeitssymbolen trug, nickte heftig dazu.

 

„So ging es mir. Ich hab mich auch nie getraut zu sagen, dass ich auf Mädchen stehe. Es war nicht so, dass ich Angst hatte, dass mich dann jemand fertigmacht, aber … es war niemand an der ganzen Schule queer. Das war total strange. Ich hab gedacht, ich wäre dann ganz allein und dass niemand mehr mit mir sprechen würde. Dann bekamen wir eine Lehrerin, die von Anfang an ganz offen damit umging, dass sie mit einer Frau zusammenlebt. Als ich das mitgekriegt habe, hab ich mich hingestellt und gesagt: Das will ich auch. Und es war total okay für alle. Danach haben sich gleich noch zwei weitere Leute aus meiner Klasse geoutet und seit dem ist das wirklich lockerer geworden. Einfach weil man darüber reden kann.“

 

„Ja, das Schweigen ist das Schlimmste“, sagte ein anderer, dunkelhaariger Junge, den ich im Leben nicht als schwul eingeordnet hätte. „Als mir bewusst wurde, dass ich schwul bin, war ich das erste Mal so richtig verknallt. Ich wollte das so gern mit jemandem teilen, aber das ging nicht, weil alle gleich an irgendwelche perversen Spielchen gedacht hätten. Dabei geht es doch gar nicht nur darum, wen man nun heiß findet und auf was man im Bett steht. Es geht doch um Liebe.“
 

Wieder nickten alle dazu und auch auf meinem Gesicht breitete sich ein leises Lächeln aus. Denn gerade dem letzten Satz konnte ich einfach nur zustimmen. Es ging um die Liebe.
 

„Siehst du“, flüsterte Benedikt mir ins Ohr. „Genau deswegen wollte ich mit dir hierher.“

 

Er lächelte und seine Augen leuchteten wieder in diesem warmen Glanz. In diesem Moment musste ich wieder an das Mädchen mit dem Käppi und den Sommersprossen denken und ich drehte mich zu ihm um und nahm ihn einfach in den Arm.

 

„Danke“, sagte ich leise, während ich ihn an mich drückte, und ich wusste, dass er mich verstand. Einfach weil er der war, der er war.

Pärchenbildung

Wir blieben noch eine ganze Weile im Bereich für Jugendarbeit. Hendrik, der Junge, der so leidenschaftlich von Liebe gesprochen hatte, gesellte sich zu uns. Er war nicht besonders groß, ein wenig pummelig und etwa in unserem Alter. Seine Haare waren etwas dunkler als Benedikts und sein Teint leicht olivfarben, was seine braunen Augen nur umso wärmer leuchten ließ. Er wirkte auf mich irgendwie … lieb, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass ich diesen Begriff mal für ein männliches Wesen verwenden würde. Vielleicht lag es daran, dass er fast immerzu lächelte oder lachte. Ich fühlte eine seltsame Vertrautheit, obwohl wir uns erst seit so kurzer Zeit kannten. Benedikt schien es ähnlich zu gehen und so saßen wir, wie ich zu meiner Verwunderung feststellen musste, schon über eine Stunde hier auf einer Bank und unterhielten uns. Größtenteils hatte Hendrik erzählt, von seiner Schule, seiner Familie mit Vater, Mutter und kleiner Schwester, seinem ersten großen Schwarm und so weiter und so fort. Jetzt jedoch fasste er uns scharf ins Auge und grinste.
 

„Also, nachdem ich euch ja nun fast meine ganze Lebensgeschichte erzählt habe, müsst ihr aber auch mal mit Details rausrücken. Woher kennt ihr euch?“
 

„Aus der Schule“, gab Benedikt zur Auskunft. Er hatte eine Cola vor sich, die er mittlerweile schon zum zweiten Mal geleert hatte. Ich war immer noch beim ersten Becher.
 

„Wir waren seit der siebten zusammen in einer Klasse“, ergänzte ich. Hendriks Augen begannen zu funkeln.
 

„Also war es Liebe auf den ersten Blick?“
 

„Äh“, machte ich und wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte.
 

„Nein, eher nicht“, rettete mich Benedikt aus meinem Anfall von Sprachlosigkeit. „Ich fand ihn am Anfang ziemlich doof, während er mich ignoriert hat.“
 

„Stimmt doch gar nicht“, ereiferte ich mich. „Du warst nur so … still.“
 

„Das nennt sich reflektiert“, erklärte Benedikt mit gekrauster Nase. „Außerdem musstest du dir ja unbedingt den einzigen Kerl in der Klasse als besten Freund aussuchen, der mich nicht leiden kann. Also von daher …“
 

Der Gedanke an Jo ließ mich innerlich ein wenig zusammenzucken. Daran, was er wohl zu der ganzen Sache sagen würde, hatte ich noch gar nicht gedacht. Hendrik jedoch schien mehr an anderen Fakten interessiert zu sein.
 

„Und wie kam es dazu, dass ihr nun doch zusammen seid?“

„Also …“

„Äh …“
 

Benedikt und ich sahen uns an. Ich wusste genau, was ihm gerade durch den Kopf ging. Nämlich dass wir gar nicht geklärt hatten, ob wir nun eigentlich tatsächlich zusammen waren. Dafür hatte es einfach noch keine Veranlassung gegeben. Allerdings schien Hendrik auch das zu verstehen.
 

„Alles klar. Das mit euch ist noch ganz frisch.“

„Sozusagen.“

„Wie frisch?“

„Zwei Stunden?“

„WAS?“
 

Hendriks Mund formte sich zu einem großen O.
 

„Aber … warum? Ich meine, habt ihr denn nicht gemerkt, dass der andere interessiert ist? Das kriegt man doch mit.“
 

Ich rutschte ein wenig unruhig auf meinem Platz hin und her.
 

„Ich … also … ich hab ein bisschen gebraucht, bis ich soweit war.“
 

„Zwei Jahre“, warf Benedikt ein. Er grinste dabei und ich wusste, wie er es meinte. Trotzdem ließ es meinen Blick zu Boden wandern.
 

„Na ja. Ich war mir halt unsicher.“
 

„Ach, ist doch kein Problem“, winkte Hendrik ab. „Ich hatte zuerst zwei Freundinnen, bis ich gerafft habe, dass das nicht das ist, was alle unter diesem Verliebtsein verstehen. Ich hab immer gedacht, das muss so, aber als es mich dann erwischt hat … Pow!“
 

Er machte eine explodierende Geste neben seinem Kopf. Ich grinste. So in etwa konnte man das wohl beschreiben. Ich ließ meinen Blick zu Benedikt wandern. Er sah mich an und nickte kaum merklich. Meine Mundwinkel wanderten daraufhin wie von selbst nach oben. Ja, so war es gewesen. Jedes Mal, wenn wir uns trafen. Ich konnte wirklich nur den Kopf schütteln, dass ich mich dagegen so lange gewehrt hatte. Denn es fühlte sich absolut wunderbar an. Ich wollte dieses Gefühl nie wieder verlieren.
 

„Und was habt ihr heute noch vor? Wollt ihr hier Party machen und nachher noch auf die Reeperbahn oder wie?“
 

Benedikt zuckte die Achseln.
 

„Ich werd mir auf jeden Fall noch ein Armband besorgen und dann wollte ich mal abwarten, was Theo zu all dem hier zu sagen hat.“
 

Er warf mir einen Blick zu und ich lächelte kurz als Zeichen, dass ich die Geste verstanden hatte.
 

„Okay, klingt cool“, meinte Hendrik und runzelte die Stirn. „Ich bin ja totaler Domgänger sonst, aber heute bleib ich lieber hier. Die Atmosphäre ist einfach eine andere, auch wenn es hier so brechend voll ist. Es ist halt schon nice, wenn du dich einfach frei bewegen kannst oder mit deinem Freund Händchen halten, ohne dir überlegen zu müssen, ob du dich dafür gerade im richtigen Stadtteil aufhältst.“
 

Benedikt nickte dazu.
 

„Ja, ist nicht einfach. Ich meine, ich hab jetzt nicht so die Erfahrung damit, aber ich kann’s mir vorstellen.“
 

Der Gesichtsausdruck, den er dabei hatte, gefiel mir nicht. Ich kam jedoch nicht dazu, ihn danach zu fragen. Er und Hendrik hatten bereits das Thema gewechselt und unterhielten sich jetzt wieder über die verschiedenen Jahrmarktsattraktionen. Beiden hatten es Fahrgeschäfte besonders angetan, auch wenn ihre Geschmäcker dabei auseinandergingen. Während Hendrik eine Vorliebe für Sachen wie Geisterbahn und Spiegelkabinett hatte, konnte es für Benedikt anscheinend gar nicht schnell genug sein. Er schwärmte geradezu von Achterbahnen mit Loopings und freihängenden Gondeln, bei denen die Füße über dem Erdboden baumelten. Je höher, desto besser. Ich grinste ein wenig, als ich sah, wie seine Augen dabei leuchteten.
 

„Was?“, fragte er und wurde anstandshalber sogar ein wenig rosa um die Nase. „Ich fahr halt gerne Karussell. Äh … okay, das klang jetzt irgendwie uncool.“
 

„Quatsch“, sagte ich und grinste nur noch ein bisschen mehr. „Das war total stark und männlich.“
 

Er streckte mir die Zunge raus und ich erwiderte auf die gleiche Weise. Danach grinsten wir uns beide an, bis Hendrik sich überlaut räusperte, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht allein waren. Unsere Köpfe ruckten gleichzeitig herum. Hendrik grinste jedoch fast so breit wie wir.
 

„Ihr habt echt Glück, dass ihr euch gefunden habt“, meinte er und schien aus mir unerfindlichen Gründen tatsächlich glücklich darüber. Eigentlich konnte es ihm ja egal sein. Er kannte uns nicht und wir ihn nicht. Vermutlich würden wir uns nach diesem Tag auch nie wieder sehen. Trotzdem lächelte er, als Benedikt mich mit dem Knie anstieß und ich auf die gleiche Weise antwortete.
 

„Darf ich mal ein Foto von euch machen? Zur Erinnerung?“, fragte Hendrik plötzlich. Noch bevor ich etwas dagegen einwenden konnte, hatte Benedikt bereits zugestimmt. Er rückte näher an mich ran und legte den Arm um mich. Ich hingegen sah Hendrik an und wusste nicht recht, wie ich es sagen sollte. Er hielt zunächst sein Handy hoch, ließ es dann aber sinken, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte.
 

„Ist das nicht okay? Ich veröffentliche die Fotos auch nicht. Ehrenwort.“
 

Ich gab mir Mühe, nicht allzu offensichtlich aufzuatmen.
 

„Okay. Klar machen wir ein Bild.“
 

Hendrik knipste ein paar Schnappschüsse von uns, bevor wir uns an einem Selfie versuchten. Es kam nur Blödsinn dabei heraus, sodass wir am Schluss jemand anderen baten, ein Foto von uns zu machen. Hendrik stand dabei zwischen uns und grinste wie ein Honigkuchenpferd.
 

Als das Bild im Kasten war, griff er sich an den Bauch.
 

„Mein Magen knurrt. Ich hab voll Hunger. Ihr auch?“
 

Wir bejahten und machten uns zusammen auf den Weg zu einem der Imbissstände. Vor dem Angebot blieb Hendrik stehen und studierte die Karte. Ein Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel.
 

„Ein Vorteil davon, Single zu sein. Man kann essen, was man will, und man darf es auch noch alleine essen.“
 

Während ich noch überlegte, wie er das meinte, fing Benedikt an, übertrieben laut zu pfeifen. Hendrik grinste verstehend.
 

„Ah, du bist also auch so ein Schmarotzer.“

„Ey“, maulte Benedikt. „Ich kann mich einfach nur so schlecht entscheiden. Es ist alles so lecker. Und wenn man sein Essen teilt, kann man mehr von allem essen.“

„Es sei denn, man hat an dem Abend noch was vor.“
 

Während Hendrik sich vor Benedikts Schlägen in Sicherheit brachte, fühlte ich mich gerade, als hätte ich einen Witz verpasst. Als Benedikt das merkte, griff er nach meiner Hand.
 

„Keine Diskussion für vor dem Essen. Na los, was willst du. Ich lad dich ein.“
 

Einen Moment lang war ich versucht zu sagen, dass ich mein Essen eigentlich selber bezahlen konnte, aber … mir gefiel die Idee, mich von ihm einladen zu lassen, irgendwie.
 

„Das nächste Mal zahle ich aber“, deklarierte ich trotzdem, als ich meine Portion Currywurst mit Pommes gereicht kriegte. Benedikt grinste nur.
 

„Glaubst du wirklich, dass du die jetzt alleine essen darfst?“
 

Noch bevor ich reagieren konnte, hatte er sich doch tatsächlich ein Stück meiner Wurst zwischen die Zähne geschoben. Grinsend kaute er darauf herum. Ich lächelte und reichte ihm die Schale rüber.
 

„Hier, bedien dich.“

„Echt jetzt?“

„Ja klar, mit dir teile ich gerne.“
 

Ich erntete dafür einen ziemlich salzigen Kuss, bevor wir uns zusammen mit Hendrik weiter auf den Weg über das Straßenfest machten. An einer Bude, in der ein paar dieser Greifautomaten standen, bei denen man Plüschtiere mit großen Metallklauen aus einem Haufen ziehen musste, blieb Benedikt stehen.
 

„Die Dinger hab ich früher geliebt. Als Kind hab ich mal mit elf Euro neun Kuscheltiere da raus geholt.“

„Echt? Ich loose bei den Dingern immer voll ab.“
 

Hendrik sah Benedikt bewundernd an und zum ersten Mal fühlte ich einen leichten Stich der Eifersucht. Besonders als Benedikt ihm anbot, eines der Kuscheltiere für ihn aus den Automaten zu holen. Er hatte seine Rechnung allerdings ohne Hendrik gemacht.
 

„Nee, lass mal. Sonst erdolcht mich dein Freund noch mit seinen Blicken.“
 

Ich drehte schuldbewusst den Kopf weg. Eigentlich waren Benedikt und ich ja noch nicht mal ein Paar. Trotzdem gefiel mir der Gedanke nicht, dass Hendrik mit einem Plüschtier herumlief, das Benedikt ihm geschenkt hatte. Nicht dass ich eins gewollt hätte, aber …
 

„Wenn du willst, bringe ich dir bei, wie man das macht, dann kannst du beim nächsten Mal jemand damit beeindrucken“, bot Benedikt an und ich merkte, wie ich mich langsam wieder entspannte. Das war in Ordnung.
 

Benedikt fackelte auch gar nicht lange, sondern begann zu erklären.
 

„Man benötigt eigentlich nicht viel mehr als ein gutes Augenmaß und eine gewisse räumliche Vorstellungskraft. Und natürlich muss man erkennen, wenn die Kuscheltiere viel zu dicht gestopft wurden, dass man sie nicht einfach hochheben kann. Das machen die Betreiber auch gerne mal und dann kannst du keinen Blumentopf damit gewinnen.“
 

Wie sich herausstellte, war derjenige, der diesen Greifautomaten befüllt hatte, etwas großzügiger gewesen. Schon bald hatte Benedikt einen kleinen Hund ausgespäht, der ein spitzenumsäumtes Kissen mit der Aufschrift „I luv U“ in den Pfoten hielt. Das Ding war absolut scheußlich, aber laut Benedikt ein gutes Anfängerstück, weil es genau in die Zangen der Greifklaue passte. Dementsprechend hoffnungsbeflügelt steckte Hendrik ein Geldstück in den Automaten und startete seinen Versuch. Begleitet wurde er dabei von Benedikts höchstpräzisen Anweisungen.
 

„Mehr rechts, nein, das andere Rechts. Jetzt links. Noch ein Stück nach vorn und …“
 

In diesem Moment tutete es und der Greifarm senkte sich herab, ohne dass Hendrik den Auslöseknopf betätigt hatte. Die Metallklaue glitt zielsicher am Ohr des Hundes ab und landete vollkommen wirkungslos daneben auf einer lila Kuh. Die drei Klauen schnappten ins Leere und zogen sich ruckelnd und zottelnd wieder zurück. Über der Ausgabeöffnung klappten sie auseinander und hätten so ihre Fracht zugänglich gemacht, wenn sie denn eine gehabt hätten. Enttäuscht verzog Hendrik den Mund.
 

„Siehst du? Ich hab ja gesagt, ich kann das nicht. Aber wie heißt es so schön: Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Vielleicht war es also für was gut, dass ich nichts gewonnen habe.“
 

Ich sah, dass es in Benedikts Fingern zuckte, den Hund doch noch aus dem Automaten zu holen, aber er hielt sich zurück. Ich knuffte ihn dafür in die Seite.
 

„Ich bin mir sicher, dass du ihn bekommen hättest.“
 

Als er nicht reagierte, versuchte ich es noch einmal. Ich hatte gesehen, dass er auf dem Hinweg einen langen Blick auf die Bude mit Schmalzgebäck geworfen hatte, die gleich neben den Greifautomaten stand. Ich fragte ihn, ob er eine Portion wollte.
 

„Nö.“

„Sicher?“

„Ja.“

„Und wenn ich mir welche kaufe, hilfst du mir dann beim Essen?“
 

Benedikt tat so, als müsste er überlegen. Schließlich gab er sich einen Ruck.
 

„Also wenn du unbedingt welche willst, würde ich mich ja opfern.“
 

„Ich bitte darum“, gab ich mit einem nur schlecht verborgenen Grinsen zurück und stellte mich in die Schlange der Bude. Sie war ziemlich lang und der Berg an Schmalzkuchen bereits beträchtlich geschrumpft, als wir endlich in greifbare Nähe rückten. Zu unserem Glück hatte der Bäcker offenbar trotz der Hitze alle Kessel in Betrieb, denn gerade, als wir bestellen wollten, schüttete er eine neue Fuhre goldbraun gebackener Teigstücke in die Auslage. Wir waren die zweiten, die eine Tüte der frischen Schmalzkuchen erwarben, und verbrannten uns beinahe die Finger, als wir gleichzeitig danach griffen. Grinsend ließ Benedikt mir den Vortritt. Ich pustete einmal auf das heiße Gebäck, bestäubte dabei meine Umgebung mit Puderzucker und biss hinein. Fett, Zucker und Röstaromen fluteten meine Geschmacksnerven. Es war wirklich zum Niederknien.
 

„Oh Gott, sind die gut“, proklamierte auch Benedikt, nachdem er den ersten probiert hatte. Eilig schob er gleich noch einen hinterher. „Ein Glück ist nicht so oft Jahrmarkt. Die wären echt mein Untergang.“
 

„Ach was“, meinte ich und hielt ihm noch einen hin. Er nahm ihn mit spitzen Zähnen und sah mich auffordernd an. Als ich nicht reagierte, wackelte er mit den Augenbrauen.
 

„Nicht dein Ernst?“
 

Er schmollte demonstrativ. Also ließ ich mich dazu herab, die Hälfte des Schmalzkuchens abzubeißen und dabei seine Lippen kurz in Ausdeutung eines Kusses zu streifen. Noch während ich kaute und schluckte, kam Benedikt noch einmal näher und küsste mich. Dieses Mal richtig. Er schmeckte nach Puderzucker und nach mehr.
 

Hinter uns klatschte jemand in die Hände. Es war Hendrik, der schon wieder strahlte.
 

„Ihr beide seid echt sweet zusammen“, rief er aus und fing sich dafür einen spöttischen Blick eines vorbeischlendernden Pärchens ein. Hendrik schnitt hinter ihren Rücken eine Grimasse.
 

„Blödmänner. Ich würd ja auch lieber meinen eigenen Freund anhimmeln, aber leider Gottes wachsen die ja nun mal nicht auf Bäumen.“
 

Er seufzte noch einmal abgrundtief. Benedikt und ich sahen uns an.
 

„Denkst du gerade, was ich denke?“ fragte Benedikt. Ich nickte grinsend. Wie ein Mann wandten wir uns wieder Hendrik zu. Als der unsere Gesichter sah, hob er abwehrend die Hände.
 

„Oh nein, vergesst es. Ich hasse solche Verkupplungsaktionen. Meine beste Freundin hat das mal probiert und es war katastrophal. Vor allem, weil der Typ hetero war.“
 

„Na, die Gefahr ist heute ja nicht besonders groß“, prustete Benedikt und ich fiel lachend mit ein. Ohne auf Hendriks Protest zu achten, schleppten wir ihn mit in Richtung einer der Partybühnen, wo bereits wieder jede Menge Partywillige zu groovigen Beats abrockten. Wäre doch gelacht gewesen, wenn sich da nicht ein passender Deckel zu Hendriks Topf gefunden hätte.
 

Zwei Stunden später befand sich Hendrik in einem höchst angeregten Gespräch mit einem großen Blonden mit Hut, Shorts und Tank-Top, während Benedikt und ich mit dessen zwei Begleiterinnen die „Tanzfläche“ unsicher machten. Die beiden Mädchen hatten sich uns gegenüber als „Allys“ vorgestellt und waren offenbar ziemlich glücklich darüber, dass ihr Freund endlich jemanden gefunden hatte, der ihm gefiel. Sabina, eine kleine Dunkelhaarige mit Pagenkopf, sah immer wieder lächelnd zu den beiden rüber.
 

„Ich hoffe ja, dass es was wird. Flori scheint auf jeden Fall nicht abgeneigt zu sein.“
 

„Ich freu mich voll für ihn“, meinte Sandra, ihr blondes Gegenstück. Sie hatte ihre Haare zu unzähligen, kleinen Rastazöpfen geflochten, die beim Tanzen unentwegt durch die Gegend wippten. „Es wird echt Zeit, dass er sich diesen Kerl aus dem Kopf schlägt, der ihn nach Strich und Faden betrogen hat. Echt schlimm so was.“
 

„Es sind eben trotzdem immer noch Männer“, bemerkte Sabina trocken.
 

Die beiden verdrehten unisono die Augen und fingen an zu lachen. Benedikt und ich sahen uns an. Anscheinend wussten wir beide nicht so recht, wie wir das finden sollten. Schließlich zuckte Benedikt mit den Schultern.
 

„Na ja, wo sie Recht hat, hat sie Recht.“
 

Damit war die Sache vom Tisch und wir widmeten uns wieder dem bunten Partytreiben.
 

Die Sonne war bereits untergegangen, die meisten Regenbogenfahnen im Dunkel versunken, aber auf der Meile am Alsteranleger herrschte immer noch angeheizte Stimmung. Unzählige Stände hatten farbige Lichterketten aufgehängt, von überall erklangen die verschiedensten Musikstücke und auf einer der Bühnen wurde sogar live gespielt. Ein Regenbogen aus Licht wurde von irgendwo in den nächtlichen Himmel geworfen und unter seiner Schirmherrschaft tanzten, tranken und feierten die Leute. Gerade schallte ein neuer Hit aus den Lautsprechern des Partyturms, an dem wir uns aufhielten. Sabina und Sandra kreischten los und fingen an, mit erhobenen Armen herumzuhüpfen. Die riesigen Scheinwerfer der Anlage flackerten im Takt dazu und alles um uns herum geriet in Aufruhr. Benedikt stieß mich an.
 

„Wollen wir eigentlich noch woanders hin, wenn die hier nachher dicht machen?“, rief er mir ins Ohr
 

„Keine Ahnung. Willst du?“
 

Er hob die Schultern.
 

„Weißt nicht. Aber um kurz vor zwölf fährt der letzte Zug nach Hause. Wenn wir den nicht erwischen, müssen wir bis Morgen bleiben.“
 

Er grinste dabei und sah nicht aus, als würde ihm das etwas ausmachen. Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, ihn an mich zu ziehen. All die Menschen um uns herum zu vergessen und nur noch mit ihm zusammenzusein. Mein Mund zuckte.
 

„Hey, was ist los?“, fragte Benedikt leiser. Er trat zu mir und legte die Arme um mich.
 

„Weiß nicht“, gab ich zurück, obwohl ich genau wusste, was los war. Ich wusste nur nicht, ob das jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt dafür war.
 

„Wollen wir nach Hause?“

„Ja.“

„Okay.“
 

Wir verabschiedeten uns unter vielen Umarmungen von Hendrik und den anderen, die auf dem Kiez noch weiter feiern wollten, und machten uns dann auf den Weg zum Bahnhof, der zum Glück gleich um die Ecke lag. In den riesigen Hallen war es immer noch voll, aber es herrschte nicht mehr ganz so ein Gedränge wie bei unserer Ankunft. Wir fanden den richtigen Bahnsteig und stellten uns in Ermangelung eines Sitzplatzes neben eine Anzeigentafel, der zu entnehmen war, dass unser Zug in etwa 20 Minuten eintreffen würde. Seufzend schloss ich für einen Moment die Augen. Ich spürte, wie Benedikt näherkam und sich an mich lehnte.
 

„Kaputt?“

„Mhm, ein bisschen.“

„Bist du deswegen so einsilbig?“

„Ja, auch.“
 

Ich öffnete die Augen wieder und setzte an etwas zu sagen, als plötzlich eine Bierdose haarscharf an uns vorbeiflog. Klappernd landete sie auf dem Bahnsteig.
 

„Scheiße, daneben“, rief eine Stimme und wir sahen eine Gruppe junger Männer, die sich gegenseitig anrempelten. Die meisten von ihnen hatten ebenfalls geöffnete Bierdosen in der Hand. Als sie sahen, dass wir uns ihnen zugewandt hatten, grölte einer von ihnen:
 

„Hey, Schwuchteln. Gebt ma unsere Dose zurück. Die gehört uns.“
 

Ich machte den Mund auf, um ihnen zu sagen, wohin sie sich ihre Dose stecken konnten, aber Benedikt schüttelte nur den Kopf.
 

„Die sind doch auf Streit aus. Einfach nicht reagieren, dann verlieren sie bestimmt die Lust.“
 

Leider hielt Benedikts Zuversicht nicht das Versprochene. Wir versuchten zwar, die Pöbler nicht zu beachten, aber die Sprüche, die sie in unsere Richtung schleuderten, wurden zunehmend derber. Benedikt hatte ebenso wie ich die Hände zu Fäusten geballt und seine Kiefer mahlten unaufhörlich, aber wir blieben ansonsten ruhig und ließen uns nichts anmerken. Trotzdem atmeten wir beide auf, als die uniformierten Beamten des Sicherheitsdienstes am Ende des Bahnsteigs auftauchten, und die Bande sich endlich trollte. In diesem Moment lief auch der Zug ein und wir konnten endlich den plötzlich so ungastlich gewordenen Ort verlassen.
 

„Das war ganz schön knapp“, meinte ich drinnen, als wir uns nebeneinander auf eine Bank gesetzt hatten. Benedikt seufzte leise.
 

„Ja, Dummheit stirbt eben leider nicht aus.“

„Wie wahr.“
 

Kurz darauf setzte sich der Zug in Bewegung und ich wagte es, zwischen uns nach Benedikts Hand zu greifen. Gut zwei Stunden blieben uns jetzt noch, bis es am Bahnhof in unserer Heimatstadt wieder Abschied nehmen hieß. Mir graute jetzt schon vor diesem Moment, denn am liebsten hätte ich ihn nie wieder losgelassen.

Vertrauenssache

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Verliebte Jungs

Sonnenschein spitzte durch die winzigen Löcher in den Lamellen der Jalousien. Er ließ mich wissen, dass es bereits später Morgen oder früher Vormittag sein musste. Genau wusste ich es nicht, denn es befand sich keine Uhr im Zimmer. So schwebte ich in einem fast schon zeitlosen Nirwana aus Ruhe und den gleichmäßigen Atemzügen der Person, die neben mir lag. Geweckt worden war ich durch das Geräusch seines Handys, das irgendwo zwischen unseren Sachen auf dem Fußboden lag. Es hatte geklingelt, war aber bald wieder verstummt. Danach hatte ein einzelner Ton den Erhalt einer Nachricht angekündigt. Benedikt hatte von all dem nichts mitbekommen. Er schlummerte immer noch friedlich auf dem blau gemusterten Kissen. Wie wir uns auf diesem knappen Meter, den er sein Bett nannte, hatten arrangieren können, war mir zwar vollkommen unverständlich, doch vermutlich waren wir beide nach dem gestrigen Tag schlichtweg wie ausgeknipst gewesen. Ich hatte in dieser Nacht sogar geträumt, auch wenn ich jetzt nicht mehr wusste, worum es in dem Traum gegangen war. Ich wusste nur noch, dass er da gewesen war.

 

Das um mich herum war jedoch kein Traum. Es war echt, obwohl ich das immer noch nicht so recht glauben konnte. Wir hatten tatsächlich miteinander geschlafen. Beim ersten Date, wenn man so wollte. Vielleicht hätte ich mich bemühen müssen, das falsch zu finden. Aber ich konnte nicht. Dazu hatte es sich zu gut angefühlt. Zu richtig. Und irgendetwas sagte mir, dass es ihm ebenso gegangen war. Immerhin war er es gewesen, der es zuerst vorgeschlagen hatte. Der mich bei der Hand genommen und mich geführt hatte. Der mir so sehr vertraut hatte, dass er sich mir hingegeben hatte. Ohne Reue. Ohne Scham. Ohne etwas dafür zu verlangen. Und ich? Ich hatte genommen, was er mir anzubieten hatte. Wie ein Schwamm hatte ich aufgesogen, was ich mir so lange verwehrt hatte, und jetzt konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder darauf zu verzichten. Ich wollte mehr. Unendlich viel mehr.

 

Ich stoppte meine Gedanken, denn die körperliche Reaktion auf die Erinnerungen ließ nicht lange auf sich warten. Das wiederum wäre mir unangenehm gewesen, wenn er in diesem Moment aufgewacht wäre. Ich wollte nicht, dass er dachte, dass ich nur deswegen mit ihm zusammen war. Obwohl ich ihn begehrte, wie man so schön sagte. Aber es war mehr. Viel mehr. Viel mehr als es eigentlich hätte sein dürfen nach so kurzer Zeit. Und doch … Da war so vieles an ihm, was ich mochte. Sein Lachen, sein Humor, seine Art Dinge auszudrücken, sodass man sie verstand. Eine Fähigkeit, die mir oft genug abging. Ich hatte diese Gedanken, aber sie blieben bei mir, während er in die Welt hinausging oder wartete, dass sie zu ihm kam, um sie zu erstaunen. Da war so viel Wärme in ihm. So viel Tiefe. Ein ganzer Ozean, in dem ich mich verlieren konnte und der mich trotzdem auffing und mich sicher trug. Weit über die Grenzen dessen hinaus, was ich kannte. Es hätte mir Angst machen können. Vielleicht sogar müssen. Aber ich fühlte keine Angst. Nur Geborgenheit. Und Sicherheit.

 

Benedikt bewegte sich und seufzte im Schlaf. Ein kleiner, unschuldiger Laut, der jedoch seine Wirkung auf mich nicht verfehlte. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Ich wollte ihn wieder berühren. Ich wollte … noch einmal mit ihm schlafen. Noch einmal dieses Gefühl haben, mit ihm vereint zu sein. Mich noch einmal versichern, ob er mir auch wirklich vertraute, und ihm zeigen, dass ich es wert war. Aber bevor wir das konnten, war es definitiv angebracht, dass ich mich erhob und das Badezimmer aufsuchte.

 

Vorsichtig zog ich meine Beine zurück, die immer noch halb mit seinen verschränkt waren. Ich wollte nicht, dass er aufwachte, bevor ich zurück war. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich, immer darauf achtend, ob sich sein Atemrhythmus veränderte, seine Augenlider zu zucken begannen. Aber ich hatte Glück. Er wachte nicht auf. Auch nicht, als ich mich auf das Bett kniete und vorsichtig über ihn hinweg stieg. Ich setzte meine Füße zwischen das Chaos auf den graumelierten Schlingenteppich und schlich leise zur Tür. Ich legte beide Hände an das Holz und hielt den Atem an, als ich die Türklinke herunterdrückte. Wieder war keine Reaktion zu vernehmen, sodass ich die Tür schließlich öffnete und leise hindurchschlüpfte.
 

Draußen auf dem Flur wurde mir bewusst, wie warm es im Zimmer gewesen war und wie verbraucht die Luft. Vermutlich lag es daran, dass die Sonne bereits mit voller Wucht gegen die dunklen Rollos knallte. Es musste wirklich schon längst Zeit zum Aufstehen sein.

 

Ich verschob die Frage nach der Uhrzeit auf später und suchte zunächst das Bad auf. Nachdem ich mich erleichtert und mir die Hände gewaschen hatte, spritzte ich mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht. Es klärte die letzten Reste der Müdigkeit und ließ mich wach in den Spiegel blicken. Sah ich irgendwie anders aus als gestern? Älter? Gereifter? Nein, eigentlich nicht. Maximal ein wenig unausgeschlafen.

 

Vielleicht sollte ich duschen, überlegte ich, während ich mir das Gesicht abtrocknete. Doch noch während ich darüber nachdachte, hörte ich ein Geräusch. Es kam von irgendwo hinter meinem Rücken und somit aus Richtung …

 

Der Haustür! Scheiße!

 

Ich griff meine Brille von der Ablage und setzte sie auf. Meine Sicht wurde klarer, aber die Geräusche kamen immer noch eindeutig aus der falschen Richtung. Ein Schlüssel klirrte, als er irgendwo abgelegt wurde, und Schritte klapperten auf den Fliesen. Schritte von hochhackigen Schuhen. Schritte, die näherkamen!

 

Die Klinke des Badezimmers wurde heruntergedrückt und dann …

 

„Oh.“

 

Die Frau in der Türöffnung blieb stehen und sah mich an, als wäre ich das achte Weltwunder. Vielleicht auch das neunte oder zehnte. Es war zumindest unübersehbar, dass sie nicht mit mir gerechnet hatte.
 

„Verzeihung“, sagte sie und schloss die Tür schnell wieder. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und ich hätte beinahe gelacht. Das war Benedikts Mutter gewesen. Was machte die denn jetzt schon hier?

 

Der Anruf, schoss es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie Benedikt Bescheid geben wollen, dass sie früher kam. Und jetzt hatten wir den Salat. Ich unterdrückte erneut einen Fluch. Jetzt nur nicht in Panik geraten. Ich musste cool bleiben, die Sache herunterspielen. Und ich musste Benedikt wecken. Ganz dringend. Aber dazu musste ich hier erst einmal raus und ich trug nicht mehr als meine Unterhose. Warum hatte ich nur mein T-Shirt liegen lassen? Oder meine Hose! So konnte ich doch niemandem unter die Augen treten. Was machte das denn für einen Eindruck? Benedikts Mutter würde mich hassen, noch bevor sie mich auch nur ansatzweise kennengelenrt hatte.
 

Mein Blick irrte hilflos umher und blieb an dem Handtuch hängen, das ich gestern zu Boden geworfen hatte. Ja, das müsste gehen. Schnell hob ich es auf und legte es mir um den Hals. So bedeckte ich wenigstens einen Teil meiner Blöße, ohne allzu offensichtlich zu sein. Um es wirklich echt aussehen zu lassen, ließ ich kurz das Wasser laufen und befeuchtete noch meine Haare, als hätte ich geduscht. Dabei konnte ich nur denken, dass es gut war, dass ich wenigstens nicht tatsächlich unter der Dusche gestanden hatte, als sie reinkam. Warum hatte ich auch nicht abgeschlossen?

 

Egal jetzt. Du musst da raus, sonst wird es komisch.

 

Ich atmete noch einmal tief durch und öffnete dann die Badezimmertür. Draußen konnte ich hören, dass Benedikts Mutter sich in der Küche befinden musste. Ich blieb stehen und lauschte. Sollte ich jetzt wirklich dort hingehen und sie begrüßen? Oder sollte ich einfach wieder in Benedikts Zimmer verschwinden und hoffen, dass ich mich nachher irgendwie an ihr vorbeischmuggeln konnte?

 

Nein. Du sagst wenigstens Hallo, beschloss ich und tappte auf nackten Sohlen in Richtung Küche. Am Tresen, der diese genau wie bei uns zu Hause vom Essbereich abtrennte, blieb ich stehen und räusperte mich. Benedikts Mutter, die gerade Teewasser aufsetzte, drehte sich zu mir um.

 

„Guten Morgen, Frau Dorn“, sagte ich, um ihr gleich zu signalisieren, dass ich wusste, wer sie war. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich …“

 

Ich stockte und wusste nicht, wie ich den Satz zu Ende bringen sollte. Ehe mir allerdings etwas eingefallen war, winkte sie schon ab.
 

„Ach, keine Ursache. Ich müsste mich bei dir entschuldigen. Oder bei Ihnen? Ich weiß nicht genau.“

 

Sie lachte noch einmal eine Spur zu gewollt. Ihre Hände krampften sich um den Griff des Wasserkochers. Offenbar war ihr die Sache ebenso unangenehm wie mir und das obwohl sie voll geschminkt und zurechtgemacht vor mir stand, während ich nur Shorts und ein Handtuch trug.
 

„Ich, äh … nein. Du ist vollkommen okay. Ich bin … ein Mitschüler von Benedikt.“
 

Das war erst mal nicht falsch. Um es amtlich zu machen, streckte ich meine Hand aus.
 

„Theodor von Hohenstein. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

 

Benedikts Mutter nahm meine Hand und schüttelte sie. Dabei schien sie nachzudenken, wo sie meinen Namen schon einmal gehört hatte. Als es ihr einfiel, verbreiterte sich ihr Lächeln.
 

„Ach, ich erinnere mich. Benedikt hat schon mal von dir erzählt. Euch gehört dieses Landgut, nicht wahr?“

 

Ich lächelte ebenfalls, erstarrte jedoch innerlich zu Eis. Was hatte er ihr gesagt? Sicherlich nicht, dass wir beide … oder doch?

 

„Ich … äh … ich werde ihn mal wecken gehen“, sagte ich und nickte ihr noch einmal zu.
 

„Ja sicher. Sag ihm, dass er sich nicht zu beeilen braucht. Der Mann meiner Kollegin hat uns abgeholt, deswegen brauchte ich nicht mit der Bahn zu fahren. Ich hab ihn angerufen, aber er hat nicht gehört.“

 

Ich nickte und lächelte noch einmal und sah dann zu, dass ich wegkam. Als ich Benedikts Zimmertür öffnete, blinzelte er mir schlaftrunken entgegen.
 

„Morgen“, sagte er mit einem verhaltenen Gähnen und lächelte. Für einen Augenblick vergaß ich alles um mich herum, sogar die Begegnung mit seiner Mutter. Leider holte mich die Realität viel zu schnell wieder ein, als sie mir nachrief, ob wir frühstücken wollten. Benedikt riss die Augen auf und ich lächelte ein wenig schief.
 

„Äh, ja. Deine Mutter ist wieder da. Sie kam ins Badezimmer, als ich gerade …“

 

Benedikt stöhnte und ließ sich auf sein Kissen fallen.
 

„Sag mir bitte, dass du nicht nackt warst.“

„Nein, aber fast.“

 

Er stöhnte noch einmal und zog sich die Decke über den Kopf. Als ich näher ans Bett herantrat und versuchte, sie von seinem Gesicht zu ziehen, hielt er sie eisern fest.
 

„Ich bin nicht da. Ich bin krank. Oder gestorben. Oder ausgewandert. Nach Timbuktu. Oder Usbekistan. Je nachdem, was weiter weg ist.“

 

„Timbuktu“, antwortete ich automatisch. „Das liegt in Afrika in der Nähe des Niger.“

 

„Aha“, machte Benedikt nur und sein Tonfall zeigte mir mehr als deutlich, wie sehr ihn das gerade nicht interessierte. Ich musste ein bisschen grinsen. Noch einmal zog ich an der Decke.
 

„Hey, das Schlimmste haben wir hinter uns.“

„Glaubst du! Du kennst meine Mutter nicht.“

„Wieso? Was könnte passieren?“

 

Bewegung kam in den Deckenberg. Benedikt kam wieder zum Vorschein mit rotem Gesicht und völlig verstrubbelten Haaren. Seine Augen funkelten böse.
 

„Sie wird dich ausfragen. Ganz sicher. Sie wird lauter furchtbar peinliche Fragen stellen und ich werde daneben sitzen und tausend kleine Tode sterben. Bei jeder einzelnen.“

 

Immer noch lachend zog ich die Augenbrauen hoch.
 

„Woher willst du das wissen?“

 

Er sah mich an, als hätte ich ihn gerade gefragt, ob sich die Erde wirklich um die Sonne dreht.

 

„Ich kenne sie seit meiner Geburt. Ich weiß, wovon ich spreche.“

 

Mit noch einem Stöhnen ließ er sich wieder in das Kissen sinken, vielleicht in der Hoffnung, dass es sich auftun und ihn verschlingen würde. Ich konnte es ihm ein Stück weit nachempfinden.
 

„Du bist ja nicht alleine“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Er öffnete wieder ein Auge und sah mich an. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
 

„Stimmt. Du bist noch da.“

„Wo sollte ich sonst sein?“

„Weiß nicht.“

 

Er griff mit einer Hand nach mir, schielte dann jedoch an mir vorbei zur Tür.
 

„Hast du abgeschlossen?“

„Nein, sollte ich?“

 

Er überlegte, dann schüttelte er den Kopf.
 

„Nee, ist okay. Obwohl ich schon Lust gehabt hätte.“

 

Er lächelte jetzt wieder und strich mir mit der Hand über die Brust und weiter in Richtung Bauch. Ich fing seine Hand ab, bevor es gefährlich werden konnte.
 

„Deine Mutter“, erinnerte ich ihn. Er verdrehte die Augen.
 

„Ja, ja. Warum ist sie überhaupt schon da? Sie wollte doch erst in …“, er angelte nach seinem Handy und rief die Uhr auf, „drei Stunden am Bahnhof sein.“

„Der Mann ihrer Kollegin hat die beiden am Flughafen abgeholt.“

„Na, was für ein Glück.“

 

Wieder konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.
 

„Ich wusste ja gar nicht, dass du fließend Sarkastisch sprichst.“

„Jahaa. Ich arbeite nebenbei noch an meinem Zynisch und Sardonisch. Nur dieses fiese Gelächter will mir einfach nicht so recht gelingen. Es ist wirklich tragisch.“

 

Er seufzte übertrieben schwer und blickte melancholisch in die Gegend, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte und zu grinsen begann. Ich erwiderte es und beugte mich vor, um ihn zu küssen.
 

„Halt, Moment!“, rief er und langte nach seinem Wasserglas, aus dem er einen großen Schluck nahm und sich lange und gründlich den Mund ausspülte, bevor er es wieder zurückstellte und mich breit anlächelte.
 

„So, jetzt bin ich bereit.“

 

Ich schüttelte leicht den Kopf, bevor ich mich vorbeugte und seine Lippen ganz kurz mit meinen berührte. Als ich mich wieder zurückziehen wollte, murrte er.
 

„Was denn? Dafür hätte ich mich nicht vorbereiten müssen.“

 

Sein Blick rutschte ein paar Mal von meinem rechten zu meinem linken Auge und wieder zurück, bevor er auf einmal zugriff und mir die Brille von der Nase hob. Er faltete sie zusammen und legte sie auf den Bücherstapel, der neben dem Bett lag. Danach schlang er die Arme um meinen Hals.
 

„Küss mich“, verlangte er und ich fühlte mich an die letzte Nacht erinnert, in der ich es gewesen war, der diese Worte ausgesprochen hatte. Trotzdem kam ich seiner Bitte gerne nach und küsste ihn erneut. Unsere Lippen trafen sich und kurz darauf unsere Zungen. Wieder brummte Benedikt, dieses Mal wohliger.
 

„Mhm, daran könnte ich mich echt gewöhnen.“

 

Er öffnete die Augen und sah mich an. Auf diese Entfernung fiel es mir nicht schwer auch noch die kleinste Kleinigkeit in seinem Gesicht zu erkennen. Die breiten Sommersprossen, die sich fast ausschließlich auf seiner Nase befanden, die vollen Lippen und natürlich diese tiefen, blauen Augen, die mich aufzusaugen und in die Tiefe zu ziehen schienen. Die weißen Sprenkel darin wie Schaumkronen auf einem aufgewühlten Meer. Wenn ich hätte wählen müssen, hätte ich gesagt, dass Benedikt mich an den Herbst erinnerte. Mit seinen Stürmen und bunten Blättern. Mit Regen und Sonnenschein und Tagen, bei denen man nicht so recht wusste, was einen erwartete. Aber eines war gewiss: Es wurde niemals langweilig. Ich lächelte bei dem Gedanken.
 

„Was?“, wollte er wissen und zog mich zu sich aufs Bett. „Was ist so lustig?“

„Nichts.“

„Lügner.“

 

Ich atmete tief ein.

 

„Es ist albern, deswegen möchte ich es dir nicht sagen.“

„Ist es was Versautes?“

„Nein. Eher was Lyrisches.“
 

Er lächelte wieder. Seine Finger strichen durch meine Haare. Dann runzelte er die Stirn.
 

„Hast du geduscht?“

 

Ich lachte.
 

„Nein, ich hab nur so getan, um deine Mutter zu täuschen. Ich wollte nicht in Unterwäsche vor ihr stehen, ohne dafür eine gescheite Erklärung parat zu haben.“

 

Die Erwähnung seiner Erziehungsberechtigten ließ Benedikt erneut aufstöhnen.
 

„Ach ja, da war ja was.“ Er seufzte. „Na, hilft wohl nichts, irgendwann ist immer das erste Mal.“

 

Ich horchte auf.
 

„Das erste Mal? Das erste Mal wofür?“

„Dass sie einen meiner Freunde trifft. Also … äh … das klang jetzt irgendwie komisch. Es waren ja nicht so viele.“

 

Ich blinzelte und wusste nicht, worauf genau sich mein Herzklopfen gerade bezog. Darauf, dass er mich seinen Freund genannt hatte, oder darauf, dass ich anscheinend der Erste war, den er seiner Mutter vorstellte. Ich räusperte mich.
 

„Dann hat sie … noch nie einen deiner Exfreunde getroffen?“

 

Er schnaubte und sah mich mit gerunzelten Brauen an.
 

„Nein, das war …“

 

Er überlegte kurz, bevor er weitersprach.

 

„Also gut, eigentlich sollte man mit seinem Neuen ja nicht über seine Verflossenen reden, aber wenn du nun so danach fragst: Mit Zweien war ich zusammen, als ich noch nicht geoutet war. Das war … Es hat sich nicht ergeben, dass sie einen von ihnen kennengelernt hat. Und der dritte … also das war mehr so eine Art One-Night-Stand. Bei der zweiten Verabredung hat er mir klipp und klar gesagt, dass ich nicht der Einzige sein werde, mit dem er sich trifft. Da hab ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Hab ihn nie wieder gesehen.“

 

Er klang fast ein wenig resigniert, als er das sagte. Das gefiel mir nicht. Ich streckte die Hand nach ihm aus.
 

„Vergiss den Kerl. Er hat ja keine Ahnung, was er verpasst.“

 

Ein kleines Grinsen schlich sich auf Benedikts Gesicht.
 

„Tja, ist wohl so. Seit dem bin ich vorsichtiger geworden, was Herzensangelegenheiten angeht.“

 

Bei diesen Worten sah er mir tief in die Augen und ich wusste, was das bedeutete. Es war ein erneutes Geständnis. Eine Versicherung, dass er es ernst mit mir meinte. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es erschien mir einfach noch zu früh, um irgendwelche Versprechungen zu machen. Obwohl mein Herz danach schrie, genau das zu tun. Statt etwas zu sagen, küsste ich ihn.
 

„Wir sollten deine Mutter nicht warten lassen“, sagte ich und hoffte, dass er es nicht falsch verstand. Dass sein messerscharfer Geist durchblickte, was gerade in mir vorging. Und tatsächlich nickte er nur.

 

„Hast recht. Dann mal auf in den Kampf.“

 

Ich wartete noch ab, bis Benedikt aus dem Badezimmer zurückkam und sich ebenfalls angezogen hatte, bevor ich mich erhob und mit ihm zur Tür ging. Dort angekommen blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu mir herum.
 

„Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?“

 

Ich runzelte die Stirn.
 

„Was meinst du?“

 

Er zuckte minimal mit den Achseln und blickte mich ein wenig unbehaglich an.
 

„Na ja. Du weißt schon. Meine Mutter und so. Wenn sie mitkriegt, dass du …“

 

Er sprach nicht weiter, aber ich wusste natürlich, was er meinte. Ich versuchte, das schlechte Gefühl, das mir diese Offenlegung hätte machen müssen, hervorzurufen, aber es gelang mir nicht. Ein wenig verlegen schob ich einen Mundwinkel nach oben.

 

„Ich hab mir gar keine Gedanken darüber gemacht.“

 

Benedikt schaute mich einen Augenblick lang mit offenem Mund an, bevor er kopfschüttelnd lachte.
 

„Du bist unglaublich, weißt du das?“

„Warum?“

„Na, weil …“
 

Er schnaufte und raufte sich die Haare.

 

„Also zuerst versteckst du dich zwei Jahre lang in deinem Schrank und jetzt, wo du einmal ins Licht getreten bist, bewegst du dich darin wie ein Fisch im Wasser. Als hättest du nie was anderes gemacht. Und du merkst es nicht einmal. Ich hab gedacht, ich seh nicht richtig, als du dir gestern einfach so das Tuch um den Hals gebunden hast. Und jetzt? Jetzt bleibst du bei der Aussicht, mit meiner Mutter zusammenzutreffen, absolut cool. Ich … ich halte das einfach nicht aus. Du schaffst mich, Theo. Ja wirklich.“
 

Er wollte sich umdrehen und gehen, aber ich griff nach seinem Arm und zog ihn noch einmal an mich. Meine Stirn berührte seine.
 

„Ich hatte einen guten Lehrmeister“, flüsterte ich „Du bist derjenige, der unglaublich ist. Ich bin so froh, dass du mir noch eine Chance gegeben hast.“

 

Danach küsste ich ihn und er lächelte, bevor er leise sagte, dass es jetzt Zeit wäre. Ich nickte und wir gingen gemeinsam nach vorne, wo seine Mutter bereits den Frühstückstisch gedeckt hatte. Dabei hatte sie sich sichtlich Mühe gegeben. Selbst den Aufschnitt, der aus nicht viel mehr als drei schon etwas angetrockneten Scheiben Salami und einer halben Diät-Leberwurst bestand, hatte sie auf extra Teller gelegt. Die Gedecke waren mit farblich passenden Platzdeckchen und Servietten in dicken, silbernen Ringen versehen. Neben jedem Teller stand zudem ein Glas mit Orangensaft. Man hätte denken können, man befinde sich auf einem Staatsbankett. Nur die ordensgeschmückten Gäste fehlten.
 

„Hey ihr beiden“, rief Benedikts Mutter fröhlich. „Der Tee ist schon fertig, aber ich kann auch noch Kaffee kochen, wenn jemand möchte.“

 

Da ich mir denken konnte, dass die implizierte Frage sich an mich richtete, schüttelte ich den Kopf.
 

„Ich nehme gerne einen Tee.“

„Gut, dann lasst uns essen.“

 

Wir setzten uns; Benedikt und ich an gegenüberliegenden Plätzen mit seiner Mutter an der Stirnseite. Sie lächelte breit mit ihrem rot geschminkten Mund.
 

„Viel ist ja nicht da. Mein lieber Sohn hat nämlich vergessen einzukaufen“, entschuldigte sie sich, kaum dass ich meinen Stuhl zurechtgerückt hatte. Benedikt rollte übertrieben stark mit den Augen.

 

„Ja, tut mir leid. Auch dass ich dich nicht abgeholt habe. Ich hab die Nachricht verschlafen.“

„Ach, das macht doch nichts. Sabines Mann war gestern in der Gegend, um seine Schwester zu besuchen und hat dann einfach bei ihr übernachtet. War gar kein Problem.“

 

Ich wartete, ob sie eine Bemerkung darüber machen würde, dass ich ja die Nacht auch hier verbracht hatte, aber sie sagte nichts. Stattdessen plapperte sie während des Essens fröhlich vor sich hin und erzählte von dem wunderbaren Strand, dem grässlichen Hotel und den grandiosen Ausflügen, die sie mit ihrer Kollegin zusammen gemacht hatte.
 

„Wir haben uns nach drei Tagen ein Auto gemietet, weil die Busverbindungen so furchtbar waren, und dann sind wir einfach drauf los gefahren. Einmal haben wir eine wunderbar einsame Bucht mit einem süßen, kleinen Hotel entdeckt. 'Villa Rosa' hieß es und lag direkt am azurblauen Wasser zwischen diesen malerischen Felshängen. Wir haben schon gesagt, wenn wir das nächste Mal nach Mallorca fahren, buchen wir uns dort ein Zimmer. Es war wirklich ganz zauberhaft.“

 

Sie lachte und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Ihr Lippenstift hinterließ einen Abdruck auf dem Tassenrand.

 

„Es ist wirklich ein Jammer, dass du nicht mitgekommen bist“, sagte sie danach zu Benedikt. „Obwohl ich so natürlich auch ziemlich viel Spaß hatte“

 

Er seufzte.
 

„In meinem Alter fährt man aber nicht mehr mit seiner Mutter in den Urlaub.“

„Ach was, du hättest ja ohne mich zum Strand gehen können. Da gab es ein paar wirklich nette Jungs. Die hätten dir bestimmt gefallen.“

Mama!“

 

Ich sah, wie Benedikt leicht rot um die Nase wurde und seine Mutter wütend anblitzte, bevor sein Blick in meine Richtung huschte. Ich tat, als hätte ich nichts gehört und betrachtete interessiert die Krümel auf meinem ansonsten leeren Teller. Benedikts Mutter hingegen schlug sich die Hand vor den Mund.

 

„Oh weh, das tut mir leid. Ich dachte, er weiß, dass du …“ Sie blickte von Benedikt und mir und wieder zurück. „Ich wollte dich nicht aus Versehen outen. So sagt man doch, oder?“

 

Benedikt atmete angestrengt und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

 

„Ja, Mama. Und du hast mich nicht geoutet. Theo weiß Bescheid.“
 

Er warf ihr bei diesen Worten einen langen Blick zu. Sie sah ihn zunächst verständnislos an, als es ihr anscheinend zu dämmern begann, was hier gerade abging. Vor Schreck blieb ihr glatt der Mund offenstehen.
 

„Aber … aber du hast doch gesagt, er sei nicht …“

 

Benedikt zuckte mit den Schultern.
 

„Hab mich geirrt.“

„Oh.“

 

Sie nahm mich noch einmal in Augenschein und ich lächelte schwach, als mir klar wurde, dass sie überhaupt nicht gewusst hatte, warum ich hier übernachtet hatte. Das hieß, wenn ich einfach gegangen wäre, wäre es nie zu dieser Szene gekommen und sie hätte es zumindest an diesem Tag nicht erfahren. Aber andererseits war ich froh, dass es jetzt heraus war. Nicht auszudenken, wenn sie vielleicht irgendwann mal reingeplatzt wäre, wenn wir … Nein, ich stellte es mir lieber nicht vor.

 

Benedikts Mutter schien mit der Situation ebenso überfordert wie ich und selbst Benedikt wusste anscheinend gerade nicht, was er jetzt sagen sollte. Schließlich atmete er tief durch.
 

„Ich … es tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe. Das mit Theos Übernachtung war eine … recht spontane Entscheidung. Ich … ich hatte noch keine Gelegenheit, mir darüber Gedanken zu machen, dass du vielleicht was dagegen haben könntest.“

 

„Dagegen?“ Benedikts Mutter blinzelte überrascht. „Aber Schatz, ich hab doch nichts dagegen. Obwohl … na ja. Es wäre schon gut, wenn ihr mich in Zukunft vorwarnen würdet. Und die Badezimmertür abschließen wäre auch ganz nett.“

 

Dieses Mal war ich es, dem das Blut ins Gesicht schoss. Meine Wangen wurden merklich wärmer.
 

„Ich werde mich bemühen“, sagte ich möglichst neutral. „Aber so langsam sollte ich vielleicht aufbrechen.“

 

„Ich bring dich noch raus.“

 

Benedikt schob hastig den Stuhl zurück und im nächsten Augenblick mich in Richtung Ausgang. Erst, als die Windfangtür sich hinter uns schloss, atmete er wieder auf. Er sah mich an und grinste er ein bisschen.
 

„Sorry, das war …“

 

„Ziemlich schräg?“, bot ich an.

 

„Ja“, bestätigte er lachend. „Ich hab echt nicht gedacht, dass sie so cool damit ist. Wahrscheinlich darf ich mir gleich noch was anhören, wenn du weg bist:“

 

Er schwieg, während ich mir die Schuhe anzog. Danach zog er mich an sich und in eine Umarmung.
 

„Am liebsten wäre mir, wenn du gar nicht gehen würdest.“

 

Ich lächelte.

 

„Ich will auch nicht, aber ich muss. Meine Eltern warten bestimmt schon auf mich.“

 

Er nickte.
 

„Was hast du ihnen eigentlich erzählt, wo du bist?“

 

Benedikt wusste, dass ich meinen Eltern eine Nachricht geschrieben hatte auf dem Weg hierher. Ich hatte ihm nicht gesagt, was darin gestanden hatte. Nur, dass sie Bescheid wussten, dass ich über Nacht wegblieb. Ich atmete einmal tief durch.
 

„Sie denken, dass ich bei Mia bin“, sagte ich wahrheitsgemäß. Sofort versteifte er sich in meinen Armen. Ich redete schnell weiter.
 

„Es ist nicht, wie du jetzt denkst. Sie … sie hat mir angeboten, mich Jo gegenüber zu decken, weil der mich zu irgendeiner Party mitschleppen wollte. Und da habe ich der Einfachheit halber meinen Eltern das Gleiche erzählt. Ich wollte dich nicht verschweigen. Es war nur …“

 

Ich verstummte, weil ich nicht wusste, wie ich das weiter erklären sollte. Als ich diese Ausrede erfunden hatte, war die Lage zwischen uns ja noch eine ganz andere gewesen. Und wäre es nur um meine Eltern gegangen, hätte ich ihnen bestimmt erzählt, dass ich mit einem Freund weggehen wollte. Nur unter diesen Umständen …

 

„Ist schon okay. Ich versteh das.“

 

Benedikt wollte sich von mir losmachen, aber ich hielt ihn fest und zog ihn näher.
 

„Hey, ich … ich will das mit dir. Wirklich. Es ist nur …“ Ich atmete erneut tief durch. „Ich hab mir einfach noch keine Gedanken darüber gemacht, wie ich es meinen Eltern sage. Oder meinem Bruder oder Jo oder sonst irgendwem. Aber ich werde es tun. Das verspreche ich dir. Weil … weil du nämlich das Beste bist, was mir je passiert ist. Und ich will, dass alle Welt das weiß.“

 

Seine Lippen, die er gerade noch zusammengepresst hatte, verzogen sich zu einem kleinen Lächeln.
 

„Wirklich?“

„Wirklich.“

 

Ich zog ihn noch einmal an mich und küsste ihn. Ganz sanft und vorsichtig, als würde sonst das zarte Gebilde zwischen uns zerbrechen, das ich gerade schon bis in die Grundfesten erschüttert hatte.
 

„Ich will mit dir zusammen sein.“

 

Er schloss die Augen und küsste mich noch einmal.
 

„Ich auch“, wisperte er so leise, dass ich es fast nicht hören konnte. „Ich auch.“

 

Danach küsste er mich noch einmal und ich wusste, dass das hier der Beginn von etwas wirklich Gutem war. Ich wusste zwar noch nicht, wie ich es anstellen würde, aber ich wusste, dass ich ihn nie wieder loslassen würde. Trotzdem musste es irgendwann sein. Wir verabschiedeten uns unter vielen Küssen, bis ich mich schließlich herumdrehte und anfing, den weißen Kiesweg entlangzulaufen. Ich kam drei Schritte weit, ehe ich stehenblieb. Mir fiel nämlich auf, dass mir etwas sehr Wichtiges entfallen war. Als ich mich umdrehte, sah Benedikt mich zunächst verständnislos an, bevor er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug.
 

„Wir sind so dämlich.“

„Kein Widerspruch.“

„Dein Rad steht immer noch am Bahnhof.“

„Exakt.“

 

Ich grinste und er ebenfalls, bevor er seiner Mutter über die Schulter zurief, dass er mich eben zum Bahnhof bringen würde. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, schnappte sich den Schlüssel und zog die Haustür hinter sich zu.
 

„Und ich dachte schon, ich hätte dein dummes Gesicht heute zum letzten Mal gesehen.“

„Ah, das tut mir jetzt aber leid für dich, dass ich dich noch weiter belästigen muss.“

„Mir auch.“

 

Er grinste und nahm meine Hand, bevor wie beide wie zwei Irre den Weg hinab rannten und dabei lachten und lachten und lachten. Die Nachbarn, wenn sie es denn gesehen hätten, hätten bestimmt gedacht, dass wir verrückt waren. Aber das waren wir nicht. Nur wahnsinnig verliebt. Alle beide.

Gebundene Flügel

Die Route, die Benedikt zum Bahnhof nahm, war eine andere als die, auf der wir zu ihm nach Hause gefahren waren. Ich mochte mich täuschen, aber mir kam der Weg länger vor. Wir saßen im Auto und sahen uns immer wieder an, während draußen irgendwelche Ortschaften auftauchten und wieder im Grün der Landschaft versanken. Dabei grinsten wir wie zwei bekiffte Giraffen, sodass es mich nicht gewundert hätte, wenn wir schlichtweg irgendwo gelandet wären statt am Bahnhof. Als das Gebäude schließlich in Sichtweite kam, hatte ich trotzdem das Gefühl, noch nicht genug Zeit mit ihm verbracht zu haben. Die Aussicht, Abschied nehmen zu müssen, zerrte an meinem Herz.

 

„Wir sind da“ sagte Benedikt, nachdem wir unter Knirschen und Staubwolken auf den Parkplatz gefahren waren. Ich hatte bereits gesehen, dass mein Rad noch da war. Immerhin etwas. Trotzdem hätte ich mir in diesem Moment gewünscht, dass es gestohlen gewesen wäre. Es hätte mir noch ein wenig Zeit mit Benedikt erkauft. Aber natürlich war das Unsinn.

 

„Ja, sind wir“, antwortete ich sinnvollerweise und sah zu ihm rüber. Er lächelte und auch ich schob meine Mundwinkel nach oben. Mir war nicht danach, aber es war besser als die Wahrheit. Ich griff nach seiner Hand.
 

„Sehen wir uns Morgen?“

„Wird sich nicht vermeiden lassen.“

 

Wieder lächelte ich.
 

„Das meine ich nicht. Ich meinte nach der Schule.“

 

Ich wusste, was ich damit in den Raum stellte, und Benedikt wusste es auch. Ich hörte, wie er tief durchatmete.
 

„Dann bleibt es erst mal geheim?“, fragte er. Es klang nicht vorwurfsvoll. Wieder lächelte ich. Dieses Mal entschuldigend.
 

„Ich … ja. Bitte versteh das nicht falsch, aber …“

„Tue ich nicht.“

 

Seine Antwort kam so schnell, dass ich mir nicht sicher war, ob er die Wahrheit sagte oder nur, was ich hören wollte. Was ich hören musste. Ich drückte seine Finger ein wenig fester.
 

„Hey. Ich hab dir schon gesagt, dass ich das mit dir will. Aber das Ganze betrifft nicht nur uns beide. Ich denke da auch an Mia.“

 

Er runzelte die Stirn.
 

„Wie meinst du das?“

„Na denk doch mal nach. Wenn rauskommt, dass wir jetzt ein Paar sind, könnte das Konsequenzen haben. Immerhin war ich bis vor Kurzem noch mit ihr zusammen. Es könnte Gerede geben. Ich will nicht, dass das passiert. Es wird ohnehin für Aufsehen sorgen. Ich … ich will nicht …“

 

Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Ich wollte einfach nicht, dass jemand kam und beschmutzte, was ich mit Benedikt hatte. Auch um seinetwillen. Die Vorstellung, dass jemand in ihm einen Eindringling in meine Beziehung zu Mia sah, gefiel mir nicht. Denn so war es nicht gewesen. Wenn ich ehrlich gewesen wäre – zu mir selbst und zu ihr – wäre das mit uns schon früher zu Ende gewesen. Ich hatte nur nicht den Mut gefunden, es auszusprechen. Aber das ging niemanden etwas an. Es musste nicht auf dem Schulhof breitgetreten werden. Und weder sollte jemand aus Mia eine Märtyrerin noch etwas anderes machen. Ich wollte auch sie davor schützen, ins Gerede zu kommen. Den Gedanken, dass es dafür vielleicht nötig sein würde, die Beziehung zu Benedikt während der gesamten Schulzeit geheim zu halten, schob ich weit von mir weg. Das wollte ich jetzt nicht hören. Ich wollte daran glauben, dass es funktionieren konnte. Dass ich es schaffen konnte. Dass wir es schaffen konnten. Dass das mit uns groß genug war, um nicht unter die Räder zu kommen. Ich wollte es glauben.

 

Benedikt hingegen schien mit dem Brocken zufrieden, den ich ihm zugeworfen hatte. Auch er wollte glauben. Dass es für uns eine Zukunft gab. Eine Freiheit, zu sein wie alle anderen. Ein ganz normales Teenagerpaar. Mit gemeinsamen Pausen und Nachmittagen. Mit Abschiedsküssen und Händchenhalten. Mit Eisessen und Kinoabenden mit Freunden. Und mit gemeinsamen Nächten. Ich hoffte so sehr darauf.

 

Plötzlich begann er zu grinsen.
 

„Aber es gibt jemanden, vor dem wir es nicht werden verbergen können.“

„Und wer wäre das?“

„Anton.“

 

Ich stieß einen Laut der Verblüffung aus.
 

„Anton? Warum ausgerechnet er?“

 

Benedikts Grinsen wurde breiter.
 

„Weil Anton Dinge weiß. Manchmal ist es wirklich gruselig, aber glaub mir, man gewöhnt sich daran. Und ich will es ihm nicht erst in einem halben Jahr oder so erzählen, nur um mir dann anhören zu müssen, dass er das sowieso schon längst alles wusste. Außerdem würde er uns bestimmt helfen, wenn wir mal … alleine sein wollen.“

 

Benedikts Augenbrauen wackelten dabei vielsagend und steckten mich mit seiner Fröhlichkeit an. Ich stimmte lachend zu, bevor ich wieder ernst wurde.
 

„Ich würde es gerne Mia sagen.“

 

Jetzt war es Benedikt, der mich erstaunt ansah.
 

„Mia? Warum ihr?“

 

Ich blickte auf meine Hände hinab, die auf meinem Schoß lagen. An einem der Mittelfinger war ein bisschen Dreck unter dem Nagel.
 

„Weil … weil ich ihr alles erzählt habe. Von uns meine ich.“

 

Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Immerhin hatte ich ihn damit quasi vor Mia geoutet. Das war mir erst in dem Moment klargeworden, als seine Mutter davon gesprochen hatte. Außerdem hatte ich Mia ja auch erzählt, dass ich und Benedikt letztes Jahr …

 

„Etwa auch, was nach der Party passiert ist?“

 

Benedikts Stimme war jetzt leicht panisch. Ich nickte schwach.

 

„Ach du dickes … Und wie hat sie reagiert?“

 

Ich zuckte die Achseln.
 

„Na ja. Ich fürchte, was ich da von mir gegeben habe, war ein ziemliches Kuddelmuddel. Aber am Ende hat sie was ziemlich Kluges gesagt.“

„Und was?“

 

Ich blickte auf und ihm somit direkt in die Augen.

 

„Sie hat gesagt, dass ich ehrlich zu dir sein soll. Dass ich dir sagen soll, was ich für dich empfinde.“

„Das hat sie gesagt?“

„Ja.“

 

Benedikt stieß geräuschvoll die Luft aus.
 

„Das ist heftig. Zumal, nachdem du gerade mit ihr Schluss gemacht hattest. Ich wäre mir an deiner Stelle echt scheiße vorgekommen.“

 

„Bin ich mir auch“, erwiderte ich leise. „Aber sie hat gesagt, dass ich das mit dir gefälligst hinkriegen soll, damit sie nicht wegen nichts und wieder nichts abserviert worden ist.“

 

Ich sah Benedikt noch einmal um Zustimmung heischend an.
 

„Deswegen würde ich es ihr gerne sagen. Sie würde mich vermutlich sowieso danach fragen und ich will sie nicht anlügen.“

 

Er seufzte, allerdings eher resignierend.

 

„Ich hab ja eh keine große Wahl. Aber ein bisschen schräg ist das schon, findest du nicht?“

 

Ich lächelte schief.
 

„Ja, oder? Aber gerade ist doch auch langweilig.“

 

Er stutzte einen Augenblick, bevor er zu lachen begann.

 

„Ich liebe es, wenn du so bist.“

„Wie?“

„Witzig.“

 

Immer noch lachend beugte er sich zu mir herüber und küsste mich. Danach blieb er in dieser Position. Sein Gesicht schwebte dicht vor meinem.
 

„Ich wünschte, wir könnte noch länger bleiben, aber meine Mutter wartet vermutlich schon darauf mich auszuquetschen, und deine Eltern rechnen doch bestimmt auch langsam mit dir, oder nicht? Bei euch gibt es doch bestimmt sonntags Familien-Mittagessen mit alle Mann und so.“

 

Ich seufzte lautlos.
 

„Ja, gibt es. Bei euch nicht?“

„Na ja, ist nicht viel her damit bei zwei Leuten. Früher, als meine Schwester noch zu Hause war, haben wir das auch gemacht, aber jetzt läuft es sonntags meistens auf Brunch hinaus. Wir essen eher abends warm.“

„Aber nur, wenn auch eingekauft ist.“

 

Benedikt schnitt eine Grimasse und zog sich wieder auf seinen Sitz zurück.
 

„Ja danke, dass du mich nochmal dran erinnerst. Am besten halte ich auf dem Heimweg an der Tankstelle an und besorge was. Die sind ja inzwischen ausgerüstet. Fragt sich nur, mit was sich meine Mutter eher bestechen lässt, mir nicht den letzten Nerv zu rauben. Würstchen aus dem Glas oder Dosenravioli? Wer die Wahl hat, hat die Qual.“

„Wenn du Glück hast, haben sie vielleicht Pizza.“

„Aber nur mit wirklich sehr viel Glück.“

 

Er grinste, aber als ich nichts weiter darauf erwiderte, schwiegen wir beide. Natürlich hätte ich das Gespräch noch weiter am Laufen halten können. Ich hätte ihn nach seiner Schwester fragen können oder nach seinem Vater. Doch beides wären nur Ausreden gewesen, weil ich nicht gehen wollte.
 

„Ich muss dann mal“, sagte ich stattdessen.

„Ja, musst du wohl.“

 

Ich lächelte noch einmal und klaute mir einen allerletzten Kuss, bevor ich endlich die Wagentür öffnete und ausstieg. Fast schon gewaltsam löste ich meine Finger anschließend vom Wagendach. Es wurde wirklich Zeit nach Hause zu fahren. Sonst würden meine Eltern doch noch anfangen, Fragen zu stellen. Dabei hatte ich überhaupt keine Idee, wie ich ihnen das Ganze beibringen sollte. Oder wann. Oder wem zuerst.

 

Alles nicht so einfach.

 

Es hupte neben mir, während ich über den nahezu leeren Parkplatz zu meinem Rad ging. Ich hob noch einmal die Hand zum Gruß. Kaum war das kleine, rote Auto jedoch um die Ecke verschwunden, überfiel mich ein Gefühl der Kälte. Es war, als habe jemand die Sonne ein paar Grad heruntergedreht.

 

Du wirst noch bekloppt.

 

An meinem Rad angekommen löste ich die Kette und schwang mich in den Sattel. Als ich in die Pedale trat und die profilierten Reifen begannen, die Meter zu fressen, spürte ich zum ersten Mal seit langem wieder das Verlangen, eine längere Strecke zurückzulegen. Nicht nur bis nach Hause sondern noch viel weiter. Ohne ständig anhalten zu müssen oder die Straßenseite zu wechseln, weil der Radweg zu Ende war. Einfach nur fahren, fahren, fahren. Die Weite genießen und die Länge. Oder ein paar herausforderndere Strecken im Wald bewältigen. Ich konnte die feuchte, erdgeschwängerte Luft fast schon riechen.

 

Aber erst mal musst du dich bei deinen Eltern melden. Alles Weitere sehen wir dann.

 

Also trat ich kräftiger in die Pedale; besonders als ich die Stadt endlich hinter mir gelassen hatte. Abseits der großen Straßen war am Sonntag niemand unterwegs und so konnte ich die Gänge voll ausnutzen. Ich wurde schneller und schneller, bis ich das Gefühl hatte, den Boden fast nicht mehr zu berühren. Es fühlte sich gut an.

 

Für einen Moment schloss ich die Augen. Genoss den Rausch der Geschwindigkeit. Den Wind auf meinem Gesicht. Die Stille, nur unterbrochen vom klickenden Geräusch des Leerlaufs. Es war, als würde ich fliegen. Frei wie die Schwalben über den Feldern und Wiesen, an denen ich vorbeifuhr. Ein überwältigendes Gefühl.

 

Aber nicht so sehr wie mit Benedikt zusammenzusein.

 

Der Gedanke ließ mich lächeln.

 

 

Als ich auf den Hof fuhr, trat mein Vater gerade aus dem Stall. In der Hand hatte er einen Eimer und verschiedenes Werkzeug. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Das Gefühl der Lebendigkeit, das mich gerade noch durchströmt hatte, verflüchtigte sich. Mir war, als würde ich Ketten rasseln hören und das Quietschen einer eisernen Tür.
 

„Ach, sieht man dich auch mal wieder“, sagte er zur Begrüßung. „Hast wohl vergessen, dass wir die Fenster abdichten wollten.“

 

Ich machte ein zerknirschtes Gesicht.
 

„Das war heute?“

„Ja. Aber ich hab’s jetzt schon allein geschafft.“

 

Ich horchte, ob da ein Vorwurf in seiner Stimme lag, aber typisch mein Vater, war nichts festzustellen. Er hatte lediglich die Information weitergegeben, dass die Arbeit bereits erledigt war. Nichts weiter.
 

„Ich hab heute Nachmittag Zeit“, bot ich trotzdem an. Er schüttelte den Kopf.
 

„Nee, lass mal. Ist ja Sonntag.“

 

Damit war die Diskussion zu Ende und wir konnten wieder zur Tagesordnung übergehen. Alles wie immer. Nur ich nicht.
 

Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, was wohl passieren würde, wenn ich einfach damit herausplatzte. Wenn ich meinen Vater nachrief, dass ich schwul war. Einfach so, ohne etwas zu beschönigen. Ohne Einleitung. Ohne Mittelteil oder Abschluss. Nur der pure Fakt. Wie würde er reagieren? Und würde er mir überhaupt glauben?

 

„Kommst du?“, rief mein Vater und ich beeilte mich, ihm in die Küche zu folgen, damit meine Mutter nicht warten musste. Als ich eintrat, nahm er sich gerade Kartoffeln. Statt die Schüssel meiner Mutter zu geben, die ebenfalls bereits am Tisch saß und mich begrüßte, hielt er sie mir hin. Ich griff nach dem Türrahmen.
 

„Ich … hab vergessen, mir die Hände zu waschen.“

 

Eilig trat ich den Rückzug an und stürmte ins Bad. Ich konnte das nicht. Wenn ich mich jetzt an den Tisch setzte, würde das in einer Katastrophe enden. Ich würde damit herausplatzen und alles ruinieren.

 

Dann kannst du vermutlich von Glück sagen, wenn er die Schüssel nicht nach dir wirft, verhöhnte ich mein Spiegelbild. Und dann wird er dir sagen, dass er so etwas nicht duldet und dass jetzt Schluss mit dem Unfug ist.

 

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Das war doch idiotisch. So würde mein Vater sicher nicht reagieren. Er lebte ja nicht hinterm Mond. Außerdem neigte er nicht zu gewalttätigen Ausbrüchen. Es war also absoluter Unsinn, den ich mir da ausmalte. Und trotzdem hatte ich Angst. Angst davor, dass er mich ablehnen würde. Dass er … einfach aufstehen und gehen würde. Und nicht mehr wiederkommen. Das konnte ich meiner Mutter nicht antun. Denn natürlich würde sie zu mir halten. Bei ihr war ich mir da sicher. Aber mein Vater? Bei dem war alles möglich.

 

Er wird cool damit sein. Du musst nur einen Weg finden, wie du es ihm schonend beibringen kannst. Dann wird das schon.
 

Ich atmete tief durch, ließ mir ein wenig kaltes Wasser über die Hände laufen und trocknete sie danach leidlich ab. So konnte ich wenigstens behaupten, mir tatsächlich die Hände gewaschen zu haben. Im Esszimmer wartete ein gefüllter Teller auf mich.
 

„Ich hab dir schon mal aufgetan“, sagte meine Mutter und lächelte. „Ich hoffe, die Rouladen sind was geworden. Ich hab mal was Neues ausprobiert. Mit Hähnchen und Salbei.“
 

„Sieht gut aus“, sagte ich pflichtschuldig und setzte mich auf meinen Platz. Schweigend begann ich zu essen. Ich spürte die Blicke, die mich trafen, aber ich ignorierte sie. Ohne zu schmecken, was ich da eigentlich aß, steckte ich Bissen um Bissen in den Mund. Ich hätte auch Presspappe essen können. Es wäre aufs Gleiche herausgekommen.
 

„War es schön bei Mia?“, fragte meine Mutter, wohl um die Stille, die neben Kaugeräuschen und Besteckklappern das Zimmer beherrschte, zu vertreiben. Ich nickte nur.

 

„Habt ihr was Schönes unternommen?“

 

Jetzt schüttelte ich den Kopf.
 

„Waren nur bei ihr zu Hause.“

 

Natürlich hätte ich jetzt sagen können, wo ich eigentlich gewesen war. Und mit wem. Und wo ich die Nacht verbracht hatte. Ich sah es förmlich vor mir, wie meiner Mutter danach die Fleischplatte aus der Hand rutschte und auf dem Boden zerschellte. Die restlichen Rouladen kullerten durch die Gegend wie ausgeschüttete Murmeln. Eine von ihnen rollte bis zum Tresen und blieb dort in einer Soßenlache liegen, während um sie herum das Chaos ausbrach. Schatten von umherlaufenden, streitenden Menschen huschten über den hell gebräunten Fleischkörper hinweg. Eine Beleidigung hetzte die andere. Eine Tür wurde ins Schloss geworfen. Meine Mutter stand schluchzend in der Küche. Und während sich der Sturm wieder legte und das Schweigen einsetzte, wurde die Roulade langsam kalt. Es war wirklich ein Jammer.
 

„Theodor? Hast du mir zugehört?“

 

Ich schreckte hoch und sah meine Eltern an, die mich mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken musterten. Schnell setzte ich eine betretene Miene auf.
 

„Ich … nein, sorry. Ich war mit meinen Gedanken woanders.“

 

Meine Mutter schmunzelte.
 

„Ich hab gesagt, dass wir übernächstes Wochenende Christophers Geburtstag feiern wollen. Wenn du willst, kannst du Mia auch einladen.“

„Ja, kann ich machen.“

 

Feigling!

 

„Ich … kann ich aufstehen? Ich bin fertig.“

 

Die Doppeldeutigkeit meiner Aussage fiel mir erst auf, als meine Mutter mich nachsichtig anlächelte.
 

„Natürlich. Geh nur. Dein Vater kann mir beim Abräumen helfen.“

 

Ich hörte nur mit halbem Ohr, wie er dagegen protestierte. Er hätte heute schließlich schon genug getan, aber ich konnte nicht mehr bleiben. Ich musste weg aus diesem Bild der perfekten Familie, wenn ich nicht ersticken wollte. So rannte ich förmlich die Treppen hinauf, bis ich in meinem Zimmer ankam und die Tür hinter mir zuwarf. Schwer atmend lehnte ich mich von der Innenseite dagegen und sackte daran herab. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

 

Warum? Warum ist das jetzt so schwer? Gerade war doch alles noch gut und in Ordnung? Warum kannst du dich nicht zusammenreißen? Warum machst du alles kaputt?

 

Ich dachte daran, dass ich eigentlich mit dem Rad hatte wegfahren wollen. Im Wald war es jetzt sicherlich kühl. Und still. Himmlische Ruhe und beruhigendes Grün. Nur Vogelzwitschern und Blätterrauschen an einem warmen Sommertag. Ich lächelte, während ich mir vorstellte, wie ich mit Benedikt lachend und rufend durch den Wald raste. Im Traum hatte er ein passendes Rad und wir bewältigten Steigung um Steigung. Gemeinsam. Ein gutes Gefühl.

 

Aber eben nur ein Traum.

 

In Wirklichkeit saß ich hier und war allein. Ich dachte an das, was meine Mutter gesagt hatte. Dass wir Christophers Geburtstag feiern würden. Wahrscheinlich würden meine Großeltern kommen. Kaffeetafel im Garten. Kuchen essende Leute und Gelächter. Und ich? Ich würde erklären müssen, warum Mia nicht kam. Schließlich konnte ich sie kaum darum bitten, als Alibi zu der Feier zu erscheinen. Das wäre zu viel verlangt gewesen.

 

Aber es wäre so viel einfacher.

 

Einfacher als die Wahrheit. Die schöne und schreckliche Wahrheit. Dass ich schwul war. Dass es nie wieder eine Mia geben würde. Und plötzlich vermisste ich sie. Die Sicherheit, die sie mir gebracht hatte. Eine Sicherheit, die nicht nur bis zu Benedikts Gartentür reichte, sondern umfassend war. Für alle Lebensbereiche. Selbst wenn sie nicht anwesend war.

 

Erbärmlich.

 

Mein Kopf knallte rückwärts gegen die Tür. Wieder und wieder, bis meine Mutter von unten rief, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ich antwortete schnell, dass ich mit dem Lärm aufhören würde, und stand auf. Müde schleppte ich mich zu meinem Bett und ließ mich darauf fallen. Mittlerweile trug ich meine Klamotten seit über 24 Stunden, wenn man mal von der Nacht und dem Treiben absah, das ich vollkommen nackt absolviert hatte. Ich sollte mich aufraffen und duschen. Etwas Frisches anziehen. Aber ich konnte nicht. Ich schaffte es einfach nicht, mich zu erheben. Stattdessen fielen mir irgendwann die Augen zu und ich schlief ein. Träumte. Wilde Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, als ich zwei Stunden später mit dröhnendem Schädel aufwachte. Sofort dachte ich an meine Tabletten, doch die Erkenntnis, dass ich keine mehr hatte, versetzte mir einen Dämpfer.
 

„Dann eben Dusche“ murmelte ich und raffte mich endlich auf, mich ins Badezimmer zu begeben. Ich duschte lange und ausgiebig. Wusch alles von mir ab, bis meine Haut vor Hitze prickelte. Nur mit einer Shorts bekleidet ging ich danach wieder zum Bett zurück. Meinem Kopf ging es besser und so griff ich nach meinem Handy. Ich rief Mias Nummer auf, zögerte jedoch, als mein Finger über dem grünen Anrufsymbol schwebte.

 

Vielleicht schreibe ich ihr lieber eine Nachricht, dachte ich und begann, einen Text zu verfassen, der nicht total bescheuert klang. Es gelang mir nicht. Plötzlich sah ich, dass sie online war. Ich wartete ab und tatsächlich wurde mir angezeigt, dass sie schrieb. Aber es kam keine Nachricht. Vielleicht wusste sie auch nicht, wie sie mich ansprechen sollte? Ohne weiter zu überlegen, wählte ich ihre Nummer. Sie nahm sofort ab.
 

„Theo! Ich wollte dir gerade schreiben und fragen, wie es gelaufen ist.“

 

Ich schluckte. Kein Wort davon, dass wir bis vor zwei Tagen noch ein Paar waren. Benedikt hatte recht. Das war wirklich nicht normal.

 

„Gut“, antwortete ich. „Ich hab gemacht, was du gesagt hast.“

„Und?“

„Na ja … es hat geklappt.“

 

Einerseits kam ich mir schäbig vor, dass ich ihr das jetzt erzählte. Es musste sie verletzen, das zu hören. Dass ich sie ersetzt hatte. Einfach so. Andererseits war es fair, sie vorzuwarnen. Damit sie Bescheid wusste, wenn Morgen die Schule wieder losging.
 

„Das ist toll. Ich freu mich für euch.“

 

Ich schloss die Augen.
 

„Mia, ich … ich wollte dir nur nochmal sagen, dass es mir leidtut. Ich war ein riesengroßer Idiot. Es ist alles meine Schuld.“

 

Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete.
 

„Ja, warst du. Aber ich auch. Ich hab doch auch gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Aber ich habe auch nichts gesagt. Weil ich zu feige war.“

 

Ich schluckte.
 

„Mia?“

„Ja?“

„Warum machst du das?“

„Was meinst du?“

 

Ich atmete tief durch.
 

„Warum bist du so nett? Ich meine, ich hab dich angelogen. Ich hab dich betrogen. Aber du, du stehst trotzdem zu mir. Warum?“

 

Ich hörte sie am anderen Ende seufzen.
 

„Weil … weil ich wahrscheinlich auch ein bisschen Angst habe, dich endgültig zu verlieren. Mein Kopf versteht, dass wir nicht mehr zusammen sind, aber mein Herz sehnt sich trotzdem nach dir. Nach dem, was wir hatten. Diese Vertrautheit. Ich hab mit dir über Dinge sprechen können, über die ich mit sonst niemandem sprechen kann. Das wird mir fehlen.“

 

Ich fühlte, wie meine Augen zu brennen begannen. Den Kloß in meinem Hals.
 

„Ich weiß, was du meinst“, sagte ich leise. „Wahrscheinlich wäre es doch gut, wenn wir eine Weile Abstand halten. Damit wir uns beide daran gewöhnen?“

„Ja, vielleicht.“

 

Ich schluckte.

 

„Ich … ich werde wohl am besten deine Nummer löschen. Ist das okay für dich?“

„Ja.“

„Gut.“

 

Ich merkte, dass meine Stimme kurz davor war zu brechen. Ich musste dringend auflegen.
 

„Ich hab es übrigens noch niemandem erzählt. Du?“

„Ich hab mit Anne telefoniert.“

„Das ist gut.“
 

Anne war ihre Freundin. Sie würde ihr helfen.
 

„Ich hab natürlich nicht gesagt, warum du mit mir Schluss gemacht hast. Das verrate ich keinem.“

„Danke.“
 

Natürlich hatte ich das irgendwie vorausgesetzt, aber es noch einmal von ihr zu hören, beruhigte mich trotzdem.
 

„Ich hab es noch niemandem erzählt. Ich wollte bis Morgen warten.“

 

Eigentlich hatte ich mir das nicht wirklich überlegt, aber ich würde bestimmt nicht Jo anrufen, um ihm auf die Nase zu binden, dass ich nicht mehr mit Mia ging. Wenn er fragte, wie es Samstag bei ihr war, würde ich es beiläufig erwähnen und hoffen, dass er keine große Sache daraus machte. Vielleicht hatte ich ja Glück.

 

„Okay“, erwiderte Mia nur auf meine Ankündigung. Ich hörte genau, dass sie noch mehr sagen wollte, und vor meinem inneren Auge konnte ich sehen, wie sie sich auf die Lippen biss, um es nicht zu tun. Das war etwas, das wir gemeinsam hatten. Anne hatte manchmal darüber gewitzelt, dass wir wohl so etwas wie Seelenverwandte wären. Vielleicht hatte sie recht. Doch jetzt hatte ich meine Seelenverwandte aus meinem Leben geworfen. Wie eine Variable, die nicht in die Gleichung passte. Ich lächelte, als mir auffiel, dass ich bei diesem Vergleich an Benedikt denken musste. Er war gut in Mathe.

 

„Ich …“

„Wir sollten …“

 

Wir unterbrachen uns beide, als wir gleichzeitig angefangen hatten zu reden. Ich lächelte.
 

„Sag du“, bat ich sie. Mia seufzte.
 

„Wir sollten das Gespräch vielleicht beenden.“

„Ja, das sollten wir.“

„Es ist schwer ohne dich, weißt du das?“

„Ja, das weiß ich.“

„Aber es ist trotzdem die richtige Entscheidung gewesen.“

 

In diesem Moment hätte ich Mia gern in den Arm genommen, aber ich wusste, dass das nicht mehr ging. Zumindest im Moment nicht. Vielleicht später, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Vielleicht dann.

 

„Ich leg jetzte auf. Ich … wir sehen uns in der Schule.“

„Bis dann.“
 

Damit beendeten wir das Gespräch. Nachdem ich Mias Nummer, wie versprochen, gelöscht hatte, ließ ich mein Handy sinken und starrte ins Leere. Es war richtig gewesen, hatte sie gesagt, und ich wusste, dass sie recht hatte. Trotzdem war es seltsam, dass sie jetzt weg war. Dafür hatte ich einen Freund, von dem ich niemandem etwas erzählen konnte. Noch nicht. Aber die Gelegenheit würde kommen und ich würde sie zu nutzen wissen. Ganz bestimmt.

 

Um mich von weiteren Grübeleien abzulenken, griff ich nach meiner Gitarre. Ich schlug die Saiten an, spielte ein paar einfache Melodien. Bekannte Popsongs. Dann wechselte ich zu „Ich liebe dich nicht mehr“. Ich spielte es ein paar Mal, bevor ich noch einmal „Du und ich“ erklingen ließ. Bei der Erinnerung an Benedikt auf dem Bahnhof, begann ich zu lächeln. Da waren so viele Bilder, so viele Worte, die sich mir aufdrängten. Eine Melodie begann sich zu formen. Ich spielte sie auf der Gitarre nach und probierte eine Weile herum, bis die Griffe saßen. Dann begann ich, am Text zu feilen. Ich griff mir Zettel und Papier, notierte erste Entwürfe, strich wieder durch, sang das Ganze probeweise in meinem Kopf. Ich arbeitete und arbeitete, bis es langsam Abend wurde und der Song endlich fertig war. Glücklich griff ich noch einmal in die Saiten und summte dazu mit, während in meinem Kopf der Text abgespult wurde. Aber irgendwas war immer noch nicht richtig.

 

Das Instrument ist falsch, ging mir plötzlich auf. Ich brauche das Klavier.

 

Ich griff mir ein T-Shirt aus dem Schrank und schlich mich anschließend auf leisen Sohlen nach unten ins Wohnzimmer. Bis zum Abendbrot war noch Zeit und meine Eltern irgendwo draußen unterwegs. Daher würde niemand bemerken, wenn ich jetzt spielte. Ich musste nur rechtzeitig damit aufhören.

 

Entschlossen öffnete ich den Deckel über der Klaviatur. Ich rückte den Hocker zurecht und legte meine Hände auf die schwarzweißen Tasten. Dann hielt ich inne, um den selten gewordenen Augenblick zu würdigen. Wie oft hatte ich hier gesessen und geübt. Manchmal hatte ich es gehasst, manchmal geliebt. Unser Verhältnis war zwiegespalten wie die Farben unter meinen Fingern. Heute jedoch war das Klavier mein Freund. Es würde dem Song die richtige Note geben. Vorsichtig begann ich zu spielen.

 

Zuerst war mein Spiel noch zögerlich. Ich hatte zu lange nicht mehr geübt. Aber mit der Zeit wurde es sicherer, schneller, die Anschläge sauberer und auf den Punkt. Wie von selbst schloss ich irgendwann die Augen und begann zu singen.

 

Niemals hätte ich gedacht

Dass ich mich mal so fühle

Als wenn mein Herz schreit vor lauter Glück

Und unter mir schwankt die Erde

Mit dir ist es, als wär ich ganz

Als wäre ich vollkommen

Du hast mich endlich aufgeweckt

Und mir die Angst genommen

 

Du bist der Wind unter meinen Flügeln

Du bist die Straße, in der ich wohn

Du bist das Licht, das jemand angelassen hat

Du bist das Ding, für das es sich lohnt

 

Mit dir flieg ich höher, mit dir komm ich weiter

mit dir heb ich ab, bin schwerelos

Und das nur, weil du da bist, weil es endlich wahr ist

Ich halte dich fest und lass nie wieder los

 

Du vertreibst für mich die Dunkelheit

Es wird hell, wo wir auch hingeh’n

Und die Welt um uns wird endlich bunt

Ich kann die Farben wieder sehen

Dein Lächeln und dein schöner Mund

Ich möcht dich küssen immer wieder

Doch stattdessen sitz ich hier

Und singe meine Lieder

 

Du bist der Wind unter meinen Flügeln

Du bist die Straße, in der ich wohn

Du bist das Licht, das jemand angelassen hat

Du bist das Ding, für das es sich lohnt

 

Mit dir flieg ich höher, mit dir komm ich weiter

mit dir heb ich ab, bin schwerelos

Und das nur, weil du da bist, weil es endlich wahr ist

Ich halte dich fest und lass nie wieder los

 

Niemals hätte ich gedacht

Dass ich mich mal so fühle

Als wenn mein Herz schreit vor lauter Glück

Und unter mir schwankt die Erde

Zwischen den Stühlen

Der Montagmorgen kam viel zu schnell und doch nicht schnell genug. Während ich noch meine Sachen packte und hektisch den Kühlschrank nach etwas Essbarem zum Mitnehmen durchsuchte, witzelte meine Mutter vom Frühstückstisch aus, dass ich es wohl eilig hätte, von zu Hause wegzukommen. Mein Vater brummte daraufhin, dass ja auch nur noch ein Jahr Zeit wäre, um ein gescheites Abschlusszeugnis auf die Reihe zu kriegen. Ich schwieg dazu und stürzte den Rest der dritten Tasse Kaffee dieses Morgens hinunter. Mit Chance würde sie die Müdigkeit der schlaflosen Nacht vertreiben. Ich hatte bis in die frühen Morgenstunden wachgelegen und mir ein Horrorszenario nach dem anderen ausgemalt.

 

„Fahr vorsichtig“, mahnte meine Mutter noch, als ich schon fast aus der Tür war.

 

„Bin ich doch immer“, erwiderte ich und ignorierte die Proteste meines Vaters, der es sich nicht nehmen ließ, das Gegenteil zu behaupten.

 

Ich schulterte meinen Rucksack und ging in den Stall, um mein Rad zu holen. Als ich es auf den Hof geschoben hatte, hielt ich einen Augenblick inne und strich nachdenklich über die geriffelte Oberfläche der Griffe. Sie sollte verhindern, dass man bei Sprüngen und ähnlichem abrutschte. Wie das ausgehen konnte, sah man oft genug in den Nachrichten. Durch die Geschwindigkeiten und das abschüssige Gelände, war schnell allerhand passiert. Es erhöhte den Kick, es ohne Absturz geschafft zu haben.

 

Vielleicht sollte ich mal wieder auf den Trail. Ein bisschen Anspruch reinbringen. Oder ich frage Benedikt, ob er am Wochenende mit mir den Weg im Forst abfährt. Der ist nicht so steil, da dürfte er mithalten können.

 

Die Idee im Hinterkopf schwang ich mich in den Sattel und trat in die Pedale. Wenn ich Glück hatte, konnte ich ihn noch vor der ersten Stunde abfangen und danach fragen. Der Gedanke ließ mich schneller fahren.

 

 

Als die Schule in Sichtweite kam, wurde ich zwangsweise langsamer. Um mich herum waren etliche Radfahrer unterwegs. Sie bevölkerten Geh- und Radwege und wichen schließlich auf die Fahrbahn aus, um schneller voranzukommen. Autos bogen in die kleine Straße ein, deren Rand mit Fahrzeugen vollgeparkt war, und quälten sich in endloser Reihe durch die verkehrsberuhigte Zone bis zu unserer Schule. Stimmen, Lachen und gelegentliches Hupen erfüllte die Luft. Die kleineren Schüler waren aufgeregt, ihre Freunde wieder zu treffen. Sie wuselten wie die Lemminge in Richtung Eingang, während sie einander zuwinkten oder sich beim Namen riefen. Dazwischen die Oberstufler – auch einige bekannte Gesichter – die sich mit mehr Bedacht näherten. Zu zweit, zu dritt oder auch allein strebten sie den großen Glastüren entgegen. Drinnen konnte ich bereits die Umrisse meiner Jahrgangskameraden entdecken. Sie belagerten die Ecke der Pausenhalle, die wir uns mit dem Eintritt in die letzten drei Schuljahre gesichert hatten. Nach unserem Abschluss würde die nächste Generation vorrücken und uns ersetzen.

 

Mit gemischten Gefühlen bog ich in den Weg ein, der mich zum Fahrradkeller bringen würde. Pflichtschuldig stieg ich ab, als ich die Rampe erreichte, die nach unten führte. Die Aufsicht führende Lehrkraft hätte mich sonst mit ziemlicher Sicherheit zurückgepfiffen und darauf konnte ich so früh am Morgen nun wirklich verzichten.

 

Unten war ein Gutteil der Ständer bereits belegt. Ich steuerte einen Platz neben einer der runden Säulen an und schob den Vorderreifen zwischen die zwei Metallstangen. Während ich mein Gefährt daran festkettete, hörte ich einen weiteren Radler in den Keller kommen. Er blieb im gleichen Gang stehen, das Geräusch seines Fahrradständers war zu hören, als er ausgeklappt wurde, und dann …

 

„Buh!“, machte es direkt hinter mir. Ich schrak zusammen und wirbelte herum. Benedikt grinste mich an, sodass ich unwillkürlich auch anfing zu lachen.
 

„Bist du verrückt“, rief ich trotzdem und schlug nach ihm. Er wich dem Schlag aus und kam gleich darauf wieder näher.
 

„Du warst so versunken, dass ich die Gelegenheit einfach nutzen musste.“
 

Seine Augen leuchteten und sein Gesicht war leicht gerötet. Unter dem Haaransatz glänzten ein paar Schweißtropfen im Schein der Neonröhren. Ich kämpfte mit dem Wunsch, ihn an mich zu ziehen.
 

„Wie war dein Sonntag?“

„Ruhig. Und bei dir?“

„Auch. Ich hab ein bisschen an einem Song gearbeitet.“

 

Benedikt lächelte. Seine Augen zogen mich an und gleichzeitig aus.

 

„Ist er gut geworden?“

„Weiß nicht. Glaub schon.“

„Krieg ich den mal zu hören?“

 

Ich atmete tief durch. Im Grunde war der Song für ihn, also …

 

„Ich brauch dafür ein Klavier. Habt ihr eins zu Hause?“

„Nein.“

„Dann sieht’s schlecht aus. Es sei denn …“

„Ja?“
 

Benedikt musterte mich aufmerksam.
 

„Es sei denn, du kommst mal mit zu mir. Ich … könnte ihn dir vorspielen.“

 

Ich sah das kleine Lächeln, das an Benedikts Mundwinkeln zupfte. Er unterdrückte es, so gut er konnte. Vielleicht um mich nicht unter Druck zu setzen. Vielleicht waren das aber auch nur meine Gedanken.
 

„Ja, gerne“, sagte er schließlich.
 

„Schön“, antwortete ich. Mein Blick glitt an ihm vorbei zu zwei Mittelstuflern. Sie hatten gerade ihre Räder abgeschlossen und befanden sich in ein Gespräch vertieft auf dem Weg zum Ausgang. Wenn sie außer Sichtweite waren, wären Benedikt und ich allein.

 

Benedikt hatte meinen Blick bemerkt. Seine Augen schwenkten wieder zu mir zurück und ich sah die Frage darin. Ich nickte unmerklich. Wir warteten mit angehaltenem Atem ab, bis die beiden Jungs endlich um die Ecke verschwunden waren. Als ich mir sicher war, dass uns keiner mehr sehen konnte, trat ich schnell auf Benedikt zu. Ich schloss die Augen, als ich seine Hände fühlte, die mich in eine Umarmung zogen. Seine Lippen streiften meinen Mund und ich öffnete ihn, ohne zu überlegen. Wir küssten uns tief. Leidenschaftlich. Benedikts Finger pressten sich in meine Seiten. Am liebsten hätte ich nie wieder damit aufgehört. Es fühlte sich so gut an. So echt.

 

Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob wir schwänzen sollten, als bereits die nächsten Schüler mit ihren Rädern in den Keller kamen. Schnell trennten Benedikt und ich uns wieder. Sahen in verschiedene Richtungen. Er trat in den Gang zurück, griff nach seinem Rad und schob es zu einem der weiter entfernten Fahrradständer. Ich hingegen nahm meine Tasche und ging los, ohne mich noch einmal umzudrehen. Es war besser, wenn wir nicht zusammen ankamen. Weniger verdächtig. Meine Lippen prickelten von dem Kuss.

 

 

„Hey, T! Hast dich ja am Wochenende gar nicht blicken lassen.“

 

Leon hob die Hand zum Gruß. Ich klatschte mit ihm ab und ließ mich neben Jo fallen, der bereits an eine der halbhohen Heizungen gelehnt dasaß. Er grinste, als er mich sah.

 

„Du siehst aus, als hättest du ne lange Nacht gehabt. Hat Mia bei dir gepennt?“

 

Sein Grinsen wurde anzüglicher und meines schief. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ihm die „schlechte Neuigkeit“ erst auf dem Weg zum Unterricht zu beichten. Je weniger Zeit er hatte, um mich auszuqetschen, desto besser.
 

„Nein, hat sie nicht“, erwiderte ich kurz angebunden und sah woanders hin. Vielleicht würde er das Thema fallen lassen, wenn ich nur barsch genug reagierte. Leider hatte ich meine Rechnung ohne Jo gemacht.

 

„Oho“, machte er und hob abwehrend die Hände. „Hast du deine Tage oder was?“

 

„Nein.“

 

Meine Erwiderung war nicht viel mehr als ein dunkles, warnendes Knurren. Ich hatte keine Lust, ihm von der Sache zu erzählen, und jeder andere hätte das aus meinen einsilbigen Antworten wohl herausgehört. Jo hingegen schien davon nur noch mehr angestachelt zu werden.
 

„Nun sag schon, was los ist“, drängte er.

 

Ich seufzte innerlich und stellte mich dem Unvermeidlichen.
 

„Ich hab mit Mia Schluss gemacht.“

 

„WAS?“
 

Jo riss die Augen und den Mund sperrangelweit auf.
 

„Das ist nicht dein Ernst. Bist du irre?“

 

Ich zuckte mit den Schultern.

 

„Die Diagnose steht noch aus.“

„Ja, aber … ich dachte … Das fass ich jetzt ja nicht.“

 

Jo fiel tatsächlich aus allen Wolken. Dass Mia in diesem Moment am anderen Ende der Pausenhalle auftauchte, machte es nicht unbedingt besser. Zudem kam Benedikt ausgerechnet jetzt von unserer Seite aus herein und ging an den Tischen vorbei in Richtung Loserecke. Ich bemühte mich, ihm nicht nachzusehen. Das wiederum ließ mir nur die Wahl zwischen Mia oder Jo. Ich entschied mich für Letzteres.

 

Mein bester Freund hatte bemerkt, dass Mia im Anmarsch war. Sein Blick wanderte zwischen ihr und mir hin und her.

 

„Und jetzt?“, fragte er halblaut.

 

Auch Leon rutschte ein Stück näher, während Phillip so tat, als hätte er nichts mitgekriegt. Dass dem nicht so war, wurde mir spätestens klar, als ich Alina ein bisschen zu laut mit Jessica tuscheln hörte. Die Neuigkeit verbreitete sich wie eine angebrannte Pulverschnur. Sie sprang von Tisch zu Tisch, von Ohr zu Ohr und jeder wartete nur darauf, dass es irgendwo explodierte. Es erinnerte mich an die Sache, als ich mal von einer Verehrerin einen anonymen Liebesbrief bekommen hatte. Ich hatte Jo ganz im Vertrauen davon erzählt und mit ihm gerätselt, von wem er wohl stammen könnte. Am nächsten Tag war die Klasse einem Bienenstock gleichgekommen, an den jemand Feuer gelegt hatte. Es war nie herausgekommen, von wem der Brief gewesen war, aber seit dem Tag wusste ich, dass Geheimnisse bei Jo nicht besonders gut aufgehoben waren.
 

„Was soll jetzt sein?“, brummte ich halblaut als Antwort auf seine Frage. „Wir sind nicht mehr zusammen.“

 

„Ja, aber … das geht doch nicht.“

 

Jo schien immer noch vollkommen fassungslos. Wahrscheinlich wäre er weniger entsetzt gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich nach der Schule ins Kloster gehen und Mönch werden wollte. Oder mir meinen rechten Arm amputieren.

 

„Warum nicht?“, fragte ich möglichst gelangweilt zurück.

 

„Na weil … weil ihr immer zusammen wart.“

„Ja, und jetzt nicht mehr. Außerdem war es gar nicht immer.“

„Wie lange?“

„Zwei Jahre.“

„Krass.“

 

Jo stieß erneut einen Laut der Verblüffung aus, während ich mich bemühte, nicht in Mias Richtung zu schauen. Als ich doch hochblickte, sah ich, wie sie sich mit Anne unterhielt. Sie stand seitlich zu mir und strich sich gerade die Haare aus dem Gesicht. Ich konnte nicht anders, als sie anzusehen.
 

„Alter!“

 

Jos Stimme holte mich wieder zurück in die Wirklichkeit.
 

„Du schaust sie ja immer noch an wie ein Mondkalb. Jetzt sag schon, was los ist. Hat sie einen anderen?“

 

Ich schüttelte nur den Kopf.
 

„Es reicht einfach nicht mehr. Du solltest das doch kennen. Ich mag sie immer noch gern, aber das Kribbeln ist weg. Deswegen haben wir beide beschlossen, uns zu trennen.“

 

Ich sah Jo an und sein Gesicht zeigte echtes Bedauern.
 

„Tut mir leid, Mann“, sagte er und schlug mir nochmal auf die Schulter. „Ich hab immer gedacht, ihr heiratet mal oder so. So kann man sich irren.“

 

„Tja“, sagte ich dazu nur. Wie es aussah, war das Thema wohl doch schneller vom Tisch, als ich gedacht hatte.
 

„Und wann schwingst du dich wieder in den Sattel?“

 

Ich hob fragend die Augenbrauen.

 

Jo wagte ein Grinsen.
 

„Na ja. Ich meine, willst du dir was Neues suchen?“

 

Ich schüttelte den Kopf.
 

„Nein, erst mal nicht. Ich brauch erst mal ne Auszeit. Vielleicht in ein paar Wochen.“

 

Oder Monaten. Oder nie. Weil ich nämlich schon mit jemandem zusammen bin.
 

„Alles klar. Aber als Wingman kann ich dich doch noch hernehmen, oder?“

„Klar.“
 

Wie ich das regeln sollte, wusste ich zwar noch nicht, aber da ich ohnehin nicht mit Benedikt weggehen konnte …

 

„Hast du dir eigentlich schon den Stundenplan reingezogen? Montags als Erstes ne Doppelstunde Deutsch. Die haben doch den Arsch offen.“

 

Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, wie Jo weiter über die Ungerechtigkeit des Schülerdaseins im Allgemeinen und seines im Besonderen lamentierte. Mit den Augen verfolgte ich immer noch, wie sich die Nachrichten von Mias und meiner Trennung weiter verbreitete. Nur noch wenige Schülerinnen, und sie würde Mia erreichen. Da, jetzt war es soweit. Ich konnte sehen, wie Vanessa sie ansprach. Mias Lächeln wurde gequälter und sie nickte flüchtig. Dabei huschten ihre Augen für einen Moment zu mir. Ich drehte den Kopf schnell in eine andere Richtung. Ich konnte sie jetzt nicht ansehen. Obwohl das hier genau das war, was wir vereinbart hatten, kam ich mir vor wie ein Verräter. Am liebsten hätte ich meine Sachen genommen und wäre gegangen. Aber natürlich ging das nicht. Also blieb ich und machte gute Miene zum bösen Spiel, als würde mich das alles nichts angehen.

 

Zum Glück rettete mich der Gong zur ersten Stunde vor weiteren Befragungen. Da Jo bereits in Erfahrung gebracht hatte, wo wir hinmussten, ließ ich mich einfach von ihm mitziehen in Richtung Altbau. Wir landeten in einer neunten Klasse, die offenbar um diese Zeit Sport hatte oder in einem der Fachräume ihr Unwesen trieb. Die U-Form der Sitzordnung weckte Erinnerungen in mir.

 

Ohne lange zu überlegen ging ich quer durch die Klasse in Richtung der Fenster und setzte mich auf einen freien Platz. Neben mir waren auf der linken Seite noch zwei Plätze bis zum Tischende. Jo folgte mir mit gerunzelter Stirn.
 

„Was machst du da?“

 

„Ich sitze“, gab ich zur Auskunft. „Solltest du auch mal probieren. Ist wirklich bequem.“

 

„Nein, das meine ich nicht. Ich meine, warum hier?“

„Warum nicht hier?“

 

Ich wusste natürlich, was er meinte. Seit unser Klassenverband aufgelöst und wir im Kurssystem zu Nomaden geworden waren, die immer da ihre Zelte aufschlugen, wo sich ein freier Platz bot, hatten Jo und ich uns angewöhnt, irgendwo in den hintersten Reihen zu sitzen. Dass ich mich jetzt wie auf dem Präsentierteller vor den Lehrertisch gesetzt hatte, schmeckte ihm sichtlich überhaupt nicht.

 

„Schon vergessen? Ich hab Deutsch als Prüfungsfach. Ich muss hier was lernen.“

 

Jo rollte nur mit den Augen.
 

„Ja ja, T der Streber. Na schön, dann rück mal rüber.“

 

Er knallte seinen Rucksack auf den Tisch vor mich, doch als ich mich nicht bewegte, rutschte er ihn einen Platz weiter nach innen und ließ sich neben mir auf den Stuhl fallen. Der erste Teil meines Plans war somit aufgegangen. Fehlte nur noch Teil zwei. Jo meckerte immer noch.

 

„Hauptsache, Erich lässt uns nicht wieder was von den ollen Griechen lesen. Die kommen mir inzwischen schon zu den Ohren raus. Wenn ich noch einmal 'Iphigenie' höre, fang ich an zu schreien. Die Tante nervt. Aber so was von.“

 

Ich verzog bei dem Gedanken an unseren vorangegangenen Lesestoff ebenfalls das Gesicht. Herr Kästner, dessen richtigen Vornamen wir nicht kannten, weil er so neu an der Schule war, dass er noch in keinem der unregelmäßig auftauchenden Jahrbücher genannt worden war, wurde von uns hinter seinem Rücken immer nur „Erich“ genannt. Erschwerend zum Nachnamen kam nämlich hinzu, dass er einer Bronzestatue des berühmten Schriftstellers erstaunlich ähnlich sah, auch wenn seine Augenbrauen sehr viel weniger ausgeprägt waren. Weitaus hervorstechender war hingegen seine spitze Zunge, die er auch gleich unter Beweis stellte, als er nur wenige Augenblicke nach uns den Raum betrat.

 

„Ach, ihr schon wieder. Man denkt, man ist euch endlich los, und dann kommt ihr doch wieder angekrochen, um hier in meinem Unterricht Desinteresse zur Schau zu stellen. Na ja. Wollen wir mal sehen, ob ich mir nicht noch ein wenig Arbeit ersparen kann. Also: Wer von euch hat vor, sich in Deutsch prüfen zu lassen?“

 

Neben meiner Hand gingen tatsächlich nur noch vier weitere Hände nach oben. Unter anderem die von Ben, unserem ehemaligen Klassensprecher, und Sandra, seiner Exfreundin und ebenfalls ehemaliger Klassensprecherin. Die beiden hatten sich bereits letztes Jahr getrennt, was jedoch keinen so wirklich überrascht hatte.

 

„Ah, immer noch die gleichen Todgeweihten wie im letzten Jahr. Nun ja. Lässt sich hoffentlich noch ändern, wenn ihr hört, was ich dieses Jahr mit euch geplant habe.“

 

Gemurmel wurde laut und gab mir die Gelegenheit, mich umzusehen. Dadurch, dass die Deutschkurse noch in der bis zur zehnten Klasse üblichen Besetzung abgehalten wurden, waren wir bis auf ein paar Neuzugänge und Abzüge durch Sitzenbleiber immer noch die gleiche Truppe wie in der Mittelstufe. Das bedeutet, dass Benedikt eigentlich in meinem Kurs hätte sitzen müssen. Ich konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Stattdessen referierte Herr Kästner vorne fleißig weiter.
 

„Weil wir uns hier mit den großen Errungenschaften deutscher Sprache beschäftigen, werden wir uns dieses Halbjahr einem der großen Meisterwerke widmen. Irgendwelche Ideen, was ich meinen könnte? Degenhardt?“

 

Der Tod in Venedig?“ Sandra saß aufrecht da mit ihrem asymmetrischen Pony und ihrer weißen Bluse, die ihr das Aussehen einer angehenden Staatsanwältin gab.

 

„Gute Idee, aber falsch“, gab Herr Kästner zurück. „Weiter.“

 

Krieg und Frieden.“ Ben, der seinen Einruf nur mit einem angedeuteten Melden angekündigt hatte, linste um Beifall heischend in die Runde. Es kam jedoch nur ein müdes Lächeln von Herrn Kästner und Desinteresse vom Rest des Kurses.
 

„Netter Versuch, Neumann, aber wieder falsch. Was hat denn unser Graf dazu zu sagen?“

 

Mein Herz machte einen kurzen Satz, denn ich wusste, dass ich damit gemeint war. Seit dem Tag, an dem ich ihn darauf hingewiesen hatte, dass mein Nachname von Hohenstein war, ließ unser Deutschlehrer es sich nicht nehmen, mir allerhand Adelsbezeichnungen an den Kopf zu werfen. Ich ließ es meist klaglos über mich ergehen.
 

'Das fliegende Klassenzimmer' vielleicht“, riet ich drauf los. Die schmalen Brauen meines Gegenübers hoben sich.

 

„Sie sind ja heute mal wieder ein ganz Witziger. Wohl einen Clown im Müsli gehabt. Aber diese Flausen werde ich Ihnen schon austreiben.“

 

Ich grinste.

 

„Ach … Dann lesen wir doch 'Emil und die Detektive'?“

 

Mir war vollkommen schleierhaft, was mich da gerade antrieb. Vielleicht eine neue Art von Selbstzerstörungswahnsinn. Im Kurs wurde Gelächter laut. Herrn Kästners Augenbrauen hingegen statteten sich einen Besuch ab.

 

Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!“, proklamierte er und sah mich streng an. „Wissen Sie aus welchem Buch das ist?“

 

Immer noch kicherten einige, doch mir war beim Anblick meines Lehrers das Lachen im Halse steckengeblieben. Ich schluckte.
 

„Nein, leider nicht“, gab ich kleinlaut zu.

 

„Dann sollten Sie es schleunigst nachlesen. Und zwar im 'Faust', wenn ich bitten darf. Davon werden Sie ja wohl schon mal etwas gehört haben.“

„Ja?“

„Ist das eine Frage?“

„Nein.“

 

Her Kästner schnaubte nur.

 

„Will ich Ihnen auch nicht geraten haben, sonst dürfen Sie nämlich gleich noch eine Ehrenrunde drehen und jemand anderen mit Ihren Stümpereien belästigen. Und jetzt sehen Sie mal nach, wo Dorn und Wischnewsky bleiben. Die beiden sollten den 'Faust' aus der Bibliothek mitbringen, aber da sie noch nicht hier sind, hat sich Wischnewsky womöglich einen Bruch an einem Schnellhefter gehoben. Also gehen Sie und sehen Sie zu, was Sie mit ein bisschen Mund-zu-Mund-Beatmung erreichen können. Vorzeitiges Ableben ist keine Entschuldigung, um zu spät zum Unterricht zu kommen.“

 

„Bloß blöd, dass Anton kein Mädchen ist“, rief irgendjemand aus der hinteren Reihe. Ich verzog das Gesicht zu einem zähnestarrenden Lächeln.
 

„Wie witzig.“

„Ja sehen Sie mal, Sie haben den Humor nicht für sich allein gepachtet. Also los, ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.“

 

Ich verbot mir eine weitere Bemerkung und erhob mich, um mich auf den Weg in die Lehrmittelbibliothek zu machen. Hinter mir begann Herr Kästner, irgendetwas in schrägen, kaum lesbaren Buchstaben an die Tafel zu schreiben. Als ich an der Bücherei ankam, fand ich Benedikt und Anton mit einem Wagen voller Bücher vor.
 

„Hey ihr beiden“, sagte ich und blieb an der Tür des bis an die Decke mit altem Papier vollgestopften Raums stehen. „Erich schickt mich. Ihr sollt euch beeilen.“

 

Die beiden drehten sich zu mir herum und Anton rückte sogleich seine Brille zurecht.
 

„Wir sind hier auf einige technische Schwierigkeiten gestoßen. Die anderen beiden Kurse lesen ebenfalls Faust. Es gibt daher nur noch drei Exemplare und die sind eher … minderwertig.“

 

Er deutete auf drei schon ziemlich zerfledderte Bücher. Bei einem fehlte der Einband, bei einem anderen die ersten vierzehn Seiten. Ich runzelte die Stirn.
 

„Und jetzt?“

„Jetzt haben wir uns erlaubt, eine Auswahl an Alternativen rauszusuchen. Möchtest du auch noch Wünsche anmelden?“

 

Ich warf einen Blick auf den vollbesetzten Wagen. Auf einem der obersten Stapel lagen „Die Physiker“ gleich neben „Das Glasperlenspiel“ und „Homo Faber“. Ich sah auf den Titel und musste schlucken.

 

„Wollt ihr die etwa alle mitnehmen?“

 

Anton sah mich geradeheraus an.

 

„Natürlich. Das mindert die Gefahr, dass er uns womöglich Lyrik des 19. Jahrhunderts lesen lässt. Ich halte nicht viel von Gedichten.“

 

Wieder verzog ich das Gesicht. Die Frage, ob Benedikt ihm schon von uns erzählt hatte, drängte sich mir auf und drohte alles zu ersticken. Ich hatte keine Ahnung, woran Benedikt das merkte, aber er trat mit einem Mal zu mir und legte den Kopf ein wenig schief.
 

„Hey, alles in Ordnung. Anton weiß Bescheid.“

 

Ich wünschte mir, ich hätte in dem Moment aufatmen können, aber ich konnte nicht. Zu groß war meine Angst, dass Benedikts bester Freund etwas dagegen haben könnte. Unsicher hob ich den Blick und sah ihn an. Anton schaute zurück. An seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er darüber dachte, dass Benedikt und ich …

 

„Wenn du an meiner Meinung interessiert bist, könntest du mich danach fragen“, schlug Anton plötzlich vor. Ich blinzelte überrascht.
 

„Dich … was?“

 

„Mich fragen, was ich davon halte, dass ihr beide zusammen seid“, erklärte Anton noch einmal geduldig, als würde er mit einem Fünftklässler reden. „Deine Körperhaltung und deine angespannte Kiefermuskulatur lassen darauf schließen, dass dich diese Frage beschäftigt. Da ich einer von Benedikts wichtigsten Peers bin, ist es nur natürlich, dass du meine Reaktion fürchtest. Aber sei unbesorgt. Ich billige eure Verbindung.“

 

Wieder blinzelte ich. Vermutlich, weil mein Gehirn nicht wusste, welchen Befehl es auf eine solche Ansprache hin an meinen Körper zu senden hatte. Es war Benedikt, der mich aus der Situation rettete.
 

„Hey, entspann dich. Er hat gesagt, es ist alles okay. Er freut sich.“

 

Ich warf noch einen Blick auf Anton. So sah Anton aus, wenn er sich freute? Nun ja, das war … auch nicht anders, als er sonst aussah. Glaubte ich. Wieder musste ich schlucken.
 

„Ich … ja … es ist ein bisschen schräg, aber … ich freu mich, dass du es …. billigst.“

 

Anton nickte und jetzt streifte doch tatsächlich so etwas wie ein Lächeln sein Gesicht.

 

„Zwischen euch beiden war schon seit langem eine starke Anziehung zu bemerken. Ich war mir allerdings zugegebenermaßen nicht ganz sicher, wie es um deine sexuelle Orientierung bestellt ist. Ich hatte Bisexualität für am wahrscheinlichsten gehalten. So kann man sich irren.“

 

„Äh, ja“, machte ich. Mehr fiel mir dazu gerade nicht ein. Da stand dieses Männlein vor mir, das einen guten Kopf kleiner war als ich und etwa die Hälfte wog, mit kaum Muskeln, blasser Haut und einen breiten Mund in seinem nerdigen Gesicht und unterhielt sich mit mir über meine „sexuelle Orientierung“ als wäre es das Wetter.
 

Ich hörte, wie Benedikt leise lachte.
 

„Keine Bange, das macht er nicht so oft.“ Er wandte sich an seinen Freund. „Anton, hör auf Theo zu ärgern.“

 

Sogleich verschwand der überhebliche Gesichtsausdruck und wurde durch ein Grinsen ersetzt.
 

„Ach, ich wollte das schon lange mal machen. Außerdem ist Theos Fall wirklich sehr faszinierend. Er hat lange gebraucht, um es zu merken.“

„Wem sagst du das.“

 

Benedikts letzter Satz war mit einem Seufzen verbunden, doch in seinen Augen lag ein warmer Glanz. Er beruhigte meinen fliegenden Puls ein wenig.
 

„Wir sollten vielleicht zurückgehen“, sagte ich und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. „Erich wird bestimmt langsam ungeduldig.“

 

„Da hast du recht“, stimmte mir Anton zu. „Unsere Literaturauswahl sollte inzwischen ausreichend sein, um darunter etwas zu finden, das Herrn Kästner überzeugt. Ich persönlich hoffe ja auf etwas von Kafka.“

 

„Mit der Hoffnung stehst du aber alleine“, erwiderte Benedikt lachend und klemmte sich hinter die Griffe des Bücherwagens.

 

„Hilfst du mir“?, fragte er an mich gewandt.

 

„Klar“, gab ich zurück und wollte schon anfangen zu ziehen, als mir noch etwas einfiel. Ich blieb stehen und sah ihn an.
 

„Ich … neben mir sind übrigens noch zwei Plätze frei. Ich hab gedacht, dass vielleicht du und Anton …“

 

Benedikt richtete sich auf. Auf seinen Zügen lag leichte Verblüffung.
 

„Ich soll neben dir sitzen?“, fragte er. „Aber … was ist mit Jo?“

 

Ich zog die Schultern ein winziges Stück nach oben.

 

„Früher oder später wird er sich eh daran gewöhnen müssen, dass du jetzt Teil meines Lebens bist.“

 

Für einen Augenblick glaubte ich, dass Benedikt hinter dem Wagen hervortreten und mich küssen würde, aber er tat es nicht. Stattdessen lächelte er nur leicht.
 

„Das wird ihm aber gar nicht gefallen.“
 

„Ich weiß“, sagte ich leise. „Aber mir gefällt es.“
 

Der Erste, der jedoch nach unserer Rückkehr seinen Unmut kundtat, war Herr Kästner. Er beklagte wortreich den eklatanten Mangel an ausreichend "Faust" für alle. Dicht gefolgt von Jo, der sich beschwerte, als er die Bücherauswahl sah.
 

„Haben die die Bibliothek leergeräumt?“, raunte er mir zu und warf einen frostigen Blick in Benedikts und Antons Richtung.
 

„Nein, nur dafür gesorgt, dass du keine Gedichte analysieren musst“, gab ich ebenso leise zurück, während Herr Kästner immer noch wetterte.
 

„Ach so?“, machte Jo ganz erstaunt. „Na, dann sei ihnen verziehen.“
 

„Mir deucht, das ist eine wunderbare Idee“, flachste ich zurück und warf gleich darauf einen Blick zu Benedikt, der es sich neben mir gemütlich gemacht hatte.
 

„Das wird“, formte ich mit den Lippen und erntete ein angedeutetes Lächeln, bevor wir uns beide wieder dem Unterricht zuwandten. In meinem Bauch machte sich ein warmes, angenehmes Gefühl breit.

 

Bergab

Die dicht gepackten Buchreihen mit den alphabetisch geordneten Schildern blickten stoisch auf uns herab, während wir die vormals herausgezerrten Schätze wieder an den dafür vorgesehenen Plätzen verstauten. Ich hatte mich bereit erklärt, Anton und Benedikt dabei zu helfen, was mir einen zweifelnden Blick von Jo eingebracht hatte und eine Frage von Leon, ob er mir was aus der Mensa mitbringen sollte.

 

„Nein danke, ich hab“, hatte ich geantwortet und war mit Benedikt zusammen in Richtung Bibliothek abgeschoben. Jetzt ordneten er und ich Stapel um Stapel in die kaum einen Meter auseinander stehenden Regale, während Anton uns vom anderen Ende des Ganges aus kritisch überwachte.

 

„Halt, das ist falsch“, meckerte er prompt, als Benedikt gerade ein paar Bücher auf eines der oberen Regalbretter schieben wollte. „'Die Physiker' kommt erst nach 'Der Besuch der alten Dame'.“

 

„Wie Euer Hochwohlgeboren befehlen“, antwortete Benedikt lachend und legte die Bücher an die richtige Stelle, bevor er sich von mir das zweite Werk Dürrenmatts reichen ließ. Anton nickte wohlwollend und begab sich anschließend zum Bücherei-Computer, um weiter die Liste einzupflegen, auf der vermerkt war, wer von uns welches Buch aus den heiligen Beständen mit nach Hause genommen hatte.

 

Benedikt trug derweil die Trittleiter weiter zu Abteilung „B“. Geschickt kletterte er die drei Stufen nach oben und sah von dort aus zu mir herab.

 

„Gibst du mir mal 'Mutter Courage' hoch?“

„Klar.“

 

Ich griff nach dem entsprechenden Stapel und reichte ihn in die Höhe. Ganz obenauf lag das Exemplar, das ich für meine Buchpräsentation hatte verwenden wollen. Herr Kästner hatte es mir mit den Worten „Sie nehmen dieses hier“ wieder abgenommen und achtlos auf den Haufen zurückgeworfen. Danach hatte er mir ein kleines, rotes Büchlein in die Hand gedrückt, das bis dahin auf seinem Pult gelegen hatte. In weißen Lettern hatte der Einband verkündet, dass es sich dabei um den vielgefragten „Faust“ handelte.

 

„Warum das?“, hatte ich gefragt und Herrn Kästner erstaunt angesehen. Er hatte ohne zu blinzeln zurückgestarrt.

 

„Weil ich Ihnen zutraue, es nicht vollkommen zu versauen“, hatte er geantwortet und sich dann Ben und Sandra zugewandt, die sich über „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ in die Haare bekommen hatten. Ich hingegen hatte jetzt sein höchstpersönliches Faust-Exemplar in meinem Rucksack und wusste immer noch nicht, was ich davon halten sollte.

 

„So, das war’s“, verkündete Benedikt in diesem Augenblick und stieg wieder von der Leiter. Ich nahm sie ihm ab und räumte sie wieder in die hinterste Ecke. Danach gingen wir beide nach vorne zu Anton.

 

„Na, wie weit bist du?“, wollte Benedikt wissen. Er spähte Anton über die Schulter.

 

„Fast fertig“, gab der zurück ohne aufzusehen. „Die Literaturauswahl ist wirklich interessant. Ich freue mich schon auf die Präsentationen.“

 

Ich wusste, dass er selbst sich für „Der Prozess“ entschieden hatte, obwohl wir uns im Unterricht schon „Die Verwandlung“ antun durften. Anscheinend konnte Anton tatsächlich nicht genug von Kafka kriegen.

 

„Ich mag den Einfluss von Schopenhauer und Nietzsche, den man in seinen Werken sehen kann“, hatte er erklärt. „Seine Gedankengänge sind äußerst erquicklich.“

 

Mir hatte die Frage auf der Zunge gelegen, was daran erquicklich war, wenn jemand in einen riesigen Käfer verwandelt und von seiner Familie misshandelt wurde, sodass er am Ende eines einsamen Todes starb, aber vielleicht hatte Anton einfach eine etwas andere Auffassung von Humor als ich.

 

Statt also Antons Literaturgeschmack infrage zu stellen, sah ich mich noch einmal in der Bücherei um. Abgesehen vom Nebenraum, in dem der Großteil der Bücherregale stand, gab es noch einen Empfangstresen und den in eine Ecke gequetschten Computer-Arbeitsplatz, der zwischen noch mehr Regalen eingepfercht war. Alles in allem war es ziemlich trostlos und abgesehen vom rieselnden Staub, den es natürlich nicht gab, weil Anton pingelig auf Sauberkeit achtete, waren das einzig Lebendige hier wir drei. Selbst in einem Museum wäre mehr los gewesen.

 

„Hier warst du also, wenn du mal wieder unauffindbar warst“, murmelte ich halb in Benedikts Richtung. Er hatte mir gestanden, dass er öfter hierherkam, um mit Anton zu quatschen oder einfach in Ruhe zu lesen. Besonders dann, wenn das Wetter die Pausenhalle zum Bersten füllte oder gewisse hartnäckige Mitschüler ihn nicht in Ruhe lassen wollten.

 

„Immerhin war ich mir hier sicher, dass du nicht herkommen würdest“, sagte Benedikt und grinste dabei. Sein Grinsen wurde zu einem warmen Lächeln, als er sah, wie ich das Gesicht verzog.

 

„Du liest wohl nicht gerne?“

 

„Doch“, gestand ich und gab damit etwas zu, das ich seit Jahren zu verstecken versuchte. „Nur halt nicht unbedingt Goethe und Schiller.“

 

„Dann hast du jetzt ja das richtige Buch bekommen“, erwiderte Benedikt lachend. „Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass Erich dir echt seinen 'Faust' gegeben hat.“

 

„Oh doch, hat er“, bestätigte ich und setzte den Tonfall unseres Lehrers imitierend hinzu: „Aber wenn Sie mir auch nur ein Eselsohr hineinmachen, dann mache ich Ihnen auch eines und zwar an eine Stelle, die weniger angenehm ist.“

 

„Er hält große Stücke auf dich“, warf Anton ein. Er tippte noch drei Buchstaben und hämmerte dann auf die Entertaste, bevor er sich zu mir herumdrehte. „Ich denke, dass er ein großes Talent in dir schlummern sieht. Jetzt versucht er, es wachzurütteln.“

 

„Ein Talent?“ Ich lachte. Das klang so unglaublich, dass mir nicht mehr dazu einfiel. Anton sah mich ungerührt an.

 

„Du wolltest doch Deutsch als Leistungskurs nehmen. Warum?“

 

Ich fragte nicht, woher er das wusste. Als Quelle kam dafür nur Benedikt infrage und die Tatsache, dass er das nicht nur gewusst, sondern auch Anton erzählt hatte, sagte mir einiges. Trotzdem zuckte ich auf dessen Frage hin nur mit den Achseln.

 

„Weiß nicht. Irgendwas musste ich ja nehmen und es erschien mir eine gute Idee. Ich beschäftige mich gerne mit Sprache. Außerdem … mag ich Gedichte.“

 

Antons Augenbrauen hoben sich einige Zentimeter, während Benedikts Grinsen breiter wurde.

 

„Er schreibt sogar selbst welche“, sagte er und fing sich dafür von mir einen warnenden Blick. Nur weil Anton Benedikts Freund war, hieß das noch lange nicht, dass er alles von mir wissen musste.

 

„Das ist interessant. Welche Art von Gedichten?“

 

Ich senkte den Blick.

 

„Keine besonderen. Einfach nur, was mir so durch den Kopf geht. Außerdem sind es auch keine Gedichte. Es sind Songs. Ich … singe manchmal.“

„Ach ja. Du spielst ja Gitarre. Benedikt hat mir davon erzählt.“
 

Anton sagte das in einem Tonfall, in dem er auch „Ach ja. Du sammelst ja Glitzersticker.“ hätte sagen können. Der Stellenwert wäre wohl etwa der gleiche gewesen. Ich schluckte die Erwiderung hinunter, dass es nicht nur Gitarre sondern noch ein paar Instrumente mehr waren. Ihm den Unterschied zwischen normaler und Bassgitarre zu erklären, wäre vergebene Liebesmüh gewesen. Er hielt Musik vermutlich ebenso für eine brotlose Kunst wie mein Vater. Daran war nichts Handfestes, nichts Wissenschaftliches. Nichts, was sich greifen und ein Haus darauf bauen ließ. Musik das war … nur ein Hobby.

 

Während Antons Blick weiterhin auf mir ruhte, wuchs mein Gefühl der Unzulänglichkeit. Ich gehörte nicht hierher und Benedikts bester Freund ließ mich das gerade mehr als deutlich spüren. Das hier war sein Reich. Er war der Herr über diese Bücherei und ich nur ein Eindringling, den er geduldet hatte, solange ich ihm nützlich war. Vielleicht auch seinem Freund zuliebe. Jetzt, da ich meinen Soll erfüllt hatte, war ich nicht mehr als ein störendes Objekt in seiner geliebten Ordnung.

 

Mit einem tiefen Atemzug stieß ich mich vom Tresen ab.

 

„Ich muss dann mal wieder. Wenn ich mich in der Pause nicht blicken lasse, wird Jo noch misstrauisch.“

 

Benedikt machte Anstalten, mich aufzuhalten.

 

„Du musst nicht gehen. Wir könnten auch über was anderes reden.“

„Nein, schon okay. Ich … wir sehen uns nachher bei Sport.“

 

Mit diesen Worten drehte ich mich um und flüchtete aus der Bibliothek. Wenn mich jemand dabei beobachtet hätte, hätte er vermutlich gelacht. Noch während ich auf dem Weg nach unten war, vibrierte das Handy in meiner Hosentasche.

 

'Tut mir leid' stand in Benedikts Nachricht. Ich blieb stehen und seufzte.

 

'Schon okay', schrieb ich zurück. 'Ich wollte sowieso los.'

 

Benedikt ahnte vermutlich, dass das eine Lüge war, aber er ließ es auf sich beruhen und schickte mir keine weitere Message. Seine Statusanzeige zeigte ihn als offline.

 

Nachdenklich drückte ich die Zurück-Taste und sah mir meine Chatliste an. Da waren verschiedene Verläufe, teilweise noch mit ungeöffneten Nachrichten. Belangloser Kram, den ich ignoriert hatte, weil ich nicht in der Stimmung gewesen war. Vermutlich ein Affront, aber ich konnte es nicht ändern. Mir fehlte gerade die Lust, um mich zu Kommentaren zum hundertundelften Tittenbild aufzuraffen. Ganz unten befand sich der Chat mit Mia und noch darunter einer mit Christopher.

 

Einen Moment lang überlegte ich tatsächlich, meinem Bruder eine Nachricht zu schreiben. Ihm zu erzählen, was hier gerade abging und in welche Scheiße ich mich schon wieder geritten hatte. Allerdings wusste ich nicht, wie ich das hätte formulieren sollen. Bei ihm drehte sich seit seinem Auszug alles nur noch ums Studium. Um Lehrpläne und Vorlesungen, Kommilitonen und Praktika. Da war kein Platz mehr für seinen kleinen, nervigen Bruder, der neuerdings festgestellt hatte, dass er auf Jungs stand. Der sogar einen Freund hatte. Was Christopher wohl dazu sagen würde? Wahrscheinlich würde er mir gar nicht glauben.

 

Plötzlich sehnte ich mich nach Benedikts Nähe zurück. Nach seinem Lachen, seiner Umarmung. Seiner Zuversicht, dass alles irgendwie gut werden würde, solange wir nur uns beide hatten. Ich fühlte es, wenn ich bei ihm war. Aber sobald die Wärme seiner Berührung sich verflüchtigte, wurde mir nur umso bewusster, wie allein ich war. Dass da niemand war, mit dem ich teilen konnte, was mich bewegte. Und jetzt hatte ich gerade erfahren, dass es auch in Benedikts Nähe Grenzen gab. Sicherlich war es nur unterschwellig, aber mir war durchaus bewusst, dass Anton nicht viel von mir hielt. Wie auch? Ich hatte mich ja nicht unbedingt auf Gebieten hervorgetan, die er als erstrebenswert betrachtete. Er musste mich zwangsläufig als nicht gut genug erachten.

 

Aber er hat gesagt, dass er damit einverstanden ist, dass Benedikt und ich zusammen sind, versuchte ich die kleine Stimme in meinem Kopf zu beruhigen. Das musste doch etwas wert sein. Das musste doch heißen, dass es funktionieren konnte. Und irgendwie würde ich das auch mit Jo hinkriegen. Ich würde ihm nur zeigen müssen, was Benedikt für ein toller Kerl war, dann würde er … dann würde er bestimmt …

 

Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Wem versuchte ich eigentlich gerade etwas vorzumachen? Jo würde es nie akzeptieren. Sobald er erfuhr, dass Benedikt und ich ein Paar waren, würde er sich von mir abwenden. Er würde gehen und Leon und die anderen mitnehmen. Weil es nicht cool gewesen wäre, wenn sie sich auf meine Seite schlugen.

 

Nein, das stimmt nicht. So ist es nicht. Es ist nichts falsch daran, was ich fühle. Das mit mir und Benedikt ist etwas Gutes. Etwas Schönes. Jo wird es verstehen. Er wird …

 

„Theo?“

 

Die Stimme ließ mich aufschrecken. Ich riss die Augen auf und starrte die Gestalt an, die da ein paar Stufen unter mir im Treppenhaus stand. Klare, blaue Augen musterten mich aufmerksam.

 

„Mia.“

 

Ihr Name und mein Keuchen hallten von den steinernen Wänden wieder.

 

„Was tust du hier?“, fragte sie und stieg noch eine Stufe nach oben. Sie hatte einige Bücher in der Hand.

 

„Ich war bei Anton und Benedikt in der Bücherei. Wir haben Bücher wegsortiert.“

 

Was ich da sagte, klang lächerlich. Wie eine Ausrede.

 

„Ich wollte auch noch ein paar Sachen wegbringen. Hab ich im letzten Jahr vergessen.“

 

Ich nickte, doch ein Blick auf ihren Arm verriet mir, dass das, was sie da trug, aktueller Lehrstoff war. Ich atmete tief durch.

 

„So schlimm?“, fragte ich und nickte zu den Büchern. Sie lächelte, als sie verstand, dass ich sie beim Schwindeln erwischt hatte.

 

„Die Gerüchteküche brodelt. Favorit ist momentan, dass ich dich betrogen habe. Wobei am lustigsten eigentlich war, als Corinna wissen wollte, ob ich tatsächlich unser Kind gegen deinen Willen zur Adoption freigegeben hätte.“

 

Für einen Moment war ich versucht, in Gelächter auszubrechen. Ich hatte nicht gedacht, dass die Reaktionen so fies sein würden. Und dass sie schon so weite Kreise gezogen hatten. Corinna war nicht einmal mehr in unserem Jahrgang. Kein Wunder, wenn sie wirklich so dumm war, dass sie so etwas glaubte. Gleichzeitig sah ich, dass Mia hinter der heiteren Fassade verletzt war. Die anderen schienen sich darauf eingeschossen zu haben, dass unsere Trennung ihre Schuld war. Wie auch immer sie darauf kamen. Und nur, weil Mia mich schützte, konnte sie sich nicht dagegen zur Wehr setzen. Es war einfach nicht richtig.

 

Ich seufzte. „Ach Mia.“

 

Ohne zu überlegen überwand ich die letzten vier Stufen zwischen uns. Ich fragte nicht, ob ich sie in den Arm nehmen durfte. Ich tat es einfach und sie schmiegte sich an mich, wie sie es früher schon getan hatte.

 

„Und du?“, murmelte sie leise. „Was treibt dich ins Treppenhaus?“

 

„Anton“, gab ich zurück. „Ich glaube, er mag mich nicht.“

 

„Wie kommst du darauf?“

 

Ich seufzte leise.

 

„Weiß nicht. Ich bin halt … ich bin nicht gut in der Schule, dafür hab ich 12 Punkte in Sport. Für jemanden wie ihn ist das Grund genug, mich nicht zu mögen.“

 

Sie lachte, bevor sie sich halb aus meiner Umarmung losmachte und mich ansah.

 

„Wenn das stimmt, ist Anton gar nicht so schlau, wie immer alle sagen“, erklärte sie bestimmt. „Du bist ein toller Mensch, Theo. Du bist großherzig und zuverlässig und hast einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Du stehst für die ein, die dir wichtig sind. Das bewundere ich an dir.“

 

Noch bevor ich ihr sagen konnte, dass ich diese Bewunderung ganz bestimmt nicht verdient hatte, öffnete sich über uns die Tür ins Treppenhaus. Ich ließ Mia los und trat schnell einen Schritt zurück, doch es war zu spät. Benedikt hatte uns bereits gesehen.

 

„Benedikt“, rief ich und wollte ihm erklären, was hier gerade passiert war, als sich auf einmal auch die Tür eine Treppe tiefer öffnete.

 

„Ich guck mal, wo er bleibt“, rief Jo über die Schulter hinweg. Er wandte sich um und entdeckte mich und Mia auf der Treppe. Ein Laut der Verblüffung entwich ihm.

 

„Ach hier bist du. Ich dachte, du hilfst den Schwachmaten beim Bücher stapeln.“

 

Mein Blick irrte zu Benedikt. Der hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst und sein Gesichtsausdruck ließ meine Alarmglocken Sturm läuten. Ich musste etwas tun, sonst würde das hier in einer Katastrophe enden.

 

„Halt die Klappe, Jo“, blaffte ich und versuchte meinen Freund daran zu hindern, zu mir herauf zu kommen. Er war allerdings bereits auf dem Treppenabsatz und grinste mich breit und zufrieden an.

 

„Wenn ich gewusst hätte, dass du hier Versöhnung mit Mia feierst, hätte ich Champagner mitgebracht.“

 

„Das ist nicht …“, begann ich, doch ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Benedikt hatte sich auf dem Absatz herumgedreht und schickte sich an, wieder aus dem Treppenhaus zu verschwinden. Das musste ich verhindern.

 

„Benedikt! Benedikt, warte!“

 

Ich wollte ihm nachlaufen, aber Jo hielt mich am Arm fest.

 

„Ach lass doch den Spinner. Der versteht doch eh nicht, worum es hier geht.“

 

Wütend fuhr ich zu Jo herum und machte mich von ihm los.

 

„Nein! Du bist es, der nicht versteht“, herrschte ich ihn an.

 

„Klar tue ich das“, antwortete er immer noch grinsend. „Du knutscht hier heimlich mit Mia rum, während wir noch alle rätseln, warum ihr euch so verkracht habt. Als wenn Mia sich wirklich einen anderen suchen würde.“

 

„Wir haben uns aber nicht verkracht“, schrie ich vollkommen außer mir. „Und Mia hat auch keinen Neuen, sondern ich.“

 

Dieser Aussage folgte eine Stille, die sich über die Szene legte wie Pulverdampf über ein Schlachtfeld. Wir waren noch nicht einmal wieder alle daraus aufgetaucht, als Jo plötzlich loslachte.

 

„Oh ja, guter Witz“, höhnte er. „Du hättest mir doch erzählt, wenn du ne neue Schnalle am Start hättest.“

 

„Du hast mir nicht zugehört“, sagte ich tonlos. Ich wusste, dass es vollkommen falsch war. Dass es schiefgehen musste. Dennoch redete ich weiter. „Ich sagte, dass ich jemand Neues habe, aber ich sagte nicht, dass es ein Mädchen ist.“

 

Jos Mund stand ein Stück weit offen, während er zwischen mir, Mia und dem oberen Treppenabsatz hin und her blickte. Er lachte schwach.

 

„Ist dir klar, was du da sagst?“

„Ja, vollkommen.“

 

Jo sah mich an. Er schüttelte ungläubig den Kopf.

 

„Was soll das heißen?“, wollte er wissen. Seine Stimme klang ärgerlich. „Dass du jetzt neuerdings schwul bist, oder was?“

 

„Nicht neuerdings“, antwortete ich leise. „Sondern schon immer.“

 

Ich klang viel zu schwach, viel zu entkräftet. Ich hatte Jos Zorn, der jetzt heiß und leuchtend aufflackerte, nichts entgegenzusetzen.

 

„Alter! Hör auf mich zu verarschen! Das kann gar nicht sein.“

 

In seiner Not wandte er sich an Mia. Als die jedoch nur bestätigend nickte, wurde Jos Gesicht fahl. Sein Unglauben bekam Risse und fiel Stück für Stück von ihm ab wie alte Farbe von einem Gemälde. Das, was darunter zum Vorschein kam, erschreckte mich. Er schnappte noch einmal nach Luft.

 

„Du … du kannst gar nicht schwul sein. Das glaube ich nicht.“

 

Ich lächelte schwach.

 

„Dann glaube es nicht. Aber es ist so.“

 

Ich wollte es ihm erklären. Wollte ihm sagen, wie es zu all dem gekommen war, doch das Klingeln zur nächsten Stunde schnitt mir das Wort ab. Bewegung entstand hinter der Glastür und gleich darauf öffnete der erste Schüler sie und trat ins Treppenhaus. Ich hörte Leons Stimme nach uns rufen. Eilig machte ich einen Schritt auf Jo zu.

 

„Jo, bitte lass uns …“

 

„Vergiss es“, zischte er und in seinem Blick stand pure Verachtung. „Sag mir einfach, wenn du dich wieder eingekriegt hast. Ich weiß echt nicht, was da gerade in deinem Kopf vorgeht. Aber solange du glaubst behaupten zu müssen, dass du auf Schwänze stehst, brauchst du nicht mehr mit mir zu reden. Melde dich, wenn du wieder klar denken kannst.“

 

Damit wirbelte er herum und rannte auf seinem Weg nach unten fast Leon über den Haufen, der gerade die letzten Stufen erklomm. Er rief Jo nach, aber der hörte nicht, sondern stob durch eine weitere Tür des Treppenhauses nach draußen. Hinter ihm schloss sich der Schülerstrom, der von außen herein und über die Treppen in die verschiedenen Klassenräume quoll. Mia, Leon und ich standen wie Felsen mittendrin und wurden von den Massen umspült.

 

Ich sah wie gebannt hinter meinem besten Freund her und wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Ein Blick nach oben verriet mir, dass auch Benedikt nicht mehr da war. Es war alles umsonst gewesen.

 

„Theo?“ Mias Stimme war vorsichtig. Sie tastete sich an mich heran, aber ich wich vor ihr zurück. Ich hatte es nicht verdient. Nichts hiervon.

 

„Ich … ich kann nicht“, stammelte ich und folgte dem gleichen Weg, den Jo gerade genommen hatte.

 

Auf dem Pausenhof sah ich mich um. Ich konnte meinen besten Freund nirgendwo entdecken. Stattdessen kamen zwei Mitschüler, die ich bereits von früher kannte, auf mich zu. Wir waren damals nicht eng befreundet gewesen und nach meinem Klassenwechsel war der Kontakt abgebrochen. Jetzt wollten sie ihn anscheinend wieder aufleben lassen. Ich konnte mir schon denken, warum. Sie wollten wissen, was bei mir und Mia los war. Ein Haufen Aasgeier, nur darauf aus, dem nächsten Opfer beim Sterben zuzusehen.

 

„Kein Kommentar“ schmetterte ich ihre Fragen ab, noch bevor sie sie gestellt hatten. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte. Mein Ziel war klar. Ich wollte Jo finden und ihn zur Rede stellen.

 

Er stand auf dem Parkplatz der Schulleitung und starrte in den Himmel. Kurz bevor ich ihn erreichte, rief ich ihn an. Er drehte sich nicht um.

 

„Verschwinde!“, schnauzte er. „Ich will dich nicht sehen.“

 

„Jo“, versuchte ich es wieder. „Du musst mir glauben …“

 

Er fuhr herum.

 

„Dir glauben?“, fauchte er. „Was soll ich dir denn glauben? Dass du schwul bist?“

 

„Ja.“

 

Er verzog den Mund und für einen Augenblick glaubte ich, dass er gleich in Tränen ausbrechen würde.

 

„Aber … das kann ich nicht.“ Seine Stimme war zu einem Flüstern geworden. „Denn wenn ich das glaube, dann war unsere Freundschaft eine einzige Lüge.“

 

„Warum?“

 

Ich wusste, was kommen würde. Trotzdem trafen mich seine Worte wie eine Ohrfeige.

 

„Weil ich nicht mit so jemandem befreundet sein kann.“

 

Ich fühlte, wie das Blut aus meinem Gesicht zu Boden stürzte. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und an den Rändern meines Gesichtsfeldes flimmerten dunkle Punkte.

 

„Deswegen kann ich es nicht glauben“, fuhr Jo ungerührt fort. „Ich will es nicht glauben. Also hör auf, so eine Scheiße zu labern und komm wieder zur Vernunft. Sag mir einfach, dass es nur ein Witz war, und wir vergessen die ganze Sache.“

 

Ich wollte etwas erwidern. Wollte ihn beschwichtigen. Aber mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Stumm starrte ich Jo an und konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Mitleidslos sah er mich an.

 

„Alles klar. Du hast dich entschieden“, sagte er nur, bevor er sich umdrehte und zur Schule zurück stapfte. Er verschwand durch den diesseitigen Eingang und ließ mich allein auf dem Parkplatz zurück.

 

Ich stand da und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte gerade meinen besten Freund verloren. Mia war bei der gesamten Oberstufe in Ungnade gefallen und Benedikt war vermutlich der Meinung, dass ich den Schwanz eingezogen hatte und wieder zu meiner Freundin zurückgerannt war. Konnte es noch schlimmer werden?

 

Das ist alles meine Schuld.

 

Ich sah zu dem Schulgebäude hinauf, hinter dessen Fenstern sich bereits die ersten Schüler versammelten. Da waren die Kunsträume im ersten Stock, die noch leer waren, weil die entsprechende Lehrkraft die Tür noch nicht aufgeschlossen hatte. Darüber die Physikräume, die ich zum Glück jetzt nicht mehr von innen sehen musste, wenn wir nicht gerade in einem der anderen Fächer einen Film gezeigt bekamen, und noch darüber die Klassenräume, in denen ich in der fünften Stunde Mathe haben würde. Ein weiterer Quell des Versagens, der mich erwartete. Ich war es müde zu kämpfen. Müde, mich zu bemühen. Müde, immer wieder diesen unbezwingbaren Berg emporzusteigen, nur um auf der anderen Seite wieder herunterzupurzeln und vor einem neuen Berg zu stehen. Ich hatte es so satt. Ich würde nie gut genug sein. Nie.

 

Vielleicht wäre es gut, wenn es einfach enden würde, dachte ich und erging mich einen Moment in der Vorstellung. Natürlich würde ich es niemals tun, aber der Gedanke, nicht mehr kämpfen zu müssen, war so verlockend, dass ich für einige Augenblicke daran festhielt, bevor ich ihn wieder weit von mir schob. Das war keine Lösung und ich wusste es. Es würde nichts ändern und diejenigen, die ich schützen wollte, nur umso verzweifelter zurücklassen. Das konnte ich ihnen nicht antun. Keinem von ihnen. Ich würde einfach weitermachen müssen.

 

 

Bleigewichte zerrten an meinen Gliedern, während ich den gleichen Weg zurück nahm, auf dem ich gekommen war. Sicherlich würde ich einen Tadel von unserem Sportlehrer bekommen, weil ich zu spät war. Ich würde dafür sorgen müssen, dass die anderen aufhörten, Mia zu belästigen, und ich würde Benedikt erklären müssen, warum ich Mia im Arm gehabt hatte, obwohl ich doch mit ihr Schluss gemacht hatte. So viele Aufgaben und eine wog schwerer als die andere. Mein Kopf begann zu dröhnen und mit jedem Schritt wurde das Hämmern hinter meiner Stirn schlimmer. Magensäure kletterte meinen Hals empor und ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.

 

Es wird gut werden. Es wird alles irgendwie gut werden, sagte ich mir immer wieder, aber meine Stimme verklang in dem lärmenden Wummern, das von irgendwo her meine Ohren verstopfte.

 

Ich überquerte den Pausenhof nicht, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte. Auf der anderen Seite brannte bereits Licht in den bodentiefen Fenstern der Turnhalle. Vermutlich liefen die anderen dort schon ihre Runden zum Warmwerden. Wenn ich mich beeilte, würde ich vielleicht noch um eine Rüge herumkommen. Aber ich ging nicht. Stattdessen nahm ich die Rampe, die zum Fahrradkeller hinab führte. Ich wollte nur noch weg von hier. Als ich jedoch beim Öffnen der Schlosses merkte, wie sehr meine Hände zitterten, wurde mir klar, dass ich nicht würde fahren können. Also ließ ich mich einfach neben dem Fahrradständer zu Boden sinken. Ich setzte mich neben die Säule in meinem Rücken und legte den Kopf auf die Knie. Während ich so dasaß, versuchte ich mir eine plausible Erklärung einfallen zu lassen, warum ich dem Sportunterricht ferngeblieben war. Mein Kopf war und blieb jedoch leer und so beschränkte ich mich irgendwann darauf zu warten, dass der graue Betonboden sich öffnete und mich verschluckte.

Stolz und Vorurteil

Ein Klavier wurde angeschlagen und Andrew Taggart begann zu singen.

 

I'm from the east side of America

Where we choose pride over character

 

Seine Stimme hallte von den Wänden des Fahrradkellers wieder und für einen Moment war ich versucht, ihn zu ignorieren. Dann aber zog ich mein Handy doch aus der Tasche. Auf dem Display stand Benedikts Name. Ich nahm ab.
 

„Ja?“

„Mensch, Theo! Wo bist du denn? Wir suchen dich schon überall.“

 

„Wer ist 'wir'?“, wollte ich wissen. Meine Stimme klang rau und kratzig.
 

„Na, ich und Mia. Sie hat mir alles erzählt.“

„Was?“
 

Vor Schreck wäre mir fast mein Handy aus der Hand gefallen.
 

„Aber warum?“

 

Am anderen Ende hörte ich Benedikt lachen.
 

„Na ja. Wahrscheinlich dachte sie, dass es eine gute Idee ist, nachdem Jo auf mich losgegangen ist, als wäre ich der Leibhaftige persönlich. Er hat mich angeschrien, dass das alles meine Schuld wäre und ich gefälligst meine dreckigen Hände von dir lassen sollte. Leon und Phillip sind dazwischen gegangen und dann kam auch schon Herr Messner und hat die drei mitgenommen. Danach ist Mia zu mir gekommen und hat mir die ganze Geschichte erzählt.“

 

Ich kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Verdammt! Jetzt hatte ichmit meiner dämlichen Aktion auch noch Benedikt mit reingezogen. Dabei hatte ich mich extra bemüht, Jo seinen Namen nicht zu nennen. Ich war so unfähig!
 

„Ich … ich hab gedacht, dass du sauer bist“, sagte ich zögernd. „Wegen Mia.“

 

Ich konnte Benedikt am anderen Ende seufzen hören.
 

„Quatsch. Es war zwar komisch, euch zusammen zu sehen, aber ich vertraue dir. Das hab ich doch schon mal gesagt. Ich hatte sogar überlegt, zu euch runterzukommen, aber als Jo dann aufgekreuzt ist, dachte ich, dass ich mich mal lieber verziehe, bevor es noch hässlich wird. Hat wohl nicht so funktioniert.“

 

Ich lachte leicht und fuhr mir mit der freien Hand durch die Haare.
 

„Nein, hat es nicht.“

 

Benedikt seufzte wieder, dieses Mal weicher. Liebevoller.

 

„Du bist ein Esel, Theo. Was hast du denn gedacht, was passiert, wenn du Jo das mal eben so zwischen Tür und Angel vor den Latz knallst? Dass er einen Freudentanz aufführt? Wohl kaum. Das muss man mit mehr Fingerspitzengefühl machen. Grad bei jemand wie ihm.“

 

Ich wollte dagegen aufbegehren. Wollte sagen, dass ich das doch nur wegen Mia gemacht hatte. Aber es stimmte nicht. Wenn ich ehrlich war, hatte ich es für mich gemacht. Weil ich das Gefühl nicht ertragen konnte, an ihrem Unglück Schuld zu sein. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, was es für die anderen bedeutete. Ich war und blieb eben ein Egoist.
 

„Und wo bist du nun?“, fragte Benedikt noch einmal.
 

„Im Fahrradkeller.“

„Wolltest du etwa wieder mal abhauen?“

 

Ich hätte es verneinen können, aber es wäre nur eine weitere Lüge gewesen. Also nickte ich, bis mir auffiel, dass Benedikt das ja nicht sehen konnte. Ich holte tief Luft.
 

„Ja, wollte ich. Ich wollte abhauen und nie wieder zurückkommen.“

 

Ich verschwieg, wie genau ich das gemeint hatte. Und natürlich verstand Benedikt es falsch.
 

„Du wolltest auswandern? Wohin denn? Kanada?“

 

Er lachte erneut, aber ich stellte es mir für einen Moment vor. Mit ihm zusammen einfach abzuhauen. Dorthin wo es nur Schnee, Elche und ab und an ein einsames Blockhaus gab. Weit weg von all der Scheiße hier. Benedikt konnte doch Französisch, also mussten wir uns darüber auch keine Sorgen machen. Es wäre perfekt.
 

„Warum nicht?“, sagte ich deswegen und wartete seine Antwort ab, die jedoch nur aus einem weiteren Lachen bestand. Ich verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. Er hatte ja recht. Es war eine dumme Idee. Ungefähr so dumm wie die, sich im Fahrradkeller zu verstecken, wo mich bei nächstbester Gelegenheit jemand entdecken würde.
 

„Ich mach mich wohl besser auf den Weg, was?“, fragte ich in der Hoffnung, Benedikt würde sagen, dass ich bleiben konnte, wo ich bin. Vielleicht fand er die Idee ja doch nicht so dumm.

 

„Ja, solltest du“, antwortete er jedoch. „Wir sind in der letzten Umkleide. Ich warte auf dich.“

 

Damit legte er auf.

 

Ich ließ mein Handy sinken. Wie es aussah, war meine Gnadenfrist zu Ende. Das Leben hatte an meine Tür geklopft und ich hatte geantwortet. Jetzt musste ich mich den Konsequenzen stellen.

 

 

Ich sah nicht nach oben, nachdem ich den Pausenhof überquert und das Schulgebäude wieder betreten hatte. Dort, nur eine Treppe höher, lag der Ort, an dem ich meine Freundschaft mit Jo mal eben so in die Tonne getreten hatte. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, konnte ich wirklich nur den Kopf darüber schütteln. Es war unbedacht gewesen. Geradezu leichtsinnig. Fast so als wollte ich, dass es schiefging. War ich etwa schon so weit, dass ich mich selbst manipulierte?

 

Ich verschob die Klärung dieser Frage auf später und konzentrierte mich stattdessen darauf, die lange Treppe zur Turnhalle hinabzusteigen. Dabei betete ich im Stillen, dass mich keiner der Lehrer im Vorraum erwischte. Ich hatte jedoch Glück und erreichte unbehelligt den Gang, in dem die Eingänge zu den Umkleiden lagen. An der letzten Tür angekommen atmete ich noch einmal tief durch, bevor ich vorsichtig klopfte. Sofort wurde mir geöffnet und ich blickte in Benedikts besorgtes Gesicht.
 

„Da bist du ja endlich. Wir haben schon gedacht, dir sei was passiert.“

 

„Wir“ das hieß in dem Fall er, Mia und – wie ich zu meinem Erstaunen feststellen musste – auch Leon und Phillip. Wie sie es geschafft hatten, sich aus Herrn Messners Unterricht zu schleichen, fragte ich lieber nicht. Als ich die Kabine betrat, standen die beiden auf.
 

„Hey, T, alles klar bei dir?“

 

Leon wirkte recht relaxt, während Phillip in meine Richtung und dann wieder zu Boden blickte. Ich versuchte ein Lächeln. Es geriet reichlich schief.
 

„Ja, alles bestens.“

 

„Ich …“, begann Leon und räusperte sich. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich finde, dass Jo ne Meise hat. Mir ist dass vollkommen egal, weißt du.“

 

„Ja, mir auch“, beeilte sich Phillip ebenfalls zu versichern. Er sah dabei nur kurz in meine Richtung, bevor er meinem Blick wieder auswich.
 

„Danke. Das bedeutet mir wirklich viel.“

 

Leon nickte mir zu.
 

„Also, wenn ihr mal Probleme habt, du oder Mia oder du auch, dann … dann sagt einfach Bescheid, okay?“

 

Seine letzten Worte hatte er an Benedikt gerichtet. Anscheinend war ihm klar, wie das Ganze zusammenhing. Trotzdem musste ich wissen, was uns verraten hatte. Als ich Leon danach fragte, lachte er.
 

„Ach, na ja. Von Benedikt hieß es ja immer mal wieder, dass er vom anderen Ufer ist. Und dass du ihn gern hast, war ebenfalls nicht ganz unauffällig. Ich bin vielleicht nicht gerade der große Redenschwinger, aber das heißt ja nicht, dass ich auf der Wurstsuppe hergeschwommen bin, wie meine Oma immer so schön sagt. Außerdem wäre Mia wohl kaum zu ihm gegangen, wenn es nicht so wäre. Deine Nummer hätte sie schließlich auch von einem von uns bekommen können.“

 

Jetzt war es an Mia, betreten dreinzuschauen. Zerknirscht sah sie mich an.
 

„Sorry, daran hab ich nicht gedacht.“

 

Ich schüttelte den Kopf.
 

„Ist okay. Ich … ich bin froh, dass es jetzt raus ist. Ich hatte ja nicht vor, mich auf ewig zu verstecken.“

 

Obwohl ich das gerade gesagt hatte, war mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Geschichte auf diese Weise ans Licht gekommen war. Ich hatte mich zwar bei Jo nicht unbedingt geschickt angestellt. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn die Leute es in Zukunft von mir persönlich erfuhren und nicht über irgendwelche Gerüchte in der Pausenhalle.

 

Ich wandte mich an Leon.
 

„Meinst du, Jo erzählt es rum?“

 

Leon zuckte mit den Achseln.

 

„Weiß nicht. Er … er hat eigentlich nicht gesagt, worum es genau ging, bis Phillip und ich ihn direkt danach gefragt haben. Hat ein paar ziemlich unschöne Sachen gesagt, aber … ich glaube nicht, dass er euch wirklich schaden will. Er ist einfach gerade total überfordert und beißt wild um sich. Du kennst das doch von ihm.“

 

Ich nickte und wollte es glauben. Ich wollte glauben, dass Jo nicht hinging und jedem, der es hören wollte, auf die Nase band, warum er vorhin so ausgerastet war. Nicht nur, weil es das für mich und Benedikt einfacher machte, sondern auch, weil das bedeutete, dass meine Freundschaft mit Jo vielleicht noch eine Chance hatte.

 

„Na ja, ich denke, wir sollten mal wieder“, meinte Leon und wies mit dem Daumen Richtung Tür. „Ich hab erzählt, Phillip hätte Nasenbluten, aber wenn wir nicht langsam wieder antanzen, wird Herr Messner noch misstrauisch. Ihr kommt klar?“

 

Mia, Benedikt und ich nickten unisono.
 

„Na dann, man sieht sich.“

 

Leon und Phillip trollten sich und ließen Benedikt, Mia und mich allein zurück. In dem Moment, als sich die Tür hinter den beiden schloss, wurde mir bewusst, wie seltsam das war.

 

„Tja …“, begann ich und wusste nicht recht, was ich jetzt sagen sollte. „Ich … ich hab da wohl ziemlichen Mist gebaut.“

 

„Ach, Schwamm drüber. Jo kriegt sich schon wieder ein“, meinte Benedikt jovial.

 

Mia hingegen musterte mich aufmerksam.

 

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

 

„Mir? Mir geht’s gut“, antwortete ich, ohne lange zu überlegen. Die Wahrheit konnte ich ihr nicht auch noch zumuten.

 

Benedikt sah Mia an und dann wieder mich.
 

„Gibt es da irgendwas, das ich wissen sollte?“

 

Ich erkannte genau, dass Mia eigentlich etwas sagen wollte, dann aber doch den Mund zu einem schmalen Strich zusammenpresste.
 

„Ich … ich sollte vielleicht gehen“, meinte sie plötzlich und lachte ein bisschen zu künstlich. „Nicht, dass mich noch einer in der Jungsumkleide erwischt. Das kommt vermutlich nicht so gut.“

 

„Mia!“

 

Ich wollte sie aufhalten, aber sie wehrte mich mit dem ausgestreckten Arm ab, sodass ich stehenblieb und zuließ, dass sie den Abstand zwischen uns wieder vergrößerte. Ich war immer noch der Falsche, um ihr zu helfen.

 

„Ist schon gut, Theo“, sagte sie leise. „Ich komme klar.“

 

Ich wusste, dass sie log. Aber vielleicht gab es etwas, dass ich tun konnte.
 

„Du … du könntest es Anne erzählen“, bot ich an. „Dann weiß sie, was los ist, und ihr könntet … reden.“

 

Mias Augen weiteten sich ein Stück.
 

„Meinst du das ernst?“

„Ja, sicher. Ich … es ist nur fair, jetzt wo Leon und Phillip es auch wissen. Du musst da nicht alleine durch.“

 

Jo ließ ich bei dieser Aufzählung aus. Dass er es wusste, war nicht unbedingt das, was man unter hilfreich verstand.

 

„Okay“, sagte Mia und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Sie hat zwar akzeptiert, dass ich nicht darüber sprechen will, aber …“

 

„Aber du würdest gerne“, meinte ich. „Ich verstehe das.“

 

Mia lächelte noch einmal kurz, bevor sie mir zunickte und mit einem kurzen Blick auf Benedikt endgültig die Tür hinter sich schloss. Als sie weg war, hörte ich Benedikt tief durchatmen.

 

„Ist nicht einfach, oder?“

 

Er taxierte mich, als wolle er abschätzen, wie es mir ging. Genau das, was Mia auch gerade hatte wissen wollen. Das Problem daran war, dass ich das nicht so recht wusste. In mir drin herrschte ein dermaßenes Chaos, dass ich die Emotionen nicht klar voneinander trennen konnte. Am liebsten hätte ich den ganzen Klumpen so weit wie nur möglich von mir weggeschoben. Gerade, als ich das gedacht hatte, kam mir ein Satz aus einem Song in den Sinn.

 

But I learned from my dad that it's good to have feelings

 

Wie sehr ich mir wünschte, dass ich in diesem Moment hätte singen können. Klarheit in das Ganze bringen. Aber ich konnte nicht. Der Vogel im goldenen Käfig war stumm geworden und ließ traurig die Flügel hängen.

 

Benedikt schien zu spüren, dass mir gerade die Worte fehlten. Er kam zu mir und nahm mich in den Arm. Seine Nähe vertrieb die trüben Gedanken ein wenig. Ich lehnte mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter.

 

„Du bist nicht allein“, sagte er nahe an meinem Ohr. „Ich weiß, manchmal hat man das Gefühl, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Aber du musst das ebenso wenig wie Mia oder sonst irgendwer. Du hast mich und Anton, Phillip und Leon. Und wenn du …“

 

Ich unterbrach ihn, bevor er weiterreden konnte.
 

„Anton mag mich nicht“, sagte ich anklagend und hörte mich dabei an wie ein Vierjähriger, der das Spielzeug, das er im Schaufenster gesehen hatte, nicht bekam.

 

„Wie kommst du denn darauf?“

„Na, weil … du hast es doch auch gemerkt. Du hast dich bei mir dafür entschuldigt.“

 

Benedikt lachte auf.

 

„Ja, aber doch nur, weil ich Anton von dir erzählt hab. Ich … na ja. Bei irgendwem musste ich doch ein bisschen rumschwärmen. Ich dachte, du wärst deswegen sauer.“

 

Benedikt legte den Kopf ein wenig schief und sah mich treuherzig an. Ich spürte ein Lächeln an meinen Mundwinkeln zupfen.
 

„Du hast ihm von mir vorgeschwärmt?“, musste ich trotzdem nachbohren.

 

Ein leichter Rotschimmer überzog die Haut zwischen Benedikts Sommersprossen. Er senkte den Blick.
 

„Das hört sich an, als wäre ich ein durchgeknallter Groupie. Ich meine, ich hab ja keine Poster von dir an die Wand gehängt oder so.“

 

Der Ton, in dem er das sagte, legte nahe, dass er das durchaus in Erwägung gezogen hatte. Ich grinste.

 

„Hättest du denn gerne welche?“, stichelte ich weiter. Jetzt sah er mich wieder geradeheraus an.
 

„Nein“, sagte er bestimmt. „Denn inzwischen brauche ich das ja nicht mehr. Jetzt kann ich das Original haben.“

 

Er lehnte sich vor und ich kam ihm das letzte Stück entgegen, um unsere Lippen zusammen zubringen. Es war ein keuscher Kuss, nur Lippen, keine Zunge oder irgendwas. Trotzdem fühlte ich Begierde in mir aufwallen. Das und noch etwas anderes. Es zog und zerrte an meinem Brustkorb und ließ mich meine Arme nur umso fester um ihn schließen.
 

„Was machst du heute Nachmittag?“, fragte ich, nachdem wir den Kuss beendet hatten.
 

„Weiß nicht. Noch hab ich nichts vor.“

 

Das Funkeln in seinen Augen zeigte mir, dass er an das Gleiche dachte wie ich. Das und die Tatsache, dass er mich noch einmal küsste und gegen meine Lippen murmelte, dass seine Mutter am Nachmittag nicht zu Hause war. Ein Kribbeln lief meine Wirbelsäule entlang.
 

„Dann ist das hier eine Einladung?“, fragte ich noch einmal nach.

 

„Ist es“, bestätigte er. „Ich … ich würde gerne ein bisschen Zeit mit dir allein verbringen.“

 

Das Kribbeln verstärkte sich und ich wusste, dass ich mich jetzt von ihm trennen musste, wenn ich nicht riskieren wollte, dass man mir meine Erregung ansah. Trotzdem blieb ich noch einen winzigen Augenblick.
 

„Ich freu mich drauf“, sagte ich, bevor ich ihm noch einen Kuss auf die Lippen hauchte und mich dann von ihm löste. Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, nur um sich im nächsten Moment zu richten. Ich beobachtete es mit leichter Schadenfreude.
 

„Brauchst gar nicht so blöd zu grinsen“, murrte Benedikt, als er meinen Blick bemerkte. „Ich hab immerhin nur ne Turnhose an. Die versteckt mal genau nichts.“

 

In diese Moment hörte man die Klingel das Ende der Sportstunde verkünden. Benedikt fluchte leise.
 

„Na, das wird wohl ne Eintragung geben.“ Er sah zur Tür. „Vielleicht verschwindest du lieber. Wenn wir dummes Gerede verhindern wollen, wäre es besser, wenn man uns nicht zusammen sieht.“

 

Ich nickte, obwohl es mir schwerfiel. Als ich gerade an der Tür angekommen war, rief Benedikt mich noch einmal zurück. Er lächelte.
 

„Und mach dir keine Sorgen wegen Anton. Ich hab ja gesagt, er ist ein bisschen speziell. Aber er meint es nicht böse. Es ist nur … manchmal ist es ein bisschen als würdest du dich mit Data unterhalten. Nur dass Anton nicht einmal versucht, hinter das Gehheimnis menschlichen Humors zu kommen.“

 

Ich lachte auf.
 

„Okay, ich werd’s mir merken.“

 

Damit machte ich, dass ich wegkam, bevor mich unser Sportlehrer doch noch erwischte. Wenn er fragte, würde ich sagen, dass ich Kopfschmerzen gehabt hatte. Das war ja nicht einmal unbedingt gelogen.

 
 

Während ich die Treppen hinaufstieg, musste ich daran denken, dass übermorgen der Arzttermin war. Inzwischen hatte ich noch viel weniger Lust hinzugehen als bisher. Aber es musste wohl sein. Immerhin konnte ich meine Eltern damit erst einmal ein bisschen beschäftigen. Je nachdem, was für eine Diagnose der Arzt stellte, konnte ich das ja vielleicht als Erklärung für mein „merkwürdiges“ Verhalten hernehmen. Natürlich wollte ich nicht ewig damit hinterm Berg halten, dass meine Interessen sich in eine andere Richtung entwickelt hatten, als sie erwartet hatten. Aber … es hetzte mich ja niemand. Ich hatte meine Freunde, die hinter mir standen, und vielleicht würde ich es ja sogar hinkriegen, das mit Jo zu klären. Bis dahin war es sicherlich nicht notwendig, die Dinge zu überstürzen.

 

Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.

 

Ich rollte innerlich mit den Augen, als mir einer der Lieblingssprüche meiner Mutter durch den Kopf ging. Sie hatte sicherlich recht, aber ich konnte nicht an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen. Ich konnte nicht.

 

 

Wie schwer es werden würde, zeigte sich gleich in der nächsten Stunde.

 

Im Bio-LK saß Jo normalerweise wie in eigentlich allen Stunden neben mir. Jetzt jedoch hatte er sich in die letzte Reihe verzogen, wo er sehr beschäftigt tat und auch nicht aufblickte, als ich den Raum betrat. Der Platz neben mir blieb somit leer, bis Leon sich erbarmte und zusammen mit Phillip zu mir aufrutschte. So war Jos Fehlen nicht mehr ganz so offensichtlich, aber als ich am Ende der Stunde die finstere Miene, mit der er mich und die anderen bedachte, wusste ich, das Vorsicht angebracht war.

 

„Das mit Jo gefällt mir nicht“, sagte ich zu Leon. Wir hatten uns in der zweiten großen Pause in eine Ecke verzogen und beobachteten von dort aus die Lage. „Wenn er jetzt ganz alleine steht, wird er vielleicht etwas Unbedachtes tun.“

 

Wie mich vor der ganzen Schule zu outen, zum Beispiel.
 

Wenn er das tat, wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Ich wollte nicht, dass es auf diese Weise herauskam. Aber ich wollte es auch nicht verleugnen, wenn es dazu kommen sollte. Wie ich es auch drehte und wendete, beide Möglichkeiten waren gleich bescheiden.
 

„Es sei denn, du kommst ihm zuvor“, meinte Leon, als ich meine Bedenken äußerte. „Viel zu verlieren hast du ja nicht.“

 

„Nicht?“, fragte ich lachend.

 

„Nein, was auch?“, fragte er zurück. „Die Leute mögen dich. Sie werden nicht damit aufhören, nur weil du auf einmal einen Freund hast. Du bist doch immer noch der gleichen Mensch.“

 

Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen ließ ich meinen Blick über die Menge schweifen. Ob Leon recht hatte? Ob die meisten wirklich so reagieren würden?
 

„Und was, wenn es noch mehr so Idioten gibt wie Jo?“, warf Phillip ein. „Ich … ich mein, ich kann ihn irgendwo ein Stück weit verstehen.“

 

Als ich ihn fragend ansah, drehte er den Kopf unbehaglich zur Seite.
 

„Nun schau nicht so. Ich find’s halt auch irgendwie merkwürdig, mir das vorzustellen. Knutscht du jetzt echt mit Benedikt rum?“
 

„Äh …“ Die Frage hatte ich so nicht erwartet. „Ja?“

 

„Das ist komisch“, beharrte Phillip.
 

„Warum?“, wollte Leon wissen. „Nur weil du mit niemandem rumknutschst?“
 

„Nee, weil … weil’s halt zwei Kerle sind. Das will doch keiner sehen.“

„Och, weiß nicht. Kerle, die auf Kerle stehen, finden das bestimmt heiß. Und einige Weiber steh’n da auch drauf, hab ich gehört.“

 

Während Leon grinste, bekam Phillip so rote Ohren, dass er glatt als Notbeleuchtung hätte durchgehen können. Als ich ihn fragend ansah, fing er an herumzustottern.
 

„Ich … also … ich hab nur was bei Sina im Zimmer gesucht. Und da hatte sie so … Hefte. Mit zwei Kerlen, die miteinander rumgemacht haben. Das … also, das war halt echt nicht meins.“

 

Während Leon in wieherndes Gelächter ausbrach, verzog ich meinen Mund zu einem leichten Lächeln.
 

„Ist okay. Ich werde Rücksicht nehmen und meinem Freund nicht direkt vor deinen Augen die Zunge in den Hals stecken.“

 

„Lalala, ich kann dich gar nicht hören“, rief Phillip und stopfte sich demonstrativ die Finger in die Ohren. Ich grinste weiter, obwohl die ganze Kabbelei einen bitteren Beigeschmack hatte. Keiner meiner Freunde wäre auf die Idee gekommen, das zu verlangen, wenn ich mit einem Mädchen zusammen gewesen wäre. Aber das mit Benedikt, das musste versteckt werden. Etwas in mir sträubte sich dagegen. Es sollte egal sein, wen ich küsste.

 

Ich sagte jedoch nichts. Wohl auch, weil mir klar war, dass es einigen gehen würde wie Phillip. Theoretisch hatte er nichts dagegen. Er wollte tolerant sein. Gleichzeitig sträubte sich etwas in ihm, auch den Rest, der damit zusammenhing, zu akzeptieren. Dabei hätte er sich auch darüber bei einem Mädchen in meinen Armen nie Gedanken gemacht. Es stimmte wohl, was Hendrik gesagt hatte. Sobald die Leute Bescheid wussten, machten sie sich unweigerlich Gedanken darüber, was bei dir im Bett abging. Wie bei Tieren im Zoo.

 

Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder darauf, was wirklich war. Immerhin bemühte Phillip sich und das war mehr, als mein sogenannter bester Freund zustande gebracht hatte. Dabei drängte sich mir unwillkürlich die Frage auf, was wohl passieren würde, wenn ich mich öffentlich zu meiner Orientierung bekannte. Würde Phillip dann bleiben oder würde er gehen?

 

Vermutlich weiß er das selber nicht, dachte ich, während ich mit zusammen den anderen in Richtung Matheraum ging. Noch zwei Stunden. Zwei Stunden, in denen Jo nicht neben mir sitzen würde. In denen ich fragenden Blicken oder weniger subtilen Zettelchen ausgesetzt sein würde, die wissen wollten, ob es Ärger im Paradies gab. Es war fast, als wäre über das Zerwürfnis zwischen mir und Jo, die Sache mit Mia in Vergessenheit geraten. Und da ich schon das zweite Mal an einer „Trennung“ beteiligt war, begannen die Leute sich zu fragen, ob nicht doch ich der Schuldige an all dem war. Ich konnte es ihnen nicht verdenken.

 

Überholspur

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Im Kreuzverhör

Benedikts Mutter war nicht wenig erstaunt, mich schon wieder in ihrem Haus vorzufinden, als sie beladen mit mehreren Einkaufstaschen die Tür öffnete. Da ich mich jedoch sofort bemühte, ihr mit der schweren Last zur Hand zu gehen und auch sonst nützlich und umgänglich zu wirken, ersetzte schon bald freundliche Neugier ihre anfängliche Zurückhaltung. Während des Essens fing sie an, mir Fragen zu stellen. Über meine Familie, die Schule, meine Hobbys. Ich beantwortete alles geduldig, obwohl Benedikt immer wieder versuchte, seine Mutter auf ein anderes Thema zu bringen. Sie lachte jedoch nur und legte ihre Hand beruhigend auf seine.
 

„Aber Benedikt, Schatz. Ich versuche doch nur, deinen Freund kennenzulernen.“

 

„Du verhörst ihn“, stellte er richtig und gabelte eine weitere Portion Nudeln mit Tomatensoße auf, als wäre sie sein persönlicher Feind.
 

„Ach, das stimmt doch gar nicht. Oder, Theodor, fühlst du dich von mir verhört?

 

Sie sah mich fragend an und ich schüttelte lächelnd den Kopf.

 

„Nein, kein bisschen.“

 

Benedikt sagte nichts dazu, aber der Blick, den er mir über den Tisch hinweg zuwarf, bohrte sich wie ein Dolch in meine Brust.
 

„Was möchtest du denn später mal beruflich machen?“, erkundigte sich Benedikts Mutter ungeachtet der finsteren Rauchwolken über dem Kopf ihres Sohnes weiter.
 

„Ich … ich weiß noch nicht“, gab ich ausweichend zurück. Meine Aufmerksamkeit lag immer noch bei Benedikt und abgelenkt wie ich war, setzte ich hinzu: „Ich hatte überlegt, was mit Musik zu machen, aber …“

 

Der Rest des Satzes blieb mir in der Kehle stecken. Verdammt, das hatte ich eigentlich nicht sagen wollen. Das war doch nur ein dummer Wunschtraum. Ein Hirngespinst, aus dem niemals ernsthaft etwas werden konnte. Sicherlich würde Benedikts Mutter ebenso reagieren, wie meine Eltern reagiert hätten. Sie würde den Mund öffnen und …

 

„Mit Musik?“, fragte sie und ihre Augen weiteten sich interessiert. „Was denn genau? Möchtest du eher hinter den Kulissen sitzen oder selbst Musik machen? Ich nehme ja nicht an, dass Musiklehrer mit auf deiner Liste von Traumberufen steht.“

 

Sie lachte und ich erwiderte es automatisch. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mir selbst dabei zusehen zu können, wie ich immer weiter redete.

 

„Nein, nicht wirklich. Anderen was beibringen ist nicht so meine Stärke. Ich würde eigentlich gern selbst Musik machen. Aber wie sich damit Geld verdienen lässt, wenn man nicht gerade ein Superstar ist, weiß ich auch nicht so recht.“

 

Wieder wartete ich auf eine negative Reaktion, doch sie blieb aus. Stattdessen lachte Benedikts Mutter erneut.

 

„Na, dann musst du wohl ein Star werden. Bewirb dich doch mal bei einer dieser Castingshows. Wenn du gut bist, wirst du ja vielleicht entdeckt. Oder du schaust dich mal um, was es an Berufen rund um Musicals gibt. Ich wäre ja nicht böse, wenn ich jemanden kennen würde, der günstig an Karten für 'König der Löwen' oder 'Mamma Mia!' käme.“

 

Während sie immer noch ein wenig verschmitzt lächelte und begann, das Geschirr abzuräumen, meinte ich eine ganz andere Stimme zu hören. Sie gehörte meinem Bruder.

 

Musicalkarten? Glaubst du wirklich, dass Mama und Papa sich über so was freuen würden?“

 

Es war damals um ein Geschenk zum Hochzeitstag gegangen. Zu welchem wusste ich gar nicht mehr. Nur, dass es keine Musicalkarten geworden waren. Stattdessen hatten sie eine Gartenbank von uns bekommen, auf der sie nie gemeinsam saßen. Weil nie die Zeit dafür war.

 

Mein Blick glitt hinüber zu Benedikt. Er schmollte augenscheinlich immer noch, weil ich ihm vor seiner Mutter in den Rücken gefallen war. Als ich seinen Gesichtsausdruck nachahmte, wurde seine Miene zuerst noch finstererer, bevor seine Mundwinkel anfingen zu zucken. Er streckte mir die Zunge raus und ich erwiderte es, bevor wir uns wieder zusammenrissen, weil seine Mutter zurückkam, um die restlichen Schüsseln einzusammeln. Ihrem nur schlecht verborgenen Schmunzeln nach zu urteilen, hatte sie genau mitbekommen, was hier vorgefallen war. Ich beschloss, dass das mein Zeichen zum Aufbruch war.

 

Während ich mir im Windfang die Schuhe anzog, stand Benedikt neben mir und beobachtete mich. Als ich fertig war, trat er zu mir und zog mich in eine Umarmung.

 

„Weißt du, eigentlich hat meine Mutter gar nicht mal so unrecht. Wenn du wirklich was mit Musik machen willst, solltest du mal bei so einem Casting mitmachen.“

 

Ich verzog das Gesicht. Mit einer Nummer auf dem Shirt in einer Schar von hunderten von hoffnungslosen Fällen zu stehen, war nicht gerade meine Vorstellung von einem gelungenen Karrierestart.
 

„Oder du nimmst mal was von deinen Songs auf und veröffentlichst sie im Internet. Wer weiß, vielleicht entdeckt dich ja jemand.“
 

„Ja klar“, gab ich augenrollend zurück. „Ausgerechnet auf mich hat die Welt bestimmt gewartet.“

 

Benedikt wiegte den Kopf hin und her.
 

„Wer weiß, vielleicht ja doch. Und wenn dich nur fünf Leute abonnieren, dann ist das eben so. Dann hast du es immerhin probiert.“

 

Er sah mich dabei so treuherzig an, als würde er tatsächlich daran glauben. Als wären es nicht nur Spinnereien und ausgemachter Blödsinn, aus dem nie was werden würde. Ganz von selbst fing ich an zu lächeln.

 

„Ja, vielleicht. Aber vielleicht mache ich mich auch total lächerlich und muss dann mit einer Papiertüte auf dem Kopf rumrennen.

„Ach, das macht nichts. Wir finden bestimmt eine hübsche, die dir ein bisschen ähnlich sieht.“

„Ist der Sinn der Tüte nicht, dass man mich nicht mehr erkennt?“

„Das wäre aber schade. Ich mag nämlich, wie du aussiehst.“

 

Er lehnte sich vor und küsste mich, bevor er mir wieder in die Augen sah.

 

„Aber nicht nur das. Ich hoffe, das weißt du.“

 

Ich sagte nichts darauf. Das Kompliment, das in seinen Worten lag, ließ irgendwas in mir anschwellen und ich fürchtete, dass man es sehen könnte, wenn ich nicht bald von hier wegkam.

 

„Wir sehen uns ja Morgen in der Schule“, versprach ich und wusste selbst, dass es nicht das Gleiche sein würde. Selbst wenn wir mit den paar Freunden jetzt einen kleinen, sicheren Rahmen hatten, waren da immer noch die anderen. Die, die von nichts wussten. Die, die nicht verstehen würden. Die mit den Fingern auf uns zeigen und hinter vorgehaltener Hand über uns tuscheln würden. Ich wünschte sie alle auf den Mond.
 

„Ja, das tun wir“, sagte er jedoch nur. Gedanken wie meine schienen ihm fremd.
 

„Fahr vorsichtig.“

„Du klingst wie meine Mutter.“

„Oh Himmel, bloß nicht.“

 

Benedikt grinste und ich erwiderte es, bevor ich mich endlich losriss und mich auf den Weg zu meinem Rad machte.

 

 

Während ich zurückfuhr, schwirrten Worte durch meinen Kopf. Sie ergaben noch keinen vollständigen Text, aber ich war mir sicher, dass sie früher oder später zu einem neuen Song werden würden. Einer über Freundschaft und Dankbarkeit und … Liebe. Ich musste ein wenig lachen, als ich das in Gedanken so aussprach. Es klang so kitschig. Aber vielleicht … vielleicht war es okay, wenn ich das mochte. Wenigstens manchmal. Wenn ich es nicht mehr verstecken musste, weil ich Angst hatte, dass es jemand auf falsche Gedanken brachte. Wenn ich aufhören konnte, so zu tun, als würde ich Dinge nicht mögen, nur um ein Image zu wahren. Ein Image, das ich nicht einmal Mia gegenüber wirklich hatte fallen lassen, auch wenn sie näher gekommen war als jeder andere. Es war, als könne ich freier atmen.

 

Dieses Gefühl hielt an, während ich die Stadt durchquerte und auf der anderen Seite wieder in die Wege zwischen Feldern und Wiesen eintauchte, bis schließlich der Hof meiner Eltern am Ende der Straße erschien. Während ich auf das Gut zufuhr, das im Abendsonnenschein friedlich und idyllisch wie in die Landschaft gemalt dalag, kamen mir plötzlich wieder Zweifel.
 

Da war dieses perfekte Bild einer perfekten Familie mit perfekten Eltern und ihren zwei mehr oder weniger perfekten Söhnen. Ich hatte mich stets bemüht, meinen Teil des Bildes auszufüllen. Dem gerecht zu werden, was von mir erwartet wurde. Nicht aus dem Rahmen zu fallen. Was würde passieren, wenn ich auf einmal damit aufhörte? Wenn ich mich von einem braven Puzzleteil in einen bunten Klumpen Knete verwandelte? Würde man mich dann aus der Schachtel werfen?

 

Du bist heute schräg drauf, sagte ich mir und versuchte, diesen und alle anderen Gedanken so weit zurückzudrängen, dass man sie mir nicht anmerken würde. Nicht darüber zu grübeln,was Christopher wohl sagen würde, wenn er wüsste, was sein kleiner Bruder heute getrieben hatte. Nicht darüber nachzudenken, wie mein Vater es finden würde, dass sein Sohn jetzt „so einer“ war. Nicht darüber nachzudenken, wie meine Mutter wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass ich ihr Lebenswerk und das meines Vaters nicht weiterzuführen gedachte. Einfach nicht darüber nachdenken, dann würde der Rest schon von allein kommen.

 

Ich schob mein Rad in den Stall und sah, dass in der Küche schon Licht brannte. Es war noch nicht so spät, aber durch die Innenlage der Einbauküche, war die Ecke manchmal etwas schummrig, sodass meist die Beleuchtung über dem Herd brannte, wenn meine Mutter dort arbeitete. Meinem Vater war das wegen der Kosten ein Dorn im Auge, aber er sagte nie etwas dazu, wenn meine Mutter dabei war. Lieber ärgerte er sich im Stillen darüber und zahlte zähneknirschend die anfallende Rechnung. So lief es mit vielen Dingen und manchmal wünschte ich mir, ich hätte weiterhin nichts von ihnen gewusst.

 

„Ich bin wieder da“, rief ich, nachdem ich die Haustür aufgeschlossen hatte.
 

„Ich bin in der Küche“, antwortete meine Mutter. „Willst du noch was essen?“
 

„Danke, ich hab schon“, sagte ich und ging durch die Tür, die in den Wohnbereich führte. Tatsächlich stand meine Mutter gerade am Herd und füllte einige Reste in eine Plastikdose. Als sie mich sah, lächelte sie.
 

„Es ist auch nicht mehr viel übrig. Dein Vater hat heute Abend noch einmal kräftig zugelangt. Er hat gemeint, wer nicht da ist, bekommt auch keine Reste.“

 

Ich lachte, obwohl mir dieser Ausspruch einen kleinen Stich versetzte. Ob er wohl das Gleiche gesagt hätte, wenn es um Christopher gegangen wäre?

 

„Ich hab wirklich schon gegessen“, versicherte ich noch einmal.

 

Meine Mutter schien zufrieden. Sie stellte die Plastikdose in den Kühlschrank und drehte den Wasserhahn auf, um die Töpfe abzuwaschen. Einen Augenblick lang war ich versucht, ihr meine Hilfe anzubieten, aber ich ahnte, dass ich dann möglicherweise mehr erzählen würde, als ich eigentlich wollte. Es war besser, wenn ich vorerst etwas Abstand hielt.
 

„Ich geh dann mal hoch. Muss noch duschen und meine Sachen für Morgen packen.“

„Ist gut.“

 

Ich wandte mich schon zum Gehen, als ich an der Tür noch einmal stehenblieb. Meine Mutter räumte vor sich hin summend in der Küche herum. Die Melodie kam mir irgendwie bekannt vor. Als ich sie schließlich erkannte, musste ich lächeln.

 

„Mama?“, fragte ich und sie unterbrach sich.
 

„Ja?“

„Sag mal, magst du eigentlich Musicals?“
 

Sie überlegte einen Moment, bevor sie unschlüssig mit den Schultern zuckte.
 

„Ich weiß nicht genau. Ich war noch nie in einem. Warum fragst du?“

 

„Ach, nur so“, sagte ich schnell. Eine weitere Lüge auf einer langen Liste, wenn auch nur eine kleine. Ich wusste, dass sie es verstehen würde, wenn ich es ihr erzählte. Sie war nicht so viel anders als Benedikts Mutter. Vielleicht ein wenig … traditioneller. Aber sie liebte mich. Hatte es immer getan. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich von sich stoßen würde, nur weil ich ihr offenbarte, dass ich ein wenig anders tickte als andere. Wahrscheinlich hatte sie es immer schon gewusst. Warum sonst hatte sie mich so oft gegen Christopher und meinen Vater in Schutz genommen. Aber genau das war es, was mich davon abhielt, es ihr zu erzählen. Ich wollte sie nicht wieder in dieser Rolle. Ich wollte nicht, dass sie sich schützend vor mich stellte. Wenn ich meinem Vater gegenüber trat, würde ich es selbst tun müssen. Und es musste bald sein. Damit die Lügen endlich aufhörten.

 

Langsam stieg ich die Treppe empor, begleitet von der Stimme meiner Mutter, die „Don’t cry for me Argentina“ vor sich hin summte.

 

 

Der Dienstag begann so, wie der Montag geendet hatte. Ich konnte die Anspannung fühlen, die in der Luft lag, sobald ich die Pausenhalle betreten hatte. Zu meinem Glück waren Leon und Phillip bereits da und so setzte ich mich zu ihnen, ohne mich groß um das Getuschel und die Blicke zu kümmern. Ich ertrug es, dass Jo weiterhin so tat, als wäre ich nicht anwesend. Nur einmal trafen sich unsere Blicke doch er drehte den Kopf sofort in eine anderen Richtung. Ich musste wohl akzeptieren, dass bei ihm erst einmal kein Blumentopf zu gewinnen war.

 

Eine Aufmunterung boten lediglich die Pausen, die ich größtenteils zusammen mit Benedikt verbrachte, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Wir redeten und lachten, doch ich war nicht recht bei der Sache. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu den Dingen, die in meinem Leben gerade nicht so liefen, wie sie sollten.

 

„Ist alles in Ordnung?“ fragte Benedikt plötzlich, während wir uns in einem abgelegenen Winkel des Schulgeländes die Sonne auf den Pelz brennen ließen.
 

„Ja, alles bestens“, log ich und verzog die Lippen zu einem Lächeln.

 

„Sicher?“

 

Meine Darbietung hatte Benedikt offenbar nicht überzeugt. Er hatte die Hand an die Stirn gelegt, um sich gegen die Sonne abzuschirmen, und musterte mich ernst. Ich atmete tief durch.

 

„Ich mache mir nur ein bisschen Gedanken wegen Morgen.“

„Ach ja, dein Arzttermin. Gehst du hin?“

 

Ich gab ein amüsiertes Schnauben von mir.

 

„Wenn ich es nicht tue, schleift mich meine Mutter an meinen Ohren zu unserem Hausarzt.“

„Was schade um die Ohren und wiederum ein Fall für die Papiertüte wäre.“

 

Wir lachten beide und ich genoss das Gefühl der Leichtigkeit, die den Laut begleitete, bevor der Schulalltag uns wieder schluckte und in getrennte Klassenzimmer entführte. Abends texteten wir noch bis spät in die Nacht. Doch selbst, als Benedikt die Konversation mit einem „Ich hau mich jetzt hin. Wir sehen uns Morgen“, beendet hatte, lag ich noch lange wach und starrte die leere Zimmerdecke an. Ich war wie erschlagen und gleichzeitig hellwach, sodass ich doch irgendwann wieder aufstand und den Computer einschaltete, um mich von den Weiten des World Wide Web auf andere Gedanken bringen zu lassen. Als ich endlich todmüde ins Bett fiel, zeigte die Uhr weit nach zwei.

 

 

Die Praxis von Dr. Anders lag an einer vielbefahrenen Straße und wirkte auf mich im ersten Moment wenig einladend. Die 70er-Jahre-Fassade, das flache Dach und die dunkelbraun gerahmten Fenster ließen das Ganze wie einen angeschmuddelten Schuhkarton wirken, den irgendjemand neben dem Stützpfeiler des Autobahnzubringers abgestellt und dann dort vergessen hatte. Da rissen auch die blühenden Rhododendronbüsche, die die Treppe zum Praxiseingang säumten, nichts mehr raus. Drinnen war die Ausstattung ebenfalls nicht die neueste und die modernste Anschaffung war vermutlich die junge Frau mit dem langen, dunklen Pferdeschwanz, die hinter dem Anmeldetresen saß und mich freundlich anlächelte.

 

„Kann ich Ihnen helfen?“

 

Ich sah mich noch einmal in der Praxis um. Es wurde nicht besser, egal ob ich nun den abgetretenen Linoleumboden oder den einsamen Gummibaum, der in einer Zimmerecke vor sich hin vegetierte, betrachtete. Wollte ich wirklich zu diesem Arzt?

 

„Ich … äh … mein Name ist von Hohenstein. Ich habe einen Termin.“

 

Die Sprechstundenhilfe lächelte und tippte auf ihrem Computer herum, der immerhin etwas neueren Datums zu sein schien.
 

„Ah ja, hier habe ich Sie. Haben Sie ihre Chipkarte dabei?“

 

Ich reichte ihr das Gewünschte über den Tresen und bekam die Karte nur wenige Augenblicke später zurück.
 

„Sie können sich dann ins Wartezimmer setzen“, sagte sie. „Ich werde Sie aufrufen.“

 

Ich bedankte mich und nahm in einem mit einer Milchglastür abgetrennten Raum auf einem leidlich gepolsterten Besucherstuhl Platz. Außer mir waren größtenteils ältere Herrschaften anwesend, die sich unterhielten oder Zeitung lasen und mich nicht weiter beachteten. Ich nahm mir eines der Magazine, die auf einem flachen Tisch in einer Ecke lagen. Kaum hatte ich die erste Seite aufgeschlagen, öffnete sich auch schon die Tür des Wartezimmers.
 

„Frau Mayer, bitte.“
 

Frau Mayer, eine der älteren Herrschaften, erhob sich ächzend und wackelte in Richtung Tür. Die Sprechstundenhilfe bot ihr ihren Arm an und die Tür schloss sich wieder hinter ihnen.

 

Ich bin hier definitiv falsch, überlegte ich und sah schon den Arzt vor mir. Vermutlich wenig jünger als seine Patienten mit ebenso antiquierten Ansichten und einem dröhnenden Lachen, das seinen Bierbauch zum Wackeln brachte. Oder so ein langer Dünner mit schlohweißen Haaren und hochgeknöpftem Kittel, der einem das Holzstäbchen in den Hals rammte, noch bevor man richtig „Ah“ gesagt hatte.

 

Meine Fantasien wurden immer abstruser, sodass ich, als ich anderthalb Stunden nach meinem eigentlichen Termin endlich aufgerufen wurde, einen wahren Dr. Mabuse erwartete. Das Sprechzimmer war jedoch bis auf einen Schreibtisch, eine Untersuchungsliege nebst Waschbecken und einen gewaltigen Bücherschrank vollkommen leer.

 

„Ich messe Ihnen schon mal den Blutdruck“, sagte die Sprechstundenhilfe freundlich. Ich reichte ihr meinen Arm, den sie sogleich mit einer Manschette umwand und routiniert ein Stethoskop in meine Armbeuge drückte, während mir fast alles abgequetscht wurde. Sie notierte die Werte auf dem Computer und drückte die Enter-Taste.
 

„So, das war’s schon“, sagte sie lächelnd, bevor sie wieder entschwand und mich allein zurückließ.

 

Ich sah mich um und entdeckte neben dem Regal eine zweite Tür, die offenbar in den Nebenraum führte. Von dort war leises Gemurmel zu hören. Allem Anschein nach ein zweites Sprechzimmer. Ich wartete also noch einmal und betrachtete derweil die Kunstzeichnungen verschiedener Heilpflanzen, die an den Wänden hingen. Das alles erschien mir immer noch keine gute Idee.

 

Nach gut einer Viertelstunde kam endlich Bewegung in die Sprecher auf der anderen Seite der Wand. Ich lauschte einer Verabschiedung und im nächsten Moment ging bereits die Tür auf, die in mein Sprechzimmer führte. Dr. Anders betrat den Raum. Meine Kinnlade klappte nach unten und ich starrte die Frau im weißen Kittel an, die mit ernstem Gesichtsausdruck auf mich zukam. Sie hatte zwar tatsächlich graue, kinnlange Haare, war jedoch geschminkt und an ihren Hals hing eine Kette mit einem Anhänger. Es war eine einzelne tropfenförmige Perle. Sie passte zu ihren Ohrringen.

 

„S-sind Sie Dr. Anders?“

 

Die Frau lächelte zum ersten Mal und ich sah anhand der Falten, dass sie älter sein musste, als ich zunächst angenommen hatte. Vielleicht so um die 60.
 

„Ja, das bin ich“, antwortete sie und ging zu ihrem Platz herüber, wo sie sich setzte und den Bildschirm durch einen Knopfdruck wieder zum Leben erweckte. „Und Sie sind Herr von Hohenstein, wie mir meine Patientenakte verrät. Na, dann schießen Sie mal los. Wo drückt denn der Schuh?“

 

Ich hatte meine Sprache immer noch nicht wiedergefunden und starrte die Ärztin nur an. Sie lächelte weiterhin und ich konnte nur denken, dass sie mich irgendwie an Benedikts Mutter erinnerte. An Benedikts Mutter in 20 Jahren.

 

„Hier steht, Sie haben Kopfschmerzen“, half sie mir nach einem kurzen Blick auf den Bildschirm auf die Sprünge. „Welche Art von Kopfschmerzen denn?“
 

„Ich … ich habe …“ Ich räusperte mich und fing noch einmal an.

 

„Also manchmal fühlt es sich so an, als würde mein Kopf in einem riesigen Schraubstock stecken. Meistens tritt es tagsüber auf, ich hatte allerdings auch schon mitten in der Nacht Beschwerden, die bis zum Morgen anhielten. Einen Rhythmus habe ich dabei nicht feststellen können. Es kommt und geht.“

 

Dr. Anders nickte und notierte das mit klickenden Tastenanschlägen auf ihrem Computer.
 

„Haben Sie noch weitere Symptome?“

„Na ja … Manchmal ist mir schwindlig oder ich habe so ein Flimmern vor den Augen. Ich musste mich auch schon mal übergeben.“

 

„Mhm“, machte sie und notierte weiter. Die Ohrringe funkelten im Sonnenlicht, das sich an einer großen Grünpflanze vorbeischummelte, die neben dem Fenster stand. Nachdem sie fertig notiert hatte, sah Dr. Anders auf.
 

„Noch anderen Beschwerden?“

„Ich schlafe manchmal schlecht.“

 

Wieder ein „Mhm“ und ein Tastenklappern. Dann nahm sie mich erneut in Augenschein.

 

„Ich werde mir das mal ansehen.“

 

Sie bat mich aufzustehen und testete zunächst meine Pupillenreflexe, leuchtete mir in die Ohren und den Mund, tastete meinen Hals ab und maß zum Schluss sogar Fieber. Nachdem sie mich noch abgehört hatte, durfte ich mich wieder setzen und sie notierte alles auf ihrem Bildschirm.
 

„Nun“, sagte sie und faltete die Hände auf dem Tisch. Ihre Unterarme waren gebräunt und die Adern auf den Handrücken traten stark hervor. „Auf den ersten Blick kann ich nichts feststellen, dass auf eine Ursache hinweist. Wie lange haben Sie diese Beschwerden denn schon?"
 

„Eine Weile?“

 

Sie sah mich ein wenig ernster an.
 

„Und wie lange ist eine Weile?“, wollte sie wissen.

 

Ich zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern.
 

„Ich weiß nicht mehr genau, wann es angefangen hat. Anfangs war es auch nicht so häufig. Ich meine, jeder hat ja mal Kopfschmerzen. Ich hab einfach eine Tablette genommen und mir nichts weiter dabei gedacht. Aber in letzter Zeit … häufen sich die Anfälle.“

 

„Mhm“, machte sie schon wieder und notierte sich noch etwas. „Wir werden Ihnen auf jeden Fall noch Blut abnehmen,um auszuschließen, dass sich doch irgendwo eine Entzündung verbirgt, die für diese Symptome verantwortlich ist. Mögliche Ursachen gibt es viele. Um den Grund aufzuspüren, würde es möglicherweise helfen, wenn Sie darüber Buch führen, wann genau die Schmerzen auftreten und welcher Art sie sind. Leiden Sie zur Zeit unter Stress?“

 

Die Frage kam so plötzlich, dass ich beinahe darauf geantwortet hätte. Ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Lippen und blickte zur Seite. Stress? Ja, so konnte man das wohl nennen. Aber ich war ja schließlich kein Manager an der Wall Street oder so. Der hätte aber vermutlich auch nicht in so einer schäbigen Praxis gesessen.

 

„Herr von Hohenstein?“

 

Ich schreckte hoch und sah, dass mich die Ärztin immer noch aufmerksam musterte.

 

„Ich, äh …“

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Stehen Sie unter Stress?“

 

Ich lachte, um meinen Ausfall zu überspielen.
 

„Ach, na ja. Wer hat heutzutage keinen Stress?“

 

Ich erntete ein Lächeln und einen nachsichtigen Blick.

 

„Es ist vermutlich ein Phänomen unserer Zeit, da haben Sie recht. Aber Sie ganz persönlich. Leiden Sie unter Stress. Familiäre Probleme vielleicht?“

 

„Nein, alles bestens“, versicherte ich schnell.
 

„Dann vielleicht Probleme in der Schule?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich hab zwar nicht die besten Noten, aber das Abi werde ich wohl packen.“

„Dann vielleicht mit ihrem Freund oder ihrer Freundin?“

 

Ich blinzelte und überlegte, ob ich die Frage richtig verstanden hatte. Hatte sie gerade nach Freund oder Freundin gefragt?

 

Dr. Anders sah mich an und wartete offenbar immer noch auf eine Antwort. Weder schien sie in Eile, was anhand ihres Wartezimmers wirklich verwunderlich war, noch schien sie irgendwelche Vorurteile zu haben. Und gab es da nicht die ärztliche Schweigepflicht? Andererseits kannte ich die Frau ja kaum. Ich konnte ihr wohl kaum meine Lebensgeschichte erzählen.

 

Ich räusperte mich und setzte mich ein wenig aufrechter hin.
 

„Also … möglicherweise gab es da doch ein paar … Begebenheiten, die nicht so erfreulich waren. Also eigentlich schon, aber … Okay, es war schon ziemlich stressig in letzter Zeit.“

 

Eigentlich nicht nur dann, sondern bereits davor. Ob das etwas mit den Kopfschmerzen zu tun hat?

 

„Möchten Sie mir davon erzählen?“
 

Dr. Anders schien immer noch nicht gewillt, mich gehen zu lassen. Erneut blickte ich zu Boden. Mein Liebesleben ging sie ja nun wirklich nichts an. Und auch die Probleme mit meinen Eltern und Jo würde ich schon irgendwie auf die Reihe kriegen. Ich musste mich nur noch ein bisschen mehr anstrengen, dann würde dass schon werden.
 

Dr. Anders lehnte sich jetzt in ihrem Stuhl zurück. Er quietschte ein wenig und ich fragte mich unwillkürlich, ob ihre Praxis wohl so wenig abwarf, dass sie hier nicht einmal renovieren konnte.
 

„Wissen Sie, Herr von Hohenstein, es ist inzwischen mehr als erwiesen, dass psychische Belastungen auch eine ganze Reihe von körperlichen Beschwerden nach sich ziehen können. Allen voran die von Ihnen beschriebenen Kopfschmerzen. Wir werden natürlich alle notwendigen Untersuchungen veranlassen, sollte sich ein Hinweis in irgendeine Richtung ergeben, aber vielleicht überlegen Sie selbst einmal, ob zwischen ihrer psychischen Belastung und ihren Kopfschmerzen eventuell ein Zusammenhang bestehen könnte.“

 

Ich blickte zu der Ärztin hinüber, die mich von der anderen Seite des Schreibtischs aus immer noch auf eine freundlich-profesionelle Weise musterte. Wahrscheinlich war es Unsinn und ich hatte tatsächlich irgendeine seltene Tropenkrankheit, aber …
 

„Was wäre denn, wenn eventuell psychische Ursachen infrage kämen?“, fragte ich vorsichtig. Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter, aber auch sanfter.
 

„Dann würde ich Ihnen dazu raten, die Ursachen dieser psychischen Probleme zu beseitigen.“

„Und wenn das nicht geht?“

 

Das eben noch so hilfreich aufgeblühte Lächeln verlor etwas von seiner Leuchtkraft, aber sie sah mich immer noch freundlich an.
 

„Dann würde ich Ihnen dringend raten, sich Hilfe dabei zu suchen. Sie müssen diese Probleme nicht allein bewältigen. Es gibt Leute, die Ihnen helfen können.“

 

Ich sagte nichts darauf, denn ich wusste, was sie damit meinte. Aber eine … Therapie? So was brauchte ich doch nicht.

 

„Sind Sie glücklich, Herr von Hohenstein?“

 

Ein wenig irritiert blickte ich auf. Das Lächeln war jetzt verschwunden und sie sah mich ernst an.
 

„Ich … ja! Ja, natürlich bin ich glücklich.“

„Und die Probleme, von denen Sie sprachen?“

 

Die Frage der Ärztin weckte in mir den Wunsch aufzuspringen und davonzulaufen. Ich war doch nur hergekommen, weil ich manchmal Kopfschmerzen hatte. Ich war doch nicht verrückt!

 

„Das … das wird schon werden. Ich krieg das wieder in den Griff.“

 

Die Ärztin atmete einmal tief durch.
 

„Na schön. Ich glaube, wir sollten das Gespräch an dieser Stelle erst einmal abbrechen und Ihre Blutwerte abwarten. Vielleicht finden wir ja da etwas.“

„Ja, bestimmt.“

 

Es gab sicherlich eine Ursache. Es musste eine geben. Irgendwas, gegen das mir ein Medikament oder ein paar Nahrungsergänzungsmittel helfen würden. Ich würde ein Rezept kriegen und dann wäre die Welt bald schon wieder in Ordnung. Kein Grund, irgendwen in meinem Kopf herumpfuschen zu lassen.

 

Dr. Anders war aufgestanden und auch ich erhob mich, um mich zu verabschieden. Als sie mir die Hand gab, blickte sie mir noch einmal direkt ins Gesicht.
 

„Lassen Sie es nicht so weit kommen, dass Sie den Rückweg nicht mehr finden. Ich bin mir sicher, dass es Menschen gibt, die Ihnen helfen wollen. Sie müssen allerdings auch bereit sein, diese Hilfe auch anzunehmen.“

 

Ein wenig verwirrt ließ ich mich nach dieser Ansprache nach draußen geleiten, wo die Ärztin mich erneut an die Sprechstundenhilfe übergab. Diese führte mich in einen Nebenraum, indem sie mir etliche Ampullen Blut abzapfte, bevor ich endlich den Wattetupfer auf die Einstichstelle drücken durfte.
 

„Übermorgen können Sie wegen der Ergebnisse anrufen“, informierte sie mich. „Wenn Sie möchten, können wir dafür aber auch einen Termin ausmachen.“

 

„Nein danke, das wird nicht nötig sein“, sagte ich schnell. „Ich rufe dann an.“

 

Ich flüchtete förmlich aus der Praxis und erst, als ich draußen wieder auf dem Treppenabsatz stand, hielt ich inne und stieß keuchend die Luft aus. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass die Welt sich um mich drehte, bis sie mit einem Ruck zum Stehen kam und alles wieder an den richtigen Platz rutschte. Mein Herz raste in meiner Brust und mein Mund war trocken.
 

„Liegt vielleicht am Blut abnehmen“, sagte ich zu mir, aber ich wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Ich wusste, dass etwas ganz anderes dahintersteckte und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich nicht mehr davor davonlaufen konnte.

Monster

Den Rest des Mittwochs verbrachte ich damit, meine mögliche Diagnose zu ignorieren. Ich wich entsprechenden Fragen meiner Mutter aus und auch Benedikt vertröstete ich auf Freitag. Dann, so schrieb ich ihm, würde ich Genaueres wissen. Vielleicht fand sich ja doch noch eine organische Ursache. Irgendwas, das man mit Medikamenten und ein bisschen Sport in den Griff bekommen konnte.

 

Gleich nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, fühlte ich mich schlecht. Ich sagte mir, dass es nur zu seinem Besten war. Dass ich ihm nicht schon wieder die Ohren volljammern sollte und ihm allein deswegen nichts von dieser lächerlichen Vermutung erzählt hatte.

 

Dabei hast du nur Angst, dass er deswegen mit dir Schluss macht.

 

„Sei still“ zischte ich dem Monster zu, dass gerade mal wieder seinen hässlichen Kopf gehoben hatte. Ich wollte ihm nicht mehr zuhören. Ich wollte lieber Benedikt glauben, der mir gesagt hatte, dass er mich mochte. Das war viel mehr wert als irgendeine dumme, imaginäre Stimme, die mir Gehässigkeiten ins Ohr flüsterte, wann immer ich etwas falsch machte. Wann immer ich eine Antwort nicht wusste, einen Reim nicht fand, zu spät war, verschlafen hatte, nicht das richtige Werkzeug anreichte und und und. Es gab so viele Gelegenheiten. So viele Möglichkeiten zu versagen, dass ich manchmal das Gefühl hatte, dass es besser gewesen wäre, es nicht einmal mehr zu versuchen. Aber ich hatte nicht aufgegeben. Ich hatte mich durchgebissen und für meine Fehler geradegestanden. Das musste doch etwas wert sein. Es musste.

 

Rede dir das nur weiter ein, entgegnete das Monster. Es kicherte noch einmal hoch und hallend, bevor es sich wieder verzog. Ich wusste, dass mein Sieg nicht von Dauer sein würde. Aber vielleicht konnte ich es ja eine Weile lang fernhalten, wenn ich nachts das Licht anließ.

 

 

Trotz dieses Vorsatzes zögerte ich, am nächsten Tag wieder mit Benedikt abzuhängen. Einerseits machte ich mir Gedanken, dass jemand mein Fehlen bemerken und Fragen stellen könnte. Ich hatte noch mehr Freunde und die erwarteten, dass ich mich ab und an bei ihnen blicken ließ. Dass ich lustig und fröhlich war und mit ihnen dumme Witze riss. Also schickte ich Benedikt eine Nachricht, dass ich die Zeit zwischen den Stunden in der Pausenhalle verbringen würde, auch wenn das hieß, mit Mia und Jo zusammen in einem Raum zu sein.

 

Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass er mir folgen würde.

 

Er tauchte einfach so auf und gesellte sich zu uns, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Er unterhielt sich. Lachte. Streifte mich mit einem Blick und einem Lächeln, als wollte er sagen, dass alles in Ordnung war. Also spielte ich das Spiel mit. Ich tat, als würde ich ihn nicht bemerken, obwohl es mich zugegebenermaßen irritierte, dass er sich jedes Mal, wenn ich zu ihm rübersah, köstlich zu amüsieren schien.

 

Es ist ohnehin besser, wenn wir nicht dauernd zusammenkleben, redete ich mir ein und versuchte noch mehr, ihn nicht zu beachten.

 

 

Meine Zurückhaltung hielt an, bis wir uns nach der sechsten Stunde in die Mittagspause verabschiedeten. Gefühlt hatte ich den ganzen Tag über nichts gelernt. Ich hätte nicht einmal sagen können, welche Stunden ich eigentlich gehabt hatte und ob es dabei um die Byzantinischen Kriege oder das Fortpflanzungsverhalten von Amöben gegangen war. Nur, dass Deutsch dabei gewesen war, wusste ich noch. Herr Kästner hatte irgendeinen Scherz auf meine Kosten gemacht und die ganze Klasse hatte gelacht. Ich auch, während ich mir unter dem Tisch die Fingernägel in die Handflächen gebohrt hatte. Benedikt hatte von all dem nichts mitbekommen. Er hatte nach der Stunde nur gefragt, ob wir zusammen Mittag essen würden. Ich hatte zugestimmt, obwohl ich eigentlich schon mit Leon und ein paar anderen verabredet war.

 

„Geht halt ohne mich“, hatte ich ihren Protest abgewimmelt, bevor ich ohne weitere Erklärung aufgebrochen war. Ich war mir sicher, dass sie ohne mich genauso viel Spaß haben würden. Immerhin war dies nur eine auf einer langen Liste von Absagen.

 

 

Um zu den Kunsträumen zu gelangen, musste ich die halbe Schule durchqueren. Ich schwamm damit gegen den Strom von Schülern, die allesamt den Ausgängen zustrebten. Mehr als einmal fand ich mich ins Abseits gedrängt wieder. Statt mich jedoch durchzuboxen, wartete ich geduldig, bis der gröbste Andrang vorbei war, ehe ich mich wieder auf den Weg machte. Als ich endlich den breiten Gang mit den bodentiefen Fenstern erreichte, herrschte bereits gähnende Leere auf den Fluren. Die letzten Nachzügler verließen gerade den Raum und ich fürchtete schon, zu spät gekommen zu sein, als Benedikt in der Türöffnung erschien. Als er mich sah, begannen er zu strahlen.

 

„Bis nächste Woche dann“, verabschiedete sich seine Kunstlehrerin von ihm, bevor sie an mir vorbei in Richtung Lehrerzimmer die Treppe hinaufging. Während ihre Schritte langsam leiser wurden, packte Benedikt mich plötzlich und bugsierte mich hinter die Feuerschutztür, die den Korridor vom Rest der Schule abtrennte. Er löste die Verriegelung des zweiten Türflügels, sodass er langsam in unsere Richtung schwang und schließlich mit einem leisen, metallischen Klicken ins Schloss fiel. Mit einem Grinsen löschte Benedikt auch noch das Licht und zog mich anschließend in die Ecke neben der Tür.

 

„So, jetzt sieht uns keiner mehr.“

 

Hände tasteten über meinen Körper und Lippen fanden meine zu einem sehnsüchtigen Kuss.

 

„Ich hab die ganze Zeit an dich denken müssen.“

 

„Ich auch“, antwortete ich, obwohl ich mir sicher war, dass er das nur so dahin gesagt hatte. Zwischen Formeln und Vokabeln war nicht besonders viel Zeit, um sich über andere Sachen Gedanken zu machen.

 

Ich küsste ihn noch einmal, bevor ich mich zurücklehnte und mich in dem schummrigen Halbdunkel umsah, das uns vor neugierigen Blicken verbarg. Es roch dezent nach Ölfarbe und Kleister.

 

„Warum hast du eigentlich immer noch Kunst? Du hättest das doch abwählen können.“

 

Benedikt zuckte mit den Schultern.

 

„Ach, ich hatte mal überlegt, Architektur zu studieren. Inzwischen bin ich zwar eher bei Bauingenieur, aber da kann Kunst bestimmt auch nicht schaden. Räumliches Vorstellungsvermögen und so.“

 

Er ging dazu über, meinen Hals zu küssen, doch ich wehrte seine „Angriffe“ ab, bevor er weiter auf Tuchfühlung gehen konnte.

 

„Was ist los? Hast du Schiss, dass uns wer erwischt?“

„Nein, aber …“

 

Benedikts Karrierepläne hatten mir mal wieder gezeigt, wie lächerlich meine im Vergleich dazu waren. Für einen Moment konnte ich es vor mir sehen. Benedikt, wie er mit gewichtiger Miene zusammen mit Bauherren und Architekten um eine Konstruktionsskizze herum stand, während ich mir in irgendeiner abgewrackten Hinterhofspelunke die Finger wund spielte, um wenigstens noch das eine oder andere Trinkgeld abzugreifen. Er würde nach Arbeitsschluss in seine schicke Penthousewohnung fahren und ich in meine verlauste WG, in der neben mir noch ein alkoholkranker Junkie und ein kiffender Langzeitstudent wohnten und der Vermieter bei ausbleibender Zahlung auch gerne mal „Gefälligkeiten“ einforderte. Weil ja jeder wusste, wie nötig ich es hatte. Wahrscheinlich würde ich sogar selbst irgendwann Drogen nehmen, um dem Elend wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen, und am Ende …

 

„Theo? Wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken?“

 

Ich schüttelte den Kopf und war wieder zurück im Gang vor den Kunsträumen. Mit Benedikt, der jetzt wieder eine ausgeblichene Jeans und ein T-Shirt trug statt des aufgekrempelten Hemdes und des Bauhelms, mit dem ich ihn gerade noch gesehen hatte. Vor dem Fenster am Ende des Ganges liefen ein paar Kinder vorbei. Man konnte sie lachen hören. Nachdem sie verschwunden waren, kehrte die Stille zurück und in ihr erklang ein fast schon absurd lautes, gurgelndes Geräusch.

 

„Sorry!“ Benedikt legte sich die Hand auf den Bauch. „Ich hab seit heute Morgen nichts mehr gegessen. “

 

Ich lachte und versuchte, die merkwürdige Zukunftsvision abzustreifen, die immer noch wie eine klebrige Spinnwebe vor meinem Gesicht hing.

 

„Dann besorgen wir dir besser mal was zu beißen, bevor du noch anfängst, mich anzuknabbern.“

„Darf ich das denn nicht?“

 

Er rückte noch einmal näher.

 

„Gut genug riechst du jedenfalls dafür“, murmelte er und schnupperte an meinem Hals entlang bis zu meinem Ohr. „Ich liebe diesen Geruch.“

 

Ich spürte meinen Widerstand schmelzen und meinen Körper gegen seinen fließen. Unsere Lippen fanden sich erneut zu einem Kuss, der schnell tiefer wurde. Benedikts Hände glitten meinen Rücken hinab und unter mein Shirt. Ich fühlte seine warmen Finger auf meiner Haut. Als ich begann, leicht an seiner Unterlippe zu saugen, entwich ihm ein leises Stöhnen.

 

Der Laut wurde übertönt von Schritten, die auf der anderen Seite der Tür die Treppen hinabeilten.

 

Sofort stoben Benedikt und ich auseinander und richteten unsere Kleidung. Mit angehaltenem Atem lauschten wir, wie der- oder diejenige das Ende der Stufen erreichte. Gummisohlen quietschten auf dem steinernen Boden des Treppenhauses, bevor der Störenfried an uns vorbei und durch die angrenzende Glastür nach draußen lief. Als sie sich wieder hinter ihm schloss, atmeten wir beide auf.

 

„Das war ganz schön knapp“, meinte Benedikt und kam noch einmal auf mich zu. Er griff nach meiner Hand.

 

„Ich würde das trotzdem gerne mal wiederholen. Allein.“

 

Ich lachte und schluckte die Bemerkung, ob er etwa immer noch nicht genug von mir hatte, wieder hinunter. Mir ging es ja genauso.

 

„Wie wäre es mit einer Radtour?“, schlug ich vor. „Heute muss ich arbeiten, aber Morgen hätte ich Zeit.“

 

„Gute Idee. Wo?“

 

„Die Strecke, die bei dir um die Ecke liegt. Wir könnten erst noch in der Stadt was essen und dann gleich nach der Schule los.“

 

Benedikt überlegte einen Augenblick, bevor er zustimmend nickte.

 

„Okay. Aber ich muss dich warnen. Ich bin kein besonders ausdauernder Fahrer.“

„Dann machen wir eben zwischendurch eine Pause.“

 

Wir grinsten beide und ich wusste, dass wir das Gleiche dachten.

 

„Wenn uns da wer erwischt, sind wir Hackfleisch“, orakelte Benedikt.

 

„Dann darf uns eben keiner erwischen“, gab ich grinsend zurück.

 

 

Die Aussicht auf das bevorstehende Treffen brachte mich durch den Rest des Schultages und auch während meiner Schicht im Sportgeschäft konnte ich meine Gedanken ganz gut im Zaum halten. Erst, als ich nach dem Abendessen allein in meinem Zimmer war, kamen die Ängste wieder hoch. Ich musste daran denken, dass ich am nächsten Morgen bei der Ärztin anrufen wollte. Die Praxis öffnete um acht Uhr, also würde ich von der Schule aus telefonieren müssen.

 

Sie wird eine Diagnose haben, sagte ich mir und schmiss wieder besseren Wissens die Suchmaschine an, um mal zu sehen, was sie mir so präsentieren konnte. Neben psychischen Ursachen und vergleichsweise harmlosen Erkrankungen gab es da Horrormeldungen von Glaukom bis Gehirntumor. Schnell schloss ich die bebilderten Seiten wieder.

 

Trotzdem wäre das immer noch besser als ein eingebildetes Monster im Kopf.

 

Mit diesem Gedanken schlief ich viel zu spät ein und erwachte damit am anderen Morgen. Ich lief wie auf Autopilot, bis es endlich zum zweiten Mal an diesem Tag klingelte. Stühlerücken begleitete das Ende der ersten Stunde. Anstatt mich jedoch den anderen anzuschließen, die sich geschlossen zum nächsten Klassenraum begaben, verließ ich das Gebäude durch einen Seiteneingang und suchte mir in einem der Innenhöfe eine ruhige Stelle, an der man mich nicht sehen und – was noch viel wichtiger war – nicht belauschen konnte. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer der Ärztin. Es klingelte und dann ging das Band an.

 

Verdammt. Warum das? Es ist doch schon nach acht. Haben die heute nicht auf?

 

Ich versuchte es noch zweimal. Beim dritten Mal hatte ich endlich Erfolg.

 

„Praxis Dr. Anders. Was kann ich für Sie tun?“

„Ja, äh … von Hohenstein hier. Ich rufe wegen der Befunde an.“

„Einen Augenblick, ich stelle Sie durch.“

 

Ich bekam eine furchtbare, elektronische Wartemusik aufs Ohr, bis es wieder klickte und Dr. Anders abnahm.

 

„Ja?“

„Von Hohenstein. Ich rufe wegen der Befunde an.“

 

Warum musste ich das eigentlich zweimal sagen? Sie wusste doch sicher, wer dran war.

 

„Ach ja, ich erinnere mich. Warten Sie, ich sehe eben nach.“

 

Ich hörte sie im Hintergrund auf ihrer Computertastatur herumtippen, bevor sie das Wort wieder an mich richtete.

 

„Hören Sie? Wir haben nichts Auffälliges finden können. Die Werte sind alle im normalen Bereich.“

 

Ich schluckte.

 

„Und was heißt das jetzt?“

 

Ich hörte förmlich, wie die Ärztin am anderen Ende nachsichtig lächelte.

 

„Ich würde empfehlen, dass Sie noch einmal in meine Praxis kommen, damit wir das weitere Vorgehen besprechen können. Je nach Schwere Ihrer Erkrankung sollten Sie vielleicht eine psychiatrische Behandlung in Betracht ziehen.“

„Ich soll zum Psychiater?“

 

In meiner Aufregung hatte ich viel zu laut gesprochen. Schnell blickte ich mich um, ob an den Fenstern irgendwelche neugierigen Gesichter erschienen waren. Zum Glück war dort oben niemand zu sehen. Ich drehte mich mit dem Rücken zu den Glasfronten und sprach leiser weiter.

 

„Das kommt nicht in Frage.“

 

Die Ärztin blieb trotz meines aggressiven Zischens weiterhin freundlich.

 

„Sich bei Beschwerden Hilfe von einem Facharzt zu holen, ist keine Schande, Herr von Hohenstein. Aber wenn Sie möchten, kann ich Sie auch weiter behandeln.“

 

Ich überlegte. Eigentlich war das keine schlechte Idee. Schon allein deswegen, weil meine Eltern dann keine Fragen stellen würden. Eine Überweisung zu einem Psychiater würde ihnen sicherlich nicht verborgen bleiben. Aber trotzdem …

 

„Kann ich mir das erst noch mal überlegen?“

„Ja, sicher. Melden Sie sich einfach, wenn Sie einen Termin brauchen.“

„Das mache ich.“

 

Wie betäubt drückte ich den roten Knopf und starrte danach den Bildschirm an, auf dem immer noch die Nummer der Ärztin zu sehen war. Durch die geöffneten Fenster in den oberen Stockwerken waren jetzt Stimmen zu hören, einige davon bereits von einem Lehrer. Die zweite Stunde hatte angefangen, während ich immer noch in einer Ecke vor dem Rollstuhlgang der Turnhalle hockte und versuchte zu begreifen, was hier gerade passiert war.

 

Es gab keine körperliche Ursache für meine Kopfschmerzen. Das hieß, dass es alles nur eingebildet war. Alles nur in meinem Kopf. Ich war einfach nur ein bisschen plemmplemm. Gaga. Verrückt. Deswegen brauchte ich auch jemanden, der da oben alles wieder geraderückte, weil ich das selbst nicht auf die Reihe kriegte.

 

Ich muss endlich zu Erdkunde, versuchte ich mich selbst anzutreiben und bereute im gleichen Moment, das Fach nicht ebenso wie Benedikt abgewählt zu haben. Aber ich mochte es irgendwie. Dieses Jahr stand Weltwirtschaft auf dem Programm und wir hatten doch tatsächlich keine angestaubten Schulbücher in die Hand bekommen, sondern beschäftigten uns mit aktuellen Themen wie Brexit und globaler Klimapolitik. Es war also wirklich, wirklich notwendig, dass ich mich jetzt endlich in den Hintern trat und zusah, dass ich in Raum 212 zum Unterricht kam. Aber ich konnte nicht. Ich saß da und glotzte das mittlerweile dunkle Handydisplay an. Es zeigte ziemlich gut, wie es gerade in mir aussah.

 

 

Als über mir irgendwelche Blockflöten zu piepsen begannen, erwachte ich endlich aus meiner Starre. Es war ansonsten still. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Unterricht bereits angefangen hatte. Wenn ich mich nicht beeilte, würde mir die Stunde als Fehlstunde eingetragen werden. Also nahm ich die Beine in die Hand und spurtete über diverse Treppen nach oben. Völlig außer Atem ließ ich mich unter den bösen Blicken meiner Erdkundelehrerin auf meinen Platz fallen und packte alibihalber mein Buch und ein Heft aus. Es war das Englischheft, aber das machte auch keinen Unterschied mehr. Ich bekam sowieso nicht viel von dem mit, was vorn an der Tafel passierte.

 

Als es zur Pause klingelte, nahm ich meine Sachen, packte sie in meinen Rucksack und ging. Es würde mich ja doch niemand vermissen.

 

 

Ich kam bis zur Hälfte des Pausenhofs, als plötzlich jemand meinen Namen rief. Ich blickte auf und entdeckte Benedikt, der sich durch die Glastüren nach draußen quetschte. In der Hand hielt er etwas, das in eine Serviette gewickelt war. Er balancierte es mit beiden Händen und sah immer wieder nach unten, als fürchtete er etwas von seiner kostbaren Fracht zu verlieren. Als er bei mir ankam, sah ich, was er da hatte. Es waren Quarkbrötchen.

 

„Hey, ich hab dir was mitgebracht.“

 

Benedikt sah mich freudestrahlend an. Als ich nicht reagierte, begann sein Lächeln zu wackeln.

 

„Äh, ich … also … ich dachte, du magst die. Ich … also ich hab nur …“

 

Endlich begriff ich, dass ich auch mal etwas sagen musste. Ich hatte ihn die ganze Zeit nur angestarrt.

 

„Das ist … Danke.“

 

Immer noch machte ich keine Anstalten, ihm die Brötchen abzunehmen. Meine Hand krampfte sich um den Schultergurt meines Rucksacks.

 

„Ja, ich dachte, du hast vielleicht Hunger. Weil doch Pause ist. Und ich … äh …“

 

Benedikt unterbrach sich und seufzte schwer.

 

„Es war ne blöde Idee, oder? Aber weil du doch von der Radtour gesprochen hast, da kam ich auf Proviant, aber du willst ja Sport machen und kein Picknick und da dachte ich, dass es doch schön wäre, was zusammen zu essen. Aber das ist natürlich totaler Blödsinn, weil wir ja eh zusammen Mittag essen wollten. Ich hatte nur gedacht, dass wir …“

 

Er verstummte und sah mich immer noch mit der Hand voller Brötchen an. Ich gab mir einen Ruck und legte ein Lächeln auf mein Gesicht.

 

„Es war eine prima Idee. Ich hab wirklich Hunger.“

„Und das sagst du nicht nur so?“

„Würde ich nie tun.“

 

Er grinste und gab mir die Hälfte des immer noch warmen Backwerks, bevor wir uns eine Bank am Rande des Pausenhofs suchten. Während wir so dasaßen und ich mir ein Stückchen des zitronig-süßen Teigs in den Mund schob, musste ich auf einmal an diese zwei Comic-Figuren denken, die manchmal in Zeitungen abgebildet waren. Über ihren Köpfen stand immer der gleiche Spruch, der sich nur in seinem Ende unterschied. Ich sah hinab auf das Brötchen und musste plötzlich denken, dass „Liebe ist … wenn er sich früher aus dem Unterricht stiehlt, um dir Quarkbrötchen zu besorgen“ sich nicht so gut anhörte wie „Liebe ist … immer ehrlich zueinander zu sein“. In diesem Moment klingelte es und ich beschloss, mir meine Wahrheit für den richtigen Moment aufzuheben. Für einen, der sich besser eignete als dieser hier.

 

 

Ich wartete den ganzen Tag, aber die Gelegenheit, auf die ich gehofft hatte, kam nicht. Immer war jemand anderes dabei oder wir hatten viel zu wenig Zeit oder ich fand nicht die richtigen Worte. Selbst in der Mittagspause, in der wir uns eine furchtbar fettige Pizza teilten, zögerte ich, mit dem herauszurücken, was mich schon die ganze Zeit beschäftigte. Ich schwieg, während wir nach der letzten Stunde endlich den Weg in Richtung Benedikts Zuhause nahmen und auch als wir den Wald erreichten, dessen üppiges Blätterdach uns gegen die Augustsonne abschirmte.

 

Benedikt schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass irgendetwas in der Luft lag, die heute bezeichnenderweise schwül und drückend war. Er fragte jedoch nicht nach, sondern warf mir nur ab und an einen fragenden Blick zu. Ich ignorierte es. So fuhren wir einfach nur nebeneinander her und machten manchmal einem Spaziergänger Platz, während wir immer tiefer in den Wald vordrangen. Rechts und links des Weges gab es durchaus interessante Stellen für ein bisschen Downhill oder sogar Sprünge, aber ich beachtete sie kaum. Stattdessen fuhr ich einfach weiter und versuchte, alle bewussten Gedanken auszublenden.

 

Als wir schließlich zu einer kleinen Eisenbahnbrücke kamen, hielt ich an. Es war eine einfache Steinkonstruktion, deren niedrige Begrenzung von Alter und Flechten überzogen war. Sie verband an dieser Stelle zwei Waldstücke miteinander und war für den Durchgangsverkehr gesperrt. In der Ferne sah ich einen Zug näherkommen. Mit ausdrucksloser Miene sah ich ihm entgegen.

 

Tonnen von Stahl wälzten sich durch die grüne Landschaft. Es war ein Güterzug. Kilometerlang reihte sich Waggon an Waggon.

 

Wenn der über dich hinwegrollt, bleibt nichts mehr übrig.

 

Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, schreckte ich auch schon vor ihm zurück. Ich warf einen Blick zu Benedikt, der ebenfalls dem Zug entgegensah. Er hatte bestimmt nicht solchen Mist im Kopf. Das war krank. Ich war krank. Ich hatte es einfach nur nicht gemerkt.

 

 

Während ich ihn ansah, wandte Benedikt mir plötzlich den Kopf zu. Er taxierte mich, als wollte er abschätzen, wie ich drauf war. Als ich schon den Blick abwenden wollte, lächelte er schwach.

 

„Willst du mir jetzt endlich erzählen, was los ist?“

 

Ich schluckte. Ich war noch nicht bereit. Würde es vielleicht niemals sein.

 

„Warum? Was soll los sein?“, versuchte ich noch einmal einen Ausweg zu finden. Unter uns ratterte der Zug über die Schienen. Der Lärm schluckte meine Worte und erst, als er vorbeigefahren war, nahm Benedikt den Faden wieder auf.

 

„Als wir letztens hier langgekommen sind, konntest du es kaum erwarten, mal mit dem Rad durch den Wald zu heizen. Deine Augen haben geleuchtet und du warst fast so wie früher. Aber heute … heute ist der Glanz wieder verschwunden und ich frage mich, woran das liegt.“

 

Immer noch sah Benedikt mich an und ich schauderte ob der Erkenntnis, dass er mich durchschaut hatte. Er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war und hatte seinen Finger zielsicher auf die Wunde gelegt. Jetzt war es an der Zeit, dass ich Farbe bekannte. Mit einem letzten tiefen Durchatmen, begann ich.

 

„Ich habe heute beim Arzt angerufen. Also eigentlich war es eine Ärztin. Sie war sehr nett.“

 

Benedikts Augenbrauen bewegten sich ein Stück weit nach oben.

 

„Und? Was hat sie gesagt?“

 

Ich schloss kurz die Augen und nahm all meinen Mut zusammen. Vielleicht wurde es so leichter, es auszusprechen.

 

„Sie hat gesagt, dass meine Kopfschmerzen wahrscheinlich durch Stress ausgelöst werden. Sie hat noch Blut abgenommen, um andere Ursachen auszuschließen, aber die Ergebnisse waren eindeutig. Ich bin kerngesund.“

 

Wenigstens äußerlich.

 

Benedikts Füße scharrten über den Boden, als er sich bewegte.

 

„Und jetzt?“

 

Ich lachte leicht und lehnte mich auf das Geländer. Unter mir lag der Schienenstrang. Die Oberfläche war dunkel und glatt geschliffen, während der Rest ein rötliches Rostbraun aufwies.

 

„Tja, ich sollte wohl ein wenig kürzer treten. Vielleicht kaufe ich mir ein Ferienhaus auf den Malediven. Das würde bestimmt helfen.“

 

Benedikt schnaubte halb ernst, halb belustigt.

 

„Das ist nicht witzig.“

„Doch ist es. Nennt sich Galgenhumor.“

 

Jetzt erntete ich endlich das gewünschte Lachen. Es tat gut, es zu hören. Im nächsten Moment wurde Benedikt jedoch gleich wieder ernst.

 

„Ohne Flachs jetzt, Theo. Was die Ärztin da gesagt hat, könnte stimmen. Ich mein, du hast grad ne Menge durchgemacht. Mal abgesehen von der Zeit davor. Sich so lange vor sich selbst zu verstecken, war bestimmt nicht einfach.“

 

Ich schluckte, als ich ihn das sagen hörte. Wie kam es, dass er so zielgenau ausdrücken konnte, wie es in mir aussah? Ich brauchte dazu Bühne und Orchester und brachte am Ende doch keinen Ton heraus. Und da wollte ich Musiker werden? Öffentlich auftreten? Was für eine schwachsinnige Idee. Wie eigentlich alle meine Einfälle.

 

„Theo?“

 

Benedikts Stimme klang besorgt. Ich schluckte an dem Kloß herum, der in meinem Hals saß. Das blöde Ding steckte fest und bewegte sich nicht einen Millimeter. Die Versicherung, dass es mir gut ging und er sich keine Sorgen zu machen brauchte, wollte einfach nicht herauskommen.

 

„Ich hab schon gemerkt, dass du in letzter Zeit müde aussiehst. Du schläfst nicht gut, oder?“

 

Ich nickte nur, um seine Vermutung zu bestätigen. Wie sollte ich ihm auch erklären, dass ich manchmal nachts stundenlang wach lag und einfach nicht einschlafen konnte, obwohl ich eigentlich hundemüde war? Dass ich stattdessen stundenlang wie getrieben durch mein Zimmer wanderte. Morgens schaffte ich es dann kaum, aus dem Bett zu kommen, und versuchte die Müdigkeit durch Koffein zu vertreiben. Vielleicht lag es daran, dass ich nachts nicht schlafen konnte.

 

Aber das war nicht alles, denn all das hatte ich bereits auch der Ärztin gesagt. Der Ärztin, die mich zum Psychiater schicken wollte. Weil ich krank war.

 

„Ich … ich hab der Ärztin vielleicht nicht alles gesagt, was sie wissen muss.“

 

Die Einleitung war vermutlich nicht die gelungenste, aber Benedikt reagierte sofort darauf. Er richtete sich auf und sah mich alarmiert an.

 

„Was meinst du damit?“

 

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag erhöhte. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich befand mich hier auf dieser Eisenbahnbrücke und hatte gleichzeitig das Gefühl, am Ufer eines reißenden Flusses zu stehen. Ich wusste, dass ich auf die andere Seite musste, aber die Angst, von den Fluten umgeworfen und in einen nassen, lichtlosen Tod hinabgezogen zu werden, schnürte meine Kehle zu.

 

Erstes Donnergrollen war in der Ferne zu hören und ich erinnerte mich, dass für heute Sommergewitter angekündigt worden waren. Der Himmel über uns, der gerade noch blau gewesen war, zog sich langsam zu und driftete ins Graue ab, unter das sich ein kränklicher, gelber Unterton mischte. Wind kam auf und rauschte in den Wipfeln der Bäume.

 

Ich schloss noch einmal die Augen. Ich musste jetzt endlich den ersten Schritt machen. Egal wie es ausging. Ich war es Benedikt schuldig. Er musste wissen, woran er mit mir war.

 

„Die Ärztin. Sie … hat mich gefragt, ob ich glücklich bin.“

„Und was hast du geantwortet?“

 

Die Frage kam so schnell, dass mir plötzlich bewusst wurde, was ich im Begriff war zu tun. Mit dem, was ich zu sagen hatte, würde ich ihn verletzen. Immerhin war er mein Freund. Mein fester Freund. Er ging davon aus, dass ich ihn verliebt war und das war ich auch. Aber das allein reichte nicht. Nicht, um vollständig glücklich zu sein.

 

„Ich hab gesagt, dass ich es bin. Aber es war eine Lüge.“

 

Da. Der erste Schritt war getan. Ich war in die reißende Strömung getreten und eiskaltes Wasser umspülte meine Füße. Es leckte meine Beine hinauf und riss an meinem festen Stand. Aber noch war der Schmerz nicht übermächtig. Noch konnte ich durchhalten.

 

Benedikt hingegen schien erst jetzt den Ernst der Lage zu begreifen. Ebenso wie am Himmel erschienen auch auf seinem Gesicht dunkle Wolken.

 

„Was meinst du damit?“

 

Er war beunruhigt. Ich sah es deutlich und doch konnte ich nichts für ihn tun. Ich konnte ihn nicht retten. Ich konnte ja nicht einmal mich selbst retten. Ich war unfähig.

 

„Ich meine damit, dass ich manchmal … finstere Gedanken habe. So finster, dass ich mich selbst davor erschrecke. Es ist nicht durchgehend so und es hat nichts mit dir zu tun, aber ich glaube, mit mir stimmt tatsächlich etwas nicht.“

 

Der Wind um uns herum hatte an Intensität zugenommen. Ich blinzelte gegen die Staubfontänen an, die er aufwirbelte. Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkamen.

 

„Wie finster?“

 

Benedikts Frage war kein tonloses Flüstern. Kein tränenersticktes Quieken oder sonst irgendwie von Panik gezeichnet. Sie brachte mich dazu, ihn anzusehen.

 

„Ziemlich finster.“

 

Sein Gesichtsausdruck wandelte sich. Es war nur eine kleine Änderung, aber sie gab den Ausschlag von verängstigt zu besorgt. In diesem Moment wusste ich, dass ich es nicht auszusprechen brauchte. Er wusste, was ich meinte.

 

Statt etwas zu sagen, kam er zu mir und nahm mich in den Arm. Es war eine freundschaftliche Umarmung. Eine, die mir Halt gab, wo ich um mein Gleichgewicht kämpfte. Die rettende Hand, die sich mir vom anderen Ufer des Flusses aus entgegenstreckte, in dem meine Zehen langsam abzufrieren drohten.

 

„Es ist okay“, war das Einzige, was er sagte, während er mich im Arm hielt und um uns herum die ersten Regentropfen auf die trockene Landschaft zu prasseln begannen. Eng umschlungen standen wir auf dieser Eisenbahnbrücke und wurden von dem plötzlich hereinbrechenden Regenguss bis auf die Knochen durchnässt, aber es machte nichts. Weil wir zusammen waren. Und weil er gesagt hatte, dass es okay war.
 

„Lass uns zu mir nach Hause gehen“, sagte er irgendwann und ließ mich trotzdem nicht los. „Wir legen uns trocken und dann reden wir, wenn du willst. Ich halte das aus.“

 

Ich wollte etwas darauf erwidern, aber ich konnte nicht. Ich konnte nur in Ehrfurcht erstarren und denken, dass ich das alles nicht verdient hatte. Dass er einen Fehler machte, wenn er mich immer noch nicht wegstieß.
 

Das ist nicht deine Entscheidung, flüsterte es in meinem Kopf und ich war so erleichtert zu hören, dass es nicht das Monster war. Es war etwas Neues. Etwas, das mich hoffen ließ.

 

Einfach schwimmen

„Brauchst du noch irgendwas?“

 

Benedikt stand vor mir und sah mich fragend an. Ich saß mit angewinkelten Beinen auf seinem Bett. Um meine Schultern lag ein Handtuch und der Rest von mir steckte in trockenen Klamotten, die wir seinem Kleiderschrank entliehen hatten.

 

„Nein, alles okay“, sagte ich und so fühlte es sich auch an. Wie ein Regenschauer, der vorbeigegangen war. Ich hatte es auf die andere Seite des Flusses geschafft. Nun stand ich am Ufer und fragte mich, warum ich mich eigentlich so angestellt hatte.

 

Warum hab ich nicht einfach die Klappe gehalten? Es sind meine Probleme, nicht seine. Ich muss allein damit fertig werden.

 

„Gut, dann …“

 

Benedikt blies die Backen auf und fuhr sich durch die feuchten Haare, bevor er sich kurzerhand zu mir aufs Bett setzte. Auch er hatte sich umgezogen und trug jetzt T-Shirt und Jogginghose.

 

„Willst du mir nun erzählen, was los ist?“

 

Natürlich musste er diese Frage stellen. Aber sollte ich das wirklich tun? Ich hatte mir vorgenommen, ehrlich zu ihm zu sein. Er verdiente, dass ich das war. Aber würde ich ihn damit nicht nur belasten? Andererseits war es für Bedenken dieser Art inzwischen ohnehin viel zu spät. Wenn ich jetzt nichts sagte, würde er sich nur Sorgen machen. Also musste ich versuchen, es ihm zu erklären. Irgendwie.

 

Mein Blick fiel auf die Bettdecke, auf der ich saß. Es war immer noch die gleiche Bettwäsche wie am Wochenende. Farbkleckse in verschiedenen Blautönen, die eine Art Fischgrätmuster bildeten. Es gab meinen Augen etwas zu tun, während ich mich daran machte, das Unerklärbare in Worte zu fassen.

 

„Also erst mal möchte ich, dass du weißt, dass es mir gut geht. Na ja, nicht gut, aber … ich hab nicht vor, mir was anzutun oder so. Ich hab auch nicht wirklich drüber nachgedacht. Es ist nur …“

 

Ich unterbrach mich und suchte nach Worten. Wie sollte ich ihm diese Gelähmtheit erklären? Das Gefühl, das alles, was man tat, am Ende vollkommen bedeutungslos war. Das ich kämpfte und kämpfte und doch immer nur noch schneller zu versinken schien.
 

Sinken …

 

„Es … es fühlt sich an, als wäre man ein Passagier auf der Titanic. Natürlich unternimmst du alles, um nicht im eiskalten Wasser zu landen. Aber es ist, als würdest du versuchen, diesen verdammten Eisberg mit bloßen Händen wegzuschieben. Du weißt, das er am Ende gewinnen wird. Trotzdem machst du weiter und weiter in der Hoffnung, dass doch noch alles gut ausgeht. Aber mit jedem Atemzug, mit jeder Schwimmbewegung, kriecht die Kälte weiter in deine Knochen und du fragst dich, ob es nicht besser wäre aufzugeben. Einfach loszulassen und zu versinken. Um die Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen. Um endlich Ruhe zu haben.“

 

Nachdem ich geendet hatte, herrschte Schweigen. Es war hereingeschlichen wie ein kalter Lufthauch, weil irgendwer ein Fenster offen gelassen hatte. Ich fröstelte. Benedikt hatte es ebenfalls die Sprache verschlagen. Er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.

 

„Weißt du …“, sagte er plötzlich und schreckte mich damit aus meinen Gedanken hoch, „ich hab mal ein Video gesehen. Darin hieß es, dass Rose und Jack am Ende von 'Titanic' beide hätten überleben können.“

 

Ich blinzelte und er grinste ein bisschen.

 

„Du weißt schon. Der Film mit Leonardo DiCaprio über die Titanic. Rose wird am Ende gerettet, weil sie auf einer Holztür liegt, während er neben ihr erfriert, weil er nicht aus dem Wasser rauskommt. Anfangs hatten sie mal probiert, beide auf die Tür zu kommen, es dann aber gelassen, damit sie nicht untergeht. Die Leute in dem Video haben ausprobiert, dass es aber gegangen wäre, wenn sie Jacks Schwimmweste unter die Tür gebunden hätten. Wegen des Auftriebs, verstehst du.“

 

Ich wusste nicht, ob das ein Scherz sein sollte, aber – so bescheuert er auch war – mir gefiel der Gedanke. Ich versuchte ein Lächeln.

 

„Tja, nur hatte Jack leider keine Ahnung von Physik.“

 

Benedikt lachte leise.

 

„Dann ist es ja gut, dass du einen Freund hast, der Physik-Leistungskurs hat.“

 

Er rückte näher und legte den Kopf auf meine Schulter.

 

„Was du mir da erzählt hast, hört sich echt anstrengend an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, so durch den Tag zu gehen. Aber … wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann werde ich es tun. Versprochen.“

 

Ich lehnte meinen Kopf gegen seinen.

 

„Danke. Aber ich weiß eigentlich auch nicht genau, was ich brauche.“

„Mhm.“

 

Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: „Und wenn du nochmal mit der Ärztin redest? Vielleicht weiß sie, was zu tun ist.“

 

Ich atmete tief ein. Der Vorschlag war sicherlich klug, aber …

 

„Sie hat gesagt, dass ich eine Therapie machen sollte. Du weißt schon. Beim Psychiater auf die Couch und so. Mal alles rauslassen, was mir so durch den Kopf geht.“

 

Benedikt zögerte kurz, bevor er antwortete.

 

„Und du willst das nicht?“

 

Ich verzog das Gesicht. Natürlich wollte ich das nicht. Ich war doch nicht verrückt. Oder doch?

 

„Ich weiß nicht. Es fühlt sich komisch an, zu sagen 'Ich brauch eine Therapie'. Ich bin doch nicht krank.“

„Und was ist mit den Kopfschmerzen?“

 

Ich stutzte, als mir auffiel, dass er recht hatte. Ich hatte nicht einfach nur ein paar psychische Probleme. Ich war nicht nur ein bisschen zu dumm, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich hatte körperliche Symptome. Ich hatte Schmerzen. Das musste doch ausreichen, um eine Behandlung zu rechtfertigen.

 

„Und wie sage ich das meinen Eltern?“

 

Die Frage war so leise, dass es mir fast vorkam, als hätte ich sie nur gedacht. Offenbar hatte ich sie jedoch ausgesprochen, denn Benedikt hob jetzt den Kopf und sah mich an.

 

„Das ist ein Problem, oder?“

 

Ich nickte und sah nach unten. Wenn ich ihnen erzählte, dass ich eine Therapie bräuchte, würden sie wissen wollen, wieso. Sie würden auch das mit mir und Benedikt erfahren. Erfahren müssen. Es machte mir Angst.

 

„Was denkst du, wie sie reagieren werden?“

 

Fast hätte ich gelacht. Das war eines meiner liebsten Gedankenspielchen. Eines von vielen, die ich ganz mit mir allein spielte. Gefangen in meinem eigenen Kopf, in dem das Wasser immer höher stieg.

 

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Ich denke fast, dass meine Mutter damit klarkäme. Obwohl das sicherlich nicht so das ist, was sie sich für mich erhofft hat. Ich denke, sie würde sich Sorgen machen. Dass ich unglücklich werde oder einsam mein Leben verbringe oder mich mit irgendwas anstecke.“

„Und dein Vater?“

 

Ich atmete noch einmal tief durch. Das war die schwierigere Frage und ich hatte immer noch keine Antwort darauf gefunden.

 

„Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung, wie er über Homosexualität denkt. Das Thema kam einfach nie auf den Tisch. Es ist jetzt nicht so, dass meine Familie besonders religiös wäre. Aber es war immer klar, dass zu einer Familie Vater, Mutter, Kind gehören. Oder halt zwei Kinder, so wie bei uns. Über etwas anderes wurde nie gesprochen.“

 

Benedikt nickte verstehend.

 

„Und was ist mit deinem Bruder?“

 

Ich senkte wieder den Blick.

 

„Ich weiß es nicht“, sagte ich jetzt schon zum dritten Mal. „Ich … wir hatten früher ein gutes Verhältnis. So gut es eben sein kann, wenn sich der kleine immer an den großen Bruder dranhängt. Ich war jedes Mal so stolz, wenn ich mit ihm und seinen Freunden losziehen durfte. Aber mit der Zeit wurde das anders. Ich fand eigene Freunde und hing dann mit denen ab. Er begann sich für Mädchen zu interessieren und ich war einfach noch nicht so weit. Hab ich mir damals zumindest eingeredet. Jetzt ist er ausgezogen und ich höre kaum noch was von ihm. Er ist zu sehr mit seinem Studium beschäftigt, um sich bei mir zu melden.“

 

Diesen Fakt auszusprechen, tat mehr weh, als ich gedacht hatte. Ich hatte mir manchmal so sehr gewünscht, mit Christopher sprechen zu können. Ihm davon erzählen zu können, dass ich … nun ja. Aber ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass der Zeitpunkt falsch war. Dass er Wichtigeres zu tun hatte und ich damit sowieso alles nur verderben würde. Also hatte ich geschwiegen, um ihn nicht noch weiter von mir fortzutreiben.

 

„Was denkst du denn eigentlich, wie es dir gehen wird, wenn du es deiner Familie gesagt hast?“

 

Irritiert über die Frage hob ich den Kopf.

 

„Wie meinst du das?“

 

Benedikt lächelte ein wenig verschmitzt.

 

„Na ja, du hast dir offenbar schon jede Menge Gedanken darüber gemacht, was die anderen Leute wohl davon halten werden. Wie sie reagieren und so weiter und so weiter. Aber hast du dir eigentlich auch schon mal Gedanken darüber gemacht, was das Outing für dich bedeutet?“

 

Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Das hieß, ich wollte es, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich sagen sollte. Denn Benedikt hatte recht. Ich hatte mir wirklich noch nie Gedanken darüber gemacht. Ein bisschen unsicher sah ich ihn an.

 

„Ich weiß es nicht“, gestand ich.

 

Aus Benedikts Lächeln wurde ein Schmunzeln.

 

„Das dachte ich mir fast. Hab ich damals auch nicht gemacht. Ich hab mir zwar tausend Horrorszenarien ausgemalt, wie mich meine Mutter in Schimpf und Schande vom Hof jagt, aber was ich durch das Outing gewinnen würde, war mir nicht klar.“

„Und was war es?“

 

Ich war jetzt wirklich neugierig, was er wohl antworten würde. Er wirkte ein wenig verlegen und vermied es, mich anzusehen.

 

„Ich hab mir, wie gesagt, nicht allzu viele Gedanken über das Danach gemacht. Ich wollte nur einfach nicht mehr in dieses Netz aus Lügen und Verstecken zurück, in dem ich mich mehr und mehr verfangen hatte. Deswegen hab ich Anlauf genommen und bin einfach abgesprungen, ohne zu sehen, wo ich landen würde. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich vermutlich ungefähr nichts antworten können.“

 

Er grinste mich ein bisschen an und ich verstand, was er mir sagen wollte.

 

„Erst hinterher hab ich gemerkt, wie befreiend das Ganze für mich war. Gut, ich hatte natürlich Glück, dass meine Mutter recht cool damit umgegangen ist, aber allein nicht mehr Angst vor so einem diffusen 'Was wäre wenn' haben zu müssen, hat mir eine riesige Last von den Schultern genommen. Endlich konnte ich aufhören, mir darüber Gedanken zu machen, was wohl passiert, wenn ich mich oute. Einfach weil ich es schon getan hatte. Außerdem ist es einfach so viel besser, genervt reagieren zu können, wenn mich meine Mutter fragt, ob denn dieser oder jener Junge nicht was für mich wäre, als wenn sie das Gleiche bei einem Mädchen tun würde. Ich muss da nichts mehr verstecken. Ich muss keine Angst haben, mich zu verraten. Klar, jetzt kann es mir passieren, dass mir einer deswegen dumm kommt so wie die Typen am Bahnhof letzte Woche. Aber … das ist immer noch was anderes, weil man denen dann entgegentreten kann, statt einfach nur den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass einen nicht wirklich jemand für schwul hält. Mir hat das auf jeden Fall eine Menge Auftrieb verschafft.“

 

Auftrieb. Da war es wieder, dieses Wort. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Archimedes, eine Goldkrone und eine Badewanne im Unterricht zu diesem Thema eine Rolle gespielt hatten, aber es war einfach schon zu lange her. Aber was es bedeutete, das wusste ich. Es bedeutete, nicht unterzugehen.

 

„Das hört sich wirklich toll an“, sagte ich langsam. „Aber …“

 

Er unterbrach mich, bevor ich meine Einwände vorbringen konnte.

 

„Ich weiß, ich weiß. Ich kann dir natürlich nicht versprechen, dass es dir ebenso gehen wird. Immerhin haben wir ja an Jo gesehen, dass so ein Outing auch ziemlich nach hinten losgehen kann. Und ich wüsste auch nicht, was ich gemacht hätte, wenn meine Mutter mich damals blöd dafür angemacht hätte. Wenn sie mir tagtäglich damit in den Ohren liegen würde, was für ein schrecklicher Sohn ich doch bin und dass sie nie, nie, nie wieder in diesem Leben glücklich werden kann und all so ein Mist. Aber … ich weiß, dass du nicht allein bist. Du hast mich und Leon und Phillip. Du hast Mia und vielleicht sieht ja sogar Jo irgendwann ein, dass sein homophobes Gesülze eigentlich nur heiße Luft ist. Und du hast auf dem CSD gesehen, dass es da draußen noch jede Menge andere Leute gibt, denen es genauso geht wie dir. Und nicht nur deswegen, weil sie schwul oder lesbisch oder was auch immer sind. Es gibt auch ne Menge, die daran oder an anderen Dingen schwer zu knabbern haben. Die so weit in diesem ganzen Mist drin stecken, dass sie da alleine nicht mehr rauskommen. Und das ist okay. Es ist okay, sich Hilfe zu holen. Es ist okay, Angst zu haben. Aber ich würde es wirklich, wirklich schade finden, wenn du sie weiter dein Leben bestimmen lässt. Denn es ist dein Leben. Und ich würde dir gerne dabei helfen, es zurückzubekommen.“

 

Als er diese Ansprache beendet hatte, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste, dass er es gut meinte, aber …

 

Benedikt sah mich an und zog die Nase kraus.

 

„Hab ich dich jetzt unter Druck gesetzt? Tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich … ich wollte dir einfach nur sagen, dass ich da bin, wenn du mich brauchst.“

 

Ich spürte, wie sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust langsam wieder verringerte. Denn ja, Benedikts Aktivismus hatte mich tatsächlich ein wenig eingeschüchtert. Ich wusste, dass er recht hatte, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich das schaffen sollte.

 

Benedikt sah mich immer noch an wie ein Dackel. Also versuchte ich mich an einem Lächeln.

 

„Danke. Ich … ich weiß das zu schätzen.“

 

Er schob seine Mundwinkel ebenfalls etwas nach oben.

 

„Du musst nicht so tun, als wenn es okay war. Wenn ich was falsch mache oder dich nerve, dann sag mir das ruhig. Ich bin schließlich auch kein Experte.“

 

Experte. So wie ein Psychiater. Der kannte sich doch damit aus, was anderen Leuten im Kopf vorging.

 

„Meinst du, ich sollte nochmal zum Arzt gehen?“

 

Benedikt zuckte leicht mit den Schultern.

 

„Also wenn du nicht willst, kann ich das verstehen. Aber wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass es gut wäre, sich mal von einem Profi beraten zu lassen. Jemand, der dir Werkzeuge an die Hand geben kann, mit denen du dich aus den eisigen Fluten auf diese Tür hieven kannst. Damit du nicht untergehst.“

 

Das, was er sagte, klang tatsächlich ziemlich vernünftig. Es änderte jedoch nichts daran, dass ich einfach furchtbare Angst davor hatte, was passieren würde, wenn ich es tat. Ich hatte Angst vor der Reaktion meiner Eltern und der meines Bruders. Aber andererseits hatte Benedikt gesagt, dass ich nicht allein war. Dass er und die anderen da wären, um mir zu helfen.

 

„Ich glaube, ich muss mir das erst nochmal in Ruhe überlegen.“

 

Benedikt schien erst noch etwas sagen zu wollen, doch dann nickte er nur.

 

„Okay. Ich glaube, das reicht auch erst mal für heute. Hast du Hunger? Ich hab Pizza da.“

 

Er wackelte mit den Augenbrauen, sodass ich automatisch anfing zu lachen.

 

„Aber nur, wenn sie ohne Ananas ist.“

 

Benedikt schob die Unterlippe vor.

 

„Och man. Ananas-Pizza ist lecker. Ich versteh gar nicht, warum alle immer die arme Ananas mobben. Sie ist so lieb und süß und passt einfach hervorragend zu …“

 

„Vanilleeis!“, fiel ich ihm ins Wort. Er schien darüber nachzudenken, dann schüttelte er sich.

 

„Nee, geht gar nicht. Zu Vanilleeis gehen höchstens warme Himbeeren.“

„Nicht Kirschen?“

„Ja, schon auch. Aber Himbeeren sind leckerer. Und am allerbesten sind frische Erdbeeren.“

 

Er sah mich an und begann zu grinsen. Fragend hob ich die Augenbrauen.

 

„Was?“

„Och nichts.“

 

Sein Grinsen war jetzt so breit, das es keinen Lügendetektor brauchte um zu sehen, dass er flunkerte.

 

„Na los, spuck schon aus.“

 

Er biss sich auf die Lippen und versuchte krampfhaft, mich nicht anzusehen. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn zu packen und aufs Bett zu werfen. Als er unter mir lag, fragte ich noch einmal:

 

„An was hast du gerade gedacht.“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Ja!“

„An Erdbeeren mit Schlagsahne.“

„Ja und?“

„Auf dir.“

 

Ich blinzelte verblüfft, was er dazu nutzte, mich nun meinerseits auf den Rücken zu befördern und sich auf mir niederzulassen. Er stützte seine Hände rechts und links neben meinem Kopfes ab und sah mir direkt in die Augen.

 

„Bitte versteh das nicht falsch. Ich meine, du hast mir hier gerade dein Herz ausgeschüttet und ich komme dir mit so was, aber … ich finde dich halt wahnsinnig verführerisch.“

 

Er küsste mich sanft auf die Lippen.

 

„Und sexy.“

 

Er küsste mich noch einmal.

 

„Und ich würde dir jetzt wirklich gerne … ein bisschen den Kopf frei machen. Was sagst du dazu?“

 

Die Frage brachte mich von der ersten Stufe der Leiter, die ich gerade schon angefangen hatte hinaufzuklettern, wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Es fühlte sich nicht richtig an, jetzt Sex zu haben. Benedikt, der meinen Stimmungswechsel bemerkt hatte, lächelte sanft.

 

„Wir können auch einfach einen Film gucken und Pizza essen. Oder was anderes, wenn du magst.“

 

Ich zögerte. Was wollte ich jetzt? Was brauchte ich?

 

„Ich könnte dich auch einfach ein bisschen massieren. Ohne Hintergedanken natürlich.

 

Als ich daran dachte, womit die Massage das letzte Mal geendet hatte, lief ein Kribbeln meine Wirbelsäule hinab.

 

„Ja. Ja, das würde ich toll finden.“

 

Ich entledigte mich meiner Brille und gleich noch des Shirts, das ich vor gut einer halben Stunde erst angezogen hatte, bevor ich mich auf dem Bett ausstreckte und mich darauf vorbereitete, mich zu entspannen. Ich fühlte Benedikts Gewicht auf meinen Beinen und gleich darauf seine Hände, die über meinen Rücken glitten.

 

„Du sagst Bescheid, wenn du keine Lust mehr hast?“, fragte er und ich brummte nur zustimmend. Mich von hier wegzubewegen war so in etwa das Letzte, an was ich gerade dachte. Dazu fühlten sich die Streicheleinheiten, die er mir gerade verpasste, viel zu gut an.

 

Von Mia hättest du dich nie so massieren lassen, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte nicht an sie denken wollen, aber jetzt, wo ich es tat, fiel mir die Situation in der Schule wieder ein.

 

„Meinst du, ich sollte es in der Schule erzählen?“

 

Benedikts Bewegungen wurden ein wenig langsamer.

 

„Wie kommst du darauf?“

 

Ich biss mir auf die Lippen. Das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Andererseits …

 

„Wegen Mia. Die anderen reden über sie und es kursieren ziemlich fiese Gerüchte. Ich würde das gern unterbinden.“

 

Benedikt dachte einen Augenblick lang nach, bevor er antwortete.

 

„Also ich denke, dass es dich durchaus ehrt, dass du das machen willst, aber ich halte es für falsch. Diesen Schritt solltest du machen, weil du es willst. Nicht für andere.“

 

Ich schnaufte und versuchte, mich wieder auf die Massage einzulassen. Trotzdem ging mir das Problem nicht aus dem Kopf. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, den Bogen zu überspannen, wenn ich jetzt ausgerechnet mit Benedikt darüber sprach. Gleichzeitig war er der Einzige, mit dem ich es tun konnte. Egal, was ich tat, es war verkehrt.

 

Auch Benedikt schien zu merken, dass mich das Thema noch beschäftigte. Er strich mir sanft über den Rücken und lehnte sich dann nach vorn. Ich fühlte seinen Körper an meinem. Er umfing mich wie ein warmer Mantel.
 

„Ist nicht einfach, mhm?“, murmelte er in mein Ohr und platzierte einen kleinen Kuss auf meiner Schulter. Ich atmete einmal tief durch.

 

„Nein, ist es nicht. Ich … ich hab das Gefühl, dass es meine Schuld ist, dass es ihr so dreckig geht. Es … es sind ja nicht nur die anderen. Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht doch manchmal denkt, dass ich ihr nur was vorgemacht habe. Oder dass es an ihr gelegen hat, dass ich …“

 

Ich sprach nicht weiter. Ich wusste ja, dass es Schwachsinn war. Aber ich kam einfach nicht gegen diese Gedanken an.

 

Benedikt erhob sich wieder und machte sich daran, die Massage fortzusetzen. Eine Weile lang sagte er gar nichts, aber die Stimmung war eindeutig ruiniert. Ich hatte sie ruiniert.

 

„Möchtest du, dass ich gehe?“

 

Ich musste das einfach fragen. Benedikts Antwort bestand aus einem verblüfften Laut.

 

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Na weil ich hier liege und von meiner Exfreundin rede, während du …“

 

Ich verstummte, aber Benedikt machte sich auch nicht die Mühe, auf das Ende des Satzes zu warten.

 

„Quatsch. Wenn dir das hilft, ist das okay. Wenn du möchtest, kann ich ja mal was von meinem Ex erzählen. Wir waren zwar nicht so lange zusammen wie du und Mia, aber …“

 

Er unterbrach sich und ich war eigentlich recht froh darum. Wahrscheinlich war der Typ längst nicht so verkorkst gewesen wie ich. Ich fragte mich allerdings …

 

„Warum hast du mit ihm Schluss gemacht?“

 

Benedikt hörte auf, mich zu massieren. Er seufzte.

 

„Also wenn du es genau wissen willst: Es war deinetwegen. Ich konnte einfach nicht mit ihm zusammenbleiben, nachdem ich realisiert hatte, dass ich immer noch in dich verknallt war.“

 

Er beugte sich zu mir runter und küsste meinen Nacken.

 

„Aber das ist schon so lange her. Er hat inzwischen längst eine neue Beziehung und ich auch. Also wer weiß, wozu es gut war. Das Leben geht nun einmal keine geraden Wege. Manchmal macht es Kurven und bewegt sich im Kreis und manchmal ist die Straße verdammt holprig, aber das heißt nicht, dass man es nicht trotzdem genießen kann.“

 

Ich lächelte und fühlte mich gleichzeitig klein und unbedeutend.

 

„Du bist ziemlich weise“, sagte ich, weil mir kein besseres Wort dafür einfiel.

 

„Weise?“ Benedikt lachte. „Das hört sich an, als wäre ich 102 und hätte einen langen, weißen Bart.“

 

Ich grinste, während er begann, an meiner Ohrmuschel herumzuknabbern.

 

„Nein, das meine ich nicht. Aber du hast oft so tiefe Gedanken.“

 

Benedikt ließ von meinem Ohr ab. Ich hörte ihn über mir schlucken.

 

„Das ist ein tolles Kompliment“, sagte er leise. „Ich … ich weiß gerade gar nicht, wie ich das finden soll. Ich hab das Gefühl, dem gar nicht zu entsprechen.“

 

Ich drehte den Kopf ein wenig, um ihn anzusehen. Er schaute zurück und unsere Blicke verhakten sich ineinander. Da war wieder dieses Gefühl in meiner Brust. Das gute Gefühl. Das Gefühl, als müsste ich ihn festhalten und nie wieder loslassen. Es zerrte so heftig an mir, dass ich mich aufrichtete und unter ihm drehte, bis ich ihn ansehen konnte.

 

„Küss mich“, forderte ich ihn auf. In seinen Augen glomm etwas auf, das mich innerlich erschauern und nahezu platzen ließ.

 

„Mit dem größten Vergnügen“, antwortete er und beugte sich zu mir herab, um meine Lippen mit einem Kuss zu versiegeln. Vielleicht würden wir jetzt doch noch zu dem Teil der Unterhaltung mit den Erdbeeren und der Schlagsahne kommen. Nur ohne Erdbeeren. Und ohne Sahne.

 

Kleine Schritte

Meine Schritte wurden langsamer, während ich über den sorgfältig geharkten Weg auf die Praxis zuging. Immer noch blühten die Rhododendronbüsche, immer noch sah das Gebäude aus wie ein Schuhkarton. Der Unterschied war, dass ich dieses Mal wusste, was mich dort drinnen erwartete. Es war vielleicht eine Lösung für meine Probleme. Oder wenigstens ein Ansatzpunkt dafür. Doch vor diesem Punkt lag noch eine Hürde. Das Gespräch mit der Ärztin. In dem ich dieses Mal wirklich ehrlich sein musste, wenn ich wollte, dass es funktionierte.

 

Aber ich will das. Ich würde zwar am liebsten rennen, was das Zeug hält, umso schnell wie möglich von hier wegzukommen, aber ich werde trotzdem da reingehen. Weil ich das haben will, was ich dadurch bekommen kann. Ich will mein Leben zurück.

 

Bei diesem Gedanken konnte ich Benedikts Stimme in meinem Ohr hören.

 

 

„Hey Theo“, flüsterte sie mir zu. „Du musst aufstehen. Wir sind eingepennt.“

 

„Nur noch fünf Minuten“, murmelte ich und rückte näher an den warmen Körper neben mir heran. Ich wollte hier noch nicht weg.
 

„Meine Mutter ist wieder da. Sie kann jeden Moment reinkommen.“

 

„Du brauchst einen Schlüssel für deine Tür“, murrte ich und zog die Bettdecke ein Stück nach oben. Nur für alle Fälle. Benedikt lachte.

 

„Ich hätte abgeschlossen, wenn du nicht quasi auf mir geschlafen hättest. Ich wollte dich nicht wecken.“

 

Jetzt hob ich doch den Kopf. Er sah so zerzaust aus, wie ich mich fühlte. Auf eine gute, vertraute Weise. Allerdings waren meine Augen vermutlich kleiner als seine. Verschlafener. Ich war total weg gewesen.
 

„Ich will nicht nach Hause“.

„Dann bleib.“

 

Ich seufzte.

 

„Geht nicht. Ich will nicht, dass meine Eltern misstrauisch werden. Außerdem würde meine Mutter darauf bestehen, dass ich dich auch mal einlade, wenn ich schon wieder zum Essen bleibe.“

„Und das willst du nicht?“

 

Ich überlegte. Das war eine dieser Fragen, auf die man nur eine falsche Antwort geben konnte. Trotzdem musste ich etwas sagen.
 

„Also eigentlich hatte ich ja vor, dich mal einzuladen. Ganz inkognito sozusagen. Aber nachdem ich darüber nachgedacht habe, möchte ich dich nicht mehr einfach so einladen. Ich möchte, dass meine Eltern wissen, was Sache ist, wenn du zu mir kommst. Doch dazu …“

 

Ich sprach nicht weiter. Er wusste, worum es ging. Dementsprechend bestand seine Antwort aus einem Lächeln.
 

„Verstehe“, sagte er. „Dann treffen wir uns weiter hier. Und in der Schule. Ist doch okay.“

 

Ich wusste ebenso gut wie er, dass es das nicht war. Dass da keine Grenze sein sollte, die wir einhalten mussten. Trotzdem gab es sie und bisher waren nicht einmal Grenzverhandlungen aufgenommen worden. Das hing alles an mir.

 

„Bald“, versprach ich ihm und er lächelte, als wäre ihm das egal. So wie er gesagt hatte. Aber das war es nicht und ich wusste es. Ich wusste, was es ihm bedeutete, endlich offiziell mit mir zusammensein zu können. Es nicht mehr verheimlichen zu müssen. Vor niemandem. Wann würde es so weit sein?

 

„Kann ich mir die Sachen ausborgen?“

 

Ich wies auf den Haufen seiner Klamotten, die am Boden lagen.
 

„Klar. Ich kann dich ja schlecht nackt nach Hause fahren lassen.“

„Nicht?“

 

Ich tat erstaunt und er ging grinsend auf das Spiel ein. Die Bettdecke büßte ihren Platz auf unseren Körpern ein und ein hastig herumgedrehter Schlüssel sicherte uns gegen unangenehme Überraschungen. Aber es war nur ein Aufschub gewesen. Eine kurze, wenn auch heftige Ekstase, bevor ich endgültig hatte aufbrechen müssen. Ich war mit schwerem Herzen und schwerem Kopf gefahren. Schwer von all den Dingen, über die ich nachdenken musste. Entscheidungen, die getroffen werden mussten. Eine gewaltige Aufgabe, die mich dazu gebracht hatte, mehr als die Hälfte meines Wochenendes vor dem Computer zu verbringen. Zu lesen. Geschichten von fremden Leuten, die anders waren als meine und ihr doch glichen. Wir alle waren irgendwo auf dem Weg gestrauchelt und nicht wieder auf die Füße gekommen. Einige versuchten noch, das Problem allein in den Griff zu kriegen, andere hatten sich eingestanden, dass sie das nicht hinkriegten, und sich Hilfe gesucht. Professionelle Hilfe. Von Leuten, die sich damit auskannten. Einer von ihnen schrieb dazu:
 

„Klar habe ich meine Freunde, mit denen ich reden kann. Aber es ist nicht das Gleiche. Weil sie einfach zu nah dran sind. Bei einem Therapeuten ist das anders. Da brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du ihm mit deinem ganzen Scheiß kommst. Schließlich ist es sein Job, dir zuzuhören.“

 

Natürlich gab es auch negative Stimmen. Berichte von inkompetenten Ärzten oder Kliniken, in denen die Leute mit sinnlosen Maßnahmen einfach nur beschäftigt worden waren, ohne wirklich eine Wirkung zu verspüren. Einer sprach sich sogar recht vehement gegen solche Maßnahmen aus, bekam aber viel Kontra von denen, die eine Therapie für sinnvoll hielten.
 

„Vor allem aber muss das ein Arzt vor Ort entscheiden und nicht irgendeine Horde Fremder aus dem Internet“, hatte unter einem seiner Beiträge gestanden. „Wir sind hier alle nicht ausgebildet. Also geh zu einem Fachmann und lass dich da beraten.“

 

Dieser Post war nicht an mich gerichtet gewesen, aber ich hatte ihn mir trotzdem zu Herzen genommen. Deswegen stand ich jetzt hier vor dem Empfangstresen von Dr. Anders und sah mich der Sprechstundenhilfe gegenüber, die mich erstaunt anblinzelte.
 

„Herr von Hohenstein? Ich habe Sie für heute gar nicht in meinem Kalender.“

„Ja, ich … ich dachte, ich kann vielleicht ohne Termin … ?“

 

Die junge Frau krauste ein wenig die Nase.
 

„Eigentlich ja nur in dringenden Notfällen, aber ich will mal nicht so sein. Das nächste Mal rufen Sie bitte wieder vorher an, ja?“

„Ja. Natürlich.“

 

Ich sagte ihr nicht, dass ich nicht angerufen hatte, weil ich mir nicht sicher gewesen war, ob ich in ein paar Tagen noch den Mut aufgebracht hätte zu kommen. Deswegen hatte ich Benedikt auch nichts davon gesagt. Ich hatte mich lediglich nach der vierten Stunde bei meinen Lehrern entschuldigen lassen und war dann gefahren.

 

Das Wartezimmer war wie immer voll, daher setzte ich mich auf einen freien Stuhl und spielte irgendein sinnloses Spiel auf meinem Handy, bis ich an der Reihe war. Es dauerte noch länger als beim ersten Mal und die reguläre Sprechstunde war längst vorbei, als die Sprechstundenhilfe mich endlich aufrief. Ich war der letzte Patient und in der Praxis herrschte bereits dösige Mittagsruhe.
 

„Frau Doktor kommt dann gleich“, sagte die junge Frau und kehrte anschließend zu ihrem Tresen zurück, hinter dem ein halb aufgegessener Salat auf sie wartete. Mein Magen knurrte, während ich wieder in dem Sprechzimmer mit dem Gummibaum saß. Ich hatte noch nichts gegessen und auch nicht daran gedacht, mir etwas mitzubringen. Das flaue Gefühl in meinem Inneren rührte jedoch nicht nur vom Hunger her und es wurde noch schlimmer, als sich die Tür zum anderen Sprechzimmer endlich öffnete.
 

„Herr von Hohenstein“, begrüßte Dr. Anders mich. Sie marschierte durch den Raum zu ihrem Schreibtischstuhl, ließ sich darauf nieder, faltete die Hände auf dem Tisch vor sich und blickte mich abwartend an.
 

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich … ich bin hier, weil ich vielleicht doch eine Therapie brauche. Ich wollte mich deswegen gerne beraten lassen.“

 

Sie nickte leicht, während sie ihren Computer zum Leben erweckte und meine Krankenakte aufrief. Ich sah es daran, dass mein Name oben auf der virtuellen Karteikarte stand. Sie klickte ein paar Mal auf der Tastatur herum, bevor sie wieder mir zuwandte. Ihr Oberteil unter dem Kittel war heute taubenblau.
 

„Wenn Sie hierbleiben wollen, wäre es vielleicht gut, wenn ich ein bisschen genauer wüsste, worum es geht. Dass Sie Kopfschmerzen haben und schlecht schlafen, sagten Sie ja bereits. Noch irgendwelche Symptome, von denen ich wissen sollte?“

 

„Ich … ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll“, antwortete ich und vermied es sie anzusehen. Sie beobachtete mich, ohne dabei angespannt zu wirken. Ich räusperte mich.
 

„Ich … ich komme manchmal einfach mit Dingen nicht klar. Eigentlich ganz banale Situationen, aber ich bin davon von jetzt auf gleich vollkommen überfordert. Alles ist nur noch anstrengend und mühselig. Selbst Dinge, die ich eigentlich mag. Außerdem hatten Sie ja nach Stress gefragt, und … also davon hab ich im Moment eine ganze Menge. Ich hab gerade mit meiner Freundin Schluss gemacht, mich mit meinem besten Freund verkracht, weiß nicht, wie meine berufliche Zukunft aussehen soll, und … und manchmal frage ich mich, ob mein Leben überhaupt noch einen Sinn hat.“

 

Ich stoppte mich, als ich begriff, was gerade alles aus mir herausgesprudelt war. Schuldbewusst sah ich die Ärztin an.
 

„Das wollen Sie bestimmt alles gar nicht hören.“

 

„Wenn Sie es mir erzählen wollen, will ich es hören“, antwortete sie und lächelte leicht. Ich sah wieder nach unten auf meine Knie. Das hier war doch schwerer, als ich gedacht hatte. Meine Hände schwitzten und ich überlegte, wie ich sie wohl unauffällig an meiner Hose abwischen konnte, aber da Dr. Anders die Bewegung bestimmt bemerkt hätte, ließ ich es bleiben.
 

„Haben Sie denn jemanden, mit dem sie darüber sprechen können? Ihre Eltern vielleicht?“

 

Ich schüttelte leicht den Kopf.
 

„Die wissen von all dem nichts.“

„Und warum nicht?“

„Weil … weil ich außerdem seit neuestem einen Freund habe. Einen festen Freund.“

 

Wieder schielte ich zu der Ärztin nach oben. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Noch bevor ich zu Ende entschieden hatte, ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, sagte sie:
 

„Ich nehme an, dass Ihre Eltern von diesem Freund auch nichts wissen.“

„Nein.“

„Mhm.“

 

Sie lehnte sich jetzt ein wenig in ihrem Stuhl zurück.

 

„Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Weg bis zu diesem Punkt ziemlich schwer war. Aus diesem Grund häufen sich vermutlich auch Ihre Anfälle. Ihre Reserven sind aufgebraucht und Ihr Serotoninhaushalt ist vollkommen aus dem Gleichgewicht. Je nach Schwere der Störung wäre zu überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, hier medikamentös einzugreifen. “

 

Jetzt hob ich den Kopf. Damit, irgendwelche Pillen schlucken zu müssen, hatte ich nicht gerechnet. Ich war doch gerade hier, weil ich damit aufhören wollte.
 

Dr. Anders hob fragend die Augenbrauen.
 

„Sie sehen nicht sehr begeistert aus.“

 

Ich biss mir auf die Lippe und sah erneut zu Boden.

 

„Wissen Sie, ich … ich hab wegen der Kopfschmerzen schon eine Menge Tabletten geschluckt. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn ich jetzt wieder damit anfangen würde. Außerdem … was wären denn das für Medikamente?“

 

„Das hängt von der Schwere Ihrer Erkrankung ab. Es gibt zum Beispiel Präparate, die stimmungsaufhellend und gleichzeitig beruhigend wirken. Über so ein Medikament, wäre es möglich, Ihren Nachtschlaf zu stabilisieren. Auch die Übelkeit und das Schwindelgefühl sollten darüber in den Griff zu kriegen sein.“

 

„Ich glaube nicht, dass das notwendig ist“, sagte ich schnell. „Es ist ja nicht so akut.“

 

Dr. Anders lächelte verschmitzt.

 

„Nun, offenbar akut genug, dass Sie nicht noch einmal vorher anrufen konnten.“

 

Der Ton, in dem sie das sagte, machte deutlich, dass es ein Scherz sein sollte. Trotzdem entschuldigte ich mich.
 

„Ich hatte Angst, dass ich sonst doch noch kneifen würde.“

 

Dr. Anders nickte verstehend.

 

„Den größten Schritt haben Sie bereits gemacht. Sie haben sich eingestanden, dass Sie Hilfe brauchen. Das ist gut und wir werden sicher eine Lösung finden, die zu Ihnen passt. Ich für meinen Teil würde eine Gesprächs- oder Verhaltenstherapie für sinnvoll erachten. Das sollte Ihnen jedoch der entsprechende Therapeut besser beantworten können.“

 

Ich atmete innerlich ein wenig auf. Sie hatte ja gesagt, dass ich einen Spezialisten brauchte. Allerdings klang „Therapeut“ etwas freundlicher als „Psychiater“. Weniger nach Irrenarzt.

 

„Und wie komme ich zu einem Therapeuten?“, fragte ich zögernd.

 

„Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sie wenden sich entweder direkt an eine Praxis Ihrer Wahl oder ich schreibe Ihnen eine Überweisung. In sogenannten probatorischen Sitzungen, die noch nicht zur Behandlung gehören, können Sie und der Therapeut ausloten, ob die Chemie zwischen Ihnen stimmt. Ist das der Fall, wird ein Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt. Sie sind privat versichert, nicht wahr?“

„Ja, über meine Eltern.“

„Dann sollten Sie in Erfahrung bringen, welche Maßnahmen über Ihre Krankenkasse abgerechnet werden können. Nicht, dass Sie nachher auf der Rechnung sitzenbleiben. Die meisten privaten Krankenversicherungen genehmigen jedoch ein gewisses Stundenkontingent ohne einen speziellen Antrag.“

„Aber ich würde meine Eltern darüber unterrichten müssen, nicht wahr?“

„Wenn Sie die Abrechnung über sie laufen lassen wollen, wird sich das nicht vermeiden lassen.“

 

Ich schwieg, während ich das Gesagte verarbeitete. Natürlich. Der Therapeut verdiente sein Geld mit den Therapiestunden und das musste irgendwo herkommen. Aus reiner Nächstenliebe half mir niemand.
 

„Es gäbe natürlich noch die Möglichkeit, dass Sie sich gesetzlich krankenversichern.“

„Wie das?“

„Sie müssten eine Arbeitsstelle annehmen.“

 

Ich lachte auf.
 

„Wie stellen Sie sich das vor? Ich gehe noch zur Schule. Soll ich die jetzt abbrechen und mir stattdessen einen Job suchen?“

 

Dr. Anders schüttelte lächelnd den Kopf.

 

„Das wird nicht notwendig sein. Eine Nebentätigkeit wäre ausreichend. Wichtig wäre nur, dass Ihr Verdienst über der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Ist das der Fall, werden Sie versicherungspflichtig und könnten eine Behandlung unabhängig von Ihren Eltern anstreben. Da Sie volljährig sind, benötigen Sie auch keinerlei Einverständniserklärung. Sie sind gesetzlich mündig, entsprechende Verträge einzugehen.“

 

Ich schluckte. Das war eine Menge Information, aber im Grunde lief es darauf hinaus, dass ich mich sehr würde anstrengen müssen, wenn ich verhindern wollte, dass meine Eltern etwas von der Therapie erfuhren. Ich würde Holger fragen müssen, ob ich mehr Schichten übernehmen konnte, und spätestens mit meinem Ausscheiden aus ihrer Versicherung, würden meine Eltern doch davon Wind bekommen. Es würde also eine weitere Lüge erfordern, um sie zu befrieden. Eine, deren Erfolg sehr infrage stand. Immerhin riskierte man ja nicht unbedingt freiwillig einen besseren Versicherungsschutz.
 

„Alternativ könnten Sie natürlich zunächst einmal eine karitative Beratungsstelle kontaktieren. Das Deutsche Rote Kreuz und ähnliche Einrichtungen bieten psychologische Hilfe in der Regel kostenfrei an. Es gibt dort offene Sprechstunden, in die Sie gehen können. Das würde ich Ihnen ohnehin raten, denn bei guten Therapeuten gibt es oft eine lange Warteliste.“

 

Ich blickte auf und sah, dass Dr. Anders mich immer noch mit diesem warmen Gesichtsausdruck musterte. Sie meinte es wirklich gut.
 

„Danke“, sagte ich aus einem Gefühl heraus. „Dass Sie mir so viel helfen. Ich … ich weiß das wirklich zu schätzen.“

 

„Keine Ursache“, gab sie zurück und ihr Lächeln wurde breiter. „Sie sind immerhin mein Patient und ich habe eine Eid geschworen, der mich verpflichtet, Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen. Es gibt übrigens auch noch die Möglichkeit, sich an ein Jugendzentrum zu wenden. Auch dort kann man Ihnen sicherlich bezüglich Ihres Problems weiterhelfen.“

 

Ich legte die Stirn in Falten.
 

„Sagten Sie nicht gerade, dass ich rechtlich gesehen ein Erwachsener bin?“

 

Sie lächelte wieder.
 

„Das schon. Vor dem Gesetzt sind Sie volljährig, aber Ihre Lebensumstände unterscheiden sich ja nicht unbedingt von denen eines, sagen wir mal, zwei Jahre jüngeren Menschen. Sie leben noch bei Ihren Eltern, haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, sind finanziell abhängig. Sollten Sie daran etwas ändern wollen, könnte eine Jugendeinrichtung Sie auf Ihrem Weg unterstützen. Dort weiß man sicherlich auch, wie es um Unterhaltspflichten bestellt ist und was passiert, wenn Sie diesbezüglich rechtliche Schritte einleiten müssen. “

 

„Äh, ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird“, versicherte ich schnell. Die Ärztin schien zu glauben, dass das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern vollkommen zerrüttet war. Das war es nicht. Es war nur … kompliziert.

 

„Ich … es ist halt so, dass ich ihnen von all dem hier noch nichts gesagt habe. Weder von dem Befund, noch von meinem Freund noch von sonst irgendwas. Wir sind nicht verstritten oder so. Nur … “

 

Ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich wusste ja selbst nicht, warum ich es meinen Eltern nicht einfach sagte. Sie würden mich deswegen nicht rausschmeißen. Und selbst wenn, hatte Dr. Anders ja gerade gesagt, dass es da Möglichkeiten gab. Möglichkeiten, mein Leben auf die Reihe zu kriegen, auch ohne meine Eltern. Aber … das wollte ich ja gar nicht. Ich wollte doch nur, dass sie …

 

Ich spürte ein Kribbeln in meiner Nase und meine Augen begannen verräterisch zu brennen. Nein! Ich würde jetzt bestimmt nicht in Tränen ausbrechen. Mitten in dieser Arztpraxis vor dieser fremden Frau. Was sollte sie denn von mir denken? Ich musste mich zusammenreißen.

 

Um die Fassung wiederzubekommen, holte ich tief Luft, setzte mich gerade hin und räusperte mich. Langsam, sehr langsam, ging das beklemmende Gefühl in meiner Brust zurück und ich konnte wieder freier atmen.

 

„Sie müssen das wirklich nicht überstürzen.“, sagte Dr. Anders und tat so, als hätte sie meinen peinlichen Anfall nicht bemerkt. „Gehen Sie ruhig noch einmal in sich und fragen Sie sich, wo Ihre Prioritäten im Moment liegen. Vielleicht würde es auch helfen, wenn Sie ein paar Entspannungstechniken lernen. Mentales Selfcoaching sozusagen. Wenn Ihnen so etwas wie Yoga nicht zusagt, gibt es auch noch andere Methoden, sich körperlich und geistig runterzufahren. Ich denke da an Autogenes Training oder Atemtechniken, die Sie relativ leicht erlernen können. Darüber hinaus sollten Sie sich aber wirklich noch einmal überlegen, ob Sie eine medikamentöse Behandlung Ihrer Depression nicht doch in Betracht ziehen.“

 

Der letzte Satz brachte mich dazu aufzusehen.
 

„Depression? Ist das meine Diagnose?“

 

Dr. Anders verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln.

 

„Von meinem Standpunkt sieht es ganz danach aus. Wie gesagt, es wäre vielleicht gut, wenn Sie diesbezüglich noch einmal einen Facharzt kontaktieren, aber es spricht auch nichts dagegen, zunächst einmal einen Termin bei einem Therapeuten zu machen und sich dort eine erste Einschätzung zu holen. Ein guter Therapeut wird Ihnen sagen, wenn er sich keine Heilungschancen bei Ihnen verspricht.“

„Und ein schlechter?“

 

Sie lachte.
 

„Der wird Sie dreimal die Woche zu sich einladen, ohne dass Sie dadurch eine Besserung erfahren. Aber so weit wird es ja hoffentlich nicht kommen.“

 

Ich lachte ebenfalls, wenngleich auch eher aus Höflichkeit. Die Frage, wie ich denn erkennen sollte, ob ich einen guten oder einen schlechten Therapeuten vor mir hatte, drängte sich mir auf. Vielleicht fand sich ja dazu auch etwas im Internet.

 

Dr. Anders lehnte sich ein wenig auf ihren Tisch vor und sah mich aufmerksam an.
 

„Wichtig ist auf jeden Fall, dass Sie verstehen, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn Sie sich die Zeit für sich nehmen. Und es ist auch nichts Verwerfliches daran, sich dabei unter die Arme greifen zu lassen. Eine Depression ist eine schwerwiegende Krankheit, die oft mit einem gewissen Ohnmachtsgefühl einhergeht. Aber sie sind nicht ohnmächtig. Sie können lernen, besser damit umzugehen. Sie müssen nicht die Krankheit über Ihr Leben bestimmen lassen, auch wenn Ihnen das vielleicht momentan so vorkommt. Es ist schwierig, keine Frage, aber ich glaube, dass Sie in der Lage sind, das hinzukriegen. Und wir helfen Ihnen dabei. Sie sind nicht allein.“

 

Ich sah sie an und dann wieder zu Boden.
 

„Sie hören sich ein bisschen an wie mein Freund“, sagte ich leise.

 

Ich hörte sie lächeln.

 

„Dann würde ich sagen, dass er ein vernünftiger, junger Mann ist. Hören Sie auf ihn, aber hören Sie vor allem auf Ihr Bauchgefühl. Sie sind hierhergekommen, weil Sie etwas ändern wollen. Das war der erste Schritt, aber es wird nicht von heute auf Morgen passieren. Eine Heilung braucht Zeit. Viel Zeit. Manchmal ein ganzes Leben lang. Das heißt jedoch nicht, dass man es nicht trotzdem genießen kann. Sie sind depressiv, nicht tot. Und so lange das so ist, können Sie auch immer noch etwas erreichen.“

 

Sie zögerte kurz, bevor sie fragte: „Oder haben Sie die Absicht, Ihr Leben in nächster Zeit zu beenden?“

 

Ich schüttelte den Kopf und sah mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen auf.
 

„Nein, das habe ich nicht. Ich … ich bin nicht so weit, dass ich sterben möchte. Nur das Leben ist manchmal ein bisschen zu schwierig für mich.“
 

Sie lächelte und um ihre Augen herum erschienen wieder eine Menge Falten. Lachfalten offenbar. Wie bei meiner Mutter.
 

„Dann sorgen wir dafür, dass Ihnen das Leben in Zukunft ein bisschen weniger schwerfällt.“

 

Mit diesen Worten erhob sie sich und auch ich stand auf, denn meine Sitzung war offenbar beendet.
 

„Passen Sie auf sich auf“, sagte Dr. Anders noch zum Abschied, nachdem sie mich zur Tür begleitet hatte. „Und gute Besserung erst einmal für Ihre Beschwerden. Sollten Sie weiterhin so unruhige Nächte haben, zögern Sie nicht noch einmal herzukommen. Es besteht wirklich kein Grund, so große Angst vor den Medikamenten zu haben.“

 

„Danke, das werde ich tun“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich keine Pillen schlucken würde. Es fühlte sich nicht richtig an, das zu tun. Wie Schummeln.

 

Es gibt keinen Preis dafür, sich das Leben möglichst schwer zu machen, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte das in dem Internetforum gelesen. Der Post war mir vor allem deswegen im Gedächtnis geblieben, weil der entsprechende User auch noch einen anderen Spruch in seiner Signatur gehabt hatte.

 

There is no way to live a perfect life, but a million ways to live a good one,

 

Ich wusste nicht, ob ich diese Gelassenheit jemals erreichen konnte. Ob ich diese innere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit jemals spüren würde und allein der Gedanken daran, es zu versuchen, ließ mich schon fast wieder den Mut verlieren. Aber unsinnigerweise war das okay. Benedikt hatte es gesagt und die Ärztin ebenfalls. Etwas nicht zu können war okay. Hinzufallen war okay. Man durfte nur nicht vergessen, wieder aufzustehen. Und man konnte um Hilfe bitten, wenn man es nicht allein hinbekam.
 

 

Als ich draußen vor der Praxistür stand, schien mir die Mittagssonne mitten ins Gesicht. Sie ließ mich blinzeln und ich spürte förmlich, wie sich kleine Schweißtropfen auf meiner Stirn bildeten. Die Luft war nach den Regenschauern vom Wochenende wieder knallig heiß geworden und vermutlich quollen alle Schwimmbäder über vor Menschen.

 

Ich war diesen Sommer noch gar nicht baden, fiel mir auf, wenn man mal vom Zeltlager absah. Dabei liebte ich Schwimmen. Ich hatte sogar mal mit Mia zusammen einen kleinen Surfkurs gemacht und mich dabei gar nicht mal so dumm angestellt. Es wäre schön, noch einmal so einen Kurs zu machen. Vielleicht mit Benedikt.

 

Aber vorher musst du erst noch das mit der Therapie auf die Reihe kriegen.

 

Ich wusste, was das hieß. Ich würde es meinen Eltern sagen müssen und wenn ich schon einmal dabei war, würde ich ihnen auch von Benedikt erzählen. Es war besser, wenn sie wussten, woran sie waren. Und vielleicht hatte Benedikt ja recht und ich war tatsächlich erleichtert, es endlich hinter mir zu haben. Egal wie sie reagierten.

 

Am besten rede ich erst mal mit Christopher. Sozusagen als Generalprobe. Wenn er es versteht, kann er mir vielleicht bei dem Gespräch mit Mama und Papa beistehen. Und wenn nicht …

 

Darüber würde ich mir erst Gedanken machen, wenn es so weit war. Ich verbot mir einfach, an die zweite Möglichkeit zu denken, und versuchte, mich auf die erste zu fokussieren. Es klappte nicht besonders gut, sodass ich schließlich mein Handy herausholte und meinem Bruder eine Nachricht schrieb, in der ich ihm ankündigte, dass ich am Wochenende mit ihm reden musste. Danach löschte ich die Nachricht nur für mich, um nicht in Versuchung zu kommen, sie zurückzuziehen.

 

Schwer atmend, als hätte ich gerade einen schweren Stein einen Riesenberg hinaufgerollt, lehnte ich mich zurück und schaute ins tiefe Himmelblau. Es war wirklich ein wunderschöner Tag und genau richtig, um etwas zu unternehmen.

 

Vielleicht sollte ich …

 

Mein Handy unterbrach meine Überlegungen, ob ich den Nachmittag mit Leon, Phillip und eventuell sogar Benedikt irgendwo an einem Gewässer verbringen sollte, indem es laut und vernehmlich den Empfang einer Nachricht verkündete. Ich entsperrte den Bildschirm in der Annahme, dass sie von Christopher war, aber ich hatte mich geirrt. Die Nachricht war nicht von meinem Bruder. Sie war von Jo.

Grabenkämpfe

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, als ich auf Jos Nachricht hin nicht zu mir sondern zu ihm nach Hause gefahren war. Er wollte reden, hatte darin gestanden. Mir waren spontan tausend Sachen eingefallen, die in diesem Gespräch passieren konnten, aber jetzt, wo ich vor seiner Haustür stand, war mein Kopf wie leergefegt. Totale Nulllinie. Trotzdem war ich erstaunt, dass er die Tür nur einen Spalt weit öffnete. Statt sich wie sonst umzudrehen und einfach wieder in sein Zimmer zurückzugehen, blieb er dieses Mal stehen und blockierte so den Türspalt.

 

„Hi“, sagte ich, um wenigstens einen Anfang zu machen. Er nickte mir nur zu. Sein Gesicht war blass. Der Eindruck wurde noch durch das dunkle Sweatshirt unterstützt, das er trug. Bei Jo im Haus war es immer kühl. Lag wohl an den alten Mauern, die irgendwo unter Dämmung und Rigipsplatten verborgen lagen. Sein Vater hatte den Ausbau selbst gemacht, hatte er mir mal erzählt.
 

„Darf ich rein?“, wurde ich jetzt etwas deutlicher, denn hier vor der Tür zu stehen wie ein Vertreter für Isolierglasscheiben, fühlte sich nicht gut an.
 

„Wenn’s sein muss“, brummte Jo und öffnete die Tür ein minimales Stück. Zu wenig, als das ich hindurch gepasst hätte. Ich seufzte innerlich und hob die Hand, um mich selbst reinzulassen. Drinnen hörte ich Musik, die aus Jos Zimmer kam. Irgendwas Dunkles, Aggressives, bei dem jemand seine Gitarre hinreichend vergewaltigte, sodass sie einen gequälten Akkord nach dem anderen von sich gab. Mein Trommelfell zuckte im Takt der Anschläge.

 

Der Rest des Zimmers machte eher den Eindruck einer Tierhöhle denn eines menschlichen Zuhauses. Ich wusste zwar, dass Jo nicht der Ordentlichste war – ich glänzte ja selbst nicht gerade in dieser Disziplin – aber das hier übertraf alles bisher Gesehene. Getragene Klamotten, abgegessenene Teller, leere Getränkeflaschen, nicht wenige davon klein und braun und mit einem Promillezeichen versehen. Ein Paradies für Pfandsammler. Dazu waren die Rollos heruntergelassen und die einzige Lichtquelle bildete das pausierte Videospiel. Irgendein Militär-Shooter. Typisch Jo also.

 

Ich ließ den Fernseher links liegen und steuerte wie üblich das Bett an, den einzigen Ort, den Jo einigermaßen aufgeräumt hielt. Noch bevor ich dort ankam, überholte er mich und verstellte mir den Weg. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte und er verschränkte die Arme vor der Brust wie eine zu klein geratene Karikatur eines Türstehers. Ich deutete fragend auf das Bett.
 

„Darf ich mich nicht setzen?“

„Nicht da.“

„Und warum nicht?“

 

Die Antwort auf meine Frage blieb aus. Stattdessen zerrte Jo seinen seit ewigen Zeiten defekten Bürostuhl hervor, warf die darüber hängenden Klamotten einfach auf den Fußboden und schob ihn mir hin. Ich verkniff mir eine Bemerkung darüber, dass er sich wie ein Kleinkind aufführte, und nahm auf dem viel zu niedrig eingestellten Stuhl Platz. Seit die Druckfeder kaputtgegangen war, machte Jo neben allem anderen auch noch seine Hausaufgaben auf dem Bett. Leon witzelte oft genug, dass Jo vermutlich irgendwann auch mal in diesem Bett sterben würde.
 

„Vorher zeuge ich da drin aber noch jede Menge Kinder“, hatte Jo geantwortet und das Ganze mit einer entsprechenden Hüftbewegung unterstrichen. Vermutlich war das der Grund, warum ich jetzt nicht mehr darauf sitzen durfte.

 

Jo ließ sich auf sein Bett fallen und stieß dabei den Stapel Fußballmagazine um, der daneben auf dem Fußboden lag. Die bunt bedruckte Papierflut ergoss sich direkt vor meine Füße.
 

„Ach scheiße“, murrte Jo, machte jedoch keine Anstalten, die Unordnung zu beseitigen. Also ignorierte ich sie ebenfalls und sah ihn stattdessen auffordernd an.
 

„Und? Worüber wolltest du mit mir reden?“

 

„Ich?“ Jo schnaubte abfällig. „Ich wollte gar nicht mit dir reden. Aber Leon hat gesagt, ich soll endlich aufhören, so eine Pussy zu sein.“

 

Jos Empörung über diese Anschuldigung konnte ich mir lebhaft vorstellen. Unschlüssig war ich mir allerdings darüber, ob ich Leon wirklich für diese Nötigung dankbar sein sollte. Es war unübersehbar, dass Jo nicht mit mir reden wollte. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. So schwiegen wir uns eine geraume Weile lang an, aber es war kein gutes Schweigen, sondern eines, das gefüllt war mit erzwungenen Entschuldigungen und leeren Versprechen. Wahrscheinlich hätte Jo mich nicht aufgehalten, wenn ich einfach gegangen wäre. Aber ich wollte ihn noch nicht aufgeben.

 

„Jo, hör zu, es … es tut mir leid, wie das gelaufen ist. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.“

„Wie denn dann?Wolltest du mich zu Kaffee und Kuchen einladen?“

„Nein, aber vielleicht auf ein Bier?“

„Dann wäre mir wenigstens das Kotzen leichter gefallen.“

 

Ich lächelte leicht, aber Jos Gesichtsausdruck machte deutlich, dass das kein Scherz gewesen war. Abscheu, Ekel und Wut bildeten eine undurchdringliche Mauer, an der alles, was ich sagte, einfach abzuprallen schien. Als wäre ich etwas, das die Katze hereingeschleppt und das danach drei Tage unentdeckt unter dem warmen Heizkörper gelegen hatte. Ich versuchte einen neuen Ansatz.

 

„Man, Jo. Ich bin doch immer noch der gleiche Kerl wie vorher. Nur … nur dass ich halt …“

„Dass du Benedikt fickst.“

 

Ich wusste nicht, was schlimmer war. Seine Wortwahl oder der Ton, in dem er das sagte. Doch noch bevor ich etwas darauf erwidern konnte, redete er bereits weiter.
 

„Man, ich kapier’s echt nicht. Ich meine, du hattest doch Mia. Wenn du sie gefragt hättest, hätte sie dich bestimmt an ihr Hintertürchen rangelassen. Dazu musst du doch nicht mit der Schwuchtel ins Bett steigen.“

 

Unter dem Wort zuckte ich zusammen.

 

„Nenn ihn nicht so.“

„Wie? Schwuchtel?“

 

Wie von selbst ballte sich meine Hand zur Faust.

 

„Pass auf, was du sagst. Sonst vergesse ich noch, dass du mein bester Freund bist.“

„Ach, bin ich das?“

 

Ich weiß nicht genau, was es war, das mich aufhorchen ließ. Vielleicht die Tatsache, dass er bei der Frage den Blick senkte oder dass seine Stimme zu einem Flüstern herabsackte oder die winzige Spur Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwang. Aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an Jos Vater denken. Er war ein großer, bulliger Mann mit groben Händen, die ordentlich zupacken und ordentlich hinlangen konnten. Jo war körperlich gesehen genau das Gegenteil und die Witze, ob er wohl Ähnlichkeit mit dem Postboten hätte, hatten Jo die eine oder andere Rauferei eingebracht. Nicht immer war er siegreich daraus hervorgegangen, aber er hatte trotzdem nie aufgehört, es zu versuchen. Egal wie oft er im Staub gelandet war, er war immer wieder aufgestanden, hatte die Zähne zusammengebissen und weitergemacht. Das hier war nicht der Jo, den ich kannte.

 

„Natürlich bist du das.“

„Und warum hast du dann nie was gesagt?“

 

Er sah mich jetzt an und sein Blick verletzte mich mehr, als es jeder Schlag und jede Beleidigung gekonnt hätte. Ich sah die Trauer und Enttäuschung hinter all der Wut, die er wie ein Schild aufrechtzuerhalten versuchte.

 

„Ich hab dich verteidigt, weißt du? Als Oliver damals behauptet hat, dass du auch so einer wärst, hab ich ihm gesagt, dass das Schwachsinn ist. Ich hab immer zu dir gehalten, hab mich hinter dich gestellt, und jetzt stellt sich auf einmal raus, dass das alles eine Lüge war. Dass du es die ganze Zeit gewusst und mir nichts gesagt hast.“

„Ich wusste es nicht.“

 

Es war eine schlechte Ausrede aber zugleich die einzige, die ich hatte.

 

„Ich hab es nicht gewusst“, wiederholte ich und sah Jo bittend an. „Vielleicht hab ich es auch nicht wissen wollen. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es mir besser geht, seit ich es herausgefunden habe.“

 

Wieder schnaubte Jo abfällig.
 

„Und wie hast du das rausgefunden? Hast du dich beim Pornos raussuchen verklickt, oder was?“

 

Ich musste bei dem Gedanken, dass ich genau so was anfangs vermutlich behauptet hätte, ein wenig schmunzeln.
 

„Nein, ich … ich hab Benedikt im Ferienlager getroffen.“

„Und dann hat er dich angemacht? Ich schwör dir, ich brech ihm alle Knochen, wenn das stimmt.“

„Nein, so war es nicht.“

„Wie dann?“

 

Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Wenn ich Jo erzählte, dass ich vorher immer schon mal an Männer gedacht hatte, würde er denken, dass ich ihn doch angelogen hatte. Und wenn ich ihm erzählte, dass ich mich spontan in Benedikt verliebt hatte, würde Jo denken, dass es Benedikts Schuld war. Wie ich es auch drehte und wendete, es gab einfach nichts, mit dem ich Jo hätte überzeugen können.

 

„Ich kann es dir nicht erklären“, gestand ich, nachdem ich eine ungute Zeit lang geschwiegen hatte. „Ich kann dich lediglich bitten, mir zu glauben, dass ich es bis vor ein paar Wochen wirklich nicht wusste. Und die Erkenntnis war alles andere als angenehm. Ich bin in dem Moment vollkommen zusammengebrochen und Benedikt war einfach für mich da und … na ja.“

 

In dem Moment, als Jos Kopf nach oben ruckte, wusste ich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte.
 

„Ach, er war für dich da? So rein zufällig, oder was? Hat dich in den Arm genommen, dir erzählt, dass alles in Ordnung kommt und dass er dir hilft und all so einen Scheiß. War es so?“

 

Jos Ton war wieder aggressiv geworden. Der plötzliche Umschwung überraschte mich. Trotzdem zwang ich mich zu antworten.
 

„Ja, so ähnlich. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich mich …“

 

Ich stoppte mich gerade noch rechtzeitig, bevor ich es aussprach. Es war allerdings schon zu spät. Jo wusste, was ich hatte sagen wollen.
 

„Du willst mir echt erzählen, dass du dich in den Typen verknallt hast? In diesen verlogenen Sack, der immer so nett tut, aber sich selbst für so geil hält. Und weswegen? Weil er schwul ist? Ne Eins in Mathe hat? Ne Monatskarte für den Bus? Was? Was macht ihn denn so special?“

 

Jo hatte sich jetzt richtig in Rage geredet. Er war aufgesprungen und tigerte wie ein eingesperrtes Raubtier im Zimmer umher.
 

„Ich sag dir, das ist alles nur ne Masche. Und du fällst auch noch darauf rein und machst mit Mia Schluss. Mit Mia! Ich hab damals auf sie verzichtet, weil du mir Stein und Bein geschworen hast, dass du dich unsterblich in sie verliebt hast. Und jetzt lässt du sie fallen. Wegen dem Arsch!“

 

Obwohl ich Jo noch mühelos mit den Augen folgen konnte, kapitulierte mein Gehirn vor seiner verdrehten Logik.
 

„Du hast auf Mia verzichtet? Sie wollte doch gar nichts von dir.“

„Ja, weil du da warst. Aber wenn sie gewusst hätte, dass du schwul bist, dann hätte sie …“

„Was? Etwa dich ausgewählt?“

 

Bei allen Alarmglocken, die in meinem Kopf gerade klingelten, konnte ich diese Bemerkung nicht auf mir sitzen lassen.
 

„Man, Jo, sie wollte nichts von dir wissen. Egal ob ich nun da war oder nicht. Du bist einfach nicht ihr Typ.“

„Aber ich hätte es sein können!“
 

Seine Stimme war jetzt wieder weinerlich geworden und ich kam so langsam nicht mehr mit. Wenn es das nicht alles noch schlimmer gemacht hätte, hätte ich mir gerne gewünscht, dass Benedikt jetzt hier gewesen wäre. Er hätte bestimmt gewusst, was man in so einem Fall tun musste.
 

„Jo, bitte“, versuchte ich noch einmal an die Vernunft meines besten Freundes zu appellieren. „Mia hat wirklich nichts mit der Sache zu tun. Sie ist toll, ganz ohne Frage, aber …“
 

Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte, ohne abfällig zu klingen. Das hatte Mia nicht verdient. Sie war ein toller Mensch, aber sie hatte einen weiblichen Körper und der gab mir, bei aller Liebe, nun einmal überhaupt nichts mehr. Ich fand sie wunderschön, aber eben nicht anziehend. Nicht das kleinste bisschen.

 

„Jo, ich bin schwul. Ich steh auf Kerle. Dafür kann keiner was. Weder ich noch du noch Benedikt oder Mia oder sonst irgendwer. Es tut mir wirklich leid, dass du so ein Problem damit hast, aber ich werde mich nicht weiter dafür bei dir entschuldigen. Und schon gar nicht kann oder will ich es ändern. Du kannst dir aussuchen, ob du damit klarkommst und weiter mein Freund sein willst, oder du kannst es bleiben lassen. Denn jemanden, der das nicht akzeptieren kann, brauche ich nicht als Freund.“

 

Jo schwieg nach dieser Ansage eine Weile lang. Er hockte auf seinem Bett, starrte ins Leere und sagte kein Sterbenswörtchen. Erst, als ich Anstalten machte, mich zu erheben, kam wieder Leben in ihn.

 

„Willst du es öffentlich machen?“

 

Ich behielt die Türklinke in der Hand und drehte mich nur halb zu ihm um.

 

„Wie meinst du das?“

„Na, an der Schule. Willst du es allen sagen?“

 

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Als ich Jo genau das antwortete, blickte er unsicher zu mir hoch.
 

„Es könnte doch unter uns bleiben. Muss doch keiner wissen, oder?“

 

Ich hätte gerne behauptet, dass ich dachte, dass Jo sich um mich sorgte, aber genau das Gegenteil war der Fall.
 

„Warum sollte ich es geheim halten?“, fragte ich daher zurück. Ich wollte wissen, ob er mir ehrlich antwortete.
 

„Na ja“, druckste er herum und fing an, an einer seiner Socken herumzuzpfen. Am großen Zeh stand ein Faden ab, an dem er zog und zog, bis er endlich riss. Ohne darüber nachzudenken, ließ er das abgerissene Stück fallen.

 

„Ich hab nur gedacht, wenn es keiner erfährt, dann …“

„Dann was?“

„Dann kommt auch keiner auf die Idee, dass wir beide …“

 

Er sprach nicht weiter, denn mein Lachen unterbrach ihn.
 

„Was denn? Darum geht es? Dass du nicht mit einem Schwulen gesehen werden willst?“

 

Jos Kopf sank noch ein wenig tiefer.
 

„Ist doch nur, weil … na ja. Die Jungs reden halt. Im Verein und so. Und meine Eltern fänden das bestimmt auch nicht so toll.“

„Und du gibst was darauf, was die sagen?“

 

Wieder wandte ich mich zum Gehen, aber Jo war schneller. Mit zwei Schritten war er an der Tür und drückte sie wieder ins Schloss. Als ihm bewusst wurde, wie nahe er mir dabei gekommen war, wich er vor mir zurück.

 

„Versteh doch, T. Ich … ich hab einen Ruf zu verlieren.“

„Einen Ruf?“

 

Ich glaubte, mich verhört zu haben, aber Jo redete einfach weiter.
 

„Ja! Ich meine, wenn bekannt wird, dass du schwul bist und ich weiter mit dir abhänge, dann denken die doch bestimmt, dass ich auch … Oder wenn wir abends in so ne Bar gehen und mich dann einer von denen angräbt. Ich … ich weiß echt nicht, wie ich dann reagiere. Ich will keine schwulen Griffel an meinem Hintern oder ne Zunge von irgendnem Kerl im Hals.“

 

Ich wusste wirklich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Glaubte mein bester Freund diesen ganzen Schwachsinn etwa wirklich, den er da von sich gab? Und wollte ich mich wirklich damit abgeben? Zusätzlich zu dem ganzen anderen Mist, den ich bereits an der Backe hatte.

 

Doch dann musste ich wieder an den Tag denken, an dem ich das erste Mal in die Klasse gekommen war. Der, an dem Jo einfach so auf mich zugekommen war. Dass er bereits in so vielen Situationen an meiner Seite gewesen war und wir sogar diese Scheiße mit Oliver hinter uns gelassen hatten, auch wenn sich das Ganze im Endeffekt anders entwickelt hatte, als wir alle gedacht hatten. Und ich dachte an die Woche zurück, in der ich mir jedes Mal hatte verkneifen müssen, auf einen von Jos selten gewordenen Posts zu reagieren. Es mochte dumm und nicht gut für mich sein, aber … Jo war mein Freund und ich würde ihn nicht einfach so aufgeben. Ich würde nicht vor ihm davonlaufen.
 

„Jo, ich … ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dich ein Schwuler angraben würde. Ich wüsste auch gar nicht bei welcher Gelegenheit. Ich hab schließlich nicht vor, dich in irgendwelche Gaybars zu schleppen. Schon gar nicht, wenn du dich da unwohl fühlst. Und bei allen anderen Gelegenheiten bin ich mir ziemlich sicher, dass die Leute mitkriegen, wie du tickst. Immerhin jagst du allem hinterher, was einigermaßen weibliche Kurven hat. Die verwechseln dich schon nicht.“

 

Diese Aussage von mir schien ihn ein wenig zu beruhigen. Einer seiner Mundwinkel hob sich ein Stück, bevor er ihn wieder fallen ließ.
 

„Du würdest also nicht erwarten, dass ich dir den Wingman mache?“

„Nein! Und außerdem hab ich bereits einen Freund, schon vergessen?“

 

Jetzt verzog Jo wieder das Gesicht. Das mit Benedikt schien ihm wirklich zu schaffen zu machen.
 

„Ich frag mich echt, was du gegen ihn hast“, meinte ich kopfschüttelnd.

 

Jo lachte bitter auf.
 

„Leider nichts, was hilft.“

 

Er trottete zurück zu seinem Bett und ließ sich darauf fallen. Ich überlegte zuerst, ob ich mich wieder auf den Stuhl setzen sollte, doch dann ließ ich mich lieber auf dem Boden nieder. Von dort aus sah ich zu Jo hoch.
 

„Mir ist klar, dass ihr beide nicht gerade die besten Freunde seid, aber ich möchte mich wirklich nicht zwischen euch entscheiden müssen.“

 

Jo gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Lachen lag.
 

„Ist ja auch klar, wofür du dich entscheiden würdest.“

„Ach, ist es das?“

„Logisch. Bei nem Mädchen hätte ich immer gesagt 'Bros before hoes', aber so …?“

 

In diesem Moment realisierte ich, dass Jo eifersüchtig auf Benedikt war. Hätte ich ihm das auf den Kopf zugesagt, hätte er es vermutlich schon aus Prinzip abgestritten. Für mich brauchte es da jedoch nicht mehr viele Worte.

 

„Hör mal, Jo. Ich weiß, dass das Ganze wirklich megabeschissen gelaufen ist. Aber ich brauche dich. Als meinen Freund. Meinen besten Freund.“

 

Ich hörte, wie Jo einmal tief ein- und dann wieder ausatmete.

 

„Mir tut’s auch leid“, sagte er plötzlich. „Dass … dass ich so dämlich reagiert habe. Ich war so wütend, weil du mich hast dastehen lassen wie einen Deppen. Dass du es Benedikt und sogar Mia erzählt hast und damit nicht zuerst zu mir gekommen bist.“

 

Auch ich atmete einmal tief durch.
 

„Ich hatte Angst, es dir zu sagen. Und wenn ich es mir hätte aussuchen können, hätte ich es wahrscheinlich niemandem erzählt. Aber Mia war ich es einfach schuldig und Benedikt … na ja. Er war halt tatsächlich gerade da und er ist eben auch schwul. Er weiß, wie das ist.“

„Ach, und ich nicht?“

 

Jo funkelte mich trotzig an und ich lächelte nur.
 

„Nein, tut mir leid. Wie es ist, schwul zu sein, weißt du nicht.“

 

Er überlegte kurz, bevor er knurrte: „Ist auch besser so.“

 

Ich nickte und lächelte dazu, obwohl mir der Satz schon leichtes Unwohlsein verursachte. Wir würden vermutlich eine Zeit lang brauchen, um wieder eine neue Basis zu erschaffen. Eine, mit der wir alle leben konnten.

 

„Ich, also …“, begann ich und überlegte, wie ich es am besten formulieren sollte. „Ich mein nur, wenn du irgendwelche Fragen hast, dann frag ruhig. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich die alle beantworten kann, aber …“

 

Jos Gesichtsmuskeln zuckten. Es war klar, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. Erst, als ich noch einmal nachfragte, rückte er mit der Sprache raus.

 

„Ich … ich hab mich gefragt, ob du … Also hast du eigentlich schon mal …, na du weißt schon. Beim Wichsen an jemanden gedacht, den du kennst?“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass ich dabei durchaus schon an Benedikt gedacht hatte, aber ich wusste, was er mit der Frage eigentlich meinte. Also beschloss ich, ihm nur die Info zu geben, die er brauchte.
 

„Ich hab dabei noch nie an dich, Leon oder Phillip gedacht, wenn du das meinst.“

„Und auch an sonst keinen?“

„Soll ich dich anlügen?“

 

Jo verzog das Gesicht.

 

„Nee, danke. Reicht schon.“

 

Ich lachte. Einfach weil es gut war, wieder mit Jo zu reden statt zu streiten.
 

„Und du … also ihr … habt ihr schon … Boah, ich will mir das gar nicht vorstellen.

„Dann tu’s nicht!“

„Hä?“

 

Ich seufzte schwer.

 

„Wenn du den Gedanken an zwei Männer im Bett unangenehm findest, dann stell es dir doch nicht vor. Ich stelle mir dich ja auch nicht beim Sex mit Vanessa, Chantal oder Gabi vor.“

„Ich hatte noch nie ne Freundin, die Gabi hieß.“

„Was nicht ist, kann ja noch werden.“

 

Jo lachte jetzt auch, wurde dann aber wieder ernst.
 

„Na, aber, Schwule haben doch ständig Sex, oder nicht?“

„Also ich nicht. Wie auch? Ich muss schließlich essen, schlafen und zur Schule gehen. Da bleibt vom Tag leider nicht mehr viel Zeit übrig. Aber auf fünf oder sechs Stunden komme ich bestimmt.“

„Jetzt verarschst du mich.“

„Weil du dumme Fragen stellst.“

 

Er zeigte mir den Mittelfinger und ich grinste nur.
 

„Na, aber, ist doch wahr, oder nicht?“

„Was?“

„Dass ihr ständig Sex habt. Ich meine, ihr seid zwei Kerle, oder nicht? Oder wart ihr auch schon mal zu dritt? Zu viert? Fünft?“

 

Ich verzog das Gesicht.
 

„Jo, ich wäre dir echt dankbar, wenn wir das Thema Sex mal fallen lassen könnten.“

„Du hast doch gesagt, ich kann alles fragen.“

„Ja, aber nicht solche Details. Ich will schließlich auch nicht wissen, in welcher Stellung du es am liebsten machst.“

„Das weißt du doch schon.“

 

Ich schloss die Augen und stöhnte.
 

„Ja, aber ich will es gar nicht wissen, verstehst du? Für mich ist das einfach was Privates. Das war mit Mia so und ist jetzt nicht anders. Klar?“

 

Jo schwieg ne Weile, dann nickte er.
 

„Okay. Aber … eine Frage hätte ich noch.“

„Ja?“

„Fehlt dir denn da gar nichts? Ich meine, Mia hat ja nun wirklich gei... sehr schöne Brüste. Vermisst du die nicht?“

 

Ich dachte einen Augenblick über die Frage nach.

 

„Nein, eigentlich nicht. Also ja, ich find sie schön und ich glaube, ich fände es schon nett, wenn ich dem nochmal mehr abgewinnen könnte, aber eigentlich … nein. Ich vermisse nichts.“
 

Wieder brauchte Jo einen Augenblick, bis er die Information verarbeitet hatte. Ich ließ sie ihm und wartete geduldig, bis er sich wieder an mich wandte.
 

„Was haben eigentlich deine Eltern dazu gesagt?

„Sie wissen es noch nicht.“

„Was? Warum das denn nicht?“

„Hab Schiss gehabt, es ihnen zu erzählen.“

 

Ich konnte nicht genau sagen, woran ich es festmachte, dass diese Info etwas in Jo zum Klingen brachte, Der Wandel war jedoch, so klein er auch sein mochte, nicht zu übersehen.
 

„Das ist scheiße“, sagte er voller Inbrunst und ich konnte ihm da nur zustimmen.
 

„Willst du es ihnen sagen?“

„Ja, schon. Ich will ja kein geheimes Doppelleben aufziehen oder so.“

„Und wann?“

„Vielleicht am Wochenende. Christopher hat Geburtstag und kommt her. Ich will es erst ihm und dann meinen Eltern sagen.“

„Und was glaubst du, wie sie reagieren werden?“

„Ich hab keinen Schimmer.“

 

Jo sagte nichts dazu, aber nach einer Weile sah er mich an und meinte:
 

„Also wenn sie dich rausschmeißen, kannst du solange bei mir pennen.“

 

Ich unterdrückte ein Grinsen.
 

„Hast du denn gar keine Angst, dass ich dir an die Wäsche gehe?“

 

Auf sein entsetztes Gesicht hin, musste ich lachen.

 

„Man, Jo, ich verarsch dich doch nur. Das wäre ja, als würde ich mit meinem Bruder ins Bett gehen.“

 

Jos Mund verzog sich daraufhin zu einem schmalen Lächeln, das ich erwiderte. Danach holte ich noch einmal tief Luft.
 

„Ich werd übrigens ne Therapie machen.“

 

Jo blinzelte, als hätte ihm gerade jemand erzählt, dass die Erde doch eine Scheibe und der Mond aus Käse sei.
 

„Ne was?“

„Therapie. Ich … also ich hab festgestellt, dass bei mir einiges nicht so ganz rund läuft. Ich denke, es wäre gut, da mal mit jemandem zu sprechen, der nicht darin involviert ist. Ein bisschen Klarheit reinbringen, was ich will und so. Ich denke, das täte mir ganz gut.“

 

Man merkte Jo an, dass er am liebsten dagegen protestiert hätte, aber dann hielt er doch die Klappe und nickte nur.
 

„Das hab ich bis jetzt übrigens noch niemandem erzählt“, fügte ich hinzu und sah, wie ein kurzes Leuchten über sein Gesicht huschte, das er jedoch schnell wieder vor mir verbarg.
 

„Ich verrat’s niemandem“, versprach er und ich war froh darüber, dass ich es ihm erzählt hatte. Vielleicht würde dann alles andere auch irgendwie werden.

 

Fliegen lernen

Auf dem Heimweg musste ich kurz vor dem Ziel anhalten, weil ein Mähdrescher die Straße blockierte. Während ich wartete, dass das schwere Gefährt nebst Traktor und Anhänger das nächste Feld ansteuerte, zog ich mein Handy heraus. In der Zeit, in der ich bei Jo gewesen war, hatte mein Bruder mir geschrieben.

 

'Was ist los? Hast du Mia geschwängert?'

 

Ich unterdrückte ein Augenrollen und tippte ein simples „Nein!“ als Antwort ein. Als ich gerade überlegte, ob ich noch etwas hinzufügen sollte, vibrierte das Gerät schon wieder. Es war allerdings keine Nachricht von Christopher, denn dessen Chatverlauf hatte sich nicht geändert. Ich rief also die Liste auf und sah, dass ich eine Nachricht von Benedikt bekommen hatte.

 

'Hey, ich wollte mal wissen', zeigte mir die Vorschau an. Schnell öffnete ich sie, um auch den Rest lesen zu können.

 

'...wo du abgeblieben bist. Hab nach der sechsten nach dir Ausschau gehalten.'

 

Ich atmete einmal tief durch und schrieb zurück.

 

'War nochmal beim Arzt. Erzähl ich dir morgen.'

 

Es dauerte keine zwei Sekunden, bevor er online war und die Nachricht las. Ich sah, wie er tippte.

 

'Alles okay?', erschien auf dem Bildschirm.

 

'Ja, alles okay', schrieb ich zurück. 'Ich hab ihr nur nochmal von dem erzählt, worüber wir Freitag geredet haben.'

 

Erneut sah ich ihn tippen, dann stoppte er. Noch während ich wartete, dass er die Nachricht endlich abschickte, begann das Gerät in meiner Hand plötzlich zu summen. Völlig verdattert starrte ich den wackelnden grünen Hörer auf dem Display erst einige Augenblicke lang an, bis ich endlich die Geistesgegenwart besaß, darauf zu drücken. Immer noch auf Autopilot hob ich das Handy an mein Ohr.

 

„Ja?“

 

„Ich bin’s“, antwortete Benedikt, obwohl ich das natürlich schon wusste. „Ich hatte keine Lust mehr zu tippen.“
 

„Ah“, machte ich und schob mein Rad ein wenig zur Seite, um ein Auto durchzulassen, dass ebenfalls auf die Freigabe der Straße gewartet hatte. Es fuhr los und ließ mich in einer stinkenden Abgaswolke zurück. Ich hustete.

 

„Was ist denn da bei dir los?“, wollte Benedikt wissen. „Hört sich an, als wärst du in den Krieg der Maschinen geraten.“

 

„Mähdrescher“, gab ich zurück. „Warte. Ich muss mal von der Straße runter, damit mich keiner umnietet.“

 

Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter, sodass ich mit beiden Händen nach dem Lenker greifen und das Rad beiseite schieben konnte. Ein Feldeingang, der mit einem einfachen Band abgesperrt war, diente mir als Rettungsinsel. Dort angekommen, lehnte ich mein Mountainbike an einen Baum und nahm das Telefon wieder zur Hand.
 

„So, jetzt geht’s besser.“

„Wo bist du denn?“

„Auf dem Heimweg.“

„So lang hat das gedauert?“

 

Ich überlegte kurz, bis mir einfiel, dass er sicherlich den Arzttermin meinte.
 

„Nein, ich … ich war noch bei Jo.“

 

Am anderen Ende herrschte verblüfftes Schweigen.

 

„Bei Jo?“, hakte Benedikt schließlich nach.

 

„Ja, wir … wir haben geredet. Über uns und so.“

„Und was sagt er?“

 

Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und richtete meinen Blick auf die Brache auf der anderen Seite der Absperrung.
 

„Na ja, begeistert ist er immer noch nicht. Aber ich denke, er wird sich dran gewöhnen.“

„Das hoffe ich doch.“

 

Wieder schwiegen wir einen Moment lang. Ich dachte an Jo und die Ärztin und alles, was sonst noch so in den letzten Tagen passiert war. Benedikt hatte recht. Ich legte wirklich ein ziemliches Tempo vor. Fast so, als würde ich in einer Achterbahn immer nur nach oben fahren.

 

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Benedikt. Anscheinend war die Stille doch ein wenig lang geworden.
 

„Ja. Ja, alles in Ordnung“, versicherte ich schnell. „Ich bin nur ein bisschen müde. Der Tag war ganz schön anstrengend.“

 

„Kann ich mir vorstellen.“

 

Ich sah mich um, ob auf der Straße noch jemand kam, bevor ich mich neben dem Baum zu Boden sinken ließ. Den Stamm im Rücken lehnte ich mich dagegen und schloss die Augen.
 

„Ich wäre jetzt gerne bei dir“, sagte ich leise und war mir sicher, dass er mich trotzdem gehört hatte.

 

„Ja, ich auch.“

„Du wärst auch gern bei dir?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ja.“

 

Ich spürte das Lächeln, das meine Lippen verzog, den Sonnenschein auf meinem Gesicht und den rauen, festen Stamm in meinem Rücken. Tief verwurzelt war er hier Jahr um Jahr gewachsen und nicht einmal der stärkste Sturm hatte ihn umblasen können. Er erinnerte mich an Benedikt.

 

Du bist der Wind unter meinen Flügeln

Du bist die Straße, in der ich wohn

 

„Was summst du da?“, fragte es plötzlich an meinem Ohr.

 

„Was?“

 

Anscheinend war ich schon wieder gedanklich auf Abwege geraten.

 

„Das Lied. Das du gesummt hast. Was war das?“

„Ach das … Das war nur … Das war der Song, den ich dir mal vorsingen wollte.“

 

Benedikt zögerte kurz, bevor er sagte: „Würdest du ihn jetzt für mich singen?“

 

„Jetzt?“

„Ja.“

 

Ich überlegte. Wollte ich das? Hier so mitten im Freien, wo mich jeder sehen konnte. Dann jedoch lachte ich über mich selbst. Außer ein paar Amseln und wilden Kaninchen würde hier vermutlich niemand etwas davon mitbekommen. Warum also nicht?
 

„Na gut“, sagte ich und begann noch einmal ganz von vorne. Zuerst noch leise und ein wenig verhalten, doch mit jedem Wort schwoll meine Stimme an. Sie blies sich auf unter all den Gefühlen, verwebte sie mit den Strophen und dem Refrain. Mit all den Dingen, die ich Benedikt so gerne sagen wollte und doch nicht konnte, weil die Zeit dafür noch nicht reif war. Und mit jeder Silbe, jedem Ton wurde das Gebilde um mich herum größer und voller, bis es schließlich die Ausmaße eines Fesselballons hatte.
 

Als ich geendet hatte, ließ ich den Ballon ziehen. Er stieg höher und höher in den Augusthimmel und ich stellte mir vor, wie der Wind ihn forttrug in die Richtung, in der Benedikts Haus lag. Wie er ans Fenster treten und nach oben sehen würde und dort konnte er es sehen. Das riesige, unglaublich Große, das nur für ihn bestimmt war.

 

Ich kniff ein paar Mal die Augen zusammen, um mich wieder auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Ich saß schließlich hier nur an irgendeinem Feldrand und sang in mein Handy. Kein Grund für Herzrasen.
 

„Und?“, meinte ich und meine Stimme klang seltsam brüchig. „Wie fandest du es?“

 

„Wie … wie ich es fand? Theo!“

 

Benedikts Stimme war laut an meinem Ohr. Er lachte. Ich konnte es hören.
 

„Das war einfach unglaublich. Ich sitze hier gerade mit der Gänsehaut des Jahrhunderts und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Toll trifft es nicht mal ansatzweise. Das war einfach nur krass. Mega-krass!“

 

Ich biss mir auf die Lippen, aber auch das konnte das breite Grinsen nicht stoppen, dass sich meiner Gesichtsmuskeln bemächtigte. Benedikt war derweil immer noch dabei, mich zuzutexten.
 

„Das musst du aufnehmen. Mit Klavier, Gitarre oder meinetwegen auch Cembalo. Egal! Hauptsache du bringst das irgendwie raus. Das ist absolut genial.“

 

Ich versuchte krampfhaft, endlich mit dem Grinsen aufzuhören.
 

„Und du meinst nicht, dass du ein winzig kleines bisschen parteiisch bist?“

„Warum?

„Weil du mein Freund bist?“

„Ach na ja …“

„Und weil der Song für dich war.“

 

Daraufhin sagte Benedikt gar nichts mehr. Ich hörte nur ein dumpfes Geräusch und dann etwas, das sich wie ein sehr, sehr gedämpfter Schrei anhörte.
 

„Äh, Benedikt?“, fragte ich vorsichtig. „Alles klar bei dir?“

 

„Ja, ja. Ich sterbe hier nur gerade ein bisschen. Lass dich davon nicht irritieren.“

 

Wieder musste ich grinsen, während weiter eigenartige Laute an mein Ohr drangen. Anscheinend lachte, brüllte oder was auch immer Benedikt gerade in sein Kissen. Als er damit fertig war, setzte er sich rot im Gesicht und vollkommen verstrubbelt auf. Zumindest stellte ich mir vor, dass er so aussah.

 

„Wieder beruhigt?“, fragte ich ein wenig belustigt.
 

„Ja, schon. So in etwa. Aber bevor du so was das nächste Mal von dir gibst, stell bitte sicher, dass ich sitze.“

„Tust du das denn nicht?“

„Nein, ich … ich laufe irgendwie immer rum beim Telefonieren. Ist so eine Angewohnheit. Also zumindest, wenn ich nervös bin.“

„Und warum bist du nervös.“

 

Jetzt hörte ich ihn schnauben und erneut ein Geräusch, als er sich wohl dieses Mal wirklich aufs Bett setzte.
 

„Ach, ich weiß auch nicht. Manchmal traue ich dem Frieden vielleicht noch nicht so ganz. Ich hab wahrscheinlich Angst, dass die Uhr Mitternacht schlägt und aus meiner Kutsche wieder ein Kürbis wird.“

 

Ich lächelte ein bisschen. Dieser Märchenvergleich hätte albern sein können, aber eigentlich fand ich ihn … charmant.

 

„Und was passiert dann mit mir? Werde ich wieder zur alten Schindmähre?“

„Keine Ahnung. Aber ein klappriger Gaul bist du bestimmt nicht.“

„Was dann?“

„Mein Prinz?“

 

Ich lachte.
 

„Also ich weiß nicht, ob ich dafür königlich genug bin.“

„Ein Prinz ist ja noch in Ausbildung. Das passt schon.“

 

Mein Lachen schrumpfte zu einem Lächeln zusammen.
 

„Dann meinst du, ich kann das noch lernen?“

„Was?“

„Na, alles irgendwie. Das mit dir und mit dem Schwulsein und so?“

 

Schon in dem Moment, in dem ich es aussprach, kam ich mir dumm vor. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich es sonst ausdrücken sollte. Da gab es noch so viele Sachen, körperliche Sachen, bei denen ich mir unsicher war, ob ich sie hinbekommen würde. Bei Benedikt wirkte das alles ganz natürlich, aber ich hatte immer noch so komische Hemmungen. Dabei war das so albern. Ich merkte doch, wie sehr es ihm gefiel, und ich mochte es auch. Das war doch eigentlich das Einzige, auf das es ankam. Aber dann waren da noch die anderen. Jo, Mia und die ganze restliche Welt. Würde ich es hinkriegen, auch ihnen gegenüber der zu sein, der ich sein wollte? Würde ich zu mir stehen können und vor allem zu Benedikt?

 

Mein Freund schien meine Bedenken nicht zu teilen.

 

„Ich glaube, da musst du nicht viel lernen“, sagte er und ich konnte sein Gesicht dabei vor mir sehen. Wie er mich mit diesem warmen Blick ansah und mich darin einhüllte, wie in eine weiche, flauschige Decke. „Du bist du. Auf deine Weise. Und das ist okay so.“
 

Erneut schloss ich die Augen und wünschte mir, ich wäre jetzt bei ihm. Dann hätte er mich in den Arm nehmen können. Ganz fest, damit ich nicht auseinanderbrach.

 

„Soll ich zu dir kommen?“, fragte er auf einmal, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich schluckte, um das Gefühl zurückzudrängen.
 

„Nein. Ich schaff das schon.“

„Du musst da aber nicht alleine durch.“
 

„Ich weiß“, flüsterte ich. „Aber ich … ich krieg das hin. Bestimmt.“
 

„Okay“, hörte ich Benedikt sagen und war mir sicher, dass er, wenn ich es gewollt hätte, sofort hergekommen wäre. Ohne Wenn und Aber. Es war gut, das zu wissen.

 

„Ich werd ne Therapie machen“, sagte ich ohne Überleitung. Es hätte eh keine passende gegeben.

 

„Find ich gut. Ich glaube, so ne Therapie könnten mehr Leute brauchen. Ich bestimmt auch.“

„Du?“

„Klar. Meinst du vielleicht, ich komm einfach so mit allem zurecht? Wahrscheinlich hab ich auch irgendwelche Schäden, weil ich ohne Vater aufgewachsen bin, oder was weiß ich. Gründe, einen an der Marmel zu haben, gibt es doch genug.“

„Du findest also, dass ich verrückt bin?“

„Nicht mehr als alle anderen. Aber im Gegensatz zu den anderen Spinnern tust du was dagegen. Das ist toll.“

 

Ich hatte nicht das Gefühl, den Applaus verdient zu haben. Ich tat doch nichts Besonderes. Nichts, was eine Auszeichnung wert gewesen wäre.

 

„Theo, ich weiß, dass du das vielleicht nicht so siehst, aber … du bist toll. Ja wirklich. Du hast eine Wahnsinnsstimme, du siehst hammermäßig gut aus, du bist witzig und schlau und ich bin wirklich, wirklich froh, dass du … dass wir jetzt zusammen sind. Ich bin glücklich mit dir. Ich glaube, es gibt keinen glücklicheren Menschen als mich.“

 

Ich lächelte.

 

„Doch, den gibt es.“

„Und wen?“

„Na mich.“

 

Ich hörte zuerst nur Stille am anderen Ende und dann ein saftiges „Scheiße!“, auf das ich mir zuerst keinen Reim machen konnte. Erst, als Benedikt wieder zu sprechen begann, hörte ich, wie seine Stimme zitterte.
 

„Ich … ich weiß grad nicht, was ich sagen soll.“

„Dann sag nichts.“

„Ist das am Telefon nicht doof?“

„Ein bisschen. Aber ist das nicht egal?“
 

Ich hörte ihn grinsen.

 

„Ja, ist es. Vollkommen egal.“

 

Also saßen wir beide einfach nur so da, das Handy in der Hand, und hörten uns gegenseitig beim Atmen zu. Nach ungefähr zehn Minuten, brach Benedikt das Schweigen.
 

„Ich glaube, wir sollten doch langsam mal auflegen, sonst wird’s albern.“

„Okay.“

„Telefonieren wir heute Abend nochmal?“

„Ja.“

„Kann ich mit dem Handy am Ohr einschlafen?“

„Wenn du willst.“

„Singst du mir dann auch nochmal was vor.“

„Gerne.“

„Dann leg ich jetzt auf.“

„Gut.“

„Ich mach das wirklich.“

„Ja.“

„Theo?“

„Ja?“

„Könntest du auflegen? Ich schaff das nämlich nicht.“

 

Ich lachte und schüttelte den Kopf.
 

„Na gut, ich leg auf. Und ich ruf dich heute Abend wieder an, wenn ich Zeit habe.“

„Okay. Bis dann.“

„Bis dann.“

„Bye.“

„Bye.“

„Jetzt leg endlich auf!“

„Okay!“

 

Ich riss mich endgültig von dem Gespräch los und drückte die rote Taste. Danach ließ ich das Gerät sinken und ließ meinen Kopf gegen den Stamm in meinem Rücken sinken. Das Bedürfnis, gleich auf mein Rad zu steigen, um zu Benedikt zu fahren, war immer noch groß, aber es wich Schritt für Schritt, je länger ich hier saß und ihm nicht nachgab. So wartete ich, bis ich mich wieder so weit im Griff hatte, dass ich den richtigen Weg einschlagen konnte. Den, der mich nach Hause brachte.

 

 

Als ich dort ankam, war meine Mutter im Garten und nahm Wäsche ab. Sie winkte, als sie mich kommen sah.
 

„Hey, Theodor. Du bist spät.“

 

Ich stellte mein Rad neben das Haus und ging, um ihr mit den Betttüchern zu helfen. Die Wäsche vom wochenendlichen Bettenwechsel hatte angestanden und füllte jetzt Reihe um Reihe unseren Garten.

 

„Ich war noch bei Jo“, sagte ich als Erklärung, während ich eines der Laken in der Mitte faltete.
 

„Ach, schön. Hattet ihr Spaß?“

 

„Ja“, sagte ich, obwohl Spaß vielleicht nicht so ganz das richtige Wort dafür war. Aber es war ein guter Besuch gewesen.

 

„Ich dachte ja, du wärst bei Mia.“

„Nein, sie … sie hatte heute was anderes vor.“

 

Meine Mutter wandte sich dem nächsten Bettbezug zu, als die Frage kam, die ich schon befürchtet hatte.
 

„Kommt sie eigentlich am Wochenende? Du weißt schon. Wegen Christophers Geburtstag.“

„Nein, sie … sie kann da auch nicht.“

„Ach, wie schade. Christopher will uns nämlich vielleicht seine neue Freundin vorstellen. Katja heißt sie. Ein reizendes Mädchen.“

„Ich dachte, du kennst sie nicht.“

„Aber ich hab ein Foto gesehen.“

 

Ich verzog das Gesicht. Dass Christopher jemanden mitbrachte, passte mir so gar nicht. Noch dazu seine Freundin. Es war der perfekte Rahmen für eine perfekte Katastrophe. Und warum hatte er mir eigentlich kein Foto geschickt? Als ich eine Bemerkung dazu machte, lachte meine Mutter.
 

„Hast du ihn denn danach gefragt?“

„Nein.“

„Na siehst du. Ein Telefon funktioniert nicht nur in eine Richtung.“

 

Ich wollte gegen diesen Vorwurf aufbegehren, als mir aufging, dass sie recht hatte. Ich hatte mich immer geärgert, dass Christopher sich nicht bei mir meldete. Aber ich hatte auch nichts getan, um von mir aus auf ihn zuzugehen. Stattdessen hatte ich mir ach so leid getan. Diese Feststellung war nicht angenehm.

 

„Steht es denn schon fest? Dass seine Freundin mitkommt, meine ich.“

„Nein. Er will mir Freitag Bescheid geben. Reichlich kurzfristig, wenn du mich fragst, aber so sind halt die jungen Leute.“

 

Meine Mutter grinste ein bisschen und zwinkerte mir zu. Ich nahm die Spitze als Anlass, mir den Wäschekorb zu schnappen und reinzubringen. Während ich ihn in den ersten Stock trug, dachte ich daran, Christopher vielleicht doch lieber alles am Telefon zu erzählen. Wenn er seine Freundin tatsächlich mitbrachte, konnte ich meinen Plan vergessen. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich das Gespräch anfangen sollte.

 

Ich stellte die Wäsche ins Schlafzimmer und ging weiter nach oben in mein eigenes Zimmer. Es kam mir seltsam leer vor. All der Platz und darin nur ich. Hier hätten leicht zwei leben können.

 

Ich nahm mir meine Gitarre und setzte mich aufs Bett. Mit dem Instrument in der Hand schloss ich die Augen. Ich fühlte das Gewicht auf meinem Schoß, die straff gespannten Saiten unter meinen Fingern, das glatte Holz und die Fülle des Klangkörpers, der darauf wartete, dass ich ihn zum Leben erweckte. Mit einem tiefen Atemzug schlug ich den ersten Akkord an. Der Ton breitete sich im Raum aus, erfüllte ihn und machte ihn leichter. Ich ließ einen zweiten und einen dritten folgen. Sie mischten sich zunächst ungeordnet und wild, bis sich irgendwann eine Folge, eine Melodie herauskristallisierte. Sie war leicht und fröhlich, doch die Worte, die dazu in meinem Kopf entstanden, waren voller Sehnsucht und Trauer.

 

Es heißt Nähe ist keine

Frage der Entfernung

So sagen alle Leute

Es ist eine Redewendung

Aber ich weiß, dass es manchmal

Eben doch so seien kann

Dass Distanz mit etwas anfängt

Das räumlich ist und dann

Verliert man sich aus den Augen

Obwohl man doch so viel geteilt

Man sagt viel zu oft „ich müsste“

Und ist schon vorbei geeilt

 

Und du rufst mich nicht an

Und ich ruf nicht zurück

So entfernen wir uns weiter

Jeden Tag ein neues Stück

 

Und irgendwann stellt man

Dann ganz erstaunt fest

Dass sich Freundschaft nicht so einfach

Reparieren lässt

Weil sie Zeit braucht und Pflege

Und jemand, der sie lenkt

Dass sie verkümmert und eingeht

Wenn man nicht daran denkt

 

Wir hatten mal was Besonderes

Keiner war so eng wie wir

Doch wir kamen in die Jahre

Und die Frage stellt sich mir

Wie es so weit kommen konnte

Dass du mir fremd bist und ich dir

Das es nicht mehr von uns gibt

Als alte Fotos auf Papier

 

Manchmal denk ich an damals

Wie es war vor langer Zeit

Und in meinem Inneren

Macht sich Melancholie breit

Dann denk ich, ich ruf dich

Jetzt einfach mal an

Oder schreibt dir ’ne Nachricht

Doch ich tu’s nicht und dann

Ist wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr

Vergangen, ohne dass da etwas zwischen uns war

 

Und du rufst mich nicht an

Und ich ruf nicht zurück

So entfernen wir uns weiter

Jeden Tag ein neues Stück

 

Und irgendwann stellt man

Dann ganz erstaunt fest

Dass sich Freundschaft nicht so einfach

Reparieren lässt

Weil sie Zeit braucht und Pflege

Und jemand, der sie lenkt

Dass sie verkümmert und eingeht

Wenn man nicht daran denkt

 

 

Ich legte meine Hand auf die Saiten, um die letzten Töne zu ersticken. Die Stille des Sommernachmittags kehrte zurück, der eigentlich schon fast zum Abend geworden war. Draußen hörte man noch die Schwalben, die auf der Jagd nach Insekten über den Hof hinwegfegten. Ende des Monats würden sie unsere Gefilde wieder verlassen und gen Süden ziehen, nur um im nächsten Frühling wiederzukommen, als wäre nichts passiert. Mit Christopher würde es nicht so sein. Er hatte das elterliche Nest verlassen und stand jetzt auf eigenen Füßen. Wir lebten in verschiedenen Welten. Während er nach vorn drängte, hing ich noch immer in der Vergangenheit fest. Ich klebte an dem, was einmal war, ohne mich verändern zu wollen.

 

Nein, das stimmt nicht, berichtigte ich mich selbst. Denn auch ich hatte mich mittlerweile auf den Weg gemacht. Es wäre gelogen gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass mir das keine Angst machte. Die Welt da draußen mit all ihren Anforderungen, ihrer Verantwortung und den vielen, vielen Möglichkeiten zu versagen verängstigte mich zutiefst. Was, wenn ich es nicht hinbekam? Wenn ich scheiterte? Wenn ich mit gebrochenen Beinen und lahmen Flügeln auf dem Boden liegen und elendig verenden würde? Gleichzeitig wusste ich, dass ich irgendwann würde springen müssen, wenn ich nicht für immer im Nest hocken bleiben wollte. Ich würde springen und hoffen müssen, dass meine Flügel mich trugen. Aber der Boden war so weit weg und die Angst vor dem Aufprall lähmte mich und ließ mich meine Krallen in den Nestrand bohren.

 

Vielleicht ist es doch keine gute Idee, es ihnen am Wochenende zu sagen. Vielleicht warte ich noch ein bisschen damit, bis sich die Lage in der Schule wieder beruhigt hat.

 

Noch während ich mir das einredete, fiel mir ein, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Ich hatte mir selbst wohlweislich den Rückweg abgeschnitten. In diesem Moment bereute ich es und hätte alles dafür getan, die schicksalhafte Nachricht an Christopher wieder zurückzuholen.

 

Und auch das hast du vorausgesehen.

 

Es war wirklich faszinierend, wie man sich selbst manipulieren konnte. Jetzt hatte ich keinen Ausweg mehr und allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass mir vor Angst ganz schlecht wurde. Noch fünf Tage. Fünf Tage bis zum großen Showdown und ich war so überhaupt nicht darauf vorbereitet.

 

Trümmerbruch

„Du willst das also wirklich durchziehen?“
 

Die Frage kam von Jo, der mit mir und den anderen zusammen auf dem Pausenhof saß. Wir aalten uns in der Sonne und mein bester Freund kommentierte abwechselnd die vorbeigehenden Mädchen oder regte sich über unseren Deutschlehrer auf. Kafka und Jo würden in diesem Leben keine Freunde mehr werden.
 

„Ja, will ich“, antwortete ich und meinte es so, wie ich es sagte.
 

Die hinter mir liegenden Tage waren die Hölle gewesen und so langsam hielt ich die Spannung nicht mehr aus. Morgen hatte Christopher Geburtstag. Er würde erst gegen Mittag kommen, weil er mit seinen Freunden reinfeierte. Bis dahin würde ich mich gedulden müssen, auch wenn mir das zunehmend schwerer fiel.
 

Ich konnte jetzt verstehen, was Benedikt gemeint hatte, als er sagte, er habe nicht mehr lügen wollen. Es zu tun, war eine Sache. Aber es im vollen Bewusstsein zu tun, dass es falsch war, zerrte an meinen Nerven. Es war somit wohl nicht weiter verwunderlich, dass mich am Mittwoch wieder meine altbekannten Kopfschmerzen heimgesucht hatten. Dummerweise hatte das meine Mutter wieder auf die Spur gebracht. Im allgemeinen Trubel um Feriengäste, Haus und Hof hatte sie übers Wochenende glücklicherweise vergessen, noch einmal nach dem Anruf bei der Ärztin zu fragen. Dass ich größtenteils vermieden hatte, ihr über den Weg zu laufen, und nur zu den Mahlzeiten in ihrem Blickfeld erschienen war, hatte sicherlich sein Übriges dazu getan. Als ich jedoch nach einer Kopfschmerztablette gefragt hatte, hatte sie sich wieder daran erinnert, dass meine Ergebnisse noch ausstanden.
 

„Sie hat gesagt, es ist nur Migräne“, gab ich zur Antwort. „Kann man nicht viel machen. Ich soll das mal beobachten und ein Kopfschmerz-Tagebuch führen. Dann können wir über eine eventuelle Therapie sprechen.“
 

Diese Antwort hatte meiner Mutter genügt; besonders nachdem ich ihr versichert hatte, dass die Schmerzen schon weniger geworden waren. Letzteres war ausnahmsweise keine Lüge gewesen. Trotzdem hatte sich die Erleichterung, die ich meiner Mutter dadurch verschaffte, nicht wirklich gut angefühlt. Mehr wie ein Ersatz. Ein Placebo, das nur Wirkung zeigte, weil sie daran glaubte. Glauben wollte vielleicht. Ich wusste es nicht, denn ich hatte vermieden sie anzusehen, als ich es ihr erzählt hatte. Ich hatte Angst gehabt, dass sie sonst die Wahrheit erkennen würde. Nun war die Stunde, in der ich diese verkünden würde, immer näher herangerückt und ich zitterte ihr entgegen wie eine Jungfrau der Hochzeitsnacht.
 

„Ich würde mir da nicht so einen Kopf machen.“
 

Leon lümmelte neben mir auf der Bank. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt.
 

„Sie werden vielleicht erst ein bisschen erstaunt sein, aber im Endeffekt: Was wollen sie denn machen? Dich in ein Umerziehungscamp schicken? Ich glaube, so was gibt es hier gar nicht.“
 

„Stimmt, das haben nur die Amis“, pflichtete Jo ihm bei.
 

„Tatsächlich ist die Konversionstherapie erst seit kurzem in Deutschland gesetzlich verboten“, ließ sich da ein ein wenig ungewöhnlicher Gast in unserer Runde vernehmen. Anton richtete seinen Blick auf Jo und setzte hinzu: „Homosexualität wurde auch erst im Jahr 1992 aus der von der WHO veröffentlichten internationalen Klassifikation psychischer Störungen entfernt. Somit ist mittlerweile allerdings auch wissenschaftlich anerkannt, dass es sich dabei nicht um eine Geisteskrankheit handelt.“
 

Jo grinste breit.
 

„Na dann wäre ja geklärt, dass unsere beiden Spezis hier nicht verrückt sind.“
 

„Idiotie wird jedoch weiterhin geführt“, fuhr Anton ungerührt fort und erntete dafür ein amüsiertes Prusten von Benedikt. Auch Leon lachte auf, während Phillip versuchte, nur unauffällig in sein Pausenbrot zu grinsen. Jo, der inzwischen mitbekommen hatte, dass der Spaß auf seine Kosten ging, plusterte sich auf.
 

„Du brauchst gar nicht so geschwollen daherzureden, Brillenschlange. Als wenn ich keine Fremdwörter könnte.“
 

„Deine Leistungen in Latein ließen mich das in der Tat in Erwägung ziehen“, gab Anton zurück und erntete dafür einen Rempler von Benedikt.
 

„Hör auf zu stänkern.“
 

Benedikts bester Freund sagte daraufhin gar nichts mehr und lächelte nur sphinxhaft vor sich hin. Ich schickte Benedikt einen dankbaren Blick, denn die Pausen glichen momentan mehr als sonst einem Drahtseilakt. Zwar kam es nicht zu offensichtlichen Feindseligkeiten zwischen ihm und Jo, aber so richtig grün waren sich die beiden immer noch nicht. Dass Benedikt Anton mit in die Runde gebracht hatte, verkomplizierte das Ganze noch, aber ich war nicht in der Position, ihm das Hiersein zu verbieten. Und ich wollte es auch gar nicht. Ich fand es gut, so wie es war. Ein kleines Stück vom ganz normalen Leben.
 

Oder eben nicht normal. Je nachdem, wie man es betrachtet.
 

Der Gedanke brachte mich dazu, mich zu fragen, was wohl passiert wäre, wenn mich meine Eltern tatsächlich zu so einem Umerziehungs-Guru geschleppt hätten. Ob ich ihm nicht ebenso auf den Leim gegangen wäre wie viele andere? Immerhin hatte ich den Fakt, dass ich schwul war, lange genug vor mir selbst geheimgehalten. Hätte mir jemand gesagt, dass ich mir aussuchen konnte, auf was ich stand, ich hätte ihm vielleicht sogar zugehört.
 

Aber inzwischen nicht mehr. Oder doch?
 

Es war ein sinnloses Gedankenexperiment und ich wusste es. Die Frage, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich doch hetero wäre, hielt mich trotzdem gefangen. Ich wäre wohl immer noch mit Mia zusammen, hätte am Wochenende Pläne mit meinen Freunden und nicht so einen Stein im Magen, weil ich mich vor meiner Familie outen wollte. Andererseits wäre ich vielleicht nie mit Mia zusammengekommen, wenn Benedikt nicht gewesen wäre. Immerhin war er es gewesen, der mir geholfen hatte, meine Furcht davor, Mia anzusprechen, zu überwinden. Oder hätte ich diese Furcht gar nicht gehabt, wenn ich nicht schwul wäre? Vielleicht hätte ich mich nie mit ihm angefreundet, wäre heute mit irgendeinem anderen Mädchen zusammen und …
 

Stopp!
 

Ich wusste, dass diese Grübelei nichts brachte. Ich musste wirklich aufhören, mich immer wieder in diese Strudel ziehen zu lassen, die mich herum und herum wirbelten, ohne jemals zu einem Ergebnis zu kommen. Am Ende fühlte ich mich doch nur wieder schlecht, hatte ein schlechtes Gewissen und Benedikt musste mich erneut aus meinem Loch holen. Das war unfair und ich wollte nicht, dass er diese Rolle innehatte.
 

„Aber ich hab damit kein Problem“, sagte er ein ums andere Mal. Ich hingegen war mir sicher, dass es früher oder später eins werden würde. Und schon hatte ich Futter für eine neue Gedankenspirale. Es war zum Verzweifeln.
 

Wie von selbst glitt meine Hand zu meiner Hosentasche. Ich fühlte den kleinen, harten Knubbel, der von dem Gegenstand herrührte, den ich darin trug. Es war die kleine Muschel, die Reike mir zum Abschied im Zeltlager geschenkt hatte. Sie erinnerte mich daran, dass ich stark bleiben musste.
 

Gedanken kommen und gehen, versuchte ich mich an einem Mantra, das ich irgendwo im Internet gefunden hatte. Dieser ganze spirituelle Kram war eigentlich nicht mein Ding, aber wenn so viele darauf schwörten, konnte es ja vielleicht nicht ganz falsch sein.
 

Ich brauche jemanden, der mir dabei hilft. Und um den zu bekommen, muss ich meinen Eltern die Wahrheit sagen. Es ist die einzige Möglichkeit.
 

Zumindest wenn ich davon absah, von zu Hause auszuziehen und ab jetzt mein Leben ohne meine Familie zu verbringen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte … ich wusste nicht, was ich wollte

und das war wohl das Problem. Benedikt hatte gesagt, ich solle mir überlegen, was mich hinterher erwartete. Ich vermochte mir das nur einfach nicht vorzustellen. Was war denn dann?
 

Du kannst Benedikt zu dir einladen und sie werden wissen, dass er dein Freund ist. Du kannst ihn ansehen oder berühren, ohne Angst zu haben, dich zu verraten. Du wirst einen weiteren Ort haben, an dem du sicher bist.
 

Der Gedanke fühlte sich gut an. Mir vorzustellen, dass es bei mir zu Hause so sein konnte, wie bei Benedikt, erschien mir zwar utopisch, aber vielleicht auch … machbar. Es würde wahrscheinlich dauern. Und vielleicht würde ich mehr Geduld beweisen müssen, als ich glaubte aufbringen zu können, aber am Ende würde es gut ausgehen. Ich musste nur daran glauben.
 

Und wenn nicht, kann ich immer noch auswandern, versuchte ich mich zu trösten und erhob mich, weil es zum letzten Unterricht dieser Woche klingelte. In noch nicht einmal 24 Stunden war es so weit. Dann würde ich mich daran machen, mein Leben endgültig umzukrempeln.
 

Die restliche Zeit bis zu Christophers Ankunft zog sich wie Kaugummi. Zum ersten Mal war ich froh, dass meine Eltern mich mit so vielen Aufgaben überschütteten, dass ich sie unmöglich alle schaffen konnte. Als ich am Freitagabend doch in einem unbedachten Moment darüber murrte, lachte meine Mutter.
 

„Sieh es als Geburtstagsgeschenk für deinen Bruder an. Dann muss er am Wochenende nicht so viel mitanpacken.“
 

Ich lächelte die Bemerkung, die mir dazu auf der Zunge lag, weg und freute mich insgeheim lieber darüber, dass Katja nun doch nicht mitkommen würde. Stattdessen hatte mein Bruder angekündigt, bereits vor dem Abendessen wieder zurückzufahren, um den Abend mit ihr allein zu verbringen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Vor allem aber erhoffte ich mir, dass er deswegen nicht allzu spät kommen würde. So würde genug Zeit bleiben, um mit ihm zu sprechen.
 

Tatsächlich sollte ich recht behalten. Bereits kurz vor halb elf rollte Christophers Auto auf den Hof, wo er von mir und unseren Eltern in Empfang genommen wurde. Es folgten die üblichen Glückwünsche, ein Umschlag, der einen sicherlich nicht unerheblichen Geldbetrag enthielt, wechselte den Besitzer und Christopher erstattete Bericht, wie es um Studium und Liebesleben bestellt war. Danach stand meine Mutter auf, um das Mittagessen vorzubereiten. Auch mein Vater entschuldigte sich, um vor dem Essen noch einmal nach den Tieren zu sehen. Normalerweise hätte mein Bruder ihn wohl begleitet, doch dieses Mal blieb er mit mir zusammen im Wohnzimmer sitzen. Im Hintergrund hörte man unsere Mutter in der Küche werken. Neugierig sah Christopher mich an.
 

„Na, dann schieß mal los“, forderte er mich auf.
 

Augenblicklich verdoppelte sich mein Herzschlag. Die ganze Szenerie vorher hatte ich nur so halb mitbekommen, weil ich mich die ganze Zeit vor diesem Zeitpunkt gefürchtet hatte. Nun war er gekommen und ich wünschte ihn mir noch ungefähr drei Wochen weit weg. Oder drei Jahre. Hauptsache weg.
 

„Wir … wir sollten vielleicht hochgehen“, antwortete ich vorsichtig. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie er reagieren würde. Daher wollte ich vermeiden, dass unsere Eltern in Hörweite waren, wenn er es erfuhr.
 

„Na, du musst ja was Schlimmes ausgefressen haben“, erwiderte Christopher lachend, stand aber auf und machte sich auf den Weg, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen. Ich folgte ihm und fühlte mich seltsam fremd in meinem Körper. War das wirklich ich, der jetzt die Tür schloss, während mein Bruder sich auf mein Bett setzte und mich von dort aus aufmerksam betrachtete.
 

„Ich rate mal“, sagte er, nachdem ich mich immer noch nicht gerührt hatte. Ich bekam meine Hand einfach nicht von der Türklinke weg. „Es geht um die Tabletten.“
 

Im ersten Moment wusste ich nicht, wovon er redete. Als es mir einfiel, hätte ich beinahe gelacht. Dieses Geheimnis erschien mir jetzt so lächerlich.
 

„Ich hab es wirklich nur gut gemeint, als ich Mama davon erzählt habe“, fuhr mein Bruder fort. „Die Dinger sind nicht so harmlos, wie man meinen sollte. Auf die Dauer können dadurch Leberschäden entstehen. Ich denke, bei den Mengen, die du da gebunkert hattest, war auch dir klar, dass das nicht so ganz normal ist.“
 

Ich nickte wie betäubt. Natürlich war mir das klar gewesen. Ich hatte nicht umsonst immer verschiedene Apotheken aufgesucht, um mir meinen Vorrat zu besorgen.
 

„Es geht nicht darum“, brachte ich irgendwie hervor, obwohl alles an mir danach schrie, den Ausweg zu nutzen, den er mir unwissentlich geboten hatte. „Oder auch, aber nicht in der Hauptsache. Es ist … ein bisschen komplizierter.“
 

„Komplizierter?“ Christoper hob fragend die Augenbrauen. Ein Schmunzeln zupfte an seinen Mundwinkeln. „Was hast du gemacht? Hast du die Dinger vertickt, oder was?“
 

„Nein, ich …“
 

Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich hatte mir Stunde um Stunde den Kopf zermartert, wie ich es meinem Bruder am besten beibringen konnte. Doch jetzt, wo es soweit war, war das Ding auf meinen Schultern wie leergefegt. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen und immer noch krampften sich meine Finger um die Türklinke.
 

„Ich fasse also mal zusammen“, sagte mein Bruder, meine Verfassung vollkommen ignorierend. „Du hast kein Kind gezeugt und keine Drogen verkauft. Was dann? Hast du jemanden umgebracht?“
 

Ich wollte gerade antworten, dass das ausgemachter Blödsinn war, doch in diesem Moment ging mir auf, dass Christopher in gewisser Weise recht hatte. Ich hatte jemanden getötet. Den Bruder, den er kannte, gab es so nicht mehr. Vielleicht hatte es ihn nie gegeben. Er war nur eine Maske gewesen. Eine Figur, die ich gespielt hatte, bis ich mich selbst darin verloren hatte. Jetzt war ich aus meiner Kulisse getreten. Ich hatte die Rolle geschmissen, die ich mir selbst auf den Leib geschneidert hatte; so eng, dass mir keine Luft mehr zum Atmen geblieben war. Jetzt war ich bereit sie abzustreifen und alles, was ich dafür tun musste, war, die Wahrheit zu sagen. Doch wie würde das Publikum reagieren?
 

„Nichts von alldem“, sagte ich schließlich und riss mich von der Tür los. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging ich zu meinem Schreibtisch. Der Drehstuhl mit dem anthrazitfarbenen Bezug stand bereit, aber ich setzte mich nicht. Ich wollte meinen Untergang lieber stehend erleben.
 

„Ich … war beim Arzt. Wegen meiner Kopfschmerzen.“

„Und?“

„Sie hat gesagt, dass es wohl was Psychisches ist. Ich … ich überlege, eine Therapie deswegen zu machen.“
 

Für einen Moment war es still im Zimmer. Ich hörte draußen die Vögel zwitschern und Sommergeruch wehte durch das geöffnete Dachfenster herein.
 

„Wissen unsere Eltern das schon?“

„Nein, ich … ich habe es ihnen noch nicht gesagt. Denn da ist noch mehr.“
 

Ich schloss die Augen und meine Finger tasteten nach der Lehne des Bürostuhls. Ich brauchte jetzt etwas, um mich festzuhalten.
 

„Noch mehr?“, echote Christopher. Ich stand mit dem Rücken zu ihm und konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber ich wusste, wie er aussah. Es war das Gesicht, das mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickte. Nur das meines nicht ganz so perfekt war. Nicht ganz der Adonis aus der Sagenwelt, der alle mit seinem Aussehen entzückte. Benedikt hätte mir sicherlich widersprochen, aber …
 

Ich lächelte, als ich an meinen Freund denken musste. Die Vorstellung, wie er jetzt neben mir stand und mir lächelnd zunickte, mir versicherte, dass alles gut werden würde, gab mir den Mut weiterzumachen. Mit diesem Vorsatz drehte ich mich zu Christopher um. Er saß immer noch auf dem Bett. Zwischen uns waren gut drei Meter Platz. Genug, um zu flüchten.
 

Aber ich werde nicht flüchten. Ich werde nicht wieder weglaufen.
 

Wie, um mich selbst am Verlassen des Zimmers zu hindern, nahm ich mir jetzt doch den Stuhl und setzte mich. Erst danach merkte ich, wie sehr meine Knie zitterten.
 

„Also los, nun spuck’s schon aus“, forderte Christopher mich auf. Ich konnte sehen, dass er langsam ungeduldig wurde. Das hier dauerte schon viel zu lange.
 

„Es … es ist nicht so ganz einfach. Ich hab ein bisschen Angst davor, was du dazu sagen wirst“, gab ich zögernd zu.
 

„Was ich wozu sagen werde?“

„Dazu, dass ich festgestellt habe, dass ich …?“
 

Christopher begann zu grinsen.
 

„Dass du was? Rockstar werden willst? Auf Volksmusik stehst? Gerne Frauenkleider trägst?“

„Dass ich schwul bin.“
 

In dem Moment, in dem ich es aussprach, stockte mir der Atem. Die Aufzählung meines Bruders war so lächerlich gewesen, dass mir mein Geständnis dagegen fast schon harmlos vorkam. Gleichzeitig hätte ich wohl nichts Schlimmeres sagen können.
 

„Du bist … WAS?“
 

Mein Bruder riss die Augen auf und sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Dann begann er zu lachen.
 

„Ich glaub’s ja nicht“, prustete er. „Jetzt hättest du mich fast soweit gehabt, dass ich dir das abkaufe. Du solltest Schauspieler werden.“
 

„Christopher“, versuchte ich zu ihm durchzudringen, aber er war so mit Lachen beschäftigt, dass er mir gar nicht zuhörte.
 

„Also wirklich“, japste er immer noch mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. „Die Show ist echt bühnenreif. Das musst du unbedingt nachher nochmal machen. Unsere Eltern werden tot umfallen.“
 

Als ich nicht reagierte, wurde er langsam wieder ernster.
 

„Was?“, machte er und setzte an, sich zu erheben. „Du hast doch wohl nicht gedacht, dass ich dir das wirklich abkaufe.“
 

„Aber es stimmt“, sagte ich leise. Ich hatte mit vielen gerechnet, aber nicht damit, dass er mich auslachte.
 

„Theodor“, sagte er und klang dabei wie unser Vater, als er mir erklärt hatte, dass die Vögel, die ich aus Papier gebastelt hatte, nicht weiter fliegen würden, als ich sie werfen konnte. Ich hatte das natürlich gewusst, aber es war doch nur ein Spiel gewesen.
 

„Theodor, du kannst gar nicht schwul sein. Du hast eine Freundin.“
 

Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ich mit Mia Schluss gemacht hatte, aber ich kam gar nicht dazu. Christopher redete bereits weiter.
 

„Und überhaupt, wo soll das denn auf einmal herkommen? Ich meine, ja, da ist dieses Foto mit den Strumpfhosen, aber das war doch wirklich nur ein Spaß von mir. Du musst dir das doch nicht so zu Herzen nehmen.“
 

Ein schmales Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Ich wusste nicht, was es da wollte. Es gab keinen Anlass fröhlich zu sein. Offenbar war mein Bruder felsenfest der Meinung, dass ich nicht schwul sein konnte. Ich wusste nicht, ob ich das dumm oder tragisch finden sollte.
 

„Es ist kein Witz“, sagte ich. „Mia und ich sind nicht mehr zusammen. Ich habe jetzt einen Freund.“
 

Mein Bruder hörte auf zu lachen. Für einen Moment kehrte Stille ein. Irgendwo hörte man eine Tür klappen. Vielleicht mein Vater, der aus dem Stall kam.
 

„Das ist kein Scherz?“, fragte Christopher nach. Anscheinend schien ihm so langsam zu dämmern, dass ich es wirklich ernst meinte. „Du meinst, dass du wirklich mit einem Typen …?“
 

„Sein Name ist Benedikt. Wir sind zusammen in einem Jahrgang.“
 

Immer noch regte sich kein Muskel in Christophers Gesicht. Es war, als wäre mein Spiegelbild eingefroren. Woher würde der Hammer kommen, um es zu zerschlagen?
 

„Das glaube ich nicht.“
 

Der Satz, den er mir entgegenschleuderte, prallte gegen meine Brust und brachte mich ins Wanken.
 

„Hast du einen Sockenschuss? Das geht überhaupt nicht. Du kannst nicht schwul sein.“
 

Wieder dieses Wort. Wieder die Feststellung, dass es nicht sein konnte. Warum eigentlich nicht?
 

„Warum nicht?“, fragte ich und sah meinen Bruder herausfordernd an. „Sag mir einen vernünftigen Grund, warum ich nicht schwul sein kann.“
 

Mein Bruder schnaubte und wandte den Kopf ab.
 

„Was weiß ich. Da gibt es tausend Gründe. Schon allein, weil du zwei Jahre lang eine Freundin hattest. Das gibt man doch nicht einfach so auf. Ich hab euch doch gesehen. Ihr wart glücklich.“
 

Jetzt war es an mir zu lächeln.
 

„Tja, vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich wirklich Schauspieler werden. Immerhin war ich so gut, dass ich diesbezüglich sogar mich selbst angelogen habe.“
 

Mein Bruder sah mich immer noch nicht an, trotzdem redete ich weiter.
 

„Ich hab es auch lange Zeit nicht wahrhaben wollen. Ich hab gedacht, dass es wieder weggeht, dass es nur eine Phase ist oder irgendwas. Aber es ist nicht weggegangen. Stattdessen habe ich mich verliebt. In Benedikt. Wir sind glücklich miteinander.“
 

„So glücklich wie mit Mia?“
 

Die Frage kam mit so viel Bitternis und Spott, dass ich schlucken musste. Mein Bruder lächelte nachsichtig.
 

„Siehst du? Du kannst gar nicht wissen, ob das jetzt das ist, was du willst. Wie lange seid ihr denn überhaupt zusammen?“
 

„Drei Wochen?“ Ich mochte nicht, wie zögernd meine Stimme klang. Und natürlich sprang Christopher auf den Zug auf.
 

„Na siehst du. Das ist nichts. Ich weiß ja nicht, was dich geritten hat, dich ausgerechnet auf diesen Benedikt einzulassen, aber das kommt vor. Schwule sind ja auch nette Typen. So verständnisvoll. Vielleicht hat er dich getröstet, als du wegen Mia unglücklich warst. Ihr habt ein bisschen rumgemacht. Kann ja sein. Aber deswegen bist du doch noch lange nicht schwul.“
 

Er sah mich jetzt wieder an und hinter seiner fröhlichen Heiterkeit erkannte ich noch etwas anderes. Es ähnelte dem, was ich bei Jo gesehen hatte, und war doch vollkommen anders. Das hier war persönlicher.
 

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich tonlos. Ich wusste, dass das, was er mir antworten würde, eine Lüge sein würde.
 

„Ist nem Kumpel von mir passiert“, entgegnete er lapidar, als wäre es wirklich so. Nichts verriet ihm. „Er hatte gesoffen, nachdem mit seiner Freundin Schluss war und am nächsten Morgen ist er im Bett von diesem Kerl aufgewacht. War ne einmalige Sache und ist seit dem nicht wieder vorgekommen.“
 

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß es einfach.“
 

Lüge!
 

Es stand in Leuchtbuchstaben über seinem Kopf, aber ich sprach es nicht aus. Wenn er es nicht wahrhaben wollte, war es nicht mein Problem. Christopher hatte jedoch kein Recht, mir meine Wahrheit abzusprechen.
 

„Nun, dann geht es deinem Kumpel anders als mir. Ich hab inzwischen verstanden, was ich bin. Wer ich bin. Und ich werde nicht damit aufhören, nur weil es nicht in dein Weltbild passt.“
 

Christopher wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment rief unsere Mutter uns zum Essen.
 

„Wir sollten gehen“, sagte er statt dem, was er eigentlich hatte sagen wollen. „Papa wartet nicht gerne.“
 

Damit erhob er sich und ging aus dem Zimmer. Ich blieb zurück und war wie vor den Kopf geschlagen. Mein Bruder, mein eigener Bruder, nahm mir mein Outing einfach nicht ab. Er tat es als Witz ab. Als geschmacklosen Scherz. Als etwas, das nicht sein konnte.
 

Wie betäubt ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Ich konnte dort jetzt nicht runtergehen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Meine Welt war gerade zusammengebrochen und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie wieder kitten sollte.

Tabula rasa

Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, saß ich auf meinem Stuhl und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Mein Plan, mein gesamter Plan, war binnen weniger Augenblicke den Bach runtergegangen.

 

Vielleicht war er von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

 

Es war dumm gewesen, Christopher davon zu erzählen. Noch dazu nach einer durchzechten Nacht, nach der er vermutlich unausgeschlafen und verkatert war. Man hatte es ihm nicht angesehen, aber das musste nichts heißen. Bei ihm sah man so etwas nie.

 

Ich hätte zuerst mit meiner Mutter sprechen sollen.

 

Sie hätte mir helfen können, es meinem Vater und meinem Bruder schonend beizubringen. Doch dazu war es jetzt zu spät. Ich hatte es gründlich vermasselt, den Tag verdorben, mein Outing ruiniert. Alles, einfach alles hatte ich in den Sand gesetzt und das nur, weil ich gedacht hatte, dass Christopher mich verstehen würde. Dass er toleranter wäre und nicht so ein …

 

Homophobes Arschloch.

 

Ich schrak zusammen, als ich den Gedanken aussprach. War das tatsächlich mein eigener gewesen? Es fühlte sich so an und gleichzeitig, als hätte es jemand anderes getan. Jemand, der sich nicht mit seinem Bruder verstand. Jemand, der Wut empfand. Wut auf jemanden, der ihn im Stich gelassen hatte. Wut, die mit jeder Sekunde heißer brannte. Sie brachte den tiefen See um mich zum Brodeln. Dampfwolken stiegen auf und drohten, den Himmel zu verdunkeln. Wann würde es anfangen zu regnen?

 

„Theodor!“

 

Meine Mutter rief von unten nach mir. Heute konnte sie den Spruch, dass sie alles wegwerfen würde, wenn ich nicht gleich käme, nicht bringen. Immerhin saßen mein Vater und mein Bruder bereits am Tisch. Vermutlich hatten sie schon angefangen zu essen. Mein Vater wartete nie auf jemanden. Wenn, dann warteten wir auf ihn. So war es schon immer gewesen.

 

Sie werden mich nicht vermissen, stellte ich fest und erhob mich im gleichen Moment. Wie von selbst trugen mich meine Füße die Treppe hinunter und in Richtung Haustür. Gerade, als ich meine Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, öffnete sich die Tür zum Esszimmer.

 

„The … oh, da bist du ja. Komm essen. Es wird kalt.“

 

„Keinen Hunger“, erwiderte ich und sah sie dabei nicht an. In mir fühlte ich immer noch dieses Brodeln. Es kochte und schäumte, aber meine Mutter war die Falsche, um meine Wut an ihr auszulassen. Sie hatte nichts getan. Das war vielleicht das Problem.

 

„Wie bitte?“

 

Ich hörte förmlich, wie Zweifel über ihr Gesicht zogen. Es in ungläubige Falten legten. Sie verstand die Welt nicht mehr.

 

„Jetzt hör mit dem Unsinn auf, zieh deine Schuhe aus und dann komm zum Essen.“

„Nein.“

 

Ich drehte den Kopf, um sie anzusehen. Sie sah genauso aus, wie ich es erwartet hatte. Die Haare hochgebunden, die weiße Schürze vor dem streugeblümten Oberteil makellos. Wie aus einem Landhaus-Magazin. Unter ihrem Blick spürte ich die Flammen verlöschen. Schuld kroch meinen Rücken hinauf. Ein bleierner Mantel, der sich schwer und unnachgiebig um meine Schultern legte. Meine Kehle wurde eng. Ich musste hier raus, sonst würde etwas passieren.

 

„Mama, ich … ich kann nicht bleiben. Tut mir leid.“

 

Mit Blicken bat ich sie um Verzeihung. Ich wusste, dass sie es nicht verstehen würde. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben. Mehr Mühe, als Christopher und ich verdient hatten. Das tat sie jedes Mal und niemals dankten wir ihr wirklich dafür. Ein paar zerdrückte Blumen zum Muttertag. Das war’s. Ich hatte kein Recht, mich auf ein hohes Ross zu setzen. Ich war ebenso schuldig wie Christopher.

 

„Was soll denn das? Kommt jetzt endlich zum Essen.“

 

Die Stimme meines Vaters klang unwirsch. Gleich darauf hörte ich meinen Bruder etwas erwidern. Ich verstand nicht, was er sagte, aber der Ton legte nahe, dass es sich um eine Gehässigkeit auf meine Kosten handelte. Im nächsten Moment hörte man Stühlerücken und Schritte, die sich uns näherten. Mein Vater erschien in der Türöffnung.

 

„Was ist hier los?“

 

Ich wusste, dass er die Szene mit einem Blick erfasst hatte. Ich an der Haustür, meine Mutter mit verstörtem Gesicht. Er wusste, was es bedeutete. Trotzdem erwartete er, dass es einer von uns aussprach. Meine Mutter erbarmte sich.

 

„Theodor will nicht zum Essen bleiben.“

 

Ein Frevel. Eine Anklage. Gemeinsame Mahlzeiten waren heilig. Wann immer es möglich war, aß unsere Familie zusammen. Meine Eltern fanden das wichtig. Am Tisch wurde gesprochen, gelacht und gestritten. Dieses Mal würde es auf einen Streit hinauslaufen. Ich wusste es und wollte es verhindern.

 

„Ich … ich kann heute nicht mitessen.“

„Warum nicht?“

 

Es war tatsächlich eine Frage. Kein „Setz dich jetzt endlich“ oder etwas in der Art, wie ich es erwartet hätte. Stattdessen fragte mein Vater nach meinen Gründen. Nur konnte ich sie ihm nicht nennen. Das war unmöglich.

 

„Man, ich hab Hunger. Können wir jetzt endlich essen?“, motzte Christopher aus dem Hintergrund. Er klang wie früher.

 

„Wenn dein Bruder auch kommt“, antwortete meine Mutter. Sie und mein Vater sahen mich immer noch an. Auf dem Gesicht meiner Mutter erschien ein Lächeln. Gezwungen.

 

„Na komm schon, Theodor. Wir gehen jetzt rein und dann reden wir über alles.“

„Nein.“

 

Wieder dieses Wort. Es rief das Lächeln zurück und eine Falte auf der Stirn meines Vaters hervor.

 

„Was ist los?“, wollte er wieder wissen. Ich konnte ihm nicht antworten. Stattdessen hörte man meinen Bruder drinnen im Esszimmer stöhnen.

 

„Wenn der Spinner meint, dass er nicht dabei sein will, lasst ihn gehen. Ich kann gut ohne ihn essen.“

„Nein.“

 

Dieses Mal war es meine Mutter, die das Wort aussprach. Sie schüttelte leicht den Kopf.

 

„Wir essen alle zusammen. Wie eine richtige Familie.“

 

Ich spürte ein Lachen in mir aufperlen. Eine richtige Familie? Was war denn eine richtige Familie? Eine, in der Blut dicker als Wasser war? Eine, in der alle sich auf einander verlassen konnten? Eine, in der sich alle liebhatten? Vater-Mutter-Kind? Dann war doch alles in Ordnung. Alles war komplett. Das zweite Kind brauchte es doch da nicht mehr. Es störte nur, war nicht normal, gehörte nicht dazu. War ohnehin nur auf die Welt gekommen, damit das erste nicht so alleine war. Weil es doch wichtig war, teilen zu lernen und all der Scheiß. Ich hätte kotzen können vor Höflichkeit.

 

Noch einmal war Stühlerücken zu hören. Mein Vater trat in den Flur, um Christopher durchzulassen. In dessen Blick stand genervte Ablehnung.

 

„Setz dich jetzt endlich und hör mit der Scheiße auf.“

„Christopher!“

 

Der entrüstete Ton meiner Mutter war sicherlich gerechtfertigt. Ebenso wie das rügende Gesicht meines Vaters. Das hier war dabei, alles aus den Fugen zu kippen. Alles über den Haufen zu werfen, was ich kannte und liebte. Liebte ich es?

 

„Nein“, sagte ich noch einmal. Dieses Mal zu meinem Bruder. Er starrte mich an und ich starrte zurück. Schließlich wandte er den Blick ab.

 

„Fein“, rief er und warf die Arme in die Luft. „Mach ruhig weiter alles kaputt. Ich schau mir das nicht weiter an. Aber überleg dir gut, was du jetzt sagst.“

 

Tatsächlich wollte er seine Drohung wahr machen, aber mein Vater vertrat ihm den Weg. Die beiden waren nahezu gleich groß, mein Bruder etwas schmaler und weniger muskulös. Trotzdem hätte er es wohl mit meinem Vater aufnehmen können. Aber er tat es nicht. Er wich zurück, Feindseligkeit und Trotz in seinem Blick.

 

„Was meinst du damit?“

„Was ist hier los?“

 

Meine Eltern hatten gleichzeitig gesprochen. Doch während meine Mutter ihre Frage mehr oder weniger in den Raum gestellt hatte, hatte mein Vater Christopher direkt konfrontiert. Er stand ihm gegenüber und die Luft zwischen den beiden wurde mit jedem Atemzug dicker. Schließlich lachte Christopher auf.

 

„Ach, Theodor hat mir vorhin erzählt, dass er sich von Mia getrennt hat. Absolut idiotisch, wenn du mich fragst. In zwei Wochen sind die beiden wieder zusammen.“

 

Ich fühlte mich, als wäre mir ein zweischneidiges Schwert die Kehle hinab gerammt worden. Einerseits war ich froh, dass Christopher nicht noch mehr gesagt hatte. Andererseits hatte er kein Recht herauszuposaunen, was ich ihm im Vertrauen erzählt hatte. Er hatte kein Recht dazu!

 

„Oh, Theodor. Das tut mir so leid.“

 

Die Stimme meiner Mutter schüttete Balsam und Blumen über mich. Sie verklebten mir Augen und Ohren. Wollten mich blind und taub machen. Stumm war ich ohnehin schon. Die drei Affen, alle vereint in einer Person.

 

„Warum hast du uns das nicht gesagt?“

 

Wieder mein Vater. Er fragte mich nach meinen Gründen. Aber ich konnte es ihm doch nicht sagen. Ich konnte nicht. Trotzdem öffnete ich gehorsam den Mund. Irgendetwas musste mir einfallen. Eine Erklärung, die ich mir aus den Rippen schnitt. Aus meinem Herzen. Wenn ich es herausriss und bei Mondenschein auf der Kreuzung hinter dem weißen Stein an der Heide vergrub, würde vielleicht alles wieder gut werden.

 

„Ich konnte nicht.“

 

Ich hatte den Satz nur geflüstert. Nichtsdestotrotz rauschte er wie ein heftiger Windstoß durch das ganze Haus und ließ die Türen und Fenster zufliegen.

 

„Warum nicht?“

 

Wieder eine direkte Frage an mich. Eine, die nach Antworten verlangte. Die nicht wanken und nicht weichen würde, bis ich mich ihr stellte. Steine schienen an meinen Gliedern zu ziehen. Sie wollten mich in die Knie zwingen, damit ich um Verzeihung bat. Um Verzeihung für meine Sünden.

 

„Ich … ich wollte euch nicht verletzen.“

 

Es war nur die halbe Wahrheit, aber sie stimmte immerhin zum Teil. Die andere Hälfte war, dass ich mich selbst hatte schützen wollen. Auch jetzt noch hatte ich das Bedürfnis, mich zu einem Ball zusammenzurollen, um so die Fläche zu verringern, auf die die Schläge treffen konnten. Ich hatte solche Angst. Das Blut rauschte in meinen Ohren.

 

„Verletzen? Womit denn verletzen?“

 

Wieder meine Mutter. Der sanfte Engel und mein Vater der brennende Dornbusch. Die Stimme Gottes. Was er sprach, war Gesetz. Daneben verblasste alles andere. Würde mich der Blitz treffen, wenn ich ihm antwortete?

 

Ich setzte an, etwas zu sagen, doch statt des Blitzes traf mich ein Stein. Einer, den mein Bruder geworfen hatte.

 

„Er macht sich doch nur wieder wichtig.“

 

Irritiert war ich kurz davor, mir an die Wange zu fassen um zu sehen, ob ich blutete. Mein Blick glitt von meinem Vater hinüber zu meinem Bruder. Dem guten, dem anständigen Sohn. Dem, der alles richtig machte. Dem Sohn, der nicht schwul war.

 

„Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“

 

„Hast du aber“, schnitt Christopher mir das Wort ab. „So wie immer. Du kannst es nicht ertragen, wenn ich besser bin als du. Wenn ich etwas habe, musst du es auch haben. Und wenn du es nicht haben kannst, dann machst du so lange einen Wirbel darum, bis nur noch du im Mittelpunkt stehst und alles andere vergessen wird. Aber ich sage dir jetzt mal was. Du bist nicht der Nabel der Welt. Nicht alles in dieser Familie dreht sich um dich. Sieh das endlich ein.“

 

„Kinder …“, begann meine Mutter, doch Christopher unterbrach auch sie.

 

„Ja, alles klar. Jetzt nimmst du ihn wieder in Schutz. Das arme, arme Baby. 'Er kann doch nicht. Er ist nicht wie du.' Wenn du wüsstest, wie recht du damit hast. Aber das soll er euch selber sagen. Ich halte mich da raus.“

 

Damit verschränkte mein Bruder die Arme vor der Brust und starrte mich finster an. Auch meine Eltern wandten sich jetzt wieder an mich. Ich wollte mich wehren. Wollte schreien, dass Christopher Unrecht hatte. Ich wollte doch gar nicht, dass sich alles um mich drehte. Das war eine Lüge. Eine verdammte Lüge!

 

„Theodor“, begann mein Vater wieder. „Würdest du mir jetzt endlich eine Antwort darauf geben, was das hier alles zu bedeuten hat? Was hast du angestellt?“

 

Ein bitteres Auflachen zwängte sich in meinen Mund. Das war so typisch. Wenn es Ärger gab, musste es natürlich meine Schuld sein.

 

„Ich habe nichts angestellt.“ sagte ich und hob den Kopf. Es war ohnehin nicht mehr zu retten. Meine Eltern würden jetzt keine Ruhe mehr geben. Christopher hatte dafür gesorgt, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand. Ich konnte nicht mehr zurück. Also würde ich mich der Reaktion jetzt stellen. Ein für allemal. Damit Schluss mit der Angst war.

 

„Ich … ich hab mich von Mia getrennt, weil ich mich in jemand anderen verliebt habe.“

 

Ich hörte Christopher schnauben, doch gleichzeitig sah ich, wie sich mein Vater entspannte.

 

„Und deswegen so ein Aufstand?“

 

Er brauchte nicht den Kopf zu schütteln. Ich konnte den Zweifel in seiner Stimme hören. Auch meine Mutter sah nun wieder mitleidig aus.

 

„Das kommt vor. Es ist natürlich schade, aber deswegen würden wir doch nie …“

„Es ist kein Mädchen.“

 

Der Satz sorgte dafür, dass Stille einkehrte. Nicht die Art von Stille, die während einer Klausur herrschte, weil alle mit ihren Arbeiten beschäftigt waren. Auch nicht die friedliche Stille eines Sommerabends, in der die Grillen ihr letztes Lied sangen und die Welt zur Ruhe kehrte. Diese Stille hier war wie die Mündung einer geladenen Waffe. Russisches Roulette. Würde beim Abdrücken eine Kugel im Lauf sein oder nicht? Ich ließ es darauf ankommen.

 

„Was meinst du damit? Ist sie älter als du?“

 

Meine Mutter. Geradezu bilderbuchmäßig klammerte sie sich an ihre Moralvorstellungen. Wenn es kein Mädchen gewesen war, das mich von Mia weggelockt hatte, dann mit Sicherheit eine Frau. Eine reife, erfahrene Frau, die sich meiner unschuldigen Seele angenommen und mich verführt hatte. Oder vielleicht war ich es auch gewesen, der Trost und anderes bei einer reiferen Frau gesucht hatte. Einer Lehrerin gar. Ja, das wäre in den Augen meiner Mutter sicherlich etwas gewesen, dass die Reaktion meines Bruders rechtfertigen würde. Sie ahnte ja nicht, wie falsch sie lag.

 

Langsam schüttelte ich den Kopf.

 

„Er ist nicht älter als ich. Eher noch etwas jünger. Wir gehen zusammen zur Schule.“

 

Plötzlich war mein Zorn in sich zusammengefallen. Die Erwähnung von Benedikt hatte etwas in mir ausgelöst, das mich von der Front zurücktreten ließ. Ich entspannte meine Fäuste und ließ die Schultern wieder etwas sinken. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr meine Körperhaltung auf einen Kampf ausgerichtet gewesen war. Auf Kampf oder Flucht.

 

„Sagtest du … er?“

 

Wieder war es meine Mutter, die nachfragte. Ich wagte nicht, meinen Vater anzusehen. Stumm nickte ich. Ich sah, wie meine Mutter die Hände vor dem Mund schlug, die Augen aufriss und mich anstarrte wie eine Erscheinung. Ich versuchte ein Lächeln.

 

„Er … er heißt Benedikt. Ich hab dir schon von ihm erzählt.“

 

Dass das nur so halb stimmte, musste ihr in diesem Moment klar werden. Wahrscheinlich ordnete sie in ihrer Erinnerung gerade all die kleinen Zeichen neu ein. All die Hinweise, die es vielleicht gegeben hatte und die sie großzügig übersehen hatte. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.

 

„Das hab ich nicht gewusst.“

 

Ihre Stimme war nur ein Flüstern, das sich zwischen ihren Fingern hindurch einen Weg bahnte. Zu sehen, wie sehr sie diese Erkenntnis erschütterte, drehte die Klinge in meiner Brust dreimal herum. Wieder hätte ich mich übergeben können. Dieses Mal, weil die Schuld in meinen Eingeweiden rumorte.

 

„Mama, es tut mir leid. Ich wollte nicht …“

 

„Hast du aber“, schnitt mein Bruder mir das Wort ab. „Du spielst dich hier auf und machst alle mit diesem Scheiß verrückt. Dabei …“

 

„Christopher!“

 

Die Stimme meines Vaters rollte wie der lang erwartete Donnerschlag durch den Raum.

 

„Mäßige deine Wortwahl. Und unterbrich deinen Bruder nicht, wenn er gerade spricht.“

 

Christopher, der gescholten den Kopf hätte senken sollen, funkelte meinen Vater wütend an.

 

„Dann gibst du ihm jetzt auch noch recht?“

„Ich gebe niemandem recht. Aber ich denke, das, was immer es auch ist, nicht wert ist, dass eure Mutter drei Stunden lang umsonst in der Küche gestanden hat. Also lasst uns jetzt alle hineingehen und essen. Danach sehen wir weiter.“

 

Er wollte sich schon umdrehen, als mein Bruder ihm zuvorkam.

 

„Na, prima“, fauchte er und lachte hämisch auf. „Geht nur wieder rein und macht einen auf heile Welt. Aber ohne mich. Ich fahre jetzt wieder.“

 

„Christopher!“

 

Meine Mutter wollte ihn aufhalten, doch mein Bruder stürmte bereits an ihr vorbei aus der Tür. Als sie ihm folgen wollte, rief mein Vater sie zurück.

 

„Lass ihn gehen. Wenn er sein Gemüt abgekühlt hat, wird er wiederkommen. Das tun sie immer.“

 

Mit diesen Worten wandte er sich mir zu. Ich wusste nicht, was gerade in ihm vorging. Sein Gesicht war wie versteinert. Unmöglich abzuschätzen, ob ihn meine Eröffnung getroffen und wie er sie aufgenommen hatte.

 

„Möchtest du mit uns essen?“

 

Die Frage brachte mich aus dem Konzept. Gerade noch hatte er angeordnet, dass wir uns alle an den Tisch setzen sollten. Und jetzt fragte er mich, ob ich das überhaupt wollte?

 

Wahrscheinlich weiß er gerade auch nicht, was er jetzt machen soll.

 

Zögernd setzte ich zu einer Antwort an.

 

„Ich … ich weiß nicht. Vielleicht … solltet ihr euch erst mal … alleine darüber unterhalten?“

 

Ich wusste nicht, ob es das Richtige war, was ich da sagte. Ich konnte mir vorstellen, dass meine Eltern diese Zeit brauchten, um sich selbst zu sortieren. Die Nachricht zu verdauen. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass sie sich Vorwürfe machten. Vor allem meine Mutter nicht.

 

„Aber wenn ihr möchtet, komme ich auch gerne zum Essen.“

 

Ich ahnte zwar, dass ich nicht einen Bissen hinunterbringen würde, aber ich wollte es wenigstens versuchen.

 

„Nein, ist schon in Ordnung. Geh ruhig, wenn es das ist, was du willst.“

 

Für einen Moment war ich in Versuchung, meinem Drang zur Flucht nachzugeben. Einfach wie Christopher das Haus zu verlassen, mein Rad zu nehmen und irgendwo draußen in den Wald zu fahren, wo mich niemand finden würde. Gleichzeitig wusste ich jedoch, dass das das Problem nur verschieben würde. Es würde mir die Angst vor diesem Gespräch nicht nehmen und vielleicht sogar noch schlimmer machen, als sie ohnehin schon war. Hin und her gerissen zwischen den Möglichkeiten, war ich nicht in der Lage, eine von ihnen zu wählen.

 

Mein Vater, der mein Schweigen offenbar falsch gedeutet hatte, wandte sich von mir ab und ging auf die Tür zur Küche zu.

 

„Ich muss jetzt was essen“ sagte er und ging hinein, ohne sich noch einmal umzusehen. Jetzt rührte sich auch meine Mutter. Mit ein wenig glasigen Augen trat sie auf mich zu.

 

„Kommst du mit rein?“

 

Ich merkte, dass da Hoffnung in ihrer Stimme mitschwang. Hoffnung und Angst. Einen Sohn hatte sie schon verloren.Würde dieser Tag sie auch noch den zweiten kosten.

 

„Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach“, sagte ich deswegen und meine Mutter nickte, bevor sie meinem Vater folgte und mich allein im Flur zurückließ.

 

Eine Fliege begann plötzlich am Fenster zu brummen. In der Hitze des sonnigen Tages war sie wohl hineingeflogen und hatte den Ausweg nicht mehr gefunden. Man hätte denken können, es wäre Sonntag, so still war es im Haus. Aber das stimmte nicht, denn heute war erst Samstag. Würde ich Benedikt an diesem Wochenende noch einmal treffen?
 

 

Ohne lange darüber nachzudenken, zog ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte seine Nummer. Es klingelte nur zweimal, bevor er abnahm.

 

„Hey! Wie ist es gelaufen?“

 

Ich lächelte leicht, als ich die Aufregung in seiner Stimme vernahm. Anscheinend hatte er zu Hause gesessen und gewartet, dass ich mich meldete.

 

„Nicht so gut“, begann ich und trat ins Badezimmer, damit mich meine Eltern nicht hören konnten. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich auf den Rand der Badewanne.

 

„Mein Bruder ist vollkommen ausgerastet. Er hat mir nicht geglaubt.“

„WAS?“

 

Benedikt schrie mir förmlich ins Ohr.

 

„Ist nicht dein Ernst. Und deine Eltern?“

 

Ich atmete einmal tief durch. Im Spiegel konnte ich mich selbst sehen, wie ich hier saß inmitten dieses geschmackvollen Ensembles. Ein wenig verloren und zerzaust, aber immerhin noch am Leben.

 

„Weiß nicht.“

„Hast du es ihnen nicht gesagt.“

„Doch. Ich musste.“

 

Als ich das ausgesprochen hatte, fing ich auf einmal an zu grinsen. Es stimmte zwar, dass ich es nicht ganz freiwillig getan hatte. Aber ich hatte es getan. Tatsächlich. Die Katze war aus dem Sack und stand nun laut maunzend mitten im Zimmer. Möglicherweise entschlossen sich meine Eltern, sie vorerst zu ignorieren, aber sie würde sich das nicht lange gefallen lassen. Dazu war sie viel zu glücklich.

 

„Ich habe es wirklich geschafft“, flüsterte ich, als würde die Realität zerspringen, wenn ich es zu laut aussprach.

 

„Das ist toll“, antwortete Benedikt. „Ich bin stolz auf dich.“

 

Ich weiß nicht, warum meine Augen bei diesen Worten anfingen überzuquellen. Möglicherweise war es nur die Anspannung, die endlich von mir wich, wie ein Eispanzer der im Frühling schmilzt und alles mit sich hinfort spült.

 

„Oh man, Theo, ich wäre jetzt so gerne bei dir“, sagte Benedikt, als er mich schniefen hörte.

 

Ich atmete tief ein und wischte die Tränen mit dem Handrücken fort. Ich wusste, dass es vermutlich keine gute Idee war, ihn hierher zu bitten. Ich sollte das hier innerhalb der Familie regeln. Meine Eltern hätten das sicherlich gewollt. Aber ich hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, ihn hier an meiner Seite zu haben.

 

„Ich wäre auch gerne bei dir. Aber ich glaube, ich sollte erst nochmal mit meinen Eltern reden.“

„Schaffst du das denn?“

 

Ich zuckte mit den Schultern, obwohl ich wusste, dass er das natürlich nicht sehen konnte.

 

„Ich werde es wohl schaffen müssen. Außerdem: Was hat Leon gesagt? Sie werden mich wohl kaum in so ein Umerziehungscamp stecken. Und wenn sie mich rauswerfen, kann ich bei Jo pennen.“

 

„Oder bei mir“, bot Benedikt sofort an. Ich lächelte meinem Spiegelbild zu.

 

„Das klingt gut“, flüsterte ich jetzt wieder. „Aber erst mal … erst mal schaue ich, ob ich überhaupt unter einer Brücke lande.“

 

„Okay, mach das“, sagte Benedikt. Er zögerte kurz, bevor er anfügte: „Soll ich heute Abend nochmal anrufen?“

 

„Das wäre toll.“

 

Wir verabschiedeten uns und legten gleichzeitig auf. Als ich das Handy sinken ließ, war mir, als wäre es kälter im Raum geworden.

 

Es ist noch nicht vorbei, sagte ich zur mir selbst, bevor ich mich erhob, das kalte Wasser aufdrehte und es so lange über meine Hände und Arme laufen ließ, bis ich kaum noch Gefühl darin hatte. Danach spritzte ich mir ein wenig Wasser ins Gesicht und trocknete es sorgfältig mit einem der weichen Handtücher ab. Als ich meine Brille wieder aufsetzte und in den Spiegel sah, waren meine Wangen und Augen gerötet und die Haare in meinem Pony waren dunkler vom Wasser.

 

„Dann mal auf in die zweite Runde“ machte ich mir selber Mut, bevor ich mich vom Waschbeckenrand losriss und langsam in Richtung Küche ging.

 

 

Die Tür war nur angelehnt und so konnte ich die Stimmen meiner Eltern hören, die sich leise unterhielten. Meine Mutter schien aufgebracht, mein Vater eher ruhig.

 

„Wie konnten wir das nicht merken?“, sagte sie jetzt gerade wieder und ich hörte, dass sie den Tränen nahe war. „Der arme Junge. Was haben wir nur falsch gemacht?“

 

Bevor mein Vater antworten konnte, stieß ich die Tür auf.

 

„Ihr habt gar nichts falsch gemacht“, rief ich und sah, wie meine Eltern zusammenzuckten. „Es ist niemand schuld daran.“

 

Meine Mutter verzog den Mund zu einer traurigen Grimasse. In der Hand hielt sie ein Taschentuch. Sie hatte offenbar ebenso geweint wie ich. Mein Vater schien äußerlich ruhig, aber in seinem Blick war ein unsicheres Flackern, das ich dort noch nie gesehen hatte. Es beunruhigte mich.

 

„Setzt du dich zu uns?“, fragte er, da meine Mutter offenbar nicht dazu in der Lage war.

 

„Wenn ihr das möchtet“, gab ich zurück und trat einen Schritt in den Raum hinein. Ich nahm mir die Zeit, zuerst noch die Tür zu schließen, bevor ich mich zu meinem üblichen Platz bewegte.

 

Auf dem Tisch stand das Essen in weißen Porzellanschüsseln. Auf einer Platte lag eine Lammkeule, dazu Bohnenpäckchen mit Speck umwickelt und Reis. Die Soße mit der angeschlagenen Sahne war bereits in sich zusammengefallen und bildete einen unansehnlichen Rand an der Wand der Sauciere. Ein Zeichen dafür, dass sie bereits zu kalt gewesen war, als man sie ausgegossen hatte. Zudem war der Teller meiner Mutter noch unberührt. Mein Vater schien der Einzige zu sein, der etwas gegessen hatte.

 

„Hast du Hunger? Soll ich dir noch was warm machen?“, fragte meine Mutter und wollte schon aufspringen, als mein Vater sie wieder auf ihren Stuhl zurück drückte.

 

„Wenn, dann esst ihr beide etwas. Und du bleibst sitzen.“

 

Er erhob sich und verschwand hinter dem Küchentresen, wo er begann, mit großem Getue herum zu werkeln. Meine Mutter runzelte die Stirn, als die Mikrowelle in Betrieb genommen wurde.

 

„Hoffentlich hat er nicht keinen Teller mit Goldrand genommen“, murmelte sie und sah mich von unten herauf an. „Die Küche ist nicht gerade sein Spezialgebiet.“

 

„Ich weiß“, sagte ich mit einem müden Lächeln. Insgesamt ermattet ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken. Meine Mutter sah hinab auf ihre Hände. Zwischen ihren Fingern hielt sie immer noch das Taschentuch.

 

„Du weißt es wahrscheinlich nicht mehr, aber einmal mussten wir sogar die Feuerwehr holen, weil er versucht hat zu kochen.“

 

Ich lachte auf.

 

„Im Ernst?“

„Ja. Er hat die Pizza mitsamt der Folie in den Ofen geschoben. Und als er das erste Mal eine Paprika aufschnitt, hat er mich mit großen Augen angesehen und ganz verblüfft gesagt: 'Die ist ja hohl.' Ich hab selten so gelacht.“

 

Auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht ganz verkneifen, obwohl ich die Geschichte schon kannte. Mein Vater war wirklich keine Leuchte, wenn es um hauswirtschaftliche Dinge ging. Er hatte es nie gelernt.

 

Wie, um uns zu beweisen, dass wir ihn falsch einschätzten, kam mein Vater in diesem Moment mit zwei Tellern zurück. Darauf das Lamm, Bohnen und Reis. Es war eines der Lieblingsessen meines Bruders. Ich hatte ihn darum betrogen.

 

„So. Und nun esst, bevor es wieder kalt wird“, sagte mein Vater und klang dabei, als habe er meiner Mutter den Text geklaut. Gehorsam griff ich nach dem Besteck.

 

Wir begannen zu essen. Schweigend. Mein Vater goss sich noch ein Bier ein. Das zweite, wie die bereits leere Flasche auf dem Tresen verriet. So viel trank er sonst mittags nie. Schon gar nicht an einem Samstag.

 

Das Essen auf meinem Teller war gut; es schmeckte hervorragend. Trotzdem konnte ich die Mahlzeit nicht wirklich genießen. Ich musste immer an das denken, was danach kommen würde.

 

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich hob den Kopf und sah meine Eltern geradeheraus an.

 

„Wollt ihr nicht mal was sagen?“

 

Mein Vater sah meine Mutter an und dann wieder zurück zu mir.

 

„Was möchtest du denn, das wir sagen sollen?“

 

Ich hob ein wenig die Schultern.

 

„Ich weiß nicht. Aber nicht nichts.“

 

Meine Mutter führte einen weiteren Bissen zum Mund, während mein Vater sich räusperte.

 

„Wir … also wir waren schon sehr überrascht darüber. Du sagst, du kennst diesen Benedikt aus der Schule?“

 

Noch wusste ich nicht, wo die Reise hingehen sollte. Daher entschloss ich mich, erst einmal abzuwarten und ihre Fragen zu beantworten, so gut ich konnte.

 

„Ja, wir kennen uns seit der siebten. Ihr wisst schon. Als ich sitzengeblieben bin. Da bin ich in seine Klasse gekommen.“

„Und ist er nett?“

 

Die Frage meiner Mutter klang ziemlich bemüht, aber ich rechnete es ihr hoch an, dass sie versuchte, so zu tun, als wäre alles normal. Als wäre Benedikt nur ein Mädchen, das ich kennengelernt hatte. Ich hob meine Mundwinkel ein Stück.

 

„Ja, ist er. Sehr. Wenn ihr möchtet, kann ich ihn ja mal einladen. Dann könnt ihr ihn kennenlernen.“

 

Ich erkannte sofort, dass ich damit einen Schritt zu weit gegangen war. Die Unsicherheit, die meine Eltern so mühsam vor mir zu verbergen versuchten, trat so deutlich zutage, dass ich selbst davor zurückschreckte. Ich hatte meine Eltern nie so erlebt. Sie wussten immer, was zu tun war.

 

„Wir können aber auch noch warten“, schob ich daher schnell hinterher. „Ich … also … Benedikt ist toll, aber wir können uns auch weiter bei ihm treffen. Seine Mutter hat bestimmt nichts dagegen.“

 

„Sie weiß davon?“

 

Auch ohne sie anzusehen konnte ich erkennen, dass meine Mutter verletzt war. Ich versuchte es erneut mit einem Lächeln.

 

„Na ja, es hat sich so ergeben. Ich habe bei Benedikt übernachtet, nachdem wir zusammen auf dem CSD waren und als sie am nächsten Morgen nach Hause kam …“

 

„CSD?“, unterbrach meine Mutter mich. Ihre Stirn lag in nachdenklichen Falten. „Was ist das?“

 

„Der Christopher Street Day. Eine Demonstration für die Rechte Homosexueller. Und eine große Party. Also beides zusammen. Wir waren zu der Parade in Hamburg.“

 

Wieder sahen sich meine Eltern an. Jetzt, wo ich es erzählte, hörte es sich tatsächlich so an, als hätte ich jahrelang ein geheimes Doppelleben geführt. Das musste ich aufklären.

 

„Hört zu, ich … ich weiß das alles selbst noch nicht so lange. Als ich am Anfang der Ferien mit Benedikt zusammen in diesem Zeltlager gelandet bin …“

„Er war auch dort?“

 

Wieder sah mich meine Mutter ungläubig an. Ich nickte.

 

„Ja, er … er macht Judo, weißt du. Im Verein. Jemand von da hat ihn gefragt und so sind wir uns im Zeltlager über den Weg gelaufen. Ich … ich hab schon eine ganze Zeit Probleme damit. Also damit, diese Gedanken und Gefühle einzuordnen. Durch ihn hab ich endlich erkannt, was dahintersteckt.“

 

Noch einmal lächelte ich.

 

„Ich hab mich in ihn verliebt und er sich in mich. Er war somit auch der Grund, warum ich mit Mia Schluss gemacht habe. Ich hoffe, ihr nehmt ihm das nicht übel.“

 

Jetzt war es mein Vater, der langsam den Kopf schüttelte.

 

„Nein, warum sollten wir. Für deine Beziehung mit Mia seid nur ihr beide verantwortlich. Dass du dich von ihr trennst, wenn du Gefühle für jemand anderen hast, spricht für dich.“

 

Ich wollte schon aufatmen, als er hinzusetzte: „Aber bist du dir wirklich sicher, dass es das wert ist? Mia ist ein hübsches und kluges Mädchen. So eine findest du nicht noch einmal.“

 

Ich wartete darauf, dass dieser Satz meines Vaters die gleichen Gefühle in mir auslöste, wie Christophers Anschuldigung, aber er tat es nicht. Vielmehr fühlte ich mich fast erleichtert, dass er seine Zweifel aussprach und nicht damit hinter dem Berg hielt.

 

„Ich bin mir sicher, dass Benedikt das wert ist. Mia ist ohne Frage toll, aber … sie ist nicht das, was ich will.“

 

Mein Vater nickte bedächtig.

 

„Aber diesen Benedikt. Den willst du?“, hakte er noch einmal nach.

 

„Mehr als alles andere.“

 

Ich hörte, wie er tief einatmete.

 

„Nun ja, dann können deine Mutter und ich wohl nicht viel dagegen tun. Auch wenn ich mir wünschte, dass es anders wäre. Mit dieser Entscheidung wirst du es nicht leicht haben in der Welt. Freundschaften, Studium, Beruf… all das wird um einiges schwieriger werden, als du es dir vielleicht vorstellst.“

 

„Ich weiß“, sagte ich, obwohl ich es mir vermutlich nicht ansatzweise vorstellen konnte wie schwierig es wirklich sein konnte. Aber selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich nicht wieder zurückgewollt.

 

„Aber wo wir gerade dabei sind. Da ist noch etwas, was ich euch sagen möchte. Nein, eigentlich sind es zwei Dinge.“

 

Meine Eltern blickten sich an und ich sah, dass ihnen Übles schwante. Also redete ich schnell weiter.

 

„Wie Mama ja schon weiß, war ich beim Arzt wegen meiner Kopfschmerzen und der Tabletten, die ich dagegen genommen habe. Dir habe ich noch nichts davon erzählt, weil ich erst abwarten wollte, wie die Diagnose lautet. Nun, das Gute zuerst: Ich bin organisch vollkommen gesund.“

 

Noch einmal musste ich meinem Vater Respekt zollen, denn er reagierte auf die Eröffnung, dass er bei dieser Sache offenbar übergangen worden war, ziemlich gelassen. Vielleicht hatte meine Mutter ihn auch schon vorbereitet. Ich wusste es nicht, aber es war jetzt auch egal. Das dicke Ende sollte ja erst noch kommen.

 

„Die Ärztin hat gesagt, dass die Ursache für meine Kopfschmerzen wahrscheinlich psychischer Natur sind. Ich denke, dass sie damit recht hat. Deswegen möchte ich eine Therapie machen.“

 

Noch bevor mein Vater zu Ende Luft geholt hatte, um zu antworten, dass das nicht infrage kam, redete ich schnell weiter.

 

„Und ich will anfangen, Musik zu machen. Also professionell. Ich schreibe schon seit Jahren selber Songs, ich singe und ich bin gut. Deswegen möchte ich gerne versuchen, damit mein Geld zu verdienen.“

 

Nach dieser Ansprache klappte ich den Mund zu und sah meine Eltern stillschweigend an. Es war nicht zu übersehen, dass ich sie vollkommen überfahren hatte. Mein Vater fing sich als Erster wieder.

 

„Dann war dieses Lied, das ich letztens gehört habe, von dir?“

 

Meine Mutter machte ein erstauntes Gesicht.

 

„Welches Lied?“

 

Mein Vater zuckte mit den Schultern und wirkte dabei wie ein ertappter Schuljunge.

 

„Ich war draußen und wollte mir etwas zu trinken holen. Als ich hereinkam, hörte ich jemanden Klavier spielen. Ich wollte schon reingehen, als Theodor zu singen begann. Ich dachte eigentlich, es wäre irgendetwas Bekanntes, aber anscheinend war es das nicht.“

 

Ich lächelte leicht und schüttelte den Kopf.

 

„Nein, das war ein Song, den ich für meinen Freund geschrieben habe. Er bedeutet mir sehr viel.“

 

Ich ließ offen, ob ich das Lied oder Benedikt damit meinte. Ich sah, wie es hinter der Stirn meines Vaters arbeitete.

 

„Nein“, sagte er schließlich und zog dabei die Augenbrauen ein wenig zusammen.

 

„Du bist sicherlich gut, das will ich gar nicht bezweifeln, aber bevor du dich vollkommen ins Unglück stürzt, wirst du zuerst eine anständige Ausbildung machen. Dann kannst du dich meinetwegen in der Musikbranche versuchen, aber keinen Tag früher.“

 

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

 

„Dann unterstützt ihr mich?“

 

Mein Vater sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.

 

„Natürlich unterstützen wir dich. Du magst zwar neuerdings nicht mehr ganz so der Sohn sein, den wir zu kennen dachten, aber du bist immer noch unser Kind.“

 

Obwohl ich wusste, dass es vermutlich bei meinem Vater nicht gut ankam, stiegen mir in diesem Moment die Tränen in die Augen. Er verzog das Gesicht, bevor er aufstand und die Arme ausbreitete. Ich warf mich hinein, wie ich es seit Jahren nicht mehr getan hatte. Mochte sein, dass das hier albern und kindisch war und dass ich darüber stehen sollte, ob meine Eltern zu meinem Leben Ja sagten oder nicht, aber in diesem Moment war ich einfach nur sehr, sehr froh, dass ich sie hatte. Und dass ich sie behalten würde.

Was am Ende bleibt

„Nachdem wir nun die Hauptperson beleuchtet haben, wollen wir uns einmal der zweiten Figur der Erzählung zuwenden. Grete Samsa, Gregors jüngere Schwester. Was erfahren wir über sie?“

 

Tatsächlich hoben sich auf Erichs Frage hin einige Hände. Er tat uns allen den Gefallen, Sandra dranzunehmen, die trotz der frühen Stunde schon voller Tatendrang war. Während sie aufzählte, was uns Kafka zu diesem Mädchen zu sagen hatte, lehnte ich mich zu Benedikt hinüber.
 

„Sie erinnert mich immer ein bisschen an Hermine aus dem ersten Film.“

 

Benedikt grinste und ich lächelte befriedigt, bevor ich mich wieder dem Unterricht zuwandte. Jo auf der anderen Seite sah ungefähr so wach aus, wie ich mich fühlte. Wer auch immer beschlossen hatte, die Woche mit einer Doppelstunde Deutsch anfangen zu lassen, hatte bestimmt diebische Freude dabei empfunden. Zumal Erich die Angewohnheit hatte, die kurze Pause zwischen den ersten beiden Stunden einfach zu überhören und durchzuarbeiten, sodass wir mittlerweile seit über einer Stunde in den Abgründen der kafkaschen Erzählung herumwühlten, wie der darin vorkommende Käfer in einem Misthaufen.

 

„Zum Schluss sieht Grete ihren Bruder nur noch als Tier an. Sie bezeichnet ihn als ein Es und möchte ihn loswerden. Als er schließlich stirbt, ist sie wie alle anderen Familienmitglieder erleichtert.“

 

Sandra klappte ihren Mund wieder zu und sah unseren Lehrer beifallheischend an. Erich nickte jedoch nur leicht.

 

„Oooch, nur fünf Punkte für Gryffindor“, raunte ich Benedikt zu, der wiederum grinste. Ich wollte gerade noch etwas sagen, als der Blick unseres Deutschlehrers auf mich fiel und mich förmlich auf meinen Stuhl pinnte.

 

„Von Hohenstein! Was sagen Sie denn dazu?“

 

Ich schluckte, als ich merkte, dass ich überhaupt nicht mitbekommen hatte, worum es ging. In meiner Verzweiflung trat ich die Flucht nach vorn an.

 

„Äh … wie war nochmal die Frage?“

 

Kichern war zu hören und jemand rief „Guten Morgen!“ in die Klasse hinein. Erich hingegen starrte mich aus durchdringenden, wasserblauen Augen weiterhin an. Seinen Stirn glich dem Marianengraben.
 

„Ich sagte, ich wüsste gerne, wie Sie Gregors Beziehung zu seiner Schwester charakterisieren würden.“

 

Angestrengt versuchte ich mich zu erinnern, was ich am gestrigen Tag über mehrere Stunden hinweg erfolglos versucht hatte, in meinem Kopf zu bekommen. Die Ereignisse vom Samstag hatten alles überschattet und so hatte ich irgendwann meinen Kopf ab- und den Fernseher angeschaltet. Die bewegten Bilder waren eine hervorragende Ablenkung gewesen, nur Kafka hatten sie mich nicht näher gebracht. Stotternd begann ich zu antworten.
 

„Tja, also … er sieht seine Schwester als … Kind. Jemand, der nicht zu arbeiten braucht und nur seinen Vergnügungen nachgeht.“

„Und wie bewertet er das?“

 

Ich blinzelte ein paar Mal.
 

„Wie meinen Sie das?“

 

Erich hob jetzt die eben noch streng gefurchten Brauen und öffnete die Hände zu einer abwägenden Geste.
 

„Findet er das gut oder schlecht. Denkt er, dass seine Schwester faul und nutzlos ist oder findet er es in Ordnung, dass sie nichts zum Erhalt der Familie beiträgt?“

 

Ich überlegte fieberhaft. Irgendwo in meinem Kopf musste die Antwort zu finden sein, aber ich bekam sie einfach nicht herausgekitzelt. Zum Glück ließ mich Jo nicht im Stich.
 

„Er steht auf sie“, verkündete mein Freund ohne sich zu melden. Sofort ruckte Erichs Kopf herum wie der eines Raubvogels, der eine neue Beute erspäht hatte.
 

„Ach nein. Meinert hat also auch schon ausgeschlafen. Wie schön! Dann erzählen Sie uns doch mal, was unser Knabe im lockigen Haar offenbar schon wieder verdrängt hat.“

 

Jo ließ geräuschvoll die Luft entweichen.
 

„Na ja, da steht, er will ihr nahe sein, ihren Hals küssen und dass sie für ihn Musik macht. Wobei sie ja auch die Einzige ist, die sich um ihn kümmert. Wahrscheinlich so ne Art Stockholm-Syndrom.“
 

Erichs Züge, die zunächst leichte Begeisterung gezeigt hatten, fielen jetzt wieder in sich zusammen. Er seufzte.
 

„Wischnewsky? Wären Sie so freundlich, diese Ahnungslosen mal aufzuklären?“

 

Anton, der sich offenbar die ganze Zeit gemeldet hatte, nahm seinen Arm herunter.

 

„Es gibt zwar Hinweise auf eine inzestuöse Hinwendung Gregors zu seiner Schwester, in erster Linie ist sie ihm jedoch eine Freundin und Verbündete. Indem er ihr den Wunsch nach dem Violinenunterricht im Konservatorium erfüllen will, lehnt er sich gleichzeitig gegen seinen Vater auf, da dieser eine solche Ausgabe nicht dulden würde. Ihr Verrat trifft ihn daher besonders tief, ebenso wie Kafka der Verrat durch seine eigene Schwester getroffen hat. Die Tatsache, dass Kafka die Erzählung in dem Jahr verfasst hat, in dem sich seine Schwester von ihm abwandte und auf die Seite des gemeinsamen Vaters stellte, unterstützt diese These. Auch Gregors Schwester erlebt eine Verwandlung von der Alliierten zur Feindin, die schließlich durch die Vernachlässigung und gleichzeitige Weigerung, irgendjemand anderen zu Gregors Pflege zuzulassen, seinen Tod herbeiführt.“

 

„Ich dachte, der starb an einem Apfel im Rücken“, warf Jo wiederum ein, ohne sich zu melden. Anton bedachte ihn mit einem nachsichtigen Blick.
 

„Die Verletzung durch den vom Vater geworfenen Apfel hätte Gregor bei guter Pflege überleben können, nicht jedoch den Nahrungsentzug, dem ihn seine Schwester ausgesetzt hat.“

 

Jetzt kam ein Nicken in Erichs Kopf. Er entfernte sich wieder von unserem Tisch, um an der Tafel mit schnellen, leicht schräg stehenden Strichen ein Schaubild zu erstellen.
 

„Wir haben also einen distanzierten, herrischen Vater, eine schwächliche Mutter und eine Schwester, die nur vorgibt eine freundliche Person zu sein. Wie denken Sie, sind die Motivationen der einzelnen Personen dafür?“

 

Während die anderen sich bemühten, eine Antwort auf Erichs Frage zu finden, rutschte ich in meinem Stuhl ein wenig nach unten.
 

„Das ist ja toll gelaufen“, wisperte ich Benedikt gerade zu, als mich schon wieder Erichs starrer Blick traf.
 

„Von Hohenstein! Wenn Sie noch weiter herumschwätzen, werde ich Sie und ihr Liebchen in Zukunft auseinandersetzen. Also los, zeigen Sie mal, dass nicht nur Holzwolle in Ihrem hübschen Köpfchen steckt. Was ist der Grund, aus dem Grete Samsa ihrem Bruder beisteht?“

 

Wie erwartet richteten sich erneut alle Blicke auf mich. Meine Handflächen begannen zu schwitzen. Trotzdem bemühte ich mich um eine gelassene Körperhaltung.
 

„Nun ja“, sagte ich gedehnt, um ein wenig Zeit zu schinden. „Am Anfang wird sie vermutlich noch aus Zuneigung gehandelt haben. Vielleicht auch, um ihre Mutter vor dem Käfer zu schützen, die ja sonst die Pflege hätte übernehmen müssen.“

 

„Und woran machen Sie diese These fest?“

„Äh …“

 

Ich überlegte noch, als Benedikt sich plötzlich meldete. Auf ein Nicken unseres Deutschlehrers hin erklärte er:

 

„Sie fragt am Anfang besorgt nach seinem Befinden und bemüht sich, dem Käfer Nahrung zu geben, die ihm schmeckt.“

 

Wieder ein Nicken und Erich notierte diesen Punkt an der Tafel.

 

„Und wie geht es dann weiter? Von Hohenstein?“

 

Ich zuckte zusammen. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, noch einmal aufgerufen zu werden. Herr Kästner schien sich heute morgen mal wieder in meine Waden verbeißen zu wollen. Da half nur eines: ein gutes Ergebnis abliefern.

 

Ich räusperte mich.
 

„Da Gregor kein Geld mehr verdient, muss die Familie arbeiten gehen. Grete nimmt eine Stelle als Verkäuferin an und ist zusätzlich für die Pflege des Käfers verantwortlich. Ich nehme an, dass ihr das auf Dauer einfach zu viel wurde und sie deswegen ihren Bruder loswerden wollte.“

 

Offenbar zufrieden wandte sich unser Deutschlehrer wieder der Tafel zu und notierte das Wort „Überforderung“ neben Gretes Namen. Während er nun dazu überging, den Rest der Klasse nach den weiteren Motiven der Schwester zu befragen, blieb ich an diesem Wort hängen. Die weißen Buchstaben auf dunkelgrünem Grund schienen förmlich aufzuleuchten, aus den anderen herauszutreten und mir zuzuraunen, dass sie wichtig waren. „Persönliche Aufwertung“ und „Respekt und Fürsorge den Eltern gegenüber“ gesellten sich dazu und plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht die Familienaufstellung Gregor Samsas zu betrachten, sondern meine eigene mit mir als merkwürdigem Käfer in der Mitte.

 

War es Christopher ebenso ergangen wie Grete? War auch ihm die Aufgabe, auf seinen Bruder aufzupassen, irgendwann über den Kopf gewachsen? Warum hatte er dann nicht einfach damit aufgehört? Immerhin war ich inzwischen erwachsen. Ich brauchte niemanden mehr, der mir Händchen hielt.

 

Aber sich verändern ist schwer.

 

Wenn jemand das wusste, dann ich. Viel zu lange hatte ich mich im Kreis gedreht, weil ich zu feige gewesen war, aus dem Karussell auszusteigen, in das ich mich selbst gesetzt hatte. Ich hatte weiter und weiter gemacht und wenn Benedikt nicht gewesen wäre, würde ich vermutlich immer noch darin feststecken.

 

Am Ende habe ich es dennoch geschafft, mich daraus zu befreien.

 

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Unterschiede zwischen mir und Gregor Samsa wurden deutlich. Mochte ja sein, dass ich mich am Anfang ebenso verhalten hatte wie er. Ich hatte mich zurückgezogen und versucht, mein Geheimnis zu verbergen. Den Schein zu wahren und nur nichts von der Wahrheit durchsickern zu lassen. Ich hatte die Augen verschlossen und gehofft, dass sich alle Probleme von selbst in Wohlgefallen auflösen würden. Doch Gregor Samsa war an diesem Punkt stehengeblieben. Er hatte die Chance, die sich ihm durch seine Verwandlung geboten hatte, nicht genutzt. Ich hingegen war weitergegangen.

 

Außerdem haben meine Eltern nie aufgehört, einen Menschen in mir zu sehen. Sie haben sich nicht von mir abgewendet.

 

Noch während ich darüber nachdachte, wie viel Glück ich doch hatte, dass mein Umfeld so viel verständnisvoller war als das dieses Käfers, klingelte es. Herr Kästner vorn an der Tafel beendete die letzten Kreidestriche und legte das angefangene Stück in den dafür vorgesehenen Kasten auf dem Lehrerpult.

 

„Das nächste Mal beschäftigen wir uns mit den in 'Die Verwandlung' verwendeten Stilmitteln. Bereiten Sie sich also darauf vor!“, rief er noch in den allgemeinen Tumult hinein. Danach schnappte er sich seine Aktentasche, klemmte sie sich unter den Arm und floh vom Ort des Geschehens.

 

 

„Ich finde Kafka wirklich faszinierend“, sagte Anton, während wir auf dem Weg zur Pausenhalle waren. „Seine komplexe und doch einfache Satzstruktur, die Verwendung von Alliterationen, Parenthesen und Polyvalenzen, die …“

 

„Poly-was?“, unterbrach Jo ihn und wandte sich anschließend an Benedikt. „Hält dieses wandelnde Lexikon eigentlich auch mal die Klappe? Wie hältst du das nur aus?“

 

Anton, der Jos zweiten Einwurf geflissentlich überhört hatte, erklärte gewissenhaft: „Polyvalenz bedeutet, das etwas mehrere Anwendungsmöglichkeiten hat. Ein Fußballspieler beispielsweise, der auf verschiedenen Positionen ohne große Verluste einsetzbar ist, wäre ein Beispiel dafür. Du würdest vielleicht den Begriff 'Allrounder' benutzen.“

 

Jo guckte fast eine volle Minute dumm aus der Wäsche, bis er offenbar begriff, dass er Antons Erklärung tatsächlich verstanden hatte. Der jedoch referierte bereits weiter über Kafkas epochenprägenden Schreibstil und erging sich in noch mehr Fremdwörtern. Dabei blieb seine Miene weitestgehend ausdruckslos, nur die leichte Modulation seiner Stimmlage zeigte an, dass er in höchsten Maße begeistert war.

 

Mit Erstaunen bemerkte ich, dass mir das überhaupt auffiel.
 

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Benedikt plötzlich. Wir hatten inzwischen unsere Ecke der Pausenhalle erreicht und entledigten uns einer nach dem anderen unserer Taschen und Rucksäcke.
 

„Ja, alles okay. Ich bin nur noch ein wenig geschafft vom Wochenende.“

 

Benedikt lächelte und ich wusste, dass ich keine weiteren Worte brauchte. Stumm ließ ich mich neben ihn auf einem der Tische nieder. Unsere Oberschenkel berührten sich. Wie von selbst glitt mein Blick zu seinem Gesicht und ich versank in diesen dunklen, blauen Augen wie in dem Meer, an das sie mich immer erinnerten. Noch einmal glaubte ich, den Geruch des Salzwassers riechen zu können, den Wind in meinen Haaren zu spüren und den Geschmack seiner Lippen auf meinen wahrzunehmen. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte die Zeit zurückdrehen können, um all das wieder gutzumachen, was ich angerichtet hatte. Ich war wirklich ein riesengroßer Idiot gewesen, dass ich mich so lange dagegen gewehrt hatte.

 

„Wenn ihr euch noch weiter gegenseitig mit Blicken auszieht, könnt ihr auch gleich einen Anschlag ans Schwarze Brett machen“, unkte plötzlich eine Stimme dich neben mir. Ein Blick in ihre Richtung eröffnete mir die Aussicht auf Jos süßsauren Gesichtsausdruck.
 

„Mal ehrlich, Mia hast du nie angeglotzt wie so ein Mondkalb. Wenigstens nicht, wenn wir dabei waren.“

 

Jo moserte und meckerte noch eine ganze Weile lang vor sich hin, aber ich hörte ihm schon nicht mehr zu. Die Erwähnung meiner Exfreundin hatte mich daran erinnert, dass es noch jemanden gab, den ich durch meine Selbstverleugnung verletzt hatte. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre Mia jetzt vielleicht mit jemandem zusammen gewesen, der sie aufrichtig liebte. Stattdessen hatte ich dafür gesorgt, dass sie in allgemeine Ungnade fiel, und sie dann im Stich gelassen. Ich wusste, dass es in dem Moment das Richtige gewesen war, aber vielleicht … vielleicht war es an der Zeit, diesen Zustand zu beenden.

 

Ich richtete mich auf und suchte die Pausenhalle ab. Mia stand am Rand unserer Jahrgangsgruppe, wo sie sich mit Anne unterhielt. Sie lächelte und der Anblick tat mir gut. Er ließ mich hoffen, dass mein Plan funktionieren konnte.

 

Ohne ein Wort zu Benedikt und den anderen zu sagen, erhob ich mich und schob mich zwischen den Leuten hindurch, bis ich direkt hinter Anne stand. Als sie es bemerkte drehte sie sich herum. Sofort wurde ihr Gesicht finster.
 

„Was willst du?“, fragte sie und es war ihr anzusehen, dass sie sich in die weibliche Version von Stefan Hentschel zu verwandeln drohte, wenn ich die falsche Antwort gab.
 

„Ich will nur mit ihr reden“, gab ich zurück. Anne rückte widerwillig ein Stück zur Seite und im nächsten Moment stand ich vor Mia. Mein Mund wurde trocken.
 

„Hi“, sagte ich und sie grüßte ebenso zurück. Mit der Hand strich sie sich die Haare hinter das Ohr. Sie hatte sie ein ganzes Stück gekürzt. Einige der Strähnen lösten sich und fielen ihr erneut ins Gesicht.
 

„Du hast eine neue Frisur.“

 

Unnützer Smalltalk, aber ich wusste nicht so wirklich, wie ich ihr sagen sollte, was ich zu sagen hatte.

 

„Ja, ich … ich dachte, es wäre mal Zeit für was Neues.“
 

Sie senkte den Blick, als ihr offenbar klar wurde, wie verräterisch und doppeldeutig diese Aussage war.
 

„Mia, ich … ich wollte dir nochmal sagen, wie leid mir das alles tut.“

 

Sie schüttelte leicht den Kopf.
 

„Ist schon gut. Es ist nicht deine Schuld.“

 

Ich atmete tief durch.
 

„Ich weiß. Aber ich … ich hab das Gefühl, dass ich dir mehr weggenommen habe, als nur den Freund.“

 

Jetzt blickte sie auf und in ihren Augen stand etwas Vertrautes. Eine ungläubige Hoffnung und sehnsüchtiges Verlangen. Es war dieser Ausdruck, der mich dazu brachte, weiterzureden.
 

„Weißt du, wir … wir konnten doch immer über alles reden. Und ich … also ich weiß nicht, ob es dafür zu früh ist, aber ich würde gerne wissen, ob du denkst, dass wir vielleicht …“

„Freunde sein könnten?“

 

Hätte Mia in diesem Moment abfällig geklungen oder gar verletzt, wäre ich sofort gegangen. Sie hatte ein Recht darauf, von mir in Ruhe gelassen zu werden. Ihr Ton allerdings legte die Vermutung nahe, dass es ihr ebenso ging wie mir. Doch, um mir sicher zu sein, musste ich es aussprechen.
 

„Du bist mir einfach als Mensch sehr wichtig“, versuchte ich in Worte zu fassen, was ich dachte. „Und das ist nicht einfach nur irgendein Spruch. Ich vermisse unsere Gespräche und ich …“

 

Ich brach ab, als ich sah, dass Mia Tränen in den Augen hatte.
 

„Ich auch“, hauchte sie und wischte sich im nächsten Moment hektisch über das Gesicht.

 

„Oh Himmel, jetzt flenne ich auch noch rum“, rief sie und lachte, während sie geräuschvoll die Nase hochzog. Wenn ihre Mutter das gehört hätte, wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen.

 

„Die Antwort ist Ja.“

 

Mia strahlte mich an. Mein Blick glitt zu Anne, die demonstrativ aufstöhnte.
 

„Na meinetwegen. Ich denke zwar, dass das ne schlechte Idee ist, aber Mia ist schon ein großes Mädchen. Sie muss wissen, auf was sie sich einlässt. Ihr wart ja immerhin lange genug zusammen.“

 

Ein Grinsen, das so schnell nicht wieder weggehen würde, bemächtigte sich meines Gesichts. Anne stöhnte.
 

„Jetzt grins nicht auch noch so blöd. Du bekommst sowieso immer alles, was du willst. Das Mädchen, den Jungen und vermutlich würden sie dir auch noch Pferde und Schlösser nachschmeißen, wenn du nur darum bitten würdest. Von halben Königreichen mal ganz zu schweigen.“
 

„Also kommt ihr mit rüber?“, hakte ich nach und wurde mit einem weiteren Stöhnen und einem Strahlen von Mia belohnt.
 

„Ja, gerne.“

 

 

Als wir zurückkamen, sah Jo aus, als stände er kurz vor dem Herzstillstand.

 

„Was wird das denn jetzt? Plant ihr ne Orgie?“

 

„Maximal eine Orgie der Freundschaft“, gab ich zurück und fühlte mich gut wie schon lange nicht mehr. Ich nahm Mias Hand und führte sie zu dem Tisch, auf dem Benedikt saß. Er sah zuerst mich und dann Mia an.
 

„Hey!“, machte er in ihre Richtung. „Alles klar bei dir?“

 

Mia nickte.
 

„Ja, und selbst?“

„Ach, muss ja.“

 

Ich verkniff mir ein Lachen und sah nach unten. Auch das Verhältnis zwischen Mia und Benedikt würde sich erst langsam aufbauen müssen. Ob es klappen würde?

 

„Du hast einen guten Männergeschmack“, sagte Mia plötzlich und ließ sowohl Benedikt wie auch mich erstaunt die Augen aufreißen.
 

„Äh, ja … danke“, stammelte Benedikt wenig eloquent. Mia brach in ein glockenhelles Lachen aus.
 

„Ach, nun kommt schon. Ich weiß, dass das komisch ist, aber wenn wir die ganze Zeit versuchen, das Thema zu vermeiden, tun wir uns damit auch keinen Gefallen. Also lasst euch gesagt sein, dass es okay für mich ist. Ich freu mich für euch.“
 

Dabei lächelte sie mich und Benedikt an und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. Mia nahm das zum Anlass, sich neben Benedikt auf den Tisch zu setzen und sich mit den anderen zu unterhalten, als hätte sie nie etwas anderes getan. Es war sicherlich immer noch ein wenig gezwungen, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, dass wir es hinkriegen würden.
 

„Du siehst glücklich aus.“

 

Benedikt hatte sich halb erhoben und stand jetzt direkt vor mir.
 

„Bin ich auch“ erwiderte ich und meinte es so, wie ich es sagte. Sicherlich würden noch einige Berge und vor allem Täler auf mich zukommen, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte es sich nicht so an, als würde der Weg immer nur nach unten führen.
 

„Ich wäre jetzt gern ein bisschen mit dir allein“, wisperte Benedikt und ich wusste sofort, was er meinte. Mein Herz begann zu klopfen.
 

„Warum allein?“, fragte ich trotzdem zurück und erhielt einen leicht verschämten Blick.
 

„Na, ich … ich würde dich jetzt gerne küssen.“

 

Ich spürte die Schläge, die gegen meinen Brustkorb hämmerten. Sie brachten etwas in mir zum Erklingen und ließen mich schneller atmen. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Ich wollte Benedikt anfassen, ihn berühren, ihn schmecken. Sofort.
 

„Dann tu’s doch“, sagte ich und bemühte mich, meine Aufregung nicht allzu sehr an die Oberfläche kommen zu lassen. Benedikts Augenbrauen schossen nach oben.
 

„Hier?“

 

Ich lächelte leicht, obwohl meine Hände zitterten.
 

„Warum nicht?“

 

Er lachte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und senkte den Kopf, bevor er mich von unten herauf ansah.

 

„Na weil … weil es dann alle sehen. Ist es das, was du wirklich willst?“

 

Ich verstand, warum er zögerte. Wenn wir das taten, gab es kein Zurück mehr. Für keinen von uns. Der Gedanke verdoppelte meinen Pulsschlag noch einmal. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Gleichzeitig wollte ich jubeln und tanzen und singen. In meinem Kopf drehte sich alles.
 

„Ja“, stieß ich hervor. „Ja, das will ich. Ich will mich nicht mehr verstecken. Keine Angst mehr haben. Ich … ich will einfach, dass die Leute sehen, dass wir zusammengehören.“

 

Ich weiß nicht, was genau es war, das den Ausschlag gab, aber plötzlich begann Benedikt zu lächeln.

 

„Du willst also so richtig ein Paar sein mit allem drum und dran.“

„Ja!“

 

Ich lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
 

„War dir das denn nicht klar?“

 

Er hob leicht die Schultern.
 

„Weiß nicht. Es hätte ja sein können, dass …“

 

Ich schnitt ihm das Wort ab, indem ich auf ihn zutrat und meine Arme um seinen Hals schlang. Ernst blickte ich ihm in die Augen.

 

„Benedikt, ich …. ich empfinde unheimlich viel für dich. Mehr, als ich je für jemanden empfunden habe. Und auch wenn ich viel zu lange gebraucht habe, um es einzusehen, war dich zu küssen eine der besten Ideen, die ich je gehabt habe.“

 

Benedikt grinste.
 

„Also eigentlich war das ja meine Idee.“

 

Ich verdrehte die Augen.
 

„Wie auch immer. Fakt ist, dass ich … ich …“

 

Ich stockte. Die Worte wollten einfach nicht herauskommen. Obwohl ich genau wusste, was ich sagen wollte, aber es kam mir so plump vor. So dämlich. So …

 

„Äh … was macht ihr beide denn da?“

 

Benedikt und ich drehten die Köpfe zur Seite und sahen uns Mia-Sophie gegenüber. Zweitschönstes Mädchen des Jahrgangs und Lästermaul Nummer Eins, wenn es um Schulklatsch und Tratsch ging.
 

„Wonach sieht’s denn aus?“, fragte Benedikt zurück. „Wir unterhalten uns.“

 

„Ja, aber T …?! Warum hast du deine Arme um seinen Hals gelegt. Du bist doch nicht schwul.“

 

Ich blinzelte kurz, sah Benedikt an und dann wieder Mia-Sophie.

 

„Doch bin ich“, antwortete ich und grinste. „Und falls du mir nicht glaubst, hier ist der Beweis.“

 

Mit diesen Worten drehte ich mich wieder zu Benedikt herum, lehnte mich vor und drückte meinen Mund so fest auf seinen, wie ich nur konnte. Hinter mir hörte ich Mia-Sophie zuerst nach Luft schnappen und anschließend kreischen.

 

„OH MEIN GOTT! Die küssen sich. T und Benedikt küssen sich!“

 

Gemurmel brandete auf, Tische und Stühle wurden gerückt, ungläubige Stimmen wurden laut. Jeder wollte sehen, ob es stimmte oder ob Mia-Sophie einfach nur übergeschnappt war.

 

Ich kümmerte mich nicht darum, sondern konzentrierte mich voll auf Benedikt, auf seine Lippen an meinen und das Gefühl in seinen Armen zu liegen.
 

„Du bist ja verrückt,“ flüsterte er mir ins Ohr, nachdem wir den Kuss beendet hatten.
 

„Verrückt nach dir“, gab ich ebenso leise zurück. Ich drückte ihn noch einmal an mich, bevor ich ihn endgültig losließ und mich der tobenden Meute stellte, aus der inzwischen Pfiffe und Klatschen zu uns vordrangen. Mindestens drei Dutzend neugierige Augen, die uns allesamt anstarrten. Aber es machte mir nichts aus. Ich hatte keine Angst mehr.

 

Denn es mochte der Kopf sein, der für uns die Entscheidungen traf. Der uns vor echten oder eingebildeten Monstern beschützte, uns half, Wissen anzusammeln, kreativ zu sein und das, was in uns drinsteckte, in eine Sprache zu fassen, damit wir gehört wurden. Der Kopf sicherte unser Überleben und ich hatte ihn weiß Gott lange genug entscheiden lassen, was ich tat. Doch am Ende, wenn alle Worte gesagt und die Musik verstummt war, war es das Herz, das dafür sorgte, dass wir glücklich waren.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben,

solltet ihr „Ich, er und die Liebe“ gelesen haben, begrüße ich euch herzlich zur Fortsetzung des Ganzen. Wie ihr seht, hatte ich nicht vor, die beiden Jungs auf ewig voneinander fernzuhalten. *g*

Alle anderen sind herzlich eingeladen, einfach jetzt hier einzusteigen, denn ich plane, die Geschichte als eigenständiges Werk zu schreiben. Das kann dazu führen, dass einige Dinge aus dem ersten Teil nochmal aus einer anderen Perspektive aufgewärmt werden. Es kann mir aber natürlich auch passieren, dass ich Sachen als bekannt voraussetze, die es nicht sind. Sollte das jemandem auffallen, gerne darauf hinweisen.

Kommentare sind immer gerne gesehen und werden auch immer beantwortet. Allerdings halte ich die öffentlichen Antworten nach Möglichkeit spoilerfrei. Solltet ihr trotzdem irgendwas vorher wissen wollen, fragt gerne per PN nach.

So und jetzt bin ich auch schon ruhig und freue mich auf eine neue Geschichte. :)

Zauberhafte Grüße
Mag Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben!

Wie ihr vielleicht gemerkt habt, gab es dieses Mal kein „Vor-dem-Wochenende-Kapitel. Das liegt daran, dass das Leben hier gerade mit Terminen um sich schmeißt und kranke Kinder gab es auch im Dutzend billiger. Umso mehr freue ich mich über die Anzahl an neuen Favos und möchte euch herzlich an Bord begrüßen. Vor uns liegen ein wenig stürmische Gewässer, von daher bitte ich die Anwesenden, eventuell vorhandene Hüte gut festzuhalten und sich nicht zu weit über die Brüstung zu lehnen. :)

Zauberhafte Grüße
Mag Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der Liedtext stammt dieses Mal von Lea "Immer wenn wir uns sehen"

Solo-Version: https://www.youtube.com/watch?v=2SbdixXvwBk

Film-Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=b3cU182bGfQ

Auf meiner Watchlist für heute Abend steht auf jeden Fall "Das schönste Mädchen der Welt". ^__^

Auch sonst werde ich diese Wochenende wohl dank Adventsvorbereitungen nicht so zum Schreiben kommen. Daher wünsche ich euch einen schönen, ersten Advent und schon mal eine besinnliche Weihnachtszeit.

Zauberhafte Grüße
Mag Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben!

Erstes Kapitel im neuen Jahr. :)

Ich hoffe, ihr seid alle gut reingekommen und außerdem alle gesund geblieben. An der Stelle mag ich mich (weil ich es beim letzten Mal vergessen habe) noch gleich mal für das Feedback und die Favoeinträge bedanken. Das gibt mir immer das Gefühl, dass das, was ich hier mache, doch irgendwem Freude bereitet.

Ganz zauberhafte Neujahrsgrüße an alle
Mag
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute beende ich einfach mal mit dem Liedtext. Gedichtet ist das Ganze auf „Ich lass für dich das Licht an“ von Revolverheld. Das wollte ich erst nicht dazu schreiben, weil mir das mit dem Licht nämlich vor der dem Finden der Melodie eingefallen ist, aber … ach na ist ja auch egal. Wer mal reinhören (oder sogar mitsingen :D) will, kann das hier tun:

Revolverheld - Ich lass für dich das Licht an (Piano Cover) - https://www.youtube.com/watch?v=lFmkMQ95Y9k
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Klingelton aus „Sick boy“ von The Chainsmokers

Songzeile aus „I hate u, I love u“ von Gnash
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben,

„Herz über Kopf“ hat nun ein Ende gefunden. Ich möchte mich an dieser Stelle nochmal bei allen bedanken, die mir ein Review oder einen Favoriten dagelassen haben. Sie waren mir immer eine Motivation und ein Ansporn um weiterzumachen.

Ich hoffe, euch hat die Geschichte gefallen. Wenn ja, lasst mir doch gerne eure Meinung da. Natürlich gerne auch Dinge, die euch nicht überzeugt haben, denn nur durch Rückmeldung kann ich solche Dinge in Zukunft vermeiden. :)

Wie es weitergehen wird, weiß ich noch nicht genau. Gerade ist die unbestimmte Idee aufgeploppt, vielleicht Manuel noch eine Geschichte zu widmen, aber ob es wirklich dazu kommen wird, weiß ich noch nicht. Am besten verspreche ich mal, dass ich vorerst eine Schreibpause machen werde, dann geht es meist besonders schnell weiter. :D

Ich wünsche euch noch eine gute Zeit und passt auf euch auf.

Zauberhafte Grüße
Mag
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Kommentare zu dieser Fanfic (138)
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Von:  fatua
2021-04-27T14:30:13+00:00 27.04.2021 16:30
Oh, wie schön. 😄
Mir gefällt in diesem Kapitel auch die Mischung: erst nachdenklich und dann das romantisch/witzige Ende. Ein toller Abschluss für Theos Geschichte! 🥰
Antwort von:  Maginisha
28.04.2021 18:36
Das freut mich sehr, dass dir der Abschluss nochmal etwas gegeben hat. Ich bedanke mich noch einmal für die vielen Kommentare!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  fatua
2021-04-27T14:13:37+00:00 27.04.2021 16:13
Und zum Nachtisch Friede, Freude, Eierkuchen ... 😉 Diese Familie mit ihren altmodischen Rollenbildern macht mich verrückt. Und dieses ganze Drama nur wegen einer sexuellen Ausrichtung. 🙄
Kein Wunder, dass Theo sich die ganze Zeit solchen Stress gemacht hat. Naja, dafür lief es sogar tatsächlich ganz gut. In jedem Fall deutlich besser als befürchtet. 👍
Antwort von:  Maginisha
28.04.2021 18:35
Hey fatua!

An und für sich ist an Aufgabenteilung ja nichts Schlechtes. Zumal wenn jeder das machen kann, was ihm liegt. Welche Wirkung es aber haben kann, sieht man hier. Aber der meiste Stres hat tatsächlich in Theos Kopf stattgefunden. ;)
Von:  chaos-kao
2021-04-01T14:50:39+00:00 01.04.2021 16:50
Das ist ein wirklich wirklich schönes und rundes Ende für die beiden! Der Vergleich mit Samsa zeigt sehr schön, dass Theo wirklich weiter gekommen ist, dass er positiver von sich denkt und sich allgemein sehr zu seinem Vorteil entwickelt hat. Auch das Ende, die Zusammenführung seiner Freunde und am Ende das Outing, die Sicherheit trotz seiner Angst und Unsicherheit. Er hat wirklich eine wahnsinnige Entwicklung durchgemacht und ich finde, dass du diese sehr einfühlsam beschrieben hast. Danke, dass du diese Geschichte mit uns geteilt hast und ich geh gleich nochmal nachschauen, ob ich dich auch wirklich abonniert habe, damit ich nichts Neues verpasse :)
Antwort von:  Maginisha
02.04.2021 10:54
Hey chaos-kao!

So ein bisschen Schulstoff musste ich ja doch nochmal mit reinbringen. ;) Ursprünglich war eigentlich geplant, dass sich das Hin und Her der beiden ja noch über das ganze Schuljahr ziehen sollte, aber ich glaube, ich habe mir, euch und der Geschichte einen Gefallen damit getan, dass sich Theo nun doch mit einem doppelten Salto rückwärts aus der Situation katapultiert hat. Sicherlich ist da noch eine Menge aufzuarbeiten, aber das will und wird er ja angehen.

Ich danke dir für die Kommentare und wünsche erstmal Frohe Ostern!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2021-04-01T10:52:46+00:00 01.04.2021 12:52
Hey Mag,
Also erstmal: Wow! Das Ende kommt etwas unerwartet, aber das ganze Kapitel hat es irgendwie erahnen lassen. Dass Theo so im Reinen mit sich und seinen Gedanken geworden ist, ist schon beeindruckend und zeigt die große Verwandlung, die er hinter sich hat.
Ich liebe die Beiden total!

Auch wenn noch vieles ungeklärt und offen ist, ist es ein gelungenes Ende für eine wirklich, wirklich schöne Geschichte.

Finde es toll, dass du den Erich nochmal eingebracht hast. Er scheint wirklich sehr vernarrt in den süßen Lockenkopf zu sein ;)

Als Idee für eine Fortsetzung könntest du das Leben von Theo's Bruder Christopher weitererzählen. Mich interessiert es brennend, wie die Beziehung zwischen den Brüdern wieder gerade gerückt wird.
Manuel wäre auch sehr interessant. Was ist mit ihm passiert, nachdem er Benedikt als totaler vollarsch verlassen hat?

Also wirklich toll und schön und so vieles mehr. xD
Wenn du etwas Neues anfängst, informiere mich bitte:)

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
02.04.2021 10:51
Hey Ryosae!

Vielen haben mir geschrieben, dass sie gerne noch weiter gelesen hätten und natürlich gäbe es auch noch viel zu erzählen. Von der Therapie, der Aufarbeitung von Theos Verdrängung und seinen Unzulänglichkeitsgefühlen seinem Vater gegenüber, die Sache mit ihm und Christopher, was jetzt mit seiner Karriere als Musiker wird und so weiter. Aber ich fand, dass die Spannungsbögen der Geschichte jetzt hier eine Stelle erreicht haben, an der man sich das irgendwie zumindest vorstellen kann, auch wenn es nicht bis zum bitteren Ende auserzählt ist. :)

Erich musste definitiv nochmal sein. Eigentlich sind da viele Figuren, wie eben auch Christopher, die ein bisschen zu kurz gekommen sind. Ich hab mich wohl wieder mal mit dem Cast etwas übernommen. :D

Ob ich nochmal in diesem "Universum" bleibe oder was ganz anderes mache, weiß ich noch nicht. Eine kleine Idee für Anton hätte ich, aber ich weiß nicht, ob ich die umsetzen werde. Mal sehen. Momentan ist mein kreativer Topf ein bisschen leer und für die Umsetzung dieser Idee müsste ich wieder ne ganze Menge Arbeit investieren. Was ich ja gerne mache, aber ich glaube, momentan ist ein bisschen die Luft raus. Liegt bestimmt auch mit an Corona. :/

Aber wenn, dann sage ich dir Bescheid.

Vielen Dank noch einmal für die vielen Kommentare!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Snowprinces
2021-03-24T12:42:40+00:00 24.03.2021 13:42
Sehr schönes Kapitel und noch eine Kapitel dann ist es vorbei nein bitte nicht 😭😭😭😭😭😭

Ich stelle dir Kaffee und gebäck hin

Liebe Grüße da lass
Antwort von:  Maginisha
24.03.2021 13:53
Hey Snowprinces!

Danke für die Versorgung. :)

Ja, im nächsten Kapitel wird dann nochmal ein bisschen abgeschlossen und dann ist hier Feierabend. Mal sehen, was mir als Nächstes einfällt. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2021-03-21T21:44:42+00:00 21.03.2021 22:44
Wow wer hätte gedacht das der Papa am coolsten damit umgeht? Respekt! :D
Was ist Christophers Problem? Sind beide Brüder grundlos eifersüchtig aufeinander wegen nichts und wieder nichts? Die Zwei sollten wirklich mal ein klärendes Gespräch führen...

Wie vorletztes Kapitel?! Mach mich nicht traurig! Naja solange Benedikt und Theo ihr Happy End bekommen.. 🥺

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
22.03.2021 13:32
Hey Ryosae!

Nun, dadurch, das Theos Mutter so aus dem Konzept gebracht war (Zum einen wegen der Nachricht an sich, zum zweiten weil sie sich Vorwürfe macht, dass Theo gedacht hat, er könnte ihnen das nicht sagen) musste der Vater erst mal "handeln". Das ist halt mehr so sein Ding. Mehr als Reden jedenfalls. ;) Er hat halt eine ganz andere Art als Theo und die beiden haben deswegen grundlegende Verständigungsschwierigkeiten. Aber mit ein wenig Hilfe, werden sie das wohl auch beilegen können.

Warum Christopher eifersüchtig ist, habe ich wohl ein bisschen zwischen den Zeilen versteckt. Eigentlich müsste man das wohl nochmal deutlicher aufklären, aber das kann Theo dann später in seiner Therapie machen. ;)

Es war halt so, dass Theo anfangs nicht besonders beliebt war. Die Eltern haben, als die Kinder noch relativ jung waren, den Hof mit dem Erbe von Theos Vater gekauft (ganz ehrlich, das passte alles nicht mehr in die Geschichte :D) und da musste natürlich viel Arbeit reingesteckt werden. Was liegt also näher, als den großen auf den kleinen Bruder aufpassen zu lassen. Daher auch diese vielleicht ein wenig ungewöhnlichen Fragen am Anfang. Dazu kam, dass Christopher halt gut in der Schule war, Theo eher nicht so. Und (wie immer) bekommt natürlich das Kind am meisten Aufmerksamkeit, das am meisten Probleme macht. So kam dann eins zum anderen und Christopher hat sich Theo gegenüber halt immer auch ein bisschen wie ein halbes Elternteil gefühlt. Ob er dieses Problem irgendwann erkennt und etwas dagegen tun wird, sich aus dieser Rolle zu lösen, bleibt abzuwarten. Vielleicht verwächst es sich ja auch oder sie reden tatsächlich mal offen und ehrlich miteinander. ;)

Du siehst, eigentlich hätte ich auf dem Feld "Familie" noch jede Menge schreiben können, aber da wir nun schon zwei Spannungsbögen zu Ende gebracht haben, wollen wir es mit den Bögen mal nicht überspannen. ;)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  z1ck3
2021-03-21T20:27:10+00:00 21.03.2021 21:27
*schluchtz* ach man habe ich Pipi in den Augen! Ich habs ja im letzten Kapitel schon gesagt, dass ich mir das vorstellen kann, aber du hast es wirklich toll geschrieben.
Ich freue mich so!
Antwort von:  Maginisha
22.03.2021 13:21
Hallo z1ck3!

Ich hab mich bei deinem Kommentar auch sehr zusammengerissen, nicht allzu offensichtlich zu spoilern. Es war zwar eigentlich noch ein bisschen mehr Drama zwischen Theo und seinem Vater geplant (das dann natürlich trotzdem gut ausgegangen wäre) aber zum Glück hat sich Christopher ja in den Vordergrund gedrängt. ;)

Aber ich denke auch, dass alle Leser jetzt beruhigt aufatmen können. Theo muss nicht in Schimpf und Schande zu Hause ausziehen, sondern kann sich jetzt voll auf sein neues Leben konzentrieren. Immerhin hat er da auch noch einiges an Arbeit vor sich.

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  z1ck3
22.03.2021 18:07
Oh ja das ist schon schön, dass Christopher den ätzende Part übernommen hat. Es klang ja direkt durch, dass es da um Eifersucht ging. Also scheinen die beiden ja ein verqueres Bild von sich selbst zu haben.

Bei den Eltern wäre das schon arg gewesen. Weil in meinen Augen haben Eltern nie eine Entschuldigung ihr Kind abzulehnen.
und dann war es auch einfach, dass ich dachte wenn schon so wichtige Personen um Theo schlecht reagieren, dann dürfen die Eltern nicht auch noch böse sein. Etwas Naiv, aber ja.
Antwort von:  Maginisha
22.03.2021 18:09
Ach was. Ich freu mich ja, dass man mir nach dem ersten Teil doch noch ein Happy End zutraut. Andere haben aus dieser Befürchtung heraus nämlich nicht weiter gelesen. ;D
Von:  chaos-kao
2021-03-21T20:01:26+00:00 21.03.2021 21:01
Wer hätte gedacht, dass der Vater, vor dem er am meisten Angst gehabt hatte, so viel offener und verständnisvoller reagiert als der Bruder. Es war schwer, aber jetzt ist es raus. Und damit ist mit Sicherheit eine große Last von Theos Schultern gefallen, was sicherlich auch gut für seinen Kopf sein wird :) Schön, dass es so gut gelaufen ist - trotz der Dramaqueen von großem Bruder :D
Antwort von:  Maginisha
22.03.2021 13:18
Hey chaos-kao!

Mit der relativ neutralen Reaktion des Vaters hatte wohl wirklich keiner gerechnet. ;) Wobei da in der Tiefe schon noch ein bisschen was abgeht, aber er ist in dem Moment vor allem auch seiner Frau eine Stütze. Und zum Glück hat Christopher das Drama übernommen, denn sonst wäre das sicherlich etwas anders abgelaufen. (War eigentlich auch geplant, aber die Figuren haben anders entschieden. ^_~)

Jetzt müssen wir nur noch ein wenig zusammenfegen und dann nichts wie raus hier. :D

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  chaos-kao
2021-03-19T19:29:26+00:00 19.03.2021 20:29
Oh Mann, mit der Reaktion habe ich jetzt nicht gerechnet oder eher gehofft, dass es positiver verläuft. Aber interessant, dass Christopher scheinbar selbst so seine Erfahrungen gemacht hat auf dem Gebiet. Ich finde ja, dass sich Theo richtig richtig gut geschlagen hat. Zu sagen, dass das davor die Schauspielerei war und das jetzt echt ist, war sicher nicht leicht - aber in dem Moment echt cool. Ich hoffe ja, dass es seinem Bruder doch noch dämmert, dass er es ernst meint und es nicht nur eine Phase ist ... und ich hoffe sehr, dass Theos Eltern weniger extrem und vor allem positiver reagieren werden.
Antwort von:  Maginisha
20.03.2021 06:42
Hey chaos-kao!

Ich glaube, dass es besser läuft, haben wohl alle gehofft. :/

Christophers Erfahrung war insofern anders, dass bei ihm halt keine Gefühle im Spiel waren. (Weil ja, die Sache mit dem Freund war natürlich gelogen. ^_~) Den rein körperliche Aspekt kann er insofern abhaken. Ob er damit recht hat oder ob vielleicht doch die eine oder andere Tendenz vorhanden ist, sei jetzt mal dahingestellt. Fakt ist jedoch, dass er Theodor deswegen nicht ernstnimmt und das ist halt echt daneben.

Theo hat sich wirklich gut geschlagen, aber gegen seinen Bruder kam er halt leider trotzdem nicht an. Ich tippe gerade daran, wie es weitergeht und hoffe, dass ich dieses Wochenende noch fertig werde. Also: stay tuned!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  z1ck3
2021-03-15T21:26:06+00:00 15.03.2021 22:26
Mhh da hat Theo wohl einen Nerv getroffen. Was faszinierend ist, dass er das durchschaut und trotzdem verletzt ist. Dabei steht er doch sozusagen sich selbst vor einiger Zeit gegenüber. Eigentlich müsste er doch erkennen, warum Christopher so idiotisch reagiert.

Ich weiß nicht warum, aber die Begegnung gibt mir zumersten mal das Gefühl, dass Theos Eltern nicht so derbe daneben reagieren werden
Antwort von:  Maginisha
16.03.2021 15:07
Hey z1cke3!

Ja, eigentlich müsste Theo das verstehen. Trotzdem denke ich, dass dieses nicht ernst genommen werden und der Spott einfach diese Reaktion zur Folge haben. Niemand wird gerne ausgelacht.

Dass bei dir dieses Gefühl bezüglich der Eltern entsteht, finde ich interessant. Mal sehen, ob du recht hast.

Zauberhafte Grüße
Mag


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