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Herz über Kopf

von

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Du und ich

Benedikt sah mich immer noch an. Er rang um Worte. Ich konnte es sehen. Er wusste nicht, wie er jetzt reagieren sollte. Ich versuchte ein Lächeln.

 

„Ich weiß, das hört sich dumm an. Und ich hab, ehrlich gesagt, auch keine Ahnung, wie ich das anstellen soll oder wo die Reise hingehen wird. Aber ich weiß, dass ich das nicht alleine schaffe. Und deswegen brauche ich dich, Benedikt. Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich wiederhole es gerne noch einmal: Ich brauche dich.“

 

Ich sah genau, dass er sich erinnerte. Dass er sich erinnerte, wie ich es in dieser einen, gemeinsamen Nacht zu ihm gesagt hatte. Denn ja, ich traute mich nicht allein über die Schwelle. Die Furcht, auf der anderen Seite ganz allein dazustehen, saß zu tief. Vielleicht war es armselig, so um Hilfe zu betteln, aber ich brauchte sie wirklich ganz dringend.

 

„Aber das … das reicht nicht“, erwiderte er mit kratziger Stimme. „Ich hab dir gesagt, dass ich dir helfe, aber … mehr nicht.“

 

„Aber warum nicht?“

„Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich auch Angst habe.“

 

Die Heftigkeit, mit der er mir diesen Satz entgegenschleuderte, ließ mich zusammenzucken. Plötzlich wurde mir wieder bewusst, dass hinter den Erfahrungen und der Abgeklärtheit immer noch jemand saß, der verletzlich war. Jemand, den ich verletzt hatte. Mehr als einmal. Weil ich in meiner egozentrischen Blindheit nicht richtig hingesehen hatte. Weil ich mich versteckt und ihn im Stich gelassen hatte. Der Schmerz darüber schnitt tief in mein Herz. Aber gleichzeitig klopfte es schneller und schneller in meiner Brust. Weil der Grund, warum ich ihn so tief hatte treffen können, einer war, der mich hoffen ließ. Hoffen darauf, dass doch nicht alles verloren war. Selbst jetzt, als er sich abwandte und sein Gesicht vor mir verbarg, weil er es nicht ertrug, mich noch länger anzusehen. In diesem Moment verstand ich, was ich Benedikt wirklich angetan hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das je wieder gutmachen konnte, aber ich wusste, dass ich es versuchen musste.

 

Noch während ich danach trachtete, die richtigen Worte zu finden, tippte mir auf einmal jemand auf die Schulter. Ich sah zur Seite und dann nach oben, von wo mich ein mit glitzerndem Lidschatten, falschen Wimpern und einem tiefviolett geschminkten Kussmund versehenes Gesicht ansah. Die ehemals wohl sehr viel üppigeren Augenbrauen waren pinselstrichdünn gezupft und bildeten einen perfekten Rahmen um das fast schon maskenhaft anmutende Ensemble. Das Ganze schwebte über einem Stretchkleid aus fliederfarbenen Pailletten, das sich zwar an den richtigen Stellen ausbuchtete, aber mit Sicherheit keinen Frauenkörper verbarg. Daran änderte auch die platinblonde Langhaarperücke nichts.

 

„Hey, Schätzchen, sag mal. Was ist hier los?“, wollte die „Dame“ von mir wissen.

 

„Ich … äh. Ich versuche ihm gerade klarzumachen, dass ich in ihn verliebt bin.“

 

„Ach wie aufregend“, kiekste die violette Queen und klatschte zweimal in die Hände. „Und wie hat er reagiert?“

 

Ich verzog das Gesicht. „Nicht besonders gut.“

 

Sie maß mich einmal von oben bis unten mit einem Blick, der ohne Probleme bis zu meiner Unterwäsche vorzudringen schien.

 

„Und warum nicht? Du bist doch ein ziemliches Schnittchen.“

 

Ich lächelte wegen des Kompliments, wurde jedoch sofort wieder ernst. Erneut sah ich hinüber zu Benedikt. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht, aber er ging auch nicht.

 

„Weil ich einen Riesenfehler begangen habe und zwar noch einen viel größeren, als ich eigentlich angenommen hatte.“

 

Die Queen wedelte mit ihren künstlichen Fingernägeln.

 

„Ach, papperlapapp. Jeder macht mal einen Fehler. Dann kann man hingehen und sich entschuldigen.“ Ich wollte gerade erwidern, dass eine Freundin mir das auch schon geraten hatte, als die Queen ungerührt fortfuhr: „Und dann hat man geilen und schmutzigen Versöhnungssex und die Sache ist wieder geritzt.“

 

Ich konnte nicht anders, ich musste einfach ein bisschen lachen. Auch die Mundwinkel der großen Lady hoben sich.

 

„Siehst du, so sieht die ganze Sache doch gleich viel freundlicher aus. Und wie überzeugen wir jetzt dein Schnuckelchen davon?“

 

Ich ließ meinen Blick von der üppig geschminkten Königin der Nacht wieder zu Benedikt wandern. Anschließend schenkte ich der Queen ein verzweifeltes Lächeln.

 

„Ich glaube, da gibt es nur eine Möglichkeit. Drück mir die Daumen, dass es funktioniert.“

 

Ich ging ein paar Schritte auf Benedikt zu. Mein Herz hämmerte dabei zunehmend schneller gegen meine Rippen und meine Handflächen begannen zu schwitzen. Ich befand mich mitten in einem Bahnhof voller Menschen und war im Begriff, das absolut Bescheuertste zu tun, das man an so einem Ort wohl tun konnte. Gleichzeitig erschien mir das die einzige Möglichkeit, die mir noch blieb. Die einzige Möglichkeit geradezubiegen, was ich verbockt hatte. Die einzige Möglichkeit auf eine zweite Chance. Dieses Mal durfte ich es nicht wieder vermasseln.

 

Ich wartete noch, bis ein Pulk wild grölender Jungs vorbeigezogen war und als ihre Pfiffe verhallt waren, öffnete auch ich den Mund, um zu singen. Laut und klar und für alle hörbar.

 

Du und ich

Das könnte so gut sein

Das könnte so groß sein

 

Als die ersten Worte des Refrains erklangen, ruckte Benedikts Kopf nach oben. Ich konnte es anhand seiner Haltung nur erahnen, aber ich hatte das Gefühl, das er für einen Moment den Atem anhielt. Als er sich zu mir umdrehte, stand sein Mund offen. Fast glaubte ich, seine Gedanken zu hören. Zwischen all den Menschen, den Stimmen, den Zügen und Gleisdurchsagen war er wie ein Leuchtfeuer. Alles an ihm schrie danach zu fliehen. Sich endlich aus dem Staub zu machen. Sich und seine Gefühle vor dem Monster in Sicherheit zu bringen, dass da vor ihm stand und ihn mit süßer Sirenenserenade lockte. Doch ich … ich hoffte, dass er mich erhörte. Dass er mir glaubte, dass ich sein Schiff nicht auf die Klippen locken wollte. Dass ich es dieses Mal wirklich besser machen wollte. Ich hoffte, dass er den vielen Stimmen nicht folgte, sondern nur der einen. Der, die mit mir im Einklang sang.

 

Vorsichtig wagte ich ein Lächeln. Ich wusste, dass mich die Leute vermutlich angafften, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber das war mir egal. Der einzige Mensch, der für mich zählte, war Benedikt. Deswegen versuchte ich es noch einmal.

 

Mein Herz versucht mich bei der Hand zu nehmen

Es sagt: Hab nur Mut

Aber mein Kopf zählt mir tausend Dinge auf

Die mich wieder zweifeln lassen

 

Doch du und ich

Das könnte so gut sein

Das könnte so groß sein

 

Benedikt ballte die Hände zu Fäusten. Ich wusste nicht, ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Doch wenn ich den Ausdruck in seinen Augen sah, dann war das vielleicht … eine Chance.

 

Ich hörte auf zu singen. Die Bahnhofsgeräusche übernahmen wieder die Kulisse und eine Gruppe junger Leute fiel sich auf dem Bahnsteig nebenan lachend und laut rufend in die Arme. Sie hatten Plakate und Schilder dabei und waren über und über mit Regenbogenfahnen geschmückt. Anscheinend waren auch sie auf dem Weg zur Demonstration. Ich schluckte leicht.

 

„Und?“, fragte ich so leise, dass Benedikt es eigentlich gar nicht hören konnte. „Was sagst du? Mach ich mich lächerlich?“

 

Benedikt antwortete nicht sofort. Er stand einfach nur da, als hätte ihn jemand an den Boden genagelt. Passanten eilten vorbei und ich sah, wie sich die Gruppe mit den Schildern im Hintergrund auf die großen Rolltreppen zubewegte. Ein Zug aus Frankfurt wurde angekündigt und eine Verspätung durchgegeben. Ich hörte nicht mehr zu. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf Benedikts Reaktion.

 

„Ich … ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll.“

 

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich neben mir ein Schnaufen.

 

„Gott, Schätzchen. Der Kerl hier hat einen Hintern zum Nüsseknacken. Und er hat dir gerade vor all diesen Leuten ein Ständchen gebracht. Was willst du denn noch?“

 

Die Queen in dem violetten Paillettenfummel verdrehte die Augen, aber Benedikt beachtete sie kaum. Sein Blick ruhte immer noch auf mir.

 

„Ich glaube, er wartet noch auf eine Erklärung“, sagte ich mehr um mich selbst das entscheidende letzte Stück voranzuschieben. Denn ich war noch nicht fertig. Wieder wagte ich ein halbes Lächeln.

 

„Ich hab dir im Zeltlager schon gesagt, dass das Lied nicht für Mia war. Als ich es geschrieben habe, hatte ich niemand bestimmten im Sinn. Dachte ich zumindest. Aber eigentlich … eigentlich habe ich das Stück für dich geschrieben. Ich hab mir damals eingeredet, dass ich dich nur beeindrucken wollte. Dass ich nur irgendwas Cooles singen wollte, damit du … mich leiden kannst. Ich wollte dir was vormachen, so wie ich es mit fast allen mache. Aber bei dir funktioniert das nicht. Du lässt dich von dem ganzen Schnick und Schnack nicht täuschen. Du bist echt. Genau wie meine Gefühle für dich. Und ich … ich wünschte wirklich, dass ich das schon früher erkannt hätte. Ich weiß nicht, ob es wirklich geklappt hätte. Ob ich … ob wir das damals hingekriegt hätten. Aber wenn ich noch einmal mit dir an diesem Strand säße, dann wüsste ich, was ich tun würde.“

 

Ich machte eine kleine Pause, um zu sehen, wie er es aufnahm. An Benedikts Gesicht war nichts abzulesen. Absolut gar nichts. Er starrte mich einfach nur an. Trotzdem nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte auch noch das Letzte, was es zu sagen gab.

 

„Also wenn ich wirklich unglaublich viel besser in Physik wäre, als ich es tatsächlich bin – und wir wissen beide, dass ich in dem Fach eine absolute Niete bin – und wenn es entgegen aller bisher bekannten Naturgesetze irgendwie möglich wäre, eine Zeitmaschine zu bauen, dann würde ich zu diesem Punkt zurückreisen. Und ich würde mich für dich entscheiden. Weil es schon immer du gewesen bist, den ich gewollt habe. Schon immer und ewig.“

 

Als ich meine Ansprache beendet hatte, klappte ich meinen Mund wieder zu. Ich hatte alles getan und alles gegeben, was ich zu geben hatte. Jetzt war es an Benedikt zu entscheiden.

 

Ich hörte die Queen neben mir scharf einatmen. Danach folgte ein Seufzen, das sich gewaschen hatte. Es zerstörte die Anspannung und ich sah ein wenig irritiert zu den vielen glitzernden lila Pünktchen hinüber, die sich jetzt hektisch bewegten, als die Queen in ihrem unglaublich kleinen Handtäschchen herumnestelte.

 

„Ach Gottchen, Jungs. Ehrlich. Ihr kostet mich noch meinen Lidstrich. Das dumme Fixierspray war nämlich alle und das ausgerechnet heute. Ist denn das zu glauben? Zwei Stunden Arbeit und dann alles für die Katz. Wo hab ich denn nur ... Ach scheiße!“ Sie sah hoch und mich mit glasigen Augen an. „Hast du mal ein Taschentuch für mich?“

 

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte kein Taschentuch einstecken. Hatte ich schon früher nie gehabt.

 

„Hier“, sagte da plötzlich eine Stimme dicht vor mir. Als ich mich umdrehte, stand ich direkt vor Benedikt. Er reichte der Queen doch tatsächlich ein sauberes und unbenutztes Papiertaschentuch. Sie nahm es und tupfte damit vorsichtig und unter äußerster Konzentration an ihren Augenwinkeln herum. Als sie damit fertig war, strahlte sie Benedikt an.

 

„Danke, Schätzchen. Du hast meinen Tag gerettet.“

 

Er nickte, offenbar auch etwas überfordert von diesem penetranten Publikum, aber die Queen war noch nicht fertig. Sie legte ihre wirklich große Hand mit den zentimeterlangen Gelnägeln auf Benedikts Schulter, und drückte sie ein wenig.

 

„Und weil Bella B. keinen Gefallen unerwidert lässt, will ich dir jetzt mal einen Rat geben, Süßer. Wenn ich in meinem Leben alle Männer abgewiesen hätte, die mich später unglücklich gemacht haben, dann säße ich heute als alte, vertrocknete Jungfrau irgendwo in Bargteheide herum und hätte mindestens 37 Katzen. Also schnapp dir den Prachtkerl und zieh ihn durch die Laken, bis ihr beide nicht mehr sitzen könnt. Und das meine ich ganz wörtlich. Ihr seid nur einmal jung. Macht was draus.“

 

Damit ließ die Queen Benedikt wieder los und warf einen Blick auf ihre strassbesetzte und an ihrem Handgelenk unglaublich winzig wirkende Armbanduhr.

 

„Huch!“, machte sie und richtete sich auf. „Ich muss flitzen. Wenn ich auf diesen Absätzen länger als ne halbe Stunde laufen muss, fallen mir heute Abend die Füße ab. Also dann. Man sieht sich.“

 

Sie schenkte uns beiden noch ein strahlendes, knallviolettes Lächeln, bevor sie sich in Pose warf und mit den längsten Schritten, die ihr enges Kleid gerade noch erlaubte, den Bahnsteig entlang eilte. Ich blickte ihr noch einen Augenblick lang nach, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder Benedikt zuwandte. Er schaute mich ebenfalls an.

 

„Und jetzt?“, fragte ich leise.

 

Er atmete hörbar aus.

 

„Ich weiß nicht“, sagte er ehrlich. „Ich … ich hab mir diese Frage in den letzten Tagen schon so oft gestellt. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ein Teil von mir wünscht sich wohl, dass es tatsächlich wahr wäre. Dass dies ein Märchen wäre und es am Ende ein Happy End gibt. Aber … das hier ist kein Märchen. Keine Kindergeschichte, wo am Ende alle wieder aufstehen und zusammen ein Schlusslied singen. Das hier ist echt.“

 

Ich ließ den Kopf ein wenig nach unten hängen. Mit dieser Antwort hatte ich rechnen müssen. Natürlich hatte ich gehofft, dass sie anders ausfallen würde, aber …

 

„Gib mir einfach noch ein bisschen Zeit“, sagte er leise. „Ich … ich muss erst noch darüber nachdenken."

 

„Okay.“

 

Ich versuchte wirklich, diese absolut uneloquente Aussage mit einem Lächeln zu unterstreichen, aber es gelang mir nicht. Bleigewichte zogen meine Mundwinkel unablässig nach unten.

 

Benedikt räusperte sich.

 

„Wollen wir … also … wollen wir trotzdem noch auf die Demo?“

 

Ich blinzelte. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, warum wir hier waren. Der ursprüngliche Grund war hinter meinem persönlichen Drama zurückgetreten. Aber er hatte Recht. Eigentlich waren wir ja wegen etwas anderem hergekommen. Ich nickte leicht.

 

„Ja, lass uns gehen“, antwortete ich. Jetzt schaffte ich es sogar, ein wenig zu lächeln.

 

Wie in Trance folgte ich dem Menschenstrom, der sich immer noch auf die großen Rolltreppen zubewegte. Über uns spannte sich das verglaste Kuppeldach der Halle und öffnete den Blick auf den wolkenlosen Sommerhimmel. Es war ein wundervoller Tag, überall gab es große und kleine Regenbögen. Menschen, die ausgelassen feiern wollten. Die sich hierher bewegt hatten, um für die Rechte und die Freiheit für so Ochsen, wie ich einer war, einzutreten. Da sollte ich ein wenig dankbarer sein.

 

Dankbar? Dankbar wofür? Dass ich gerade einen Tritt in den Allerwertesten bekommen habe, der sich gewaschen hat? Wohl kaum!

 

Die nörgelnde Stimme wollte sich noch weiter echauffieren, aber ich ließ sie nicht. Ich gab ihr ebenfalls einen Tritt und beförderte sie irgendwo zwischen die Gleise, wo sie mit gebrochenen Gliedern liegenblieb und langsam vor sich hin siechte. Als Nächstes wollte ich mich dazu bringen, den Kopf wieder zu heben. Dem Tag entgegenzusehen, auf den ich schon so lange gewartet hatte. Aber noch bevor ich so weit kam, spürte ich plötzlich eine Berührung an meinem Arm. Es war Benedikt, der mich gepufft hatte.

 

„Hey, ich hab nicht Nein gesagt. Ich hab nur gesagt, dass ich noch ein bisschen Zeit brauche, um mich an den Gedanken zu gewöhnen.“

 

Wie von selbst begann sich ein Lächeln auf meinem Gesicht auszubreiten.

 

„Heißt das, ich bekomme meine Chance?“

 

Benedikt vermied, mich anzusehen. Sein Blick irrte überall hin. Hinauf zum Glasdach, über die vielen Leuchtreklamen und Werbeplakate, die Züge und die Gesichter der Menschen, die wie emsige Ameisen um uns herumströmten und uns einfach mitrissen. Der Metallboden einer Rolltreppe erschien plötzlich unter meinen Füßen und ohne groß darüber nachzudenken, trat ich auf eine der Stufen. Benedikt folgte mir und stellte sich neben mich. Jetzt endlich sah er mich an.

 

„Hast du das Lied echt für mich geschrieben?“

„Ja.“

 

Er schien zu überlegen. Seine Stirn kräuselte sich und die erste Ahnung eines Grinsens huschte über sein Gesicht.

 

„Singst du es mir auch nochmal ganz vor?“

„So oft du willst.“

 

Wieder wandte er den Blick ab, aber ich hatte gesehen, dass er lächelte. Unwillkürlich schoben sich auch meine Mundwinkel weiter nach oben und ein Kribbeln begann sich von meinem Bauch aus in meinem gesamten Körper zu verbreiten. Es fühlte sich an, als würde man mit einem Fahrstuhl viel zu schnell nach unten fahren. Dabei waren wir doch auf dem Weg nach oben. Wir waren auf dem Weg nach oben!

 

„Ich singe dir jedes Lied, das du willst“, versprach ich. „Meinetwegen auch um drei Uhr nachts oder vor der gesamten Schule. Ich … ich will einfach nur, dass du … dass wir …“

 

Ich wollte eigentlich noch viel mehr sagen, aber dann erinnerte ich mich gerade noch rechtzeitig daran, dass Benedikt sich Bedenkzeit ausgebeten hatte. Daher klappte ich den wieder Mund zu und schwieg. Innerlich glaubte ich jedoch gleich platzen zu müssen. Er hatte gesagt, er würde es sich überlegen. Ich musste nur warten. Nur noch ein kleines bisschen warten, dann würde er ... vielleicht ...

 

Die Rolltreppe erreichte das obere Ende und ergoss ihre Passagiere in die Massen, die sich hier oben auf der Promenade bereits dicht an dicht drängten. Trotzdem floss der „Verkehr“. Auch Benedikt und ich wurden unweigerlich mitgerissen und einem der Ausgänge aus der Wandelhalle zugetragen. Ich konnte nur hoffen, dass es der richtige war.

 

Kurz davor, als das Gedränge dichter wurde, weil es sich durch das Nadelöhr der breiten Ausgangstür quetschen musste, fühlte ich plötzlich eine Berührung an meiner Hand. Es war Benedikt, der nach meinen Fingern griff.

 

„Damit wir uns nicht verlieren“, erklärte er und konnte mir dabei nicht in die Augen sehen. Er war wirklich ein schlechter Lügner.

 

Trotzdem nahm ich die Ausrede an. Ich griff ebenfalls nach seiner Hand und gemeinsam ließen wir uns nach draußen treiben. Dort war es warm und laut und man konnte schon von Weitem die ersten Wagen der großen Parade sehen, die in diesem Augenblick startete. Man hörte ein Aufjubeln, das durch die Menschenmenge ging, die sich am Straßenrand versammelt hatte.

 

„Es geht los“, sagte Benedikt unnötigerweise. Er fasste meine Hand fester und zog mich nach vorne in Richtung der Absperrungen. Wie wir es schafften, uns durchzuschummeln, war mir zwar ein Rätsel, aber irgendwann standen wir ganz vorne an den rot-weiß gestreiften Bändern. Benedikt hielt immer noch meine Hand und durch die beengten Gegebenheiten, wurden wir beide dicht aneinander gedrängt. Ich fühlte seinen Körper an meinem ebenso wie den regenbogengestreiften Plüschanzug meines Nebenmannes. Der wieherte, als das erste Spruchband in Sicht kam.

 

„Also ich nicht. Ich bin ein Einhorn.“

 

Ich hörte ihn noch einmal wiehern und sah dann endlich, worauf er sich bezog. Ganz vorne hinter einigen Polizeiwagen ging eine Reihe von Menschen, unter denen ich auch den Bürgermeister der Stadt entdeckte. Sie trugen ein Plakat vor sich her, das neben der in allen Farben gestreiften Regenbogenflagge noch viele weitere zeigte. Da waren violette und grüne, schwarz, grau und rosa, gelb und blau gestreifte. Keine davon sah aus, als würde sie zu einem Land gehören, dass ich kannte.

 

„Wofür stehen die Flaggen?“, wollte ich wissen. Benedikt legte die Stirn in Falten.

 

„Also alle kenne ich auch nicht, aber ich vermute mal, dass das alles LGBTQ-Flaggen sind. Die rosa-gelb-blaue steht zum Beispiel für Pansexuelle. Die violett-weiß-grau-schwarze ist das Zeichen für Asexualität. Die mit dem Regenbogen dürftest du ja kennen und die rosa, weiß, hellblaue ist die für Transgender.“

 

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Jetzt erschloss sich mir auch der Sinn des Spruchs, der zwischen den bunten Symbolen prangte. Er war ganz in schwarz gehalten und lautete:

 
 

Weil wir alle nur Menschen sind

 

Über das "nur" hatte jemand ein dickes, rotes Kreuz gesetzt.

 

„Ich hab gelesen, dass es dieses Jahr nicht nur um gleiche Rechte gegenüber Heterosexuellen geht, sondern auch um Toleranz innerhalb der Community. Das war übers Jahr gesehen immer mal Thema.“

 

Benedikt hatte mich nicht angesehen, als er das sagte, aber ich verstand trotzdem, was er gemeint hatte.

 

„Auch für so Spinner wie mich?“

 

Nach meiner Frage drehte Benedikt sich nun doch zu mir um. Er lächelte.

 

„Besonders für so Spinner wie dich.“

„Und wenn diese Spinner wieder Schiss kriegen und sich im Schrank verstecken wollen?“

„Dann helfen wir ihnen eben wieder heraus.“

„Und wenn …?“

 

Benedikt ließ mich nicht ausreden.

 

„Dann kriegen wir auch das gemeinsam hin.“

 

Ich schluckte und ich wusste, dass ich mich wahrscheinlich um Kopf und Kragen redete, aber ich musste es einfach wissen.

 

„Und uns? Kriegen wir das auch hin?“

 

Benedikts Antwort bestand aus einem Schnauben.

 

„Oh man, Theo. Du bist echt eine Nervensäge, weißt du das?“

 

Damit drehte er sich wieder dem Umzug zu und ich dachte schon, dass ich es jetzt endgültig vergeigt hatte, da hörte ich ihn noch einmal schnauben.

 

„Ach scheiß drauf“, fluchte er, machte sich von meiner Hand los, drehte sich zu mir um, nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und presste seinen Mund ganz fest auf meinen.

 

Ich war im ersten Moment wie gelähmt. Wusste nicht, was ich tun sollte. Doch dann ging mir plötzlich auf, dass er mich küsste. Er küsste mich! Und wie er das tat. Mit einer Leidenschaft und Hingabe, die meine Knie weich und mich in seinen Armen zu Wackelpudding werden ließ. Erst, als er den Kuss beendete, wurde mir bewusst, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.

 

Benedikt lächelte leicht und fuhr mit dem Daumen über meine Wange, bevor sein Gesicht wieder ernst wurde.

 

„Der war für Singen und der hier“, er berührte kurz meine Lippen mit seinen, „ist dafür, dass du den Mut hattest, es zuzugeben. Aber mehr gibt es jetzt nicht. Und wenn du und diese Bella euch auf den Kopf stellt und mit dem Arsch Fliegen fangt. Weitere Zuneigungsbekundungen musst du dir erst noch verdienen.“

 

Ich grinste, immer noch ganz berauscht von dem Kuss, und nickte.

 

„Ich werd mir Mühe geben.“

„Na das will ich doch stark hoffen.“

 

Damit griff er wieder mit der einen Hand nach meiner, hob mit der anderen das Absperrband und zog mich einfach darunter hindurch.

 

„Jetzt wird aber erst mal demonstriert.“

 

Ich ließ mich von ihm mit in den Pulk ziehen und versuchte, mir nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen, ob und wer uns jetzt alles dabei zusah. Im Grunde hatte ich dem hier ja schon zugestimmt, als ich zu Hause in den Zug gestiegen war. Und plötzlich war es auch gar nicht mehr so wichtig, ob mich jemand aus der Welt, aus der ich kam, hier sehen würde. Es machte mir nichts mehr aus, denn ich wusste, dass ich endlich angekommen war. In „meiner“ Welt. Und dass sich das einfach mal verdammt gut anfühlte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  z1ck3
2020-12-24T00:55:58+00:00 24.12.2020 01:55
Aaaah Mag!!!

Ich bin selig. Du musst die Feiertage ordentlich genießen, solange liege ich in Ohnmacht in meinem Bett und grinse wie ein honigkuchenpferd vor mich hin.

Ach danke für dieses wunderbare Kapitel!!! Und deine unbezahlten Überstunden. Du bist die beste <3

Frohe Weihnachten!
Antwort von:  Maginisha
24.12.2020 07:21
Hey z1cke3!

Das ist schön, dass ich dich so glücklich machen konnte. Denn ehrlich gesagt habe ich auf den Moment auch schon ziemlich gewartet. Nun haben sie es geschafft. Aber der Tag ist ja noch nicht zu Ende. ;)

Und hab ich doch gerne gemacht. Ich wollte ja auch gerne noch bis zu diesem Punkt kommen. Ist ja sonst nicht auszuhalten. :D

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-12-23T23:55:15+00:00 24.12.2020 00:55
Hey Mag,
bestes Weihnachtsgeschenk!!! Viiielen Dank!!! 😍😍😍🥰

Theo hat noch etwas arbeit vor sich, aber endlich, endlich haben sie sich geküsst! 🥳
Verständlich das Benedikt nach der Vorgeschichte so vorsichtig ist, aber meine Güte... er macht esverdammt spannend 😅
Jetzt können wir alle hoffen das die zwei das hinbekommen und Theo nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit angst bekommt und kneift. Drücken wir den Zwei ganz fest die Daumen! 🥰

Wünsche frohe Weihnachten und falls wir uns wirklich nicht mehr lesen sollen einen guten Rutsch ins (hoffentlich bessere) neue Jahr. 😊

Liebe Grüße
Ryo
Antwort von:  Maginisha
24.12.2020 07:19
Hey Ryosae!

Theo ist jetzt tatsächlich auf einem guten Weg und Benedikt ja offenbar doch nicht so abgeneigt, wie er Theo Glauben machen wollte. Ich denke schon, dass sie das hinkriegen werden. :)

Dir auch ein schönes Weihnachtsfest und ich werde bestimmt noch das eine oder andere Kapitel in diesem Jahr fertigbekommen. Aber ich verspreche mal nichts.

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Snowprinces
2020-12-23T15:59:31+00:00 23.12.2020 16:59
Hi

sehr schönes Kapitel und am ende so süsss😆

mehrrr ich will wissen wie es weiter geht

liebe grüße da lass und ich wünsche dir ein schönes fest
Antwort von:  Maginisha
24.12.2020 07:17
Hallo Snowprinces!

Es freut mich, dass es dir so gut gefallen hat. Dir auch schöne Weihnachten!

Zauberhafte Grüße
Mag


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