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Herz über Kopf

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben,

dieses Kapitel ist irgendwie ziemlich lang geworden, aber es ließ sich auch nicht sinnvoll teilen. Von daher wünsche ich viel Spaß und falls wir uns vor Weihnachten nicht noch einmal lesen, auch schon mal ein Frohes Fest.

Zauberhafte Grüße
Mag
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Eine unmögliche Aufgabe

Der nächste Tag hielt bereits am frühen Morgen eine neue Unannehmlichkeit für mich bereit. Da mein Vater im Stall und meine Mutter noch mit dem Frühstück für die Feriengäste beschäftigt war, nutzte ich die Gelegenheit, mich gleich nach einer schnell heruntergeschlungenen Schüssel Cornflakes ans Telefon zu klemmen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm die Nummer zur Hand, die ich gestern herausgesucht hatte. Es klingelte zweimal, bevor es klickte und mir eine freundliche Stimme verkündete, dass die Praxis zurzeit im Urlaub sei und der vertretende Arzt unter folgender Nummer zu erreichen.

 

Ich stöhnte innerlich, legte auf und wählte gleich noch einmal neu, bevor ich die Zahlen vergessen hatte. Wieder klingelte es, jemand hob ab und eine freundliche Frauenstimme erkundigte sich nach meinem Begehr.

 

Ich schluckte kurz. Musste ich am Telefon schon sagen, worum es ging?

 

„Ich … äh … bin auf der Suche nach einem neuen Hausarzt.“

„Sind Mitglieder Ihrer Familie bereits in unserer Praxis Patient?“

„Nein, eher nicht.“

„Mhm, dann bedaure ich. Wir nehmen zurzeit niemanden mehr auf.“

„Aber ich habe ziemliche Kopfschmerzen.“

 

Die Frau am anderen Ende seufzte.

 

„Na warten Sie, ich sehe mal nach, ob nicht noch etwas frei ist. Wir haben momentan die Vertretung für zwei weitere Praxen übernommen, da ist es etwas voller.“

 

Ich hörte sie blättern und einige Stimmen im Hintergrund, bevor sie mich wieder ansprach.

 

„Hören Sie? Ich hätte nächste Woche am Mittwoch um halb zehn noch was frei.“

 

Ich verzog das Gesicht.

 

„Da bin ich in der Schule.“

„Ach …“

 

Offenbar hatte sie mich für älter gehalten. Ich hörte sie wieder blättern.

 

„Dann hätte ich nur noch übernächste Woche am Donnerstag einen Termin um halb fünf. Reicht Ihnen das?“

 

Ich überlegte. Das waren noch zwei Wochen. Vermutlich wäre meine Mutter nicht sehr begeistert. Außerdem wollte ich das lieber so schnell wie möglich hinter mich bringen.

 

„Ich nehme den Termin am Mittwoch.“

 

So viel würde ich in der Schule an dem Tag schon nicht versäumen.

 

„Gut, wie war nochmal Ihr Name?“

„Von Hohenstein.“

„Und der Vorname?“

„Theodor.“

„Gut, Herr von Hohenstein, dann sehen wir uns nächsten Mittwoch. Und vergessen Sie bitte Ihre Chipkarte nicht.“

 

Damit legte sie auf und ich fühlte mich merkwürdig. Herr von Hohenstein war bisher immer mein Vater gewesen. Nicht einmal Christopher hatte bisher jemand so angeredet. Es klang falsch in meinen Ohren. Wie jemand, der ich nicht war.

 

Es ist nur ein Arzttermin, sagte ich mir selbst und atmete noch einmal tief durch. Du wirst das hinkriegen.

 

 

Um für gute Stimmung zu sorgen, half ich meinem Vater in den nächsten zwei Tagen, so gut ich konnte. Ich mistete die Ställe aus, kümmerte mich um die Ziegen und Hühner, ging meiner Mutter im Haus zur Hand. Sie kommentierte das nicht, aber ich merkte, wie sie mich manchmal ansah. In diesen Momenten fragte ich mich unwillkürlich, ob sie wohl wusste, was Sache war. Dementsprechend froh war ich, als ich am Donnerstagabend endlich bei Jo aufschlug. Er öffnete erst nach dem zweiten Klingeln. Aus dem Hintergrund dröhnte laute Musik.

 

„Hey T, hab dich gar nicht gehört.“

 

Seine Augen glänzten verdächtig und auch seine Aussprache war nicht mehr ganz astrein. Ich sah ihm mit skeptischen Blick entgegen.

 

„Ich dachte, du wolltest das Vorglühen sparen.“

„Das war, bevor Leon mit dem Tequila vor der Tür stand.“

 

Mit einem Grinsen bat Jo mich herein und ich folgte ihm und den wummernden Bässen bis zu seinem Zimmer. Dort saßen bereits Leon und Phillip inmitten der allgemeinen Unordnung. Zwischen ihnen stand ein Tablett mit einer halbleeren Flasche, Zitronenscheiben und einem Salzstreuer. Ich hob die Augenbrauen.

 

„Na ihr seid ja gut dabei.“

 

Ohne mich groß um Leons Füße zu kümmern, die der erst im letzten Moment zur Seite ziehen konnte, ließ ich mich auf das Bett fallen. Leon faltete seine lange Gestalt zusammen und kam in den Sitz hoch.

 

„Mensch, T, dass man dich auch mal wiedersieht. Wir dachten schon, du bist verschollen.“

„Nee, war im Ferienlage.“

 

„Dein Ernst?“, wollte Philipp wissen. Seine dunkelbraunen Haare standen wie üblich wirr vom Kopf ab, was ihm einen leicht verpeilten Ausdruck gab, der leider nur zum Teil trügte.

 

„Jepp, war drei Wochen Kinder hüten.“

„Und, wie war’s?“

„Frag lieber nicht.“

 

Damit war das Thema vom Tisch und ich atmete innerlich auf. Bei weiteren Nachfragen hätte ich womöglich ausgeplaudert, dass ich dieses Vergnügen mit Benedikt geteilt hatte. Das musste hier und jetzt nicht unbedingt erwähnt werden. Die anderen störten sich auch nicht weiter an meiner Anwesenheit, sondern nahmen nahtlos ihre Diskussion wieder auf. Wann die Fußball-Saison endlich wieder losgehen würde, wer die größten Chancen auf den Titel hatte, wer auf- und wer absteigen würde und so weiter und so fort. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und tat, als würde mich das Ganze interessieren. Natürlich wusste ich, wovon sie sprachen, aber ich war nie so wirklicher Fan irgendeiner bestimmten Mannschaft gewesen. Hand- oder Basketball begeisterten mich da schon eher.

 

Nachdem sowohl die erste wie auch die zweite Bundesliga abgehakt worden war, blickte Jo auf die Uhr. Es war halb elf.

 

„Bah, noch zu früh. Wenn wir jetzt schon in den Club einreiten, treffen wir da womöglich noch Sina und ihre Herde.“

 

Phillip, dem dieser Seitenhieb galt, verzog das Gesicht.

 

„Nun hör endlich auf, immerzu auf ihr rumzuhacken. Nur, weil sie dir mal einen Liebesbrief geschrieben hat, ist sie noch lange keine blöde Kuh.“

 

„Da behauptest du sonst aber was anderes“, frotzelte Leon und griff noch einmal nach der Tequilaflasche. Er goss die drei kleinen Gläser voll und sah auffordernd in die Runde.

 

„Für Jo ist das aber der letzte“, legte ich fest, denn mein Freund sah schon reichlich hinüber aus. „Ich helf ihm nachher nicht wieder beim Reihern.“

 

„Ah, dabei kümmert sich keiner so gut um mich wie du“, meinte Jo grinsend und griff nach dem Glas. „Du bist wie eine Mutter für mich.“

 

„Ich geb dir gleich mal Mutter.“

 

Ich griff mir sein Kopfkissen und warf damit nach Jo. Der fing das gefederte Geschoss geschickt auf und pfefferte es mit voller Wucht Leon ins Gesicht, der daraufhin seinen Tequila über das Bett verteilte.

 

„Spinnst du?“, maulte er und leckte sich den Alkohol von der Hand. „Ich wollte das noch trinken.“

 

„Und ich wollte darauf noch schlafen“, gab Jo zurück. „Also sind wir quitt.“

 

Phillip schüttelte nur den Kopf.

 

„Den hält man ja heute echt im Kopf nicht aus. Ein Glück, dass du wieder da bist, T. Auf dich hört er wenigstens.“

 

Ich enthielt mich eines Kommentars und grinste nur wissend. Jo war offenbar unausgelastet und ich konnte mir denken, woran das lag. Allerdings war ich da nicht der Einzige. Leon schien meine Theorie zu teilen.

 

„Am besten besorgen wir ihm mal wieder ne Freundin, dann kann er sich mit der austoben“, gab er kund und zu wissen und griff schon wieder nach der Flasche. Wenn er in dem Tempo weitermachte, würden wir heute noch hier versacken.

 

„Wir könnten Sina fragen.“

 

Phillip, der anscheinend beabsichtigte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem er seine kleine Schwester mit einem seiner besten Freunde verkuppelte, grinste breit. Leider hatte er seine Rechnung da ohne Jo gemacht.

 

„Oh bitte nicht“ , wehrte der entschieden ab. „Ich ficke doch keine Kinder“

„Sina ist 17.“

„Siehste, sag ich ja.“

 

Leon ging das Ganze entspannter an. Er runzelte die Stirn und dachte offenbar scharf nach.

 

„Wie wäre es denn mit Vanessa?“

„Nee, nicht mein Typ.“

„Mia-Sophie?“

„Zu eingebildet.“

„Nele?“

„Hatte ich schon.“

„Dann die Schnalle von der Tankstelle.“

„Wie bitte? Die ist mindestens 30 und hat einen total fetten Hintern. Nee danke. Da nehm ich lieber weiter Handbetrieb in Kauf.“

 

So ging es noch eine Weile weiter, bis Leon irgendwann wieder zur Uhr sah. Sie zeigte Viertel vor zwölf.

 

„Los, Leute, jetzt kommt mal in die Puschen. Wenn wir zu spät kommen, sind die besten schon weg.“

„Oder besoffen.“

„Dann passen sie ja bestens zu dir.“

 

Jo quittierte Phillips Bemerkung mit einem Stinkefinger, bevor er sich sein altes Shirt einfach über den Kopf zog und es achtlos zu Boden warf. Mit entblößtem Oberkörper warf er sich in Pose.

 

„Seht ihr, das entgeht den Hühnern, wenn sie mich nicht nehmen.“

„Eine Hühnerbrust?“

 

Phillip fiel vor Lachen über Leons Spruch fast vom Bett, während Jo offenbar schon wieder nach einem Wurfgeschoss Ausschau hielt. Als er keines fand, beschränkte er sich auf eine drohende Geste.

 

„Du Affe, das nennt man athletisch.“

„Nee, T ist athletisch. Du bist ein halbes Hemd.“

„Oder halbes Hähnchen.“

 

Wieder kringelte sich Phillip auf dem Bett zusammen, während Jo langsam aber sicher rot zu sehen drohte. Ich befand, dass es an der Zeit war, einzuschreiten.

 

„Jetzt hört endlich mit dem Schwachsinn auf. Mit einem blauen Auge lassen sie euch erst recht nicht rein. Also spart euch euer Testosteron für wann anders auf.“

 

Jo war jedoch noch nicht zufrieden.

 

„Die lachen über mich“, meckerte er und deutete an sich herab. „Jetzt sag du doch mal. Das ist doch ein einwandfreier Körperbau, oder nicht?“

 

Ich vermied es, meinen Blick allzu lange auf ihn zu richten. Natürlich wusste ich, wie er nackt aussah. Wir waren schon oft genug schwimmen gewesen oder zusammen in einer Umkleidekabine. Er hatte dünne, sehnige Beine, schmale Hüften, einen wenig definierten Oberkörper und relativ schmale Schultern. Dazu kamen noch die leicht abstehenden Ohren, die man wegen der an den Seiten abrasierten Haare nur umso besser erkennen konnte, und ein Gesicht, das an eine Maus erinnerte, weil seine Nase ein wenig zu spitz war. Die Tatsache, warum ich ihn nicht ansehen konnte, war also weniger die, dass ich Angst hatte, ihn plötzlich attraktiv zu finden. Die Sache, die mir dabei Kopfzerbrechen bereitete, war die, wie er reagieren würde, wenn er irgendwann herausfand, dass ich schwul war. Würde er da an all die Gelegenheiten denken, bei denen er sich neben mir ausgezogen hatte? Würde er das in Zukunft nicht mehr tun? Würde er überhaupt noch mit mir reden?

 

Während mir all das durch den Kopf ging, sah mich Jo immer noch um Bestätigung heischend an. Ich verzog spöttisch den Mund.

 

„Ja, du bist total männlich und furchteinflößend. Wie ein Babyhamster. Können wir dann los?“

 

Ich klatschte mit Leon und Phillip ab, während Jo mich anknurrte, dass ich ein arroganter Arsch sei. Ich dankte es ihm mit einem freundschaftlichen Rempler, als ich an ihm vorbeiging.

 

„Nun mach dir mal nicht ins Hemd. Wir finden schon was Passendes für dich.“

„Und du zahlst.“

„Aber nicht für Dienstleistungen.“

 

Ich bekam meinen Rempler zurück, bevor wir uns endlich auf den Weg zum Auto machten.

 

 

Am Club angekommen hatte sich vor der Tür bereits eine Schlange gebildet. Der Schuppen, der eigentlich eine ganz normale Disko war und sich in einem schon ein wenig heruntergekommenen Industriegebiet befand, hatte schon verschiedene Besitzer und verschiedene Namen hinter sich gebracht. Da aber sowieso alle nur vom „Club“ sprachen, hatte der neue Inhaber vor ein paar Jahren beschlossen, das Ding einfach so zu nennen, obwohl von draußen nur Wellblech dranpappte und sich Risse durch den Asphalt des Parkplatzes zogen, über den wir gerade gegangen waren. Aber irgendeinen Vorteil musste es ja haben, die einzige Location innerhalb von 30 km Umkreis zu sein. Die zahlende Kundschaft konnte es sich schlichtweg nicht leisten, nicht zu kommen.

 

Leon hingegen schien wegen der Schlange auf einmal auf Krawall gebürstet zu sein. Er nörgelte los, noch bevor wir unseren Platz am Ende der Hühnerleiter bezogen hatten.

 

„Maan, jetzt müssen wir wegen euch Spacken wieder warten.“

 

Glücklicherweise kannten wir das von ihm schon und wussten, was zu tun war.

 

„Nerv nicht und nimm dir ’n Snickers“, gab Jo mitleidlos zurück.

 

„Du bist einfach nicht du, wenn du hungrig bist“, fiel Phillip mit ein.

 

„Ich hab eben einen regen Stoffwechsel“, erklärte Leon und rieb sich den nicht vorhandenen Bauch. „Kann ich doch nichts dafür.“

 

Ich schüttelte nur den Kopf.

 

„Ich hab dich gefragt, ob wir noch zu Mäkkes wollen vorher. Du hast Nein gesagt.“

„Weil der Fraß nicht satt macht.“

„Ach, aber Baguette mit Pilzen schon oder was?“

„Klar.“

„Du wirst dich noch irgendwann vergiften mit dem Zeug.“

 

Zu unserem und Leons Glück ließen die Türsteher heute jedoch nur wenige von ihren üblichen „Willkommen im Club“-Sprüchen vom Stapel. So konnten wird schon kurze Zeit später durch die Schleuse am Eingang in das halbdunkle Innere vordringen. Sofort nach dem Erhalt des obligatorischen Eintrittsstempels steuerte Leon die Bistro-Ecke an, um sich seine üblichen zwei Pilzbaguettes zu bestellen. Der Rest von uns lief den rot und orange gestrichenen Gang entlang an den Toiletten und der „Lounge Area“ vorbei, bis wir zum „Mainfloor“ kamen, auf dem heute guter, alter Rock gespielt wurde. Wir holten uns an der Theke was zu trinken und suchten uns einen Tisch auf der oberen Ebene, von dem aus man die Tanzfläche überblicken konnte. Sofort scannte Jo den weiblichen Teil der Gäste.

 

„Was hältst du von der da?“, fragte er an Phillip gewandt. Er wusste schon, dass ich mich mit meinem Urteil meistens zurückhielt. Alternativ machte ich mir einen Spaß daraus, ihm alle seine Kandidatinnen madig zu machen. Eine Rolle, die heute anscheinend Philipp zufiel.

 

„Nee, zu alt“, sagte er prompt, als er das erste Mädel in Augenschein genommen hatte. Jo gab jedoch nicht so schnell auf.

 

„Wie wäre dann die?“

„Die ist ja flach wie ein Brett.“

„Und die?“

„Mhm, könnte gehen. Aber ich glaube, die hatte hier schon was mit jedem. Also wenn, dann nur mit Gummi.“

„Ach, fuck.“

 

Frustriert ließ sich Jo wieder auf die Bank sinken und kippte die Hälfte seines Biers in sich rein, bevor er Phillip böse anfunkelte.

 

„Du verdirbst einem echt den ganzen Spaß.“

 

Phillip grinste nur und hielt sein Handy in die Höhe.

 

„Ich könnte immer noch Sina für dich anrufen.“

„Sag mal, kriegst du Prozente, wenn du die an den Mann bringst, oder was?“

 

Jo schien jetzt ernsthaft angepisst zu sein. Er vernichtete auch noch den Rest seines Biers, bevor er die Flasche auf den Tisch knallte.

 

„Ich geh schiffen. Wenn ich wiederkomme, steht hier besser ein neues.“

 

Damit rauschte er ab und ließ Phillip und mich allein am Tisch zurück. Ich sah ein wenig zweifelnd zu Phillip rüber.

 

„Also ein bisschen verstehe ich ihn ja. Was hast du nur heute mit deiner Schwester?“

 

Phillip seufzte und begann das Etikett von seiner Bierflasche zu polken.

 

„Sina geht mir auf den Zeiger. Die redet neuerdings die ganze Zeit von Sex und dass sie endlich entjungfert werden will und all so’n Schwachsinn. Und da denk ich mir, wenn meine kleine Schwester sich schon irgendeinem Kerl an den Hals schmeißt, dann doch wenigstens einem, den ich leiden kann.“

„Und da suchst du dir ausgerechnet Jo aus?“

 

Phillip zuckte mit den Schultern.

 

„Der ist doch ganz scharf drauf, mal wieder eine zu knallen. Außerdem wird er immer so klein mit Hut, wenn er ne Freundin hat. Der tut doch nur so und in Wirklichkeit ist er voll der Softi. Außerdem glaub ich nicht, dass er arschig zu Sina wäre. Immerhin weiß ihr großer Bruder, wo er wohnt.“

 

Phillip wackelte bedeutsam mit den Augenbrauen. Ich lachte.

 

„Na, wenn du meinst. Aber wetten würde ich nicht darauf. Du weißt doch: Jo wechselt die Freundinnen häufiger als seine Unterwäsche.“

„Ach, wenn mal die Richtige kommt, wird er schon bei ihr bleiben. So wie bei dir und Mia.“

 

Phillip lächelte und prostete mir zu, aber ich musste schwer an mich halten, um nicht einen gequälten Laut von mir zu geben. Wenn der wüsste. Nicht nur, dass ich die ganze Zeit dieses angetrunkene Gelaber ertragen musste über Titten und Ärsche und wie geil es wäre, mal wieder „eine geile Schnalle so richtig durchzubürsten“, jetzt musste mich Phillip auch noch an Mia erinnern. Ich nippte noch einmal an meinem Bier, bevor ich es zurück auf den Tisch stellte und Phillip über den gerade aufgelegten Evergreen hinweg zubrüllte, dass ich mal für Nachschub sorgen würde. Als er verständnislos guckte, nahm ich Jos leere Flasche und wedelte damit vor seiner Nase herum, bevor ich mich wieder auf die untere Ebene begab.

 

Da an der Bar ziemliches Gedränge herrschte, musste ich einige Zeit warten, bis ich dran war. Als sich der Barkeeper endlich in meine Richtung drehte und ich gerade bestellen wollte, rief eine Stimme neben mir:

 

„Zwei Wodka-O.“

 

Ich drehte mich zu dem Vordrängler um und erstarrte. Der Typ sah nicht nur gut aus, er grinste mich auch noch rotzfrech an. Sein hautenges Shirt spannte über der Brust. Da blieb wirklich nichts der Fantasie überlassen. Außerdem legte es viel zu viel gebräunte Haut und einen Ansatz von Brusthaar frei. Dunkle Augen unter vollen, schwarzen Locken funkelten mich herausfordernd an.

 

„Was gefunden, das dir gefällt?“, wollte der Latinlover wissen. Ich schluckte und schüttelte stumm den Kopf.

 

„Schade“, meinte er immer noch grinsend, zwinkerte mir zu, nahm seine Bestellung und verschwand damit in der Menge. Erst die Stimme des Barkeepers, der zu wissen verlangte, was ich denn nun haben wollte, brachte mich wieder zurück auf die Erde. Was war das denn jetzt gewesen?

 

Das nennt sich Anmache, informierte mich mein Gehirn, während ich ganz automatisch zwei Bier bestellte. Ich bekam sie, bezahlte und ging dann wie in Trance wieder zurück zum Tisch. Ich konnte es einfach nicht glauben. Hatte mich doch tatsächlich ein Kerl angegraben. Das war mir noch nie passiert. Ob ich neuerdings irgendwelche Signale aussendete? Welche, von denen ich gar nichts wusste?

 

„Hey, da bist du ja endlich. Oh, gleich zwei. Wie praktisch.“

 

Jo schnappte sich postwendend die beiden Flaschen aus meiner Hand und reichte eine an Leon weiter, der inzwischen auch zu uns gefunden hatte. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie meine Freunde wohl reagiert hätten, wenn ich ihnen erzählte, dass ich gerade von einem Mann angeflirtet worden war. Vermutlich wären sie außer sich gewesen. Die beknackten Sprüche, die dann gefolgt wären, konnte ich mir lebhaft vorstellen.

 

Du kannst es ihnen nicht sagen, beschloss ich und hielt mich den Rest des Abends an meinem Fahrerbier fest. Jo versuchte zwar mehrmals, mich als Wingman zu engagieren, um irgendwelche hässlichen Freundinnen zu okkupieren, während er dem Objekt seiner Begierde näherkam, aber ich lehnte jedes Mal ab. Ich war heute nicht in Stimmung. Er gab sich mit Leon zufrieden und erntete doch tatsächlich zwei Telefonnummern.

 

„Mal sehen, ob ich sie anrufe“, meinte er grinsend und bestellte sich auf meine Kosten noch ein Bier für die Heimfahrt. Als ich ihn und die beiden anderen zu Hause abgesetzt hatte, machte ich mich allein auf den Weg zurück.

 

 

In meinem Zimmer angekommen schälte ich mich aus meinen Klamotten. Sie stanken nach Qualm und würden am nächsten Tag in die Wäsche wandern. Nur mit Shorts bekleidet setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Meine Augen brannten und alles an mir schrie nach Schlaf. Gleichzeitig war es viel zu warm und die kreisenden Gedanken in meinem Kopf würden mich ohnehin nicht zur Ruhe kommen lassen.

 

Für einen Moment war ich versucht, nach meinem Handy zu greifen, doch dann zögerte ich. Selbst wenn ich das tat, wen wollte ich anrufen? Mitten in der Nacht um kurz vor halb vier sicherlich niemanden mehr. Aber wenn; wessen Nummer würde ich wählen?

 

Ich schloss die Augen, als die Antwort klar und deutlich vor mir erschien. Ich wusste, dass ich mich schon längst entschieden hatte. Es noch länger herauszuzögern, machte alles nur noch schlimmer. Statt jedoch nach meinem Telefon zu greifen, nahm ich mir Stift und Papier und begann zu schreiben.

 

Unsere Füße geh’n gemeinsam

Doch sie teilen keinen Weg

Weil nichts mehr von „uns“ zurückblieb

Kommen wir nicht mehr vom Fleck

Wo vorher Lachen war, herrscht Schweigen

Keiner traut sich umzudreh’n

Denn nicht einer von uns beiden

Hat das Unglück kommen seh’n

 

Unser Himmel, er wird dunkel

Regen zieht von Ferne ran

Kann das Gewitter fast schon spüren

Erste Tropfen zieh’n die Bahn

Und sie waschen fort was einmal

Zwischen uns war irgendwann

Rinnen abwärts wie die Tränen

Die man nicht mehr sehen kann
 

Weil du was viel Besseres

verdient hast als mich

Jemand der es so meint

Wenn er sagt: „Ich liebe dich“

Der dich auf Händen trägt

Und der dir dann und wann

Einen Stern vom Himmel holt

Was ich nicht mehr kann

 

Wir haben uns geliebt, du warst die Einz’ge für mich

Mein Herz gehörte nur dir und es schlug nur für dich

Wir waren einmal glücklich, doch das ist so lange her

Denn es ist die reine Wahrheit: Ich liebe dich nicht mehr

 

Ich würd’ so gerne sagen, das geht wieder vorbei

Dass wir wieder ein Paar werden, du und ich, nur wir zwei

Aber ich hab viel zu lang gelogen, schob es immer vor mir her

Denn es ist die reine Wahrheit: Ich liebe dich nicht mehr

 

Nachdem ich den Text beendet hatte, ging ich endlich todmüde ins Bett. Am Horizont waren bereits die ersten Vorboten des Sonnenaufgangs zu sehen, doch ich fiel wie ausgeknipst in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es war der erste seit langem.

 

 

Ich erwachte erst um die Mittagszeit wieder, als meine Mutter klopfte und mich daran erinnerte, dass ich in einer Stunde zu meiner Schicht erscheinen müsse. Ich quälte mich mühsam in die Senkrechte, während sie die Tür einen Spalt breit öffnete.

 

„Ist alles okay bei dir?“

„Ja, Mama.“

„Hast du wieder Kopfschmerzen?“

„Nein, ich war nur zu lange wach.“

„Ah, in Ordnung.“

 

Sie sprach nicht weiter, aber ich wusste, welche Frage ihr auf dem Herzen lag. Also erzählte ich ihr, dass ich nächste Woche den Termin beim Arzt hätte. Ein schmales Lächeln glitt über ihr Gesicht.

 

„Gut. Es freut mich, dass du dich darum gekümmert hast.“

 

„Ja, Mama“, sagte ich nur und wusste, dass ich mich noch um etwas anderes würde kümmern müssen. Etwas, das selbst die schlimmste, ärztliche Untersuchung nicht aufwiegen konnte.

 

 

Die Zeit im Sportgeschäft schien sich ewig hinzuziehen. Es war nur wenig los, aber Holger hatte einen Termin und deswegen den Laden nicht schließen wollen. Den größten Teil des Nachmittags saß ich allein herum und bediente in der ganzen Zeit lediglich drei Kunden. Als Holger wiederkam, fragte ich ihn daher, ob ich früher gehen könnte.

 

„Dann bezahle ich aber nicht die volle Zeit“, mahnte er mich und ich gab ihm zu verstehen, dass mir das recht war. Ich wollte es nur endlich hinter mich bringen.

 

„Na, dann hau schon ab“, meinte Holger lachend und merkte dabei gar nicht, dass ich nicht wie üblich miteinfiel. Wie es schien waren mir meine Schauspielkünste für heute abhanden gekommen. Ich schwang mich auf mein Rad und musste noch einmal an das Lied denken, dass ich heute Nacht geschrieben hatte. Es erschien mir passender denn je.

 

 

Als das Haus von Mias Eltern in Sicht kam, hätte ich am liebsten auf der Stelle wieder kehrtgemacht und wäre ins Geschäft zurückgefahren. Oder ich hätte mich freiwillig als Bikinimodell im Freibad zur Schau gestellt oder Bettpfannen im Altersheim gereinigt. Alles, nur um mich vor dem zu drücken, was ich vorhatte zu tun. Trotzdem lehnte ich mein Fahrrad von innen gegen den weißen Gartenzaun und ging mit klopfendem Herzen den steinernen Weg zwischen den gepflegten Rabatten zur Haustür hinauf. Als ich klingelte, kündigte ein melodiöser Gong meinen Besuch an. Die Tür öffnete sich und Mias Mutter stand vor mir. Sie war ebenso blond wie Mia und fast ebenso hübsch. Die Verwandtschaft der beiden war nicht zu übersehen.

 

„Ach, hallo Theo. Du bist aber früh dran“, wunderte sie sich.

 

Ich lächelte, obwohl mir nicht danach war.

 

„Ich wollte Mia überraschen. Ist sie da?“

„Ja, sie ist oben. Geh nur hoch.“

„Okay.“

 

Ich zog die Schuhe aus und folgte der mit hellgrauem Flor bezogenen Treppe in den ersten Stock. Hier befand sich neben dem elterlichen Schlaf- und dem Gästezimmer auch Mias eigenes Reich. Vor ihrer Tür holte ich noch einmal tief Luft, bevor ich leise klopfte. Mia antwortete mir sofort. Als sie mich sah, wurden ihre Augen groß.

 

„Theo.“

 

Sie saß an ihrem Schreibtisch am Computer. Offenbar hatte sie gerade etwas gesucht. Jetzt schloss sie schnell den Browser und drehte sich zu mir um. Sie trug nur eine kurze, hellblaue Sweathose und ein weißes Top. Selbst jetzt sah sie aus wie aus einem Katalog. So perfekt.

 

„Hallo, Mia.“

 

Meine Stimme war leise. Vorsichtig. Als würde sie sich nicht heraustrauen aus Angst vor dem, was kommen sollte. Dabei wollte ich doch stark sein. Ich wollte das hier gut über die Bühne bringen. Mia den Abschluss geben, den sie verdiente. Einen, aus dem sie möglichst unbeschadet hervorging. Ein Blick in ihre Augen zeigte mir jedoch, dass es dafür längst zu spät war. Sie wusste, warum ich hier war. Trotzdem versuchte sie den Schein zu wahren. Ebenso wie ich.

 

„Du bist früh dran.“

 

Ich hörte die Tränen, die sie nur mühsam zurückhielt. Auch in meiner Kehle saß ein dicker, fester Pfropfen. Kein Laut wollte daran vorbeidringen. Und doch musste ich es sagen. Ich musste es aussprechen. Aber es war so schwer.

 

„Das hat deine Mutter auch schon gesagt“, sagte ich stattdessen. Sinnlose Konversation. Ich war so geübt darin.

 

„Wir wollten ja ins Kino“, erwiderte sie auf die gleiche Weise. Auch sie beherrschte die Kunst, mit vielen Worten nichts zu sagen, perfekt. Wir beide wussten das und verabscheuten es gleichermaßen. Wenn wir miteinander geredet hatten, war es immer anders gewesen. Bis jetzt. Jetzt traute sich keiner von uns beiden, den ersten Schritt zu machen auf die Brücke, die unter unseren Füßen zusammenbrechen würde. Wir wussten es, aber wir konnten nichts dagegen tun.

 

Es war Mia, die schließlich das Schweigen brach.

 

„Ich habe eine Nachricht von Jo bekommen. Möchtest du sie lesen?“

 

Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Trotzdem nickte ich. Noch ein kleines bisschen Zeit. Noch ein winziger Aufschub.

 

Mia griff nach ihrem Handy, entsperrte den Bildschirm und rief die Nachricht auf. Dann gab sie sie mir zu lesen. Ich stutzte ein wenig anhand der kreativen Rechtschreibung, die sicherlich dem Zeitpunkt ihres Verfassens geschuldet war, doch als der Sinn der Worte zu mir durchdrang, wurde mein Magen zu Eis. Das war noch viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Mit einem Gesicht, das sicherlich weiß wie die sprichwörtliche Wand war, ließ ich das Gerät sinken. Mia sah mich an.

 

„Möchtest du mir erklären, warum Jo mich fragt, ob wir unser Date morgen Abend verschieben können, damit er mit dir zu dieser Beachparty gehen kann?“

 

Ich wollte. Ich wollte es erklären, aber das hätte bedeutet, ihr alles zu sagen. Und mit „ alles“ meinte ich wirklich alles. Jede noch so kleine Kleinigkeit. Es würde sie vernichten.

 

„Ich … ich kann das erklären“, begann ich mit einem Satz, der vermutlich in die lange Reihe berühmter letzter Worte gehörte

 

Mia atmete tief ein. „Kenne ich sie?“

 

Wieder brauchte ich einen Augenblick, bevor ich verstand, wovon sie sprach. Ich schüttelte den Kopf.

 

„Ich … es ist nicht so, wie du denkst.“

„Was denke ich denn?“

„Dass ich dich betrüge. Aber das ist nicht der Fall. Nicht mehr.“

 

An Mias Gesicht sah ich, dass ich die falschen Worte gewählt hatte. Eilig setzte ich hinzu:

 

„Hör zu, ich erkläre es dir. Wirklich. Aber du darfst nicht …“

 

Ich verstummte. Ich war nicht in der Position etwas zu verlangen. Also schloss ich die Augen, atmete noch einmal tief durch und begann noch einmal ganz von vorne.

 

„Ich … ich habe gelogen. Ich hab Jo gesagt, dass ich morgen mit dir verabredet bin. Aber in Wahrheit bin ich mit jemand … anderem verabredet, aber … es ist kein Mädchen, Mia. Und wir haben auch kein Date, sondern wir wollen zusammen zum … zum Christopher Street Day. Aber nicht nur als Zuschauer, sondern als … Teilnehmer. Weil ihn das Thema etwas angeht. Und mich auch.“

 

Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Es war erbärmlich wenig, was ich da von mir gegeben hatte. Viel zu wenig, um der Tragweite dessen, was es bedeutete, auch nur annähernd gerecht zu werden. Trotzdem sah ich, wie sich ganz langsam Verstehen auf Mias Gesicht ausbreitete. Wie Wellen auf einem Teich, in den jemand einen Stein geworfen hatte.

 

„Zum … Christopher Street Day?“, fragte sie noch einmal nach. Ich nickte.

 

„Aber das ist eine Demonstration für die Rechte von … Homosexuellen.“

 

Wieder nickte ich.

 

„Es sind sogar noch ein paar mehr Gruppierungen, aber im Großen und Ganzen, ja.“

 

Erneut wartete ich, wie Mia reagieren würde. Würde sie verstehen, was ich ihr damit versuchte zu sagen? Würde sie verstehen, dass ich …

 

„Willst du mir damit sagen, dass du …?“

 

Ich nickte, bevor sie es aussprach.

 

„Es tut mir leid“, flüsterte ich so leise, dass man mich kaum hören konnte. Ich schämte mich dafür, dass ich ihr das jetzt sagen musste. Dafür, dass ich es nicht schon früher erkannt hatte. Und ich hasste mich für den Ausdruck, der jetzt in ihr Gesicht trat. So schockiert und verletzt. In meiner Brust wurde es eng.

 

„Aber du hast doch … wir sind doch …“

 

„Ich weiß“, sagte ich leise und konnte ihrem Blick nicht mehr standhalten. Stattdessen sah ich hinunter auf den flauschigen, weißen Teppich, der in ihrem Zimmer lag. Wer außer Mia konnte so einen Teppich haben?

 

„Und ich versichere dir, dass es nichts mit dir zu tun hat, auch wenn das jetzt wie ein abgedroschener Spruch klingt. Ich … ich habe es selbst lange nicht gewusst oder nicht wahrhaben wollen. Ich habe immer gedacht, dass ich wie alle anderen bin. Dass ich ganz normal bin.“

 

Ich konnte nicht verhindern, dass mir in diesem Moment die Tränen in die Augen schossen. Ärgerlich fuhr ich mir unter der Brille über die Augen. Verdammte Axt nochmal! Mia war hier diejenige, die Grund hatte zum Weinen. Weil sie so einen Arsch als Freund hatte. Einen der sie hinterging, belog und betrog und das alles nur, weil er zu feige war, sich einzugestehen, dass er schwul war.

 

Ich zog die Nase hoch und blickte durch den Tränenschleier zu Mia hinüber. Die sah mich nur an und in ihren Augen stand tiefe Trauer.

 

„Mia“, sagte ich wieder und wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Immer noch schwammen meine Augen. Ich nahm die Brille ab, um sie zu trocknen. Das war doch alles scheiße.

 

„Warum hast du nie was gesagt?“, wollte sie wissen.

 

„Ich wusste es nicht“, antwortete ich leise. „Ich … ich habe es selbst erst gemerkt, als es schon viel zu spät war. Ich dachte immer, es geht wieder weg.“

 

Ein kleines, flüchtiges Lächeln umspielte Mias Lippen.

 

„Das hast du ehrlich gedacht?“

„Ich hatte es gehofft.“

 

Plötzlich musste ich lachen. Es war so surreal, ausgerechnet in dieser Situation damit herauszuplatzen, und doch konnte ich es nicht verhindern. Auch Mia grinste ein bisschen, bevor sie wieder ernst wurde.

 

„Ach, Theo.“

 

Sie ließ sich von mir in eine Umarmung ziehen. Ich war so erleichtert, dass sie mich nicht von sich stieß. Dass sie es verstand, wenigstens einen Teil davon.

 

„Es tut mir wirklich so leid“, wisperte ich in ihre Haare, die wie immer nach Apfelshampoo rochen. „Wenn ich es früher gewusst hätte, dann wäre das alles nicht passiert.“

 

Jetzt hörte ich auch Mia schniefen. Ich wusste, dass sie weinte.

 

„Aber wenn du es früher gewusst hättest, dann hätten wir uns nicht gehabt. Und das hätte ich sehr schade gefunden.“

„Aber ich …“

 

„Theo.“ Mia machte sich von mir los und sah mich an. Ihre Augen waren feucht und doch lächelte sie. „Ich liebe dich. Immer noch. Aber ich weiß, was es bedeutet, wenn du mir sagst, dass du … dass du zu diesem Event gehen willst. Und ich bin die Letzte, die dich dabei aufhalten würde.“

 

„Oh, Mia.“ Ich konnte nicht mehr sagen, denn der Rest meines Satzes ging in einem Schluchzen unter. Jetzt war sie es, die mich hielt. Ich fühlte mich furchtbar, denn ich hatte das nicht verdient. Nicht nach dem, was ich ihr gerade angetan hatte. Gleichzeitig war ich so glücklich. So glücklich, dass es endlich heraus war. Dass ich es nicht mehr verstecken musste. Nicht vor Mia.

 

 

Nachdem der erste Sturm vorbei war, redeten wir den ganzen Abend lang. Ich erzählte ihr alles, aber auch wirklich alles. Sogar, dass ich sie letzten Sommer betrogen hatte. Sie hörte sich die ganze Geschichte an und ich kam mir mit jedem Wort schlechter vor. Aber ich wusste, dass ich nichts auslassen durfte, wenn das hier funktionieren sollte. Am Ende schwiegen wir beide und wieder war es Mia, die nach schier unendlich langer Zeit das Wort ergriff.

 

„Und jetzt?“, fragte sie und drückte das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand noch ein wenig fester zusammen. „Wirst du es ihm sagen?“
 

„Dass ich in ihn verliebt bin?“

 

Auch diesen Teil hatte ich nicht ausgelassen. Es erschien mir gleichzeitig richtig und vollkommen falsch, dass sie es erfuhr.

 

„Ja.“

„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass er …“

„Dass er interessiert ist?“

 

Mia lachte auf und gab mir einen Faustschlag gegen die Schulter, der sich gewaschen hatte.

 

„Also wenn du das denkst, dann bist du ein noch viel größerer Schafskopf, als ich angenommen hatte. Natürlich ist er interessiert.“

 

„Aber ich … ich hab mich ihm gegenüber wie ein Arsch verhalten.“

 

Mia schnaubte.

 

„Das kann man wohl sagen. Aber wer tut das nicht ab und an? Dann kann man hingehen und sagen, dass es einem leidtut.“

„Aber das habe ich getan.“

„Wirklich?“

 

Sie nahm mich mit ihren klaren, blauen Augen gefangen und nagelte mich damit förmlich an die Wand.

 

„Also so, wie ich das sehe, hat nur er bisher zugegeben, dass er in dich verliebt war. Du hast dich lediglich dafür entschuldigt, dass du dich nicht bei ihm gemeldet und keine Rücksicht auf seine Gefühle genommen hast. Von deinen ihm gegenüber hast du nichts gesagt.“

„Aber er hat ...“

„Nein, Theo.“

 

Mias Stimme war fest und duldete keinen Widerspruch.

 

„Wenn du willst, dass das mit Benedikt funktioniert, musst du ehrlich zu ihm sein. So ehrlich, wie du es heute zu mir warst. Nur wenn er dir dann wirklich verzeiht, habt ihr eine Chance darauf, glücklich zu werden.“

 

Ich seufzte schwer.

 

„Und wenn nicht?“

„Wenn nicht, hast du hoffentlich etwas daraus gelernt.“

 

Ich ließ den Kopf noch ein bisschen tiefer hängen. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Aber die Aussicht, mich dem auch noch stellen zu müssen, schien nach dem Kraftakt heute vollkommen unmöglich.

 

„Wenn du willst, helfe ich dir dabei“, sagte Mia mit einem Mal. Mein Kopf schnellte nach oben.

 

„Wie?“, keuchte ich. Das konnte ich jetzt einfach nicht glauben.

 

„Nun, zum Beispiel indem ich Jo sage, dass wir beide Morgen verabredet sind und er nichts dagegen machen kann. So hast du wenigstens einen Tag, wenn nicht sogar zwei Tage Zeit, das mit Benedikt auf die Kette zu kriegen. Am Montag, wenn die Schule wieder losgeht, möchte ich mit Fug und Recht sagen können, dass ich für etwas Sinnvolles abserviert worden bin.“

 

„Aber Mia“, jammerte ich. „Wie soll ich das denn anstellen?“

 

Sie grinste lediglich breit und mir wurde klar, dass ich den Teufel vor mir hatte. Den Teufel in der Gestalt eines Engels.

 

„Da lass dir mal schön etwas einfallen. Bei dieser Aufgabe wirst du nämlich ganz auf dich allein gestellt sein.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  z1ck3
2020-12-19T21:49:26+00:00 19.12.2020 22:49
Am Anfang des Kapitels war ich etwas traurig, dass Theos Leben echt so anstrengend ist. Also tschuldigung aber seine Freunde (vor allem Jo ) sind schon ziemlich ätzend. Ging es in der Jugend denn echt immer nur so zu?

Aber Mia hat das sowas von gerettet. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch. Sie hätte ja in blinder Wut auch ganz anders reagieren können. Und stattdessen ist sie so verständnisvoll und lieb. Einfach herrlich. Ich hoffe die beiden bleiben Freunde. Jemanden wie Mia kann er wirklich an seiner Seite gebrauchen. Und ich hoffe Mia findet einen Menschen, der ihr nicht nur platonischen Liebe entgegen bringen kann. Das hat sie definitiv verdient!
Antwort von:  Maginisha
20.12.2020 08:46
Hey z1ck3!

Fandest du die Freunde echt so schlimm? Also mal davon abgesehen, dass es als nüchterne Person ja immer etwas anstrengend ist mit Betrunkenen, fand ich die Frotzeleien eigentlich ganz witzig. Und ich hab da auch nochmal ne externe Quelle befragt. Ja, genau so war es. :D

Mia ist wirklich ganz toll. Man könnte sie ja durchaus als nervig empfinden in ihrer "Perfektheit", aber sie hat das Herz halt wirklich am rechten Fleck. Und sie versteht Theo auf eine Weise, die ihm eben bei seinen Freunden fehlt. Daher bleibt es wirklich zu hoffen, dass sie auch irgendwann glücklich wird, auch wenn das nicht Bestandteil dieser Geschichte werden wird.

Danke für den Kommentar.

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-12-19T14:42:34+00:00 19.12.2020 15:42
Hey Mag,
Yessss! Theo hats geschafft!! 🥳
Und Mia reagiert einfach soooo toll! Das zeugt davon, dass sie Theo wirklich, wirklich liebt und will das er glücklich ist.
Was für ein schönes Kapitel an der Stelle 🥰
Er wird sie wohl doch nicht als Freundin verlieren.

Mich lässt das Gefühl nicht los, das es bei einem Outing bei Jo nicht so "schön" ablaufen wird. Typisch für die Jungs in dem Alter. Kenne da jemanden... einfach intolerant 😅

Kein neues Kappi mehr bis Weihnachten? Aber jetzt wird es doch erst so richtig spannend! 😭
Bestimmt will jeder jetzt wissen wie der morgige Tag verläuft und was Theo so plant. Diese Spannung!
Antwort von:  Maginisha
19.12.2020 16:20
Hey Ryosae!

Ja, das war der Teil, den ich noch mal umdisponiert habe. Eigentlich sollte die Trennung erst nach dem CSD passieren, aber Theo hätte es unter den gegebenen Umständen nicht geschafft, Mia bei ihrem Treffen so richtig bewusst anzulügen. Zuerst wollte er sich zwar noch davor drücken und hat gedacht, dass er das durchziehen kann, aber es ging einfach nicht mehr.

Mit Mias Reaktion hat Theo wohl mal wieder mehr Glück als Verstand gehabt. (Obwohl das hier geschilderte Verhalten durchaus auf tatsächlichen Begebenheiten beruht.) Jetzt muss er das nur noch mit Benedikt gebacken kriegen. Und auch sonst noch so einiges.

Was Jo angeht, könntest du durchaus recht haben. Er ist mit die schwerste Nuss, die Theo da vor sich hat.

Ob es noch ein Kapitel gibt, kann ich halt nicht versprechen, aber ich bin recht zuversichtlich, dass da noch was kommt. Zumal demnächst hoffentlich auch der PC wieder da ist. :)

Ich danke erst mal für den Kommentar und wünsche eine nicht zu aufgeregte Wartezeit.

Zauberhafte Grüße
Mag


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