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Herz über Kopf

von

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Zwei Seiten

Von Dreck getrübter Sonnenschein fiel durch die Dachfenster der Scheune und beleuchtete mild das Chaos, dem ich gedachte Herr zu werden, sobald ich eine Ecke gefunden hatte, die sich zum Anfangen eignete. Einer der Holzbalken über mir knackte leise und durch die Treppenöffnung hörte man eine Schar Spatzen tschilpend und zankend auf dem Hof herumfliegen. Ich wäre jetzt auch lieber dort draußen gewesen statt hier oben, wo die steigende Wärme und der Staub der letzten Jahrzehnte die Luft zunehmend stickiger werden ließen. Oder vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil mein Schädel an diesem Morgen ungefähr anderthalb Nummern zu groß für meinen Körper war. Dabei kreisten in meinem Blut bereits zwei Kopfschmerztabletten und ein ganzes Glas Orangensaft, das mir meine Mutter aufgenötigt hatte, als ich unausgeschlafen und verkatert bei ihr angetreten war. Das geschmierte Brötchen, das sie mir mitgegeben hatte, lag irgendwo zwischen den Partyresten. Ich hatte zweimal abgebissen und dann beschlossen, dass ich meinem Magen für diesen Morgen genug zugemutet hatte. Jetzt ging es darum, die Spuren des gestrigen Abends zu beseitigen, denn wie hieß es bei uns immer so schön: Wer feiern kann, kann auch arbeiten.

 

„Es hilft ja nichts“, seufzte ich leise und machte mich daran, endlich mit der Aufgabe zu beginnen, vor der ich mich bereits seit zehn Minuten oder länger drückte.

 

Eine Weile lang räumte ich stumpf vor mich hin. Ich sammelte leere Flaschen und verstreute Pappbecher ein, entsorgte Getränkereste und aufgerissene Snack-Packungen und suchte vor allem den großen Strohhaufen nach irgendwelchem Müll ab. Das Stroh, das wir für die Tiere verwendeten, wurde zwar weiter unten an einem zugänglicheren Ort gelagert, aber trotzdem durfte natürlich nichts herumliegen, was hier nicht hingehörte. Immerhin diente die Scheune den Feriengästen an Regentagen als zusätzlicher Freizeitraum und musste daher dementsprechend präsentabel sein.

 

Ich trug gerade eine der leeren Getränkekisten in Richtung Treppe, als draußen auf dem Hof ein Auto vorfuhr. Es hupte zweimal und mir war sofort klar, was das hieß. Mein Bruder war gekommen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Eilig stellte ich die Kiste ab und stürzte die Treppe hinunter, um als Erster bei ihm zu sein. Leider war ich nicht schnell genug.

 

„Oh, wie du aussiehst“, hörte ich unsere Mutter schon von Weitem lamentieren, während sie versuchte, Christopher die Haare in eine von ihr gewünschte Richtung zu streichen. Ein Unterfangen, das nicht nur deswegen scheiterte, weil mein Bruder fast einen ganzen Kopf größer war als sie.

 

„Das ist jetzt die neueste Mode“, meinte er grinsend, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange drückte und sich dann mir zuwandte.

 

„Hey Alter, siehst scheiße aus.“

„Danke zurück.“

„Kinder, benehmt euch.“

 

Mein Bruder ignorierte ihren Protest und zog mich stattdessen in eine kurze Umarmung, bevor ich mich bereits vor seiner Faust in Sicherheit bringen musste, die schnurgerade auf meinen Bauch zielte. Ich blockte den Schlag und schubste ihn zurück.

 

„Lass den Mist.“

„Oh, unser Prinzesschen halt wohl schlecht geschlafen.“

„Nee, nur zu viel gefeiert.“

„Kinder, jetzt reicht es aber wirklich.“

 

Was die mahnenden Worte meiner Mutter nicht geschafft hatten, erledigte das Auftauchen unseres Vaters, der in diesem Moment aus dem Stall neben der Scheune kam.

 

„Christopher“, begrüßte er den Neuankömmling zusammen mit einem kräftigen Schulterschlag. „Schön, dass du kommst, Junge. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“

„Drei Wochen“, bestätigte mein Bruder. „In der Prüfungszeit waren einfach keine Besuche drin. Und ich kann auch dieses Mal nicht lange bleiben. Hab überraschend doch noch eine Praktikumsstelle bekommen, weil jemand abgesprungen ist. Nächsten Montag muss ich da also antreten.“

„Wo kommst du denn hin?“

„In die Apotheke im Uniklinikum. Das ist die Adresse fürs Praktikum und eine der modernsten in ganz Deutschland. Wenn ich Glück habe, kann ich da gleich mal für das praktische Jahr vorfühlen, das nach dem zweiten Staatsexam fällig ist. Zudem betreuen die auch Promotionen und Masterarbeiten. Wenn ich es geschickt anstelle, habe ich dafür vielleicht gleich mit einen Fuß in der Tür.“

„Das hört sich sehr gut an.“

 

Wohlwollendes Nicken begleitete diese Aussage. Natürlich. Wie immer hatte Christopher alles richtig gemacht, angefangen von der Wahl seine Studienortes, der nur eine knappe Autostunde entfernt lag, sodass er an den Wochenenden nach Hause kommen konnte, über die Art seines Studienfachs, dem sogar meine Großeltern applaudiert hatten, nicht zuletzt weil mein Großvater selbst Apotheker war, bis hin zum Aussuchen des richtigen Praktikumsplatzes. Wahrscheinlich hätte mein Bruder sich anstrengen müssen, um überhaupt einmal etwas falsch zu machen und selbst dann wäre er vermutlich noch besser darin gewesen als ich.

 

„Jetzt bist du aber erst mal hier“, legte meine Mutter kategorisch fest und wischte damit sämtliche Lobhudelei vom Tisch. „Ich nehme an, du hast Wäsche mitgebracht?“

„Du würdest dich beschweren, wenn es nicht so wäre.“

„Stimmt. Weil ich dann davon ausgehen müsste, dass du deine Unterhosen drei Tage lang trägst und selbst danach nur auf dem Balkon hängst zum Auslüften. Also los, gib schon her, ich wasch dir das durch.“

 

Mein Bruder grinste und drückte unserer Mutter eine prall gefüllte Reisetasche in die Hand, mit der sie laut vor sich hin schimpfend im Haus verschwand. Danach wandte er sich an unseren Vater.

 

„Und was gibt es hier Neues?“

„Eine der Haflingerstuten lahmt ein bisschen. Hab erst gedacht, dass sie sich nur vertreten hat, aber das dauert mir jetzt schon zu lange. Ich ruf morgen mal den Doktor an, damit er sich das ansieht.“

„Hast du sie reiten lassen?“

„Diese Woche nicht, aber die Woche davor waren zwei Familien mit ihren Töchtern da. Da brauchte ich beide Pferde und die Ponys, um den Bedarf zu decken. Möglich, dass sie sich dabei was getan hat. Wahrscheinlich hätte ich doch darauf drängen sollen, dass du Veterinärmedizin studierst. Das würde mir allerhand Rechnung ersparen.“

„Du hast ja noch die Chance, dass Theodor diese Laufbahn einschlägt“, erwiderte mein Bruder grinsend.

 

Ich hob abwehrend die Hände.

 

„Na bestimmt nicht wegen der paar Pferde und Ziegen.“

„Vergiss die Kühe und Hühner nicht. Und die Kaninchen.“

„Ah ja, die Langohren reißen es natürlich raus.“

 

Unser Vater schüttelte den Kopf.

 

„Na, macht ihr mal eure Späße, ich geh wieder in den Stall. Und du sieh zu, dass die Scheune fertig wird. Bis zum Mittag will ich da oben nichts mehr sehen.“

 

Die letzten Sätze hatte er an mich gerichtet und ich nickte gehorsam. Christopher schloss sich mir kurzerhand an und zusammen erklommen wir die steile Treppe zum Heuboden. Oben angekommen pfiff er anerkennend durch die Zähne.

 

„Sieht so aus, als hättet ihr’s krachen lassen.“

 

„Ein bisschen“, gab ich ausweichend zur Antwort. Nach der Schlappe im Garten hatte ich nicht mehr so recht in meine Feierlaune zurückgefunden.

 

„Na, nutzt das nur aus, dass du noch in der Schule bist. Wenn du erst mal studierst, hast du jede Menge Arbeit vor dir. Da ist nichts mehr mit rumgammeln. Es sei denn, du willst unseren Eltern länger als nötig auf der Tasche liegen, indem du ein verpatztes Studienjahr an das nächste reihst.“

 

„Nein, natürlich nicht“, erklärte ich im Brustton der Überzeugung und begann wieder mit dem Aufräumen.

 

„Weißt du inzwischen schon, was du nach der Schule machen willst?“

 

Ich antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Achseln. Im Grunde standen mir alle Möglichkeiten offen, wenn man von denen absah, die einen Numerus Clausus hatten.

 

„Germanistik vielleicht“, sagte ich mehr oder weniger, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. Immerhin war Deutsch eins meiner Lieblingsfächer.

 

„Das langweilige Zeug? Und dann? Willst du etwa Lehrer werden?“

 

Wieder hob ich unschlüssig die Schultern.

 

„Oder halt doch BWL.“

„Also das, was alle studieren, die sich nicht entscheiden können.“

 

Ich grinste und tat so, als würde mich sein Spott nicht treffen. Was ich wirklich machen wollte, wusste niemand. Nicht einmal Mia. Es hätte ohnehin nichts genutzt, es jemandem zu erzählen, denn "Musik machen" war schließlich kein ordentlicher Beruf. Zumal wenn man maximal mittelmäßig begabt war, so wie ich.

 

Auf dem angebissenen Brötchen von heute Morgen hatten es sich zwei Fliegen gemütlich gemacht. Ich scheuchte sie weg und beförderte es zusammen mit einigen Papptellern in den Müllsack. Vielleicht sollte ich meine Träume gleich hinterher werfen. Anfangen konnte ich ja doch nichts mit ihnen.

 

„Und wie läuft’s sonst so? Mit Mia alles klar?“

„Ja.“

„Schule?“

„Läuft.“

„Nerve ich dich?“

 

Ich hielt in meiner Tätigkeit inne und sah ihn an. Er stand lässig an das Treppengeländer gelehnt, auf dem Gesicht ein breites Grinsen. Es war wirklich nicht verwunderlich, dass die Leute uns sofort als Brüder erkannten. Er war ebenso blond wie ich und unser Vater, bei dem inzwischen jedoch schon das erste Grau Einzug gehalten hatte. Groß, schlank, sportlich, charmantes Lächeln. Allerdings hatte er von allem etwas mehr. Die Haare waren heller, die Augen blauer, die Zähne gerader, das Kinn markanter. Ich wusste, dass ich gut aussah, aber neben Christopher verblasste ich regelmäßig und trat in den Hintergrund. Nicht nur, wenn es ums Aussehen ging.

 

„Nein, du nervst nicht“, gab ich etwas verspätet zur Antwort.

„Und warum bist du dann so einsilbig?“

„Weil ich einen Kater habe, du Affe.“

„Selber Affe.“

„Hilf mir lieber.“

 

Ich warf ihm die Rolle mit den Müllbeuteln zu und er fing sie geschickt auf, bevor er einen abriss und sich daran machte, ebenfalls die Tische abzuräumen. Nach nicht einmal einer halben Stunde waren wir fertig.

 

„Na los, noch die Geräte aufstellen, dann können wir rübergehen.“

 

Er half mir, Airhockey und Kicker an ihren Platz zu tragen. Als auch der Billardtisch wieder zurückgewuchtet war, griff Christopher nach einem der Queues.

 

„Sollen wir mal ausprobieren, ob er richtig steht?“

„Du hast garantiert keine Chance gegen mich.“

„Was zu beweisen wäre. Na los, du legst vor.“

„Mit dem größten Vergnügen.“

 

Am Ende gewann ich die Partie mit einer Kugel Vorsprung. Mein Bruder nickte mir gönnerhaft zu.

 

„Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich habe gewinnen lassen.“

„Quatsch, du bist nur aus der Übung. Gib’s zu.“

„Tja, ich hab eben zu tun und kann nicht den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen. So ein Pharmazie-Studium ist kein Spaziergang.“

 

Ich schluckte die Bemerkung, warum er dann nicht gleich Arzt geworden war, wieder herunter. Heute war kein Tag zum Streiten.

 

Christopher legte den Queue weg und nickte mit dem Kopf in Richtung Treppe.

 

„Na los, schaffen wir den Müll weg und dann gibt’s hoffentlich was Ordentliches zum Mittag. Ich kann bald keine Instant-Nudeln mehr sehen.“

 

Ich folgte ihm über den Hof zu den großen Containern, wo wir die Müllsäcke entsorgten, und uns anschließend ein Wettrennen zur Küche lieferten, das er in dem Fall gewann, weil er einen Frühstart hingelegt hatte. Aber wirklich nur deswegen.

 

„Du bist echt außer Form“, stichelte ich, während wir uns die Hände wuschen. Jeder an seinem eigenen Waschbecken so wie früher. Er links, ich rechts. Nie andersherum. Auch wenn das Bad inzwischen renoviert, der Doppelwaschtisch mit der Holzplatte neu und die Kacheln mit den blauem Blumen erdfarbener Keramik gewichen waren, hatte sich an dieser Sache nichts geändert.

 

„Ich hab dich grad geschlagen“, moserte er zurück und spritzte mit etwas Wasser nach mir.

 

„Weil du geschummelt hast.“

„Gar nicht wahr.“

„Wohl wahr.“

 

Er lachte und wuschelte mir mit den immer noch nassen Händen durch die Haare.

 

„Lass das“, protestierte ich sofort.

„Ach Prinzesschen, nun hab dich nicht so.“

„Du sollst mich nicht immer so nennen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich ein Kerl bin.“

„Pff. Ein halbes Hemd vielleicht. Außerdem gibt es da immer noch dieses Foto von dir im Tutu.“

„Es waren Strumpfhosen und ich war Robin Hood!“

„Sagte die Prinzessin, als ihr das Krönchen heruntergefallen war.“

„Du Arsch!“

„Kinder! Nicht in diesem Ton, bitte. Und wascht euch die Hände.“

 

Ich rollte innerlich mit den Augen.War ja klar, dass unsere Mutter wieder nur das mitbekam, was sie nicht hören sollte.

 

„Ja, Mama“, antworteten wir im Chor und grinsten uns an. Wenn wir wollten, konnten wir auch anders. Nicht umsonst wussten unsere Eltern bis heute nicht, dass es zwar meine Idee gewesen war, im Wohnzimmer ein Lagerfeuer zu machen, aber mein Bruder derjenige gewesen war, der die Vorhänge als Brandbeschleuniger benutzt hatte. Die Kosten für den neuen Fußboden, hatten wir beide zusammen von unserem eigenen Geld bezahlen müssen. Ein Umstand, der uns beiden ein empfindliches Loch in das jeweilige Sparpolster gerissen hatte.

 

„Was gibt’s denn?“, wollte Christopher wissen, während er wie selbstverständlich Teller und Besteck aus den Schränken der neuen Küche nahm, die meine Eltern erst vor kurzem hatten einbauen lassen. Die hellen Fronten ließen den Raum viel größer erscheinen.

 

„Schnitzel und Gemüse aus dem Garten“, antwortete unsere Mutter, während sie emsig mit Töpfen und Pfannen hantierte. „Ich war vorhin extra noch frischen Kohlrabi holen.“

 

„Ah, du weißt eben, was gut ist“, scherzte mein Bruder und drehte sich zu mir um, um sich den Finger in den Hals zu stecken. Ich grinste nur und nahm ihm die Teller ab, um sie auf meiner Seite des Esstischs zu verteilen. Auch den hatten meine Eltern mittlerweile ersetzt. Statt des alten, einfarbigen Tischs, der die Spuren diverser Essensschlachten und Basteleinsätze davon getragen hatte, stand jetzt ein neues Model aus weißem Holz mit einer dunklen Platte und dazu passenden Stühlen in der großzügigen Wohnküche, die gleich neben dem Essbereich in das Wohnzimmer überging.

 

„Gemüse ist gesund“, erwiderte unsere Mutter nachdrücklich, als hätte sie gesehen, was mein Bruder hinter ihrem Rücken veranstaltete. „Und jetzt hör auf rumzukaspern und hol deinen Vater rein. Das Essen ist fertig.“

 

Mein Bruder ging hinaus und ich blieb alleine mit meiner Mutter zurück. Während sie das Essen in Schüsseln füllte, ließ ich meinen Blick hinüber zum Wohnzimmer schweifen. Neben der weißen Couchlandschaft und den antik gebeizten Holzmöbeln stand immer noch das Klavier, an dem ich lange Jahre tagein, tagaus geübt hatte. Nicht selten hatte ich gespielt, während meine Mutter gekocht oder Handarbeiten erledigt hatte. Irgendwann hatte ich mich dann endlich getraut zu fragen, ob ich nicht lieber Gitarre spielen lernen konnte. Zu dem Zeitpunkt war mir das so viel cooler vorgekommen als das dumme Klavier, das sich so sehr nach Musterknabe mit gebügeltem Seidenhemd anhörte. Inzwischen spielte ich wieder gerne darauf, wenn ich neben Akustik-, E- und Bassgitarre noch die Zeit dazu fand.

 

 

Als wir schließlich alle beim Essen saßen, kam erneut Christophers Studium als Thema auf den Tisch. Er erzählte von seinen Prüfungen und Kommilitonen und gab die eine oder andere lustige Anekdote über seine Professoren zum Besten, während unsere Eltern ab und an Fragen stellten. Ich hörte zu und fand, dass es eigentlich doch danach klang, als wenn mein Bruder neben dem Studium noch jede Menge Freizeit hätte. In jedem Fall hatte er schon wieder einen sehr großen Freundeskreis aufgestellt, denn die Namen der Darsteller wechselten von Geschichte zu Geschichte.

 

„Theodor wird übrigens Betreuer im Zeltlager“, warf unsere Mutter ein, während sie meinem Bruder noch einmal nachfüllte.

 

„Du?“ Christopher zog die Augenbrauen nach oben. „Wie hast du das denn geschafft?“

 

Meine Mutter lachte.

 

„Nun tu nicht so, als wenn das eine Strafe wäre. Die Tillmanns veranstalten doch jedes Jahr das große Zeltlager am See und da Susanne wegen ihrer Operation noch nicht wieder voll einsatzfähig ist und einer der Stammbetreuer, der auch Gitarre spielt, gerade im Babyjahr ist, brauchten sie jemanden, der sie musikalisch unterstützt.“

 

„Also gibt Theodor den Spielmann “, schloss mein Bruder und grinste. „Dann pass bloß auf, dass dir nicht die ganzen Viertklässlerinnen nachlaufen wie die Groupies.“

 

„Christopher, das sind noch Kinder“, empörte sich unsere Mutter.

 

„Die angeblich immer früher in die Pubertät kommen.“

„Als wenn du da schon so lange rauswärst.“

„Ich war da nie drin.“

 

Er lachte und das Geräusch war so ansteckend, dass unsere Mutter mit einfiel, bevor sie sich erhob, um den Tisch abzuräumen. Mein Bruder und ich sprangen auf um zu helfen, doch als unser Vater seinen Stuhl zurückschob, hielten wir beide inne.

 

„Ich muss nochmal auf die Weide. Bernd hat vorhin angerufen und gemeint, er hätte beim Vorbeifahren vielleicht ein Loch im Zaun gesehen. Ich will nicht, dass eine der Kühe meint sich einen Sonntags-Spaziergang gönnen zu können.“

 

„Soll ich mitkommen?“, fragte ich. „Wir könnten das Loch gleich flicken.“

 

„Nee, lass mal.“

 

„Aber er hat recht“, sagte jetzt auch mein Bruder. „Wenn wir das Material mitnehmen, kriegen wir das zu zweit schnell wieder flott.“

 

Unser Vater schien zu überlegen, dann nickte er.

 

„Gut, so machen wir’s. Lad den Kram schon mal auf, ich geh nochmal nach Lemony sehen. Wenn das mit dem Lahmen schlimmer wird, muss ich sie reinholen und ruhigstellen. Ich hoffe nur, dass Snicket dann keine Zicken macht, weil sie alleine draußen steht. Die beiden können ja nicht ohne einander.“

„Wenn du noch Hilfe brauchst, sag Bescheid, dann komm ich eben mit rüber.“

 

Mein Bruder war schon dabei die Küche zu verlassen, als sein Blick auf mich fiel.

 

„Willst du auch mitkommen?“

 

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als meine Mutter mir zuvorkam.

 

„Ach, er kann mir hier helfen. Ich brauch noch was aus dem Garten und die schweren Wäschekörbe tragen sich auch nicht von allein nach oben.“

„Alles klar, Mama, bis später.“

 

Damit war er aus der Tür und ich mit meiner Mutter allein zurückgeblieben. Sie lächelte leicht.

 

„Wenn du willst, kannst du auch erst noch ein bisschen schlafen. Du siehst müde aus.“

 

„Nein, ich schaff das schon“, wehrte ich ab, obwohl ich denn Tag und vor allem die kurze Nacht zunehmend in den Knochen spürte, und nahm mir den Korb, mit dem meine Mutter immer das Gemüse aus dem Garten holte. „Was brauchst du denn?“

 

„Ach, bring einfach von allem etwas, ich überlege mir dann, was ich daraus mache.“

„Ist gut.“

 

Pflichtschuldig setzte ich mich nach draußen in Bewegung und betrat den kleinen Gemüsegarten, den meine Mutter direkt neben dem Haus angelegt hatte. Über den Beeten hing eine brütende Wärme, die meinen Kopf schwer und schwerer werden ließ, während ich durch die Reihen ging, und den Korb mit Möhren, Kohlrabi und grünen Bohnen füllte. Ein dumpfes Pochen mischte sich darunter, das bereits zum Mittagessen begonnen hatte und seit dem ständig stärker geworden war. Mit einem Mal erschien mir der Sonnenschein gleißend und grell, das Summen der Bienen, die die tiefblauen Dolden des Rittersporns am Gartenzaun umschwärmten, viel zu laut und der Duft von Thymian und Liebstöckel aus dem nahen Kräuterbeet zu intensiv für meine empfindlichen Geruchsnerven. Ich ließ die letzten geernteten Schoten in den Korb fallen und erhob mich, nur um im nächsten Moment um mein Gleichgewicht zu kämpfen. Die Erde unter meinen Füßen schien sich plötzlich zu drehen und um ein Haar hätte ich den Korb fallen lassen. Zum Glück ließ der Anfall im nächsten Augenblick nach und die Welt fiel wieder zurück in ihre Fugen. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn und mein Herz raste. Ich schnappte nach Luft und bekämpfte mit purer Willenskraft die letzten Ausläufer des Schwindels, bevor ich die verstreuten Bohnen wieder einsammelte und mich stolpernd auf dem Weg nach drinnen machte.

 

„Bin wieder da“, verkündete ich, als ich durch die Terrassentür trat. Meine Mutter stand mit dem Rücken zu mir in der Küche. Sie hatte sich die dunklen Haare hochgebunden und vor ihr auf der Küchenplatte lag inmitten einer bemehlten Fläche ein großer Teigklumpen.

 

„Ich mach noch schnell einen Kuchen für heute Nachmittag. Hast du Wünsche?“

 

Es lag mir auf der Zunge „Stachelbeer“ zu sagen. Einfach um zu sehen, ob sie ihn machen würde, obwohl sie wissen musste, dass mein Bruder ihn nicht ausstehen konnte. Doch dann schüttelte ich nur lächelnd den Kopf, so gut es das malmende Mahlen in meinem Schädel zuließ.

 

„Du weißt doch, ich esse alles.“

„Gut, dann lass ich Christopher aussuchen, wenn er zurückkommt.“

„Mach das, Mama. Brauchst du sonst noch was?“

„Nein, das war alles.“

 

Sie drehte sich halb zu mir herum.

 

„Leg dich hin, Junge. Du siehst blass aus. Ich krieg das hier schon hin.“

 

Ich nickte und machte mich auf den Weg nach oben. Auf halbem Weg sah ich durch das Flurfenster, wie unser Vater und Christopher vom Hof fuhren. Bei dem Anblick kam plötzlich eine Erinnerung hoch; so schnell und heftig, dass ich sie nicht mehr aufhalten konnte.

 

 

Ich saß am Küchentisch. Dem, den meine Eltern jetzt auf den Sperrmüll gegeben hatten, aber das Haus war ein anderes. Der Tisch war noch neuer und ich sehr viel kleiner. Vielleicht fünf oder sechs. Vor mir ausgebreitet lagen Plätzchen, die meine Mutter gebacken hatte und die ich gerade dabei war mit Zuckerguss und allerhand bunten Streuseln zu versehen. Ich hatte einen Keks in der Hand, der wie ein Nikolaus geformt war.

 

„Mama?", fragte ich auf einmal. „Warum hat Papa Christopher lieber als mich?"

 

Meine Mutter unterbrach ihre Arbeit am Ofen und sah zu mir rüber. Auf ihrem Gesicht stand belustigte Sorge.

 

„Aber Theodor, wie kommst du denn auf diese Idee?"

„Na, weil er nur ihn mitgenommen hat, um den Weihnachtsbaum zu holen."

„Aber er hat dich doch gefragt, ob du mitwillst, und du hast gesagt, dass du lieber mit mir Kekse backen möchtest."

 

Ich überlegte kurz.

 

„Du hast Recht. Kekse backen macht mir sowieso mehr Spaß."

 

Ich nahm den Nikolaus und beschloss, ihn besonders schön zu verzieren, damit ich ihn später meinem Vater schenken konnte. Er würde sich sicher freuen, wenn er zurückkam.

 

 

Ich hätte mitgehen sollen, dachte ich und wusste nicht, ob ich mich selbst oder mein fünfjähriges Ich meinte, das kurz darauf in Tränen ausgebrochen war, weil der Keks in seiner Hand zerbrochen war. Ich wusste nicht mehr, warum ich geweint hatte. Es war doch nur ein Keks gewesen.

 

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich mich abwandte und die restliche Treppe bis zu meinem Zimmer emporstieg. Mit jeder Stufe wurden die Kopfschmerzen schlimmer. Ich ging ins Bad und holte mit zittrigen Händen die Tablettenpackung heraus. Sie war schon wieder halb leer.

 

„Ich muss vorsichtiger mit dem Zeug sein“, murmelte ich vor mich hin, während ich trotzdem zwei der weißen Dinger auf einmal herunterschluckte. Danach ging ich zurück in mein Zimmer. Trotz des Pochens in meinem Kopf nahm mir einen Block aus dem Fach meines Schreibtischs, griff nach einem Stift und ließ mich auf das Bett fallen. Wie von selbst begann ich zu schreiben.

 

 

Manchmal seh ich dich an und dann frage ich mich

Machst du dir eigentlich die gleichen Sorgen wie ich

Oder geht dein Leben diesen geraden Weg

Von jemand, der über den Dingen steht

 

Wachst du manchmal nachts auf und weißt nicht, wer du bist

Oder habe nur ich den Kopf voll mit dem Mist

Stehst du wirklich vorm Spiegel und sagst: Ich bin, wie ich bin

Und alles, was ich will, krieg ich irgendwie hin

 

Denn dann würde ich gerne so sein wie du

Du der linke, ich der rechte Schuh

Gleiche Haare, gleiche Augen und gleiches Gesicht

Was darunter liegt, sieht man nicht

 

Alles beginnst du mit einem richtigen Plan

Während ich einfach loslauf und nicht einmal ahn

Wo ich irgendwann ankomm, doch eines weiß ich

Auf dem Weg überholst du mich sicherlich

 

Weil du immer der Erste bist, nie Nummer Zwei

Und ich stehe einfach hilflos dabei

Kann dich nur bewundern und versuch so zu tun

Als wär ich gegen die Sprüche und Blicke immun

 

Dabei wäre ich ja so gerne wie du

Du der linke, ich der rechte Schuh

Gleiche Haare, gleiche Augen und gleiches Gesicht

Was darunter liegt, sieht man nicht

Was darunter liegt, sieht man nicht

 

 

Als der Song fertig war, ließ ich mich auf mein Kissen sinken. Es war, als könnte ich wieder freier atmen. Selbst die Kopfschmerzen schienen langsam weniger zu werden. Vielleicht hatten die Tabletten jetzt endlich ihre Wirkung entfaltet. Dafür griff eine unglaubliche Müdigkeit mit unbarmherzigen Fingern nach mir und zerrte mich zunehmend in die Tiefe. Mit letzter Kraft steckte ich den Block unter die Matratze, damit ihn niemand finden konnte, bevor ich endgültig aufgab und mich hinabgleiten ließ in das süße Nichts eines traumlosen Schlafes.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  z1ck3
2020-10-02T16:59:51+00:00 02.10.2020 18:59
Puuuh, da wird mir gleich ganz anders. Geschwister konkurrenz ist grausig und wenn die Eltern dann auch noch mitmachen... Nee die Stimmung gefällt mir gar nicht. Kein Wunder dass Theo Migräne bekommt!
Antwort von:  Maginisha
02.10.2020 19:22
Meinst du wirklich, dass die Eltern das unterstützen?

Aber so vom Ding her hast du recht. Wobei da vermutlich immer eine gewisse Konkurrenz entsteht. Leicht ist die Situation, in der Theo sich befindet, auf jeden Fall nicht.
Antwort von:  z1ck3
02.10.2020 22:22
War wohl meine vorschnelle Interpretation... Bei heile-Welt-familien kriege ich schnell die Krise. So sieht es für mich (aus Theos Sicht) halt gerade aus.
Das seine Mutti ihn nochmal ins Bett geschickt hat, spricht eigentlich dagegen.
Ich bin jedenfalls gespannt auf das nächste Kapitel und hoffe Theo hat wirklich nur stressbedingte Migräne
Von:  Ryosae
2020-10-02T09:38:23+00:00 02.10.2020 11:38
Wow sehr schöner Liedtext! Das hast du wirklich drauf! :D

Der Einblick in die Familie war sehr interessant.
Traurig das Theo denkt er wäre nicht so gut wie sein Bruder. Ich kann mir nun wirklich gut vorstellen das die Beziehung zu Benedikt ihn in sehr große Gewissenskonflikte verzwicken wird.
Mit dem Drang seiner Familie gerecht zu werden...

Bin gespannt wie du es anstellst ;)
Antwort von:  Maginisha
02.10.2020 13:52
Hey Ryosae!

Tja, frei nach dem Motto "Dinge, die ich nie schreiben wollte und dann doch geschrieben habe". Gedichte gehörten da definitiv dazu. :D Umso mehr danke ich für die Blumen.

Geschwisterrivalität ist ja immer so eine Sache. Wobei das halt in diesem Fall auch nicht so wirklich was Greifbares ist. Theo liebt seinen Bruder, wie man vielleicht auch gemerkt hat. Ich muss da gerade an diesen Spruch aus meinem Poesiealbum denken: "Ideale sind wie Sterne. Wir können sie nie erreichen, aber wir können uns an ihnen orientieren." Sich ständig nach den Sternen zu strecken ist mit Sicherheit anstrengend. (Wie ich gerade ansteckend schreiben wollte. Corona lässt grüßen...) Aber wir werden mal abwarten, wie sich die Sache entwickelt. Mich freut erst mal die Tatsache, dass man Theo jetzt schon ein Stück weit besser versteht. :)

Zauberhafte Grüße
Mag

Von:  KaffeeFee
2020-10-02T07:01:19+00:00 02.10.2020 09:01
Theos Bruder ist cool! Nur der Name nicht >.< (sorry)

Ich weiß gar nicht, was ich zu dem Kapitel schreiben soll, außer, dass es ein interessanter Einblick in die Familie war. Der Papa, der "das Sagen" hat, die Mama, die im Hintergrund die Fäden zieht, der "perfekte" Bruder, der bestimmt auch so einige Leichen im Keller hat und der kleinere, der immer versucht, dem großen nachzueifern und sich immer mit ihm vergleicht, was eigentlich völliger Quaatsch ist.

Der Songtext ist schön, hast du den selbst geschrieben? Ich freu mich schon wie bolle, wenn Benedikt und Theo im Ferienlager wieder aufeinandertreffen!

bis dahin, koffeinhaltige Grüße, die KaffeeFee
Antwort von:  Maginisha
02.10.2020 10:33
Hey KaffeeFee!

Der Name musste sein. Immerhin kann ja nicht nur Theo mit so einem Monstrum gesegnete sein. ^_~

Viel sagen kann man wohl tatsächlich nicht, aber ich sehe, dass ja trotzdem alles transportiert wurde, was ich zeigen wollte. Nur dass man mal ne Vorstellung hat, bevor es ins Zeltlager geht.

Den Text habe ich in der Tat selbst geschrieben. Hatte im Hintergrund "Bauch und Kopf" von Mark Forster laufen. Nur damit man mal ne Vorstellung hat, wie essich in etwa anhören soll. Komponieren kann ich nämlich nicht auch noch. ;D

Ich danke für deine Rückmeldung und wünsche erst mal ein schönes Wochenende!

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  KaffeeFee
02.10.2020 10:45
hab mit dem Namen sehr schlechte Assoziationen, aber das haken wir jetzt einfach ab ;)

witzig, die Melodie hatte ich auch beim Lesen im Kopf xD
Antwort von:  Maginisha
02.10.2020 11:30
So ne große Rolleqieder ja nicht spielen. ;)

Das mit der Melodie ist ja witzig. :D


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