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Herz über Kopf

von

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...erfordern ehrliche Antworten

Benedikt antwortete nicht sofort. Sein Schweigen ließ ein Kribbeln meine Wirbelsäule hinablaufen. Warum sagte er denn nichts?

 

„Wieso willst du das wissen?“, fragte er irgendwann, als ich schon gar nicht mehr mit einer Fortsetzung des Gespräches gerechnet hatte.

 

Ich atmete schneller. Mein Herz klopfte in meinen Ohren.

 

„Nur so“, sagte ich und versuchte dabei lässig zu klingen. „Ich meine, wenn du nicht da gewesen wärst, wäre das alles vermutlich nie passiert.“

 

„Ach, jetzt ist es also meine Schuld?“, brauste er auf.

 

Ich erlaubte mir ein kleines Lächeln. Beschwichtigend.

 

„Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass es nicht passiert wäre, wenn du nicht in meinem Bett gelegen hättest. Also … wieso warst du dort?“

 

Er atmete hörbar aus. Strich sich mit der Hand über das Gesicht.

 

„Ich glaube nicht, dass wir diese Unterhaltung hier führen sollten.“

„Und wo dann?“

 

Benedikt öffnete den Mund, dann schüttelte er auf einmal den Kopf.

 

„Du bist echt unglaublich“, murmelte er. „Unglaublich dumm, unglaublich dreist und unglaublich von dir selbst überzeugt. Kann das sein?“

 

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Also schwieg ich und sah ihn nur an. Wieder schüttelte er den Kopf, doch dieses Mal verzog er dabei noch das Gesicht.

 

„Warum denkst du, dass ich dir jetzt hier Rede und Antwort stehe? Weil du dich entschuldigt hast? Über ein Jahr später? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

 

Ich schluckte und sah zu Boden. Er machte wieder Anstalten zu gehen.

 

„Benedikt.“

 

Mein Ton spiegelte nicht im Geringsten wieder, wie es mir gerade ging.

 

„Was, Theodor? Was ist denn so wichtig daran, warum ich dort war?“

„Weil … weil ich …“

„Weil du was?“

 

Wieder fehlten mir die Worte. Ich konnte einfach nicht sagen, was los war. Ich konnte nicht. Meine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten.

 

„Wenn es so unwichtig war, warum sagst du es mir dann nicht?“, blaffte ich Benedikt aus dem Nichts heraus an. „Warst du zu besoffen, um den Rückweg vom Klo zu finden, oder was?“

 

Er sah mich an und in seinem Gesicht stand plötzlich Verachtung.

 

„Du solltest nicht von dir auf andere schließen.“

 

Damit ließ er mich stehen und rauschte ab in Richtung Zeltplatz. Wie vor den Kopf geschlagen blieb ich zurück und starrte ihm hinterher. Warum hatte ich das gemacht? Ihn so anzufahren, war das Letzte, was ich gewollt hatte. Ich war so ein Idiot. So ein dreimal verfluchter Idiot. Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen, aber das wäre nun wirklich erbärmlich gewesen. Nicht nur, dass ich mich damit total lächerlich gemacht hätte. Ich hätte ihn auch noch bedrängt. Dabei wollte ich doch nur … ich wollte …

 

Nicht einmal mehr in Gedanken sinnvoller Worte mächtig, trat ich mit voller Wucht gegen den großen Stein, der neben mir lag. Ich zischte, als der Schmerz durch meinen Fuß direkt weiter mein Bein hinaufschoss. Trotzdem tat es gut, sich nur darauf konzentrieren zu können. Ich war kurz davor noch einmal zuzutreten, als plötzlich ein Auto auf den Parkplatz fuhr. Der Kies knirschte unter den Reifen und das Motorengeräusch erstarb, als es an einer Stelle in der Nähe hielt.

 

Annett öffnete die Fahrertür, ging um das Auto herum und hielt dort die zweite Tür auf, um ihrem Fahrgast beim Aussteigen zu helfen. Es war Ronya. Sie humpelte und hatte offenbar Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Um ihren Fuß lag ein dicker, weißer Verband.

 

„Hey, ihr beiden!“, rief ich und beeilte mich zu ihnen zu stoßen.

 

„Hey, Theo!“, grüßte Ronya mich und wirkte plötzlich verlegen.

 

„Was hast du denn gemacht?“, wollte ich wissen und zeigte auf ihre Verletzung.

 

„Sie ist auf eine Scherbe getreten“, antwortete Annett an ihrer Stelle. „Ich bin daher mit ihr ins Krankenhaus gefahren, um untersuchen zu lassen, ob noch ein Fremdkörper in der Wunde ist. Es war zwar zum Glück nichts mehr zu finden, aber man kann ja nie wissen.“

 

„Tja, und jetzt bin ich ein Hinkebein“, erklärte Ronya und hob die Achseln. „Kann man nichts machen. In ein paar Tagen geht es bestimmt wieder, aber Schwimmen fällt definitiv erst mal aus.“

 

„Soll ich dir helfen?“, fragte ich und bot ihr meinen Arm an.

 

„Gerne“ erwiderte sie und ließ sich von mir stützen, während Annett das Auto verriegelte und dann zu uns aufschloss. Sie bedachte mich mit einem prüfenden Seitenblick.

 

„Bei dir auch wieder alles klar?“

 

Es dauerte einen Augenblick, bis mir einfiel, dass sie sicherlich meine Kopfschmerzen vom Nachmittag meinte.

 

„Ja, ich bin wieder fit.“

„Keine Kopfschmerzen, Schwindel oder Übelkeit?“

„Nein, alles prima.“

 

Annett nickte zufrieden.

 

„Gut. Falls noch was sein sollte, kannst du jederzeit zu mir kommen. Nur für heute Abend wäre es nett, wenn erst mal Schluss mit den Notfällen wäre.“

„Ich werde mein Möglichstes tun.“

 

Ich brachte Ronya zu ihrem Zelt, wo sie von ihren Mädchen stürmisch begrüßt wurde. Alle wollten wissen, wie es ihr ging, was der Arzt gesagt hatte, ob sie große Schmerzen hatte und so weiter. Ich verabschiedete mich daher schnell und trat nach draußen. Eine Gestalt kam mir entgegen. Ich stockte, als ich sah, dass es Benedikt war. Er trug ein Handtuch und seine alten Sachen in der Hand. Er selbst steckte in einer frischen Jeans und einem dunkelblauen, bedruckten T-Shirt. Seine Haare waren noch feucht.

 

Als er mich sah, runzelte er kurz die Stirn und schüttelte unmerklich den Kopf, bevor er ohne ein weiteres Wort an mir vorbeiging. Ich sah ihm nach und wusste nicht, was das jetzt schon wieder gewesen sein sollte. Bevor ich mir jedoch weiter Gedanken darüber machen konnte, kam schon Wolfgang mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

 

„Ah, Theo, da bist du ja. Ich hab schon gedacht, wir müssten den Abend ohne musikalische Untermalung bestreiten. Annett hat mir erzählt, dass es dir nicht gut geht.“

 

„Nein, nein, alles bestens“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich war nur heute Nachmittag nicht ganz auf der Höhe. Hab mich ausgeruht, jetzt geht es wieder.“

 

„Prächtig. Dann hol am besten gleich mal deine Gitarre. In 20 Minuten wollen wir anfangen.“

 

Ich nickte und machte mich auf zum Betreuerheim, um mich kurz darauf zusammen mit meinem Instrument in den Strom der Kinder einzureihen, die in kleinen Gruppen zum Lagerplatz gingen. Schon von weitem konnte man die Flammen sehen, die inmitten des festgetretenen Platzes vor sich hin loderten. Drumherum hatten sich die Anwesenden die bereitliegenden Bänke und Campingstühle in mehreren hintereinanderliegenden Reihen zurechtgerückt.

 

„Wow, das ist ja geil“, rief ein Junge aus einer der mittleren Gruppen. Er und seine Freunde wollten sofort zum Feuer laufen, wurden jedoch von Thies davon abgehalten.

 

„Nur Betreuer machen Feuer“, gab er eine der Lager-Regeln wieder und scheuchte die Kiddies zurück auf ihre Plätze. Ich selbst stand ein wenig unschlüssig herum. Sollte ich mich jetzt einfach irgendwohin setzen? Oder hatte Wolfgang vor, mich irgendwo zu platzieren?

 

„Hey, Theo, nimm dir nen Stuhl. Die kosten nichts extra.“

 

Allgemeines Gelächter begleitete Kilians dummen Kommentar, den ich nur zu gerne mit einem ausgestreckten Mittelfinger bedacht hätte. Stattdessen grinste ich.

 

„Danke für den Hinweis. Ich hab schon die Parkuhr gesucht, um ne Münze einzuwerfen.“

 

Der Spruch war zwar nicht besonders witzig, aber die größeren Mädchen in der ersten Reihe kicherten trotzdem, als hätte ich einen großen Lacher gerissen.

 

„Du kannst gerne zu uns kommen“, riefen sie und rückten prompt auseinander.

 

„Nein danke, ich brauche Platz zum Spielen“, wimmelte ich sie ab und nahm mir einen der faltbaren Campingsitze, um mich in der Nähe des Eingangs niederzulassen.

 

Immer mehr Leute strömten auf den Platz und so langsam wurde es wirklich voll. Susanne, wieder in eines ihrer wallenden Outfits gehüllt, gesellte sich zu mir. Sie hatte ebenfalls eine Gitarre dabei und versprach, mich nach Möglichkeit zu unterstützen.

 

„Hier sind die Akkorde, falls du schauen willst“, sagte sie und hielt mir ein Notenblatt hin. Weitere Kopien davon wurden bereits durch die Reihen gereicht. Das Repertoire war überschaubar und nichts, was große Fingerfertigkeit erfordert hätte. Trotzdem probierte ich ein, zwei der Lieder kurz aus, bevor ich das Blatt vor mich auf den Boden legte. Prompt wurde es von einem Windstoß erfasst und wollte davon fliegen. Schnell stellte ich meinen Fuß darauf und hob es wieder auf.

 

„Wir haben nicht zufällig Notenständer?“, fragte ich Susanne, die lachend verneinte.

 

„Frag doch eines der Kinder, ob es dir die Noten hält“, meinte sie und ich sah mich suchend um. Die Mädchen hätten sich vermutlich darüber gefreut, aber ich wollte eigentlich keines dieser kichernden Lieschen hier haben. Am liebsten hätte ich Kurt gefragt, aber da ich ihn nirgends in meiner Nähe entdecken konnte, nahm ich mit dem Jungen vorlieb, der neben mir saß.

 

„Du bist Jasper, oder?“, kramte ich seinen Namen aus meinem Gedächtnis. Er nickte stumm.

 

„Magst du mir die Noten halten, während ich spiele?“

 

Er schien nicht begeistert, nahm aber gehorsam das Papier entgegen und schlug es auf.

 

„Was zuerst?“

 

„Mal sehen, womit wir anfangen“, antwortete ich leichthin und schenkte ihm ein Lächeln.

 

Dass mein Blick in dem Moment an ihm vorbeiging und sich an Benedikt heftete, der von mir unbemerkt den Lagerplatz betreten und sich in eine der hinteren Reihen durchgemogelt hatte, war nicht beabsichtigt gewesen. Benedikt war gerade dabei, sich neben Kilian zu setzen. Der Ausdruck auf meinen Lippen kam zum Erliegen. Reichte es denn nicht, dass Kilian mich vorhin so blöde angemacht hatte? Musste sich Benedikt auch noch ausgerechnet neben ihn setzen? Und nicht genug dieser Tatsache, sah Benedikt jetzt zu mir rüber und bekam meinen vermutlich leicht entgeisterten Ausdruck auch noch mit.

 

Schnell wandte ich den Kopf ab und sah wieder nach vorne zum Feuer. Meine Wangen glühten und ich schob es schnell auf die Hitze, die mir von dem brennenden Holzstapel entgegenschlug. Ich konnte nur hoffen, dass die Intensität irgendwann etwas abnahm, sonst würden die Haare auf meinen Schienbeinen bald anfangen sich zu kräuseln. Ich begann zu verstehen, warum die meisten Kinder trotz der noch nicht unangenehmen Temperaturen bereits in lange Kleidung gesteckt worden waren. Es war weniger ein Kälte- als vielmehr ein Hitzeschutz. Wenigstens vorerst.

 

Kaum hatte ich das gedacht, stürmten auf einmal zwei mit hölzernen Schwertern und bunt bemalten Schilden bewaffnete Gestalten an mir vorbei. Sie brüllten und schrien und gebärdeten sich wie toll. Ich brauchte jedoch nicht lange, um unter der wilden Wikinger-Verkleidung mit den tiefgezogenen Helmen und fellbedeckten Umhänge Sönke und Stephan zu erkennen. Auch die Kinder, die zuerst erschrocken geguckt hatten, begannen zu lachen. Die beiden tobten noch eine Weile herum, ermunterten die Kinder zum Mitmachen und hatten die Meute schon bald auf einen gemeinsamen Schlachtruf eingeschworen. Jedes Mal, wenn einer der beiden „Zeltlager?“ in die Runde brüllte, antwortete die Meute mit einem einstimmigen „Moin-Moin!“

 

Es folgte eine Fragerunde, in der die beiden die Kinder erzählen ließen, was sie über Wikinger wussten und wer denn schon einmal ein richtiger Wikinger sein wollte. Ich wusste schon von der Teambesprechung, dass das die Einleitung für den in den nächsten Tagen stattfindenden Workshop sein würde und so blendete ich die beiden Spaßvögel irgendwann aus und versuchte stattdessen unauffällig zu Benedikt rüberzuspähen, der durch seine Größe unübersehbar zwischen den Kindern aufragte. Er hatte seinen Blick nach vorn gerichtet und war anscheinend voll in dem gebotenen Programm versunken, als sein Kopf auf einmal herumschwenkte und er mir voll in die Augen sah. Schnell drehte ich den Kopf weg, nur um mich mit zwei mir zugewandten Wikingern konfrontiert zu sehen. Auch der Rest der Anwesenden starrte mich an und ich bemerkte, dass Susanne neben mir in die Runde winkte. Anscheinend hatte irgendwer etwas gesagt, um zum musikalischen Teil des Abends überzuleiten, und ich hatte es prompt verpasst.

 

Ich rettete mich in ein unterkühltes Nicken und nahm zur Sicherheit meine Gitarre auf den Schoß. Prüfend ließ ich die Finger über die Saiten gleiten. Sofort merkte ich, wie ich ruhiger wurde. Das hier war vertrautes Terrain.

 

„Wir beginnen mit unserer Lager-Hymne“, rief Sönke und ich sah eilig auf das erste Blatt des Notenheftes, wo der vermutlich selbst verfasste Text abgedruckt war. Dass das Ganze auf „I like the flowers“ gedichtet war, würde es für die Kinder einfacher machen, spätestens beim Refrain einzufallen.

 

Stille breitete sich aus, Susanne zählte vor und dann begannen wir zu spielen. Susanne hatte die zweite Stimme übernommen, sodass ich die Melodie des Ganzen trug. Für einen Moment schloss ich die Augen. Blendete alles aus und konzentrierte mich nur auf das Spielen. Die Stimmen der Kinder mischten sich in die Gitarrenklänge und schon bald hörte das Ganze tatsächlich nach einem einigermaßen annehmbaren Chor an. Ich spürte, wie ich zu lächeln begann. Die Lyrics waren nicht anspruchsvoll, aber jemand hatte sich Mühe gegeben, einigermaßen kreative Reime zu finden, und so sang auch ich irgendwann mit. Dem ersten folgte ein zweites Lied und auch wenn mich das verliebte Stachelschwein so gar nicht interessierte, war es doch beruhigend, etwas zu haben, an dem ich mich festhalten konnte. Das hier konnte ich. Darin war ich gut.

 

 

Als auch die letzte Strophe beendet war, hatte ich mich so weit wieder in der Gewalt, dass ich das anschließende Gruppenspiel mitmachen konnte. Während Reike und Melina die Kinder antrieben, auf der Jagd nach einem wilden Quietschie allerlei Hindernisse pantomimisch zu überwinden, löste sich zum ersten Mal der Knoten, den ich schon die ganze Zeit in meinem Magen gehabt hatte, ein wenig. Zwar war mir immer noch bewusst, dass es eigentlich total lächerlich war, was ich hier tat, trotzdem klatschte und trampelte und bewegte ich meine Arme in großen Kreisen, weil ich ja soooo viele Freunde hatte. Ich ließ meine Muskeln spielen, schwamm durch imaginäre Teiche und durchquerte ausgedachte Pilzfelder, nur um am Ende auf der Flucht vor dem Unhold alle Hindernisse im Eiltempo in umgekehrter Reihenfolge noch einmal zu überwinden. Dass unausweichliche „Nochmal“-Geschrei, das dann folgte, wurde jedoch zum Glück abgewiegelt und stattdessen wieder gesungen. So verging der Abend im Wechsel zwischen Spielen, Vorführungen und Gesang, bis die ersten Kinder anfingen zu gähnen.

 

„So, Schluss für heute. Schlafenszeit!“, rief Susanne in die Runde und erntete natürlich reichlich Protest. Es sei ja noch niemand müde und überhaupt wäre es doch gerade so schön.

 

„Na gut“, meinte sie lachend. „Dann singen wir noch ein letztes Lied. Welches wollt ihr?“

 

Sofort wurden von allen Seiten Rufe laut, wobei die Mehrheit sich klar für das Stachelschwein aussprach. Ich rollte innerlich mit den Augen, stimmte jedoch brav die Akkorde an, für die ich inzwischen alleine verantwortlich war. Während also das Stachelschwein schon wieder den Stachelschweinerich nicht ranließ, hatte ich auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Im Schutz der bereits fortgeschrittenen Dämmerung, ließ ich meinen Blick unauffällig nach links gleiten.

 

Benedikt saß immer noch dort, wo er seit Beginn des Abends Platz genommen hatte. Da er weit vom Feuer wegsaß, hatte er inzwischen die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen und verschwamm bis auf das Gesicht mit den Schatten im Hintergrund. Sofort musste ich wieder an den ersten Abend unserer Klassenfahrt denken. Wie er da draußen im Regen gestanden hatte, bis ich ihn genötigt hatte, zum Rest der Klasse hereinzukommen. Wir hatten an dem Abend so viel Spaß gehabt. Sogar bei diesem dusseligen Fragespiel, das wir hinterher zusammen mit einigen anderen bei ihm im Zelt gespielt hatten. Wenn ich daran dachte, was sich später daraus ergeben hatte, wünschte ich fast, ich wäre wieder da. Vielleicht hätte ich dann einiges anders gemacht.

 

„So, jetzt geht es aber ins Bett“, rief Susanne da plötzlich neben mir und erhob sich ebenso wie die anderen Betreuer, um die murrenden Kinder zu ihren Schlafstätten zu treiben.

 

„Und richtig Zähne putzen und nicht nur die Bürsten unters Wasser halten“, rief Kilian über den Platz und wurde dafür wieder mit Gelächter belohnt. Auch ich rang mir ein kleines Lächeln ab. Es gehörte wohl dazu.

 

„Theo? Kümmerst du dich noch mit ums Feuer und die Stühle?“

 

Wolfgang sah mich fragend an und ich bejahte. Während ich noch die Sitze zusammenfaltete und an einen zentralen Platz brachte, wo sie den Tag über mit einer großen Wäscheleine gesichert wurden, hörte ich das Scheppern von zwei großen Eimern, die offenbar schwer beladen näher kamen. Nur Augenblicke später schälte sich eine bekannte Gestalt aus dem Dunkel. Ich erstarrte.

 

Benedikt hingegen würdigte mich keines Blickes, sondern steuerte nur schnurgerade auf das Feuer zu, wo er erst den einen und dann den zweiten Blecheimer über den bereits heruntergebrannten Holzstücken leerte. Es zischte und eine Dampfwolke stob in den sich immer weiter verdunkelnden Himmel. Benedikt warf noch einen prüfenden Blick auf seine Löscharbeit und drehte sich dann um, wohl um die Eimer wieder zurückzubringen. Allerdings stand ihm jetzt jemand im Weg.

 

„Ich hätte dir helfen können“, sagte ich vorsichtig.

 

„Nicht notwendig. Ich schaff das schon.“

„Okay. Nächstes Mal vielleicht?“

 

Er brummte etwas, das sowohl Zustimmung wie auch Ablehnung sein konnte. Ich sah ein, dass ich heute nicht mehr erwarten konnte. Also trat ich demonstrativ einen Schritt beiseite, um ihn durchzulassen. Er warf mir noch einen finsteren Blick zu, bevor er mit den Eimern zusammen wieder in der Dunkelheit verschwand. Ich blieb zurück und seufzte kaum hörbar. Das würden wirklich sehr lange drei Wochen werden.

 

Unwillig, mich jetzt schon ins Zelt zu begeben, ließ ich mich auf eine der großen Bänke sinken. Jetzt, wo das Feuer aus war, merkte man deutlich die frischeren Temperaturen.

 

Ich hätte eine lange Hose anziehen sollen, dachte ich bei mir, machte jedoch keinerlei Anstalten, mich zu erheben. Stattdessen griff ich nach meiner Gitarre, die ich zum Anfang der Aufräumarbeiten hier abgelegt hatte. Ich zog sie noch einmal aus ihrer Hülle und legte meine Finger auf die Saiten. Ich begann zu spielen. Zuerst probierte ich nur ein bisschen herum, bis ich irgendwann eine Melodie fand. Ich spielte eine Weile, wechselte die Tonart. Die Melodie wurde langsamer, getragener und auf einmal erkannte ich, was ich da spielte. Es war ein Song, den ich vor langer Zeit einmal selbst geschrieben hatte. Einer, den ich seit damals nicht noch einmal gespielt hatte.

 

Ich hörte auf zu spielen und ließ die letzten Töne ausklingen. Als Ergebnis war es jetzt kalt, still und dunkel. Am Himmel über mir standen bereits die ersten Sterne. Anscheinend saß ich schon länger hier als gedacht.

 

„Du spielst immer noch gut“, sagte da plötzlich eine Stimme. Ich schrak zusammen.

„Benedikt?!“

 

Er lachte leise.

 

„Nee, der Weihnachtsmann. Natürlich ich. Was hast du denn gedacht?“

 

Ich antwortete nicht, sondern sah nur seiner Silhouette zu, wie sie näher kam und sich auf das andere Ende der Bank setzte. Er streckte die Beine nach vorne aus und atmete hörbar durch.

 

„Also wegen vorhin … Es tut mir leid, dass ich da so ausgerastet bin.“

„Bist du?“

 

Ich war ehrlich überrascht. Das verstand er unter Ausrasten?

 

„Ja, ich … ach na ja. Ich hatte halt nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen. Das hat mich ein bisschen überfordert.“

 

Wieder musste ich einen Ausdruck des Verblüffens zurückhalten. Das gab er einfach so zu? Und ausgerechnet mir gegenüber?

 

„Na, zumindest tut’s mir leid. Und deine Entschuldigung nehme ich an. Ich meine … du hast ja recht. So ganz unbeteiligt war ich an dem Ganzen ja auch nicht. War ne dumme Idee. Von uns beiden.“

 

Ich schwieg. Weniger, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, sondern mehr aus Angst, wieder das Falsche zu sagen. Er bot mir hier quasi einen Waffenstillstand an und ich wäre ein noch viel größerer Idiot gewesen als bisher schon, wenn ich das ausgeschlagen hätte. Trotzdem konnte ich meine Klappe wohl nicht so ganz halten, denn nach einer Weile sagte ich doch tatsächlich:

 

„Beantwortest du mir auch noch meine Frage?“

 

Für einen Moment antwortete mir nur verblüfftes Schweigen, bevor er belustigt schnaubte und den Kopf schüttelte.

 

„Du lernst es auch nicht, oder?“

 

Ich zuckte mit den Schultern.

 

„Doof geboren und nix dazu gelernt.“

 

Wieder lachte er. Es klang toll.

 

„Man, Theo. Kannst du dir das nicht denken? Ich meine, dir ist doch mittlerweile klar, dass ich schwul bin, oder?“

 

Ich nickte, obwohl das im Dunkeln sicherlich nicht die beste aller Kommunikationsformen war. Dass er das einfach so aussprach, überforderte mich nun wiederum. Natürlich hatte ich es mir gedacht. Vermutlich auch irgendwie gewusst. Aber es einfach so von ihm zu hören, war nochmal eine Spur … größer.

 

„Und was werde ich denn dann wohl für einen Grund gehabt haben, mich in dein Zimmer zu schleichen, mich in dein Bett zu legen und mich obendrein auch noch auf ne Runde Kampfkuscheln mit dir einzulassen? Also mir fällt da nur einer ein.“

„Du warst sehr betrunken?“

 

Ich mochte nicht, wie meine Stimme klang, als ich das sagte. Fast so, als würde selbst das schwache Licht der Sterne durch jedes einzelne Wort hindurchscheinen.

 

Benedikt lachte wieder, doch dieses Mal war da ein bitterer Unterton.

 

„Nein, das war es nicht. Sicherlich wird wohl an der Idee, mir dein Zimmer anzusehen, der Alkohol nicht ganz unschuldig gewesen sein. Beduselt macht man ja manchmal seltsame Sachen, die einem sonst im Traum nicht einfallen würden. Aber für das, was später passiert ist, übernehme ich die volle Verantwortung.“

 

Im Gegensatz zu dir, schwang dabei ungesagt mit. Ich senkte den Kopf. Obwohl ich ihn nur schemenhaft ausmachen konnte, konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich war ein Narr. Und ein Feigling obendrein. Es war wirklich kein Wunder, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.

 

„Ich war in dich verliebt“, sagte er plötzlich leise. „Auch nach all der Zeit noch. Obwohl ich wusste, dass du eine Freundin hast und das mit mir vermutlich nur reine Neugier war oder was weiß ich. Irgendein dämlicher Teil von mir wollte dich einfach nicht loslassen. Aber den hast du mit deiner Aktion inzwischen auch erfolgreich gekillt. Du kannst also beruhigt sein. In Zukunft werde ich dich nicht mehr belästigen.“

 

Benedikt stand auf, während ich nicht in der Lage war, mich zu rühren.

 

„Schlaf gut, Theodor“, sagte er, bevor er sich umdrehte und mich alleine am gelöschten Feuer zurückließ.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  chaos-kao
2021-02-03T09:52:35+00:00 03.02.2021 10:52
Wow, da hat Benedikt ja tatsächlich die Bombe platzen lassen. Mir tut Theo ja leid. Er ist in sich so zerrissen - kein Wunder, dass ihn da Kopfschmerzen plagen. Ich hoffe zumindest, dass das und nicht etwa ein Hirntumor oder so der Auslöser dafür ist.
Antwort von:  Maginisha
03.02.2021 11:26
Das mit den Tumor hat tatsächlich schon mal jemand gefragt, von daher auch hier noch mal die Versicherung: Ist es nicht. Es wird auch niemand in dieser Geschichte sterben. :)
Von:  z1ck3
2020-11-01T16:00:56+00:00 01.11.2020 17:00
Und zack, da war der Theo wieder der Theodor... Ach man ich würde Theo gern mal kräftig kneifen! Schnabel auf und Worte raus! Loooos!
Antwort von:  Maginisha
01.11.2020 17:26
Hey z1ck3!

Gut aufgepasst, es war nämlich kein Verschreiber. ^_~

Treten, hauen, schütteln, das käme wohl momentan alles in Frage. Ne Klatsche hat er jetzt ja schon bekommen. Vielleicht versucht es ja mal jemand auf die sanfte Tour. Eventuell kommt das eher an. ;)

Dir einen guten Start in die Woche!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  KaffeeFee
2020-10-31T16:33:43+00:00 31.10.2020 17:33
Bei allen Göttern, was für ein Kapitel! Zuerst der kleine Miniausraster, dann das Lagerfeuer und Theos Eiferducht auf Kilian (selbst, wenn es nicht so sein sollte, lass mir meine Illusionen😜) und dann auch noch das Geständnis von Benedikt! Wahnsinn!
Aber... ich will nicht (!!!), dass er keine Gefühle mehr für Theo hat! Nein, nein, nein! Das wäre ja... doofig. Kann ihn aber auch verstehen, dass er Theo so einen mitgibt. Hat der auch ein bisschen verdient.

Lass uns nicht zu lange zappeln!
Ich wünsche dir noch ein wunderschönes Samhain-Fest🥰

Bis dahin, koffeeinhaltige Grüße, die KaffeeFee ☕☕🌻
Antwort von:  Maginisha
01.11.2020 10:16
Hey KaffeeFee!

Ich glaube nicht, dass du dir die Eifersucht eingebildet hast. Dafür ist das ja dann nun doch ein wenig zu deutlich gewesen. ;)

Das Geständnis dürfte Theo jetzt erst mal ein wenig von den Socken hauen. So weit hat er vermutlich gar nicht gedacht. Und dass Benedikt gar keine Gefühle mehr für ihn hat. Na ja, wir werden es abwarten müssen. Momentan sieht es ja nicht so gut aus. Aber vielleicht kriegen sie ja noch die Kurve. :)

Ich wünsche dir einen wundervollen Sonntag!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-10-31T14:23:13+00:00 31.10.2020 15:23
WHAT THE FUCKING FREAKING HELL?! 😱

Er sagt es einfach so?! Also DAS hätte ich nicht erwartet!
Wieso der plötzliche Stimmungswechsel? Woher kommt der?

Irgendwie wirft das Kappi mehr Fragen auf, als es beantwortet xD
Ein nicht ganz so kleiner Teil von mir will das Theo ihm nachrennt und ihn küsst! Vielleicht wäre es aber zu schnell.
Ist noch die Frage ob Benedikt zur Zeit jemanden wieder an seiner Seite hat, ein Problem sollte das ja aber nicht sein, wie die Klassenfahrt beweist 😅

Was wird Theo nur mit dieser klaren Information machen? Jetzt sollte er die Vergangenheit mit ganz anderen Augen sehen.
Bitte schreib schnell weiter!!! 🥰
Antwort von:  Maginisha
31.10.2020 16:33
Hey Ryosae!

Hab ich dich erwischt, ja. :D

Woher der Stimmungswechsel kommt? Tja, wegen verschiedener Sachen, denke ich. Zum einen hat er sich Theos Entschuldigung jetzt nochmal durch den Kopf gehen lassen. Zweitens mal hat er halt wirklich festgestellt, dass er eben tatsächlich nicht ganz unschuldig daran war. Er hätte ja auch wissen können, dass das vermutlich dämlich ist. Ist ja nicht so, dass Theo ihn nun irgendwie angelogen hätte. Zudem hat Benedikt ja selbst Erfahrung damit, dass man manchmal einfach was Dummes tut. Und dann natürlich das, was ich Finniwinniful schon geschrieben habe. Um selbst damit abschließen zu können.

Mal sehen, ob er damit erfolgreich ist. :D

Schaurige Halloween-Grüße!
Mag
Von:  Finniwinniful
2020-10-31T11:15:11+00:00 31.10.2020 12:15
OMG, das Quitschie!!!! Das lieben die Kiddis bei mir auf der Arbeit total (und ich auch)!! :D

Ich bin schon froh, dass Benedikt nun endlich mal mit der Sprache rausgerückt ist und hoffe, dass Theo nun in die Puschen kommt und was unternimmt. Denn auch wenn Benedikt meinte, dass er keine Gefühle mehr für Theo hat, glaube ich das nicht!! Dafür is er schon zu lange in ihn verschossen!!

Freue mich drauf, zu lesen, wie es weitergeht!

Happy Halloween und noch einen schaurig schönen Tag
LG Finniwinni


Antwort von:  Maginisha
31.10.2020 14:49
Hey Finniwinniful!

Ich wollte das letztens mal mit unseren Kindern spielen (kenne es auch aus dem Zeltlager, vor 30 Jahren wohlgemerkt) und wusste nicht mehr so richtig, wie es ging. Jetzt bin ich wieder im Bilde. :D

Benedikt ist tatsächlich mal wieder in Vorleistung gegangen. Vielleicht wollte er es selber mal aussprechen, um damit abzuschließen. Oder um Theo mal klarzumachen, dass es für ihn eben nicht "einfach so" war. Für den Moment muss Theo das wohl erst mal so hinnehmen, aber er wird vermutlich eh erst mal daran zu knabbern haben.

Ich danke für deinen Kommentar und wünsche ebenfalls ein gruseliges Halloween! 👻

Zauberhafte Grüße
Mag


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