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Ellas Lachen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben,
hier nun mein Beitrag zum Fanfiction-Adventskalender 2020. Ich habe ein bisschen herumexperimentiert und wünsche viel Spaß beim Lesen :)
Ich wünsche euch eine schöne Weihnachtszeit und ein schönes Weihnachten im Kreise eurer Lieben. Bleibt gesund. Komplett anzeigen

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Was bin ich froh, Urlaub zu haben.
 

Dieses Mal sogar vor Weihnachten, uiuiui, eine ganze Woche vorher und zwei Wochen nachher. In meiner Firma ist das Luxus, aber mein Chef wollte es so. Ich hätte zuviel gearbeitet dieses Jahr. Ich müsste Urlaub abbauen. Dass dies nicht meine Schuld, sondern die meines vorherigen Chefs war, war da nur Nebensache. Neuer Chef, neue Richtlinie.
 

Aber ich möchte mich nicht beschweren. Urlaub bedeutet Distanz von der Arbeit und schöne ruhige Tage zuhause in meinem geliebten Dorf irgendwo im Nirgendwo der Eifel. Es ist dunkel um diese Jahreszeit, grau und eintönig mit den kahlen Weinbergen, die nichts von der bunten Pracht des Herbstes mehr innehaben, die die Menschen zu Hunderten im Herbst hat hierhinströmen lassen.

Weinwandern nennt man das, oder, wie ich es formulieren würde, betrunken durch die Weinberge torkeln und sich am Gestein festklammern, damit man nicht die schmalen, steilen Wanderwege herunterfällt.
 

Wie gut, dass hier alles erschöpfend ausgeschildert ist, denn ansonsten würde die sowieso schon eifelmürrische Polizei ständige Vermisste aus den etwas abgelegeneren Weinstöcken klauben müssen.

Insbesondere an so Tagen wie heute wäre das eine hochgradige Freude, doch heute sind nur Einheimische unterwegs, unter anderem auch ich. Rein in die Wanderstiefel, rein in die dicke Daunenwinterjacke und los geht’s in aller Frühe. Den verregneten Morgen dazu nutzen, sich kilometerweit über trostlose Wanderwege zu schieben. Kopf freikriegen, Beine ausführen, laufen, Ruhe bekommen. Weg von dem Trubel der letzten Wochen und Monate in unserer Baufirma.
 

Ich wandere schnell und merke erst jetzt, wie groß mein Drang ist, mich zu bewegen. Manchmal renne ich fast, manchmal renne ich wirklich, dann gehe ich ein paar Schritte um wieder zu Atem zu kommen. Alles über einen Rundweg von neun Kilometern, der für eine Runde gerade ausreichend ist.
 

Ich möchte später noch in die Großstadt auf den Weihnachtsmarkt, da ich es die letzten Jahre nicht dorthin geschafft habe und da kommt es mir sehr gelegen, mich und meine nicht mehr vorhandene Kondition nicht allzu sehr zu verausgaben.
 

Ich beende die Runde und kehre zu meinem Haus zurück. Kurz huschen meine Augen zum Nebenhaus, in dem seit ein paar Monaten Vater und Tochter wohnen. Eduard und Ella Mors Ernste Leute, die man für Eifel-Ureinwohner halten könnte. Sie lachen nie und man hört und sieht sie nicht. Wenn doch, grüßen sie höflich. Sie nehmen Pakete an, weswegen ich den allermeisten Kontakt aus unserem Dorf mit ihnen habe und sie regelmäßig sehe.

Ich bestelle viel im Internet und bin natürlich nie da, wenn die Pakete kommen, also nimmt Herr Mors sie an. Der gut aussehende Herr Mors mit seinen durchdringend hellgrauen Augen. Meine Güte, was bin ich in seine Augen verschossen, jedes Mal, wenn ich sie sehe. Zu sagen, dass ich nur deswegen mehr im Internet bestelle, um sie zu sehen, wäre glatt gelogen.
 

So ein bisschen. Vielleicht.
 

Aber er lässt sich auch nicht zum Kaffee einladen, ebenso wenig wie er selbst zum Kaffee einlädt.
 

Schade. Schaaaaade.
 

Mehr als ein paar höfliche, abendliche Worte über dies, das, jenes, Weltfrieden, aktuelle Politik, Müllabfuhrzyklen und Menschen des Dorfes sind da zwischen Tür und Angel nicht drin und ich möchte mehr, weiß aber nicht, wie ich mehr bekommen kann. Oder ob überhaupt mehr erwünscht ist.
 

Umso erfreuter bin ich, als ich wiederkomme und Herr Mors, also der Eduard – er sieht auch wirklich aus wie einer, so gestriegelt und geschniegelt er mit seinen graumelierten Haaren und seinen perfekt sitzenden Klamotten ist – mit samt Ella vor meiner Tür steht und geduldig wartet. Auf mich. Oh oh. Mein Herz schlägt vor Aufregung doch glatt etwas schneller, als ich mein bestes, gewinnendstes Lächeln auflege und zu ihm komme.
 

Elias, Haltung, sage ich mir und straffe meine Schultern.
 

„Hi!“, grüße ich mit einem Winken und die Beiden nicken mir zu. Eduard, Ella und Elias, das kann doch gar kein Zufall sein, flüstert mir eine wenig hilfreiche Stimme in diesem Moment zu und ich seufze tief in mir drin. Auch wenn ich ihr Recht geben muss.

„Guten Morgen Herr Falkenstein“, grüßt er mich und ich warte, dass er mir sein Hiersein begründet, denn ein Paket ist es nicht. Das war es gestern. Und vorgestern. Und den Tag zuvor.
 

Ich grinse schief. „Ich war wandern“, erkläre ich mein bisherige Nichtanwesenheit und unisono gleiten ihrer beider Augenpaare zu meinen Schuhen. Das machen sie öfter, so als wären sie eine unzertrennliche Einheit, und ich finde es immer wieder gruselig.

„Das freut mich.“

Herr Mors hat eine eigenwillige Höflichkeit, habe ich das schon einmal erwähnt? Er sagt diesen Satz sehr oft mit einem Brustton der Überzeugung, der seinen Worten Glaubhaftigkeit verleiht. Es nimmt ihnen aber nicht die Seltsamkeit, wie auch jetzt.
 

Wieso sollte es ihn freuen, wenn ich wandern war?
 

„Sie sollten mal mitkommen. Es ist momentan schön trostlos dort oben“, deutete ich auf die Berge, die unser Tal begrenzen und schlage mir innerlich die Hand auf die Stirn. Super Sache, ganz toll, wie gut, dass du kein Werbetexter geworden bist.

Ich grolle innerlich.

„Trostlos liegt im Auge des Betrachters.“

Wohl wahr.

„Was kann ich denn für Sie tun?“, komme ich zum eigentlichen, sinnvollen Thema unseres Gespräches und Herr Mors sieht auf Ella hinunter. Für eine Fünfjährige ist sie sehr still, wohl auch im Kindergarten. Meine Tante, sie leitet eben jenen, vermutet, dass es mit dem Tod der Mutter zusammenhängt. Zumindest vermuten sie und alle Anderen das, auch wenn sie nie wirklich gefragt haben, was mit Frau Mors passiert ist.
 

Oder ob es eine Frau Mors überhaupt gibt.
 

„Ich möchte Sie bitten, heute Nachmittag auf Ella aufzupassen.“
 

Ich starre, lang und ausgiebig. Ich starre so lange, bis es unhöflich wird und räuspere mich dann verlegen.

Ich soll was? Auf ein fünfjähriges Kind aufpassen? Ich meine, sie ist vermutlich total lieb und brav und so, aber. Ganz großes Aber. Ich habe keine Kinder und weiß nur von den Besuchen im Kindergarten meiner Mutter, wie man mit ihnen umgeht. Das ist dann auch soweit okay, die Kinder fressen mich nicht auf und manchmal bringe ich sie auch zum Lachen, aber… uff.

„Öhm…“ Etwas Eloquenteres kommt gerade nicht aus meinem Mund und ich sehe von Herrn Mors auf Ella, die mich beide mit ihren grauen, schönen Augen anstarren und mir nonverbal zu verstehen geben, dass ein Nein keine gute Idee wäre.

Nicht, nachdem sie Paket um Paket um Paket von mir annehmen.
 

Nochmal Uff.
 

„Ich wollte heute nach Köln auf den Weihnachtsmarkt“, sage ich und es klingt eher wie eine Einladung denn wie eine Ausrede, warum ich nicht eine Fünfjährige bespaßen möchte und die Frage, die sich mir stellt ist, ob ich wirklich eine Ausrede suche. Eigentlich nicht, denn ich möchte wieder gutmachen, was ich mit meinen ewigen Bestellungen angerichtet habe.

„Ich komme mit Ihnen“, sagt Ella derart überzeugt und selbstverständlich, dass mir alle Luft aus den Segeln genommen wird. Hilflos starre ich ihren Vater an, von dem sie die schwarzen Locken hat und dieser nickt.
 

„Ich muss heute Nachmittag arbeiten und ein Weihnachtsmarkt ist ein schöner Ort“, sagt er kryptisch. Ich kann ihm in Bezug auf die Kölner Weihnachtsmärkte nur zustimmen, insbesondere, wenn es dunkel ist und die Leute auf der Eisbahn zu Weihnachtsliedern ihre Kreise ziehen.

„Also gebrannte Mandeln, Kakao und Weihnachtsmusik, ja?“, frage ich und weiß in diesem Moment, dass ich definitiv nicht ablehnen werde.
 

Ein zweifaches, ernstes Nicken antwortet mir und es ist wieder einer dieser gruseligen Momente vollkommener Synchronität.

„Ähm…gut. Dann heute Nachmittag.“ Ich, eine Fünfjährige, auf die ich zum ersten Mal aufpasse, mein Ehrgeiz, das hervorragend zu meistern und ihr einen wunderschönen Tag zu bereiten.
 

Was soll da schon schiefgehen?
 

~~**~~
 

Die Parkplatzsuche zum Beispiel, beantworte ich meine Frage von heute Morgen, als wir seit geschlagenen zwanzig Minuten vorm Parkhaus stehen. Die Sonne geht bereits unter, als wir ankommen und so ist die ganze Stadt in warmen Lichtern getaucht…allerdings auch in einen Innenstadtstau, der sich gewaschen hat.

Neben mir sitzt, ernst, aber aufmerksam, Ella auf dem Kindersitz ihres Vaters, der perfekt in meinen Mercedes passt. Sie ist ruhig und zurückhaltend, stellt allerdings Fragen, die ich manchmal einfach nicht beantworten kann.

Meine Lieblingsfrage bisher: warum sind die Pfosten an der Autobahn schwarz und weiß und warum ist der Anteil an weiß höher als der Anteil an schwarz?
 

Jaaa. Das ist eine gute Frage für Günther Jauch, befinde ich und beschließe, nachher danach zu googlen und ihr dann eine versierte Antwort darauf zu geben.
 

„Immer wenn ein Auto herauskommt, kann ein neues hinein“, erläutere ich und sie nickt.

„Es ist ein Gleichgewicht“, sagt sie und ich staune nicht schlecht über die Verbindungen, die sie zieht.

„Ja, das ist es.“

„Warum muss man sein Auto in einem Keller abstellen?“, fragt sie weiter und ich bin erleichtert, dass es auch Dinge gibt, auf die ich eine Antwort habe.

„In vielen Großstädten gibt es wenig Platz für Parkplätze, die über der Erde liegen, also haben sich die Menschen dazu entschlossen, Tiefgaragen unter der Erde zu bauen, damit sie oben drüber Parks und Plätze oder Häuser bauen können.“ Wie hier, auf dem Heumarkt, oder vielmehr darunter. Die Parkgebühren sind zwar horrende, aber das Parkhaus ist dafür zentral und gut gelegen. Zudem ist es an der wichtigsten Weihnachtslocation hier. In meinen Augen.
 

„Es sieht aus wie ein Schlund, der die Menschen verschlingt“, sagt Ella, während sie angestrengt auf die Lichter des Weihnachtsmarktes starrt und ich schlucke.

„Äääh.“ Etwas wirklich Kluges habe ich darauf nicht zu erwidern. Sagt man als Fünfjährige so etwas? Habe ich als Fünfjähriger so etwas gesagt? Ich glaube nicht und meine mich daran zu erinnern, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch die Tapeten meiner Eltern mit meinen Filzstiften bemalt habe.

„Sie kommen aber auch wieder an die Oberfläche. Es gibt hier zwei Treppenhäuser.“ Zugegeben, das ist eine lahme Erwiderung, aber die Einzige, die mir einfällt.
 

Gott sei Dank rutschen wir mit der nächsten Fuhre an herauskommenden Autos in das Parkhaus und wir ergattern einen Parkplatz, in den ich uns krüppelig hineinmanövriere.

Sie steigt um Längen leichtfüßiger aus als ich und ich lächle ihr versichernd zu.

„Es ist am Besten, wenn du meine Hand nimmst. Es sind viele Menschen unterwegs und ich möchte nicht, dass du verloren gehst.“
 

Sie nickt und wie selbstverständlich schiebt sich ihre kleine Kinderhand in meine. Erwartungsvoll starrt sie zu mir hoch und ich nicke.

„Auf in die Weihnachtswelt.“
 

Wir verlassen besagten Schlund des Parkhauses und werden empfangen von vielen, lärmenden Menschen und weihnachtlichen Gerüchen, die von Waffeln, gebrannten Mandeln, Baumstriezen, Pommes, Bratwurst, Glühwein und Eierpunsch künden und ich kann mich gerade so beherrschen, mir nicht alles zu Gemüte zu führen. Ich lächle glücklich. Der Geruch ist wie nach Hause kommen…in ein lang vermisstes und ersehntes Zuhause.

Ella steht an meiner Seite und sie hat nachdenklich die Stirn gerunzelt.

„Ist das ein besonderes Vergnügen?“, fragt sie.

„Was?“

„Diese Art von Unterhaltung?“
 

Habe ich schon einmal gesagt, dass ihre Art, Sätze zu formulieren, eher zu einer Achtzigjährigen passt?
 

„Oh ja, das ist es.“ Ich deute nach rechts. „Schau mal, solche Märkte gibt es vor Weihnachten überall und viele haben das gleiche Angebot. Aber es ist eine liebgewonnene Tradition, die ich nicht missen möchte. Und viele andere auch nicht.“

„Ich möchte sie sehen.“

„Was?“

„Die Tradition. Ich möchte wissen, wie es ist.“

„Warst du mit deinem Vater noch nie auf einem Weihnachtsmarkt?“

„Nein.“

Ich staune und seufze leidvoll. „Das ist sehr schade. Er hat viel zu tun, oder?“

„Unendlich viel“, bestätigt sie und zieht mich nach rechts, weiter zum Heinzelmarkt mit den bunten Sternen in den Bäumen und den Gassen mit den kleinen Buden. Sie hat erstaunlich viel Kraft für ein Mädchen ihres Alters und so stolpere ich die ersten Schritte, bevor ich meine Balance wiederfinde.
 

Ella hält schließlich an und steht staunend unter den Sternen, die wie Juwelen an den violett angestrahlten Ästen der Bäume hängen. Ihre Augen leuchten und sie schürzt die Lippen. Es ist kein Lächeln, aber ich glaube, dass ich auf einem guten Weg bin. Hoffe ich zumindest!
 

„Ist das Tradition? Lichter in Bäumen aufzuhängen?“

Ich nicke. „Damit es weihnachtlicher aussieht.“

„Es gibt viele Sterne hier.“

„Das ist auch ein Symbol für Weihnachten.“

Ella deutet auf die mindestens vier Meter große Pyramide unweit von uns. „So wie das da?“

„Genau. Das zeigt die Weihnachtsgeschichte mit Maria, Josef und Jesus, ihren Tieren im Stall und all denjenigen, die vorbeigekommen sind, um sich den jungen Jesus zu begucken.“

Wir gehen hin und sie mustert die Pyramide kritisch.

„Vater sagt, dass es anders war.“

Überrascht hebe ich die Augenbrauen. „Was soll denn anders sein?“

„Maria und Josef mit ihrem Kind.“
 

Ah, vermutlich waren die beiden Atheisten. Oder gehörten einer anderen Glaubensrichtung an.

„Wie anders denn?“, frage ich nach und Ella zuckt mit den Schultern. Sie seziert bereits die vorbeiziehenden Menschen mit ihren aufmerksamen Augen.

„Anders.“

Kryptischer geht‘s nicht. Ich beschließe, Herrn Mors bei passender Gelegenheit danach zu fragen.
 

Ich lotse sie schließlich weiter, durch die engen Gassen des Handwerkermarktes und bin schlussendlich dazu übergangen, das Mädchen auf meinen Schultern sitzen zu lassen, damit sie überhaupt etwas sieht. Sie ist leicht und so macht es mir nichts aus, ihr Gewicht mit mir herum zu tragen. Dass sie damit natürlich umso mehr Fragen stellen kann, war nicht einberechnet und ich komme so oft ins Schwitzen wie noch nie.
 

So auch jetzt. „Warum befindet sich Glitzer auf dieser Kugel?“, deutetet sie auf ein potthässliches Ding voller Plüsch und Glitzer, das man sich wohl an den Weihnachtsbaum hängen soll. Igitt. Dann doch lieber die klassischen roten und goldenen Kugeln.

„Damit sie mehr strahlt“, sagt die enthusiastische Verkäuferin hinter der Auslage. „Und sie hat pinken Glitzer. Wäre das nicht etwas für dich?“, fragt sie scheinheilig und ich rolle mit den Augen vor soviel Genderschwachsinn. Rosa für Mädchen, blau für Jungs, bah.

„Es ist unnötig“, schmettert Ella wunderschöner, als ich es jemals könnte, die Versuche der Frau ab, ihre Kugeln loszuwerden und ich grinse.

„Weiter?“, frage ich nach oben und sie nickt ernst.
 

„Einen schönen Abend noch“, verabschiede ich uns fröhlich von der Frau und laufe weiter, hin zu den Bonbons und Süßigkeiten in der Schnackelkramgasse.

„Möchtest du etwas?“, frage ich Ella und sie sieht sich um.

„So etwas bitte.“

Ich zerfließe vor lauter Höflichkeit und beschließe, ein ganz guter Babysitter zu sein, indem ich ihr den Zucker kaufe, den sie möchte.

„Keine Allergien?“

„Nein.“

„Bekommst du auch kein Bauchweh davon?“

„Nein.“
 

Gut. „Eine Tüte gebrannte Mandeln bitte“, sage ich und kaufe ein mittelgroßes Exemplar für viel zu viel Geld. Die werden auch immer teurer, murre ich innerlich, aber wenn Ella daran Freude hat, dann soll es mir Recht sein.
 

Ich tippe auf ihren Fuß, unser innerhalb kürzester Zeit etabliertes Zeichen von Kommunikation. Sie beugt sich zu mir hinunter.

„Wo kommen du und dein Papa eigentlich her?“, nutze ich die Mandeln als Bestechung für mehr Antworten und sie schiebt sich zwei in den Mund. Sie kaut und schluckt, bevor sie antwortet.

„Von überall.“

„Also seid ihr viel gereist?“

„Ja.“

„Hast du eine Lieblingsstadt?“

„Nein.“
 

Dieses Kind macht mich alle. Aber die Mandeln, die mag sie.
 

Ebenso wie Bratwürste, Kinderpunsch, Churros. Die ganz besonders, auch wenn die „Nicht so schmecken wie sie sollten.“. Sie probiert von allem und ich muss den Rest essen, was dazu führt, dass ich beschließe, die kommenden vier Tage einfach gar nichts mehr zu essen.

Ich habe ihr einige Fragen mehr beantwortet… warum die Hütten aus Holz sind (weil sie hübscher und weihnachtlicher aussehen), warum überall dieses eine Lied läuft (weil es „Last Christmas“ heißt, seit Jahrzehnten ein Weihnachtshit ist, den viele Leute hören wollen und den ebenso viele Leute nicht hören wollen) und warum die Menschen komische Dinge auf den Köpfen haben (weil sie Weihnachten und Weihnachtsmärkte im ganz besonderen Maße feiern).
 

Ella beobachtet und lauscht und ich sehe, wie ihre Augen mit Interesse auf der Eisbahn liegen, an der wir gestartet und zu der wir nun zurückgekehrt sind. Sie ist dick genug für das Eis eingepackt und ihre Schlittschuhgröße wird sicherlich vorhanden sein.

„Kannst du das?“, frage ich sie und sie schüttelt mit dem Kopf. Ich grinse in ihr ernstes Gesicht.

„Ich kann es. Soll ich es dir beibringen?“

Sie überlegt und nach einem kritischen Stirnrunzeln nickt sie.

„Warum macht man das?“, fragt sie und deutet auf die Menschen, die lachend und scherzend ihre Kreise drehen.

„Es macht Spaß. Man kommt schnell voran. Und manchmal legt man sich mit seinem Hintern auf das kalte Eis.“

„Warum legt man sich darauf?“
 

Ich blinzle und begreife, dass sie mit dem Ausdruck nichts anfangen kann. Verlegen zucke ich mit den Schultern und deute auf den Unfall, der sich vor uns entfaltet und einen dick eingemummelten Schlittschuhläufer auf dem Hosenboden weiterrutschen lässt.

„Das meine ich damit. Man stolpert und schliddert und dann setzt man sich mit dem Hosenboden auf das Eis.“

„Das macht Spaß?“

„Die Menschen lachen, also schon, ja.“

Ihre Hand ist fest in meiner verankert, als sie die Eisbahn erneut analysiert und schließlich nickt.

„Ich möchte wissen, wie das ist.“
 

Wer bin ich, der jungen Lady ihren Wunsch zu verneinen?
 

Schuhe in ihrer Größe sind kein Problem und wir schnüren uns die Schlittschuhe unter. Ich schaue, dass ihre Jacke, ihr Schal und ihre Mütze richtig sitzen und vorsichtig staksen wir schließlich an die Bahn heran, Ich gehe vor und reiche ihr meine Hand, damit sie mir nachfolgen kann. Noch etwas unsicher ergreift sie sie. Jetzt, wo sie angestrengt einen Fuß vor den anderen setzen muss, wirkt sie weniger wie ein zurückhaltendes, reserviertes Mädchen, dass viel zu kluge Fragen für ihr Alter stellt, sondern eben wie ein Mädchen ihres Alters.
 

Das hält aber nicht lang, denn sie lernt schnell. Viel viel schneller als ich es jemals gekonnt hätte, wenn ich da so an meine Anfänge denke. Wie oft ich gestürzt bin, kann ich schon gar nicht mehr nachzählen, nicht nach all den Jahren. Ich weiß, dass ich mich jetzt noch auf die Schnauze lege, wenn ich nicht aufpasse, das schon.

Ihre zierlichen Arme und Beine haben eine Koordination, die mich innerlich weinen lässt und ich frage mich, ob sie vielleicht Ballettunterricht hat oder ob sie das vielleicht von ihrem Vater geerbt hat. Vielleicht war er Eiskunstläufer oder ist es immer noch? Das würde auch das Herumkommen erklären.
 

Es dauert keine halbe Runde, da kann ich sie und mich von der Bande lösen und Hand in Hand gleiten wir auf dem Eis dahin, während uns die kalte Luft ins Gesicht bläst. Die weihnachtliche Musik und die stimmungsvollen Lichter untermalen unsere Bahnen und ich komme nicht umhin, bis über beide Ohren zu grinsen. Hin und wieder schaue ich zu ihr und sehe tatsächlich doch ein Lächeln auf ihren Lippen. Ein wahrhaftiges Lächeln!
 

„Achtung, Ella!“, warne ich sie vor und wirble sie an unseren verbundenen Armen im Kreis. Ja, den Trick kenne ich noch und ich habe ihn all diese Jahre nicht verlernt. Ich wirble sie um mich herum und höre, wie aus dem Lächeln ein Lachen wird, ein klares, befreites Lachen voller Glück.
 

Ha! HA! Wer sagt’s denn? Fast schon bin ich ein wenig stolz auf mich, dass diese ernsten, grauen Augen im Licht der Eisbahn strahlen und dass Ella mich angrinst, als hätte ich ihr gerade einen besonders guten Witz erzählt.

Ich nutze das für zwei weite Wirbler, bevor ich sie sacht absetze und sie zufrieden an mir hochsieht.

„Das ist also der Spaß daran“, sagt sie und ihr Gesicht verzieht sich in einer Art erstauntem Erkennen. Ihre freie Hand kommt zu ihrem Gesicht und die kleinen Finger tasten nach ihren Wangen und Lippen.

„Das war ein Lachen“, sagt sie mit einer derart seltsamen Betonung, dass ich nicht umhin kann, sie nun kritisch anzustarren.

„Hast du vorher noch nie gelacht?“, frage ich und sie schüttelt den Kopf.

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Es war nicht angebracht.“
 

Das ist das Einzige, was sie zu dem Thema sagt, während sie mich an unseren verbundenen Händen über die Bahn zieht, auf ihrem Gesicht eine stille Freude und ein Strahlen, das mich gleichzeitig irritiert und stolz macht. Ich freue mich schon, wenn sie ihrem Vater davon erzählt.
 

~~**~~
 

Wir brauchen aus dem Parkhaus beinahe so lange heraus wie hinein und dann kommt dann noch der Kölner Stadtverkehr. Eine ewige Schlange an bunten Lichtern, die öfter hupen, als es mir lieb ist. Wir brauchen eine geschlagene Stunde nach Hause und während unserer Autofahrt läuft im Radio der Bericht über einen schweren Autounfall mit mehreren Toten im Hunsrück. Ein Bus ist von der Fahrbahn abgekommen und keiner der vierundfünfzig Mitfahrer hat überlebt. Das ist fürchterlich, eine Katastrophe und ich mache unauffällig das Radio leiser, als ich merke, wie aufmerksam und ernst Ella dem lauscht.
 

Das ist nichts für Kinderohren.
 

„Was macht denn dein Vater beruflich?“, frage ich sie aus Neugierde und um sie abzulenken und sie misst mich schweigend.

„Er geleitet Menschen“, erwidert sie schließlich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe, insbesondere, weil sie es auch nicht weiter ausführt.

„Wohin geleitet er sie denn?“

„Zu ihrem Bestimmungsort.“
 

Das kann alles oder nichts heißen und ich bin nicht wirklich schlauer als vorher. „Ist er Taxifahrer?“, frage ich und sie schüttelt den Kopf.

„Er geleitet“, wiederholt sie und mir kommt der Gedanke, dass Herr Mors vielleicht Bestatter ist. Das wäre auch eine Art der Begleitung. Das würde die Ernsthaftigkeit dieser Familie erklären.

„Hat dir der Tag denn gefallen?“, frage ich und sie nickt.

„Er war schön. Das Lachen war schön.“

Das glaube ich nur zu gut.

„Wenn du magst, können wir nochmal Eislaufen gehen, vielleicht dann auch mit deinem Vater?“, schlage ich vor, zufrieden mit mir, meinem Plan zu folgen, Herrn Mors näher kennen zu lernen.

„Das wird nicht notwendig sein“, zerstört jedoch eine Fünfjährige mit ruhigen Worten und noch viel ruhigerer Stimme meine Illusion und ich muss mich äußerst konzentrieren, um den Wagen nicht auf der Landstraße in den Graben zu setzen. Woher hat sie nur diese Ausdrucksweise? Und…was zur Hölle?
 

„Ähm…“ Uff, da bin ich erstmal sprachlos. „War es nicht schön?“, hake ich schließlich nach, als wir schon auf unsere Straße einbiegen und sie schüttelt den Kopf.

„Doch, das war es. Dieses Erlebnis reicht jedoch.“
 

Welches Kind sagt so etwas?!
 

Ich schweige hochgradig verwirrt und übersehe beinahe Herrn Mors. Er steht an meiner Haustür und ich sehe im Schein meiner Weihnachtsbeleuchtung, wie er geduldig auf uns wartet.

Nervös parke ich den Wagen und steige aus. Ella folgt mir ein paar Sekunden später und geht zu ihrem Vater.

„Ich habe sie heil wieder zurückgebracht“, verkünde ich beinahe stolz und Herr Mors nickt, als wäre ihm das schon vorher klar gewesen. Seine Augen scheinen zu lächeln, auch wenn nichts von diesem Eindruck seine Lippen erreicht.
 

„Du hast gelacht“, sagt er in einem Anfall an unheimlichen Wissen. Wie kann er… was…. Wieso? Sie hat kein Handy bei sich, wie kann er das wissen?

„Ja, das habe ich, Gevatter.“

Gevatter?!

„Was hat es dir über die Menschen gesagt?“

„Das, was notwendig ist, um meine Aufgabe zu erfüllen.“

Welche Aufgabe? Was höre ich hier? Worüber unterhalten die Beiden sich? Ich…begreife nichts, rein gar nichts. Sprachlos und staunend starre ich sie in ihrer Zweisamkeit an, die in diesem Moment wie nichts einer tiefen Verbundenheit gleicht. Ich kann diese Verbundenheit beinahe spüren.

„Kann…mir jemand erklären…was….?“, stottere ich vor mich hin und bin nun im vollen Fokus ihrer Aufmerksamkeit.
 

„Gevatter?“

Schon wieder dieses Wort für Tod, was mit dem Wort Vater mitnichten etwas zu tun hat. Ich schlucke. Was ist in dieser Familie los? Womit habe ich es zu tun? Unsicher sehe ich vom Vater zur Tochter und schlucke.

„Herr Falkenstein, vielen Dank, dass sie sich um Ella gekümmert haben.“

Perplex nicke ich. „Klar, gerne… Sie nehmen doch auch meine Pakete an.“ Sehr unsinnig, diese Begründung, befinde ich und lächle nervös.

„Ella ist neu. Sie ist noch nicht lange auf dieser Welt.“

„Fünf Jahre“, ergänze ich und jetzt, da ich es ausformuliere, bin ich mir gar nicht mal so sicher, woher ich das weiß. Ich habe sie nie nach ihrem Alter gefragt. Nie. Auch meine Tante hat es nicht erwähnt.

„Für einen Menschen, ja.“

„Aber wir sind doch alle Menschen“, sage ich hilflos und sie beide lächeln mich an, derart unisono, dass es mich gruselt.
 

Gruselt, sage ich, gruselt!
 

„Gevatter?“

„Ja, du darfst.“
 

Mir fehlen erhebliche Teile dieser Konversation, beschließe ich und erlebe, wie Ella sich vor meinen Augen wandelt. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Ich weiß noch nicht einmal so genau, in was sie sich wandelt, ich weiß nur, dass ich es weiß.

Ebenso wie mir bewusst ist, dass sie kein Mensch ist, auch wenn ich keine Ahnung habe, woher ich dieses Wissen nehme. Sie muss ein Mensch sein, oder nicht? Was soll sie denn auch sonst sein?
 

„Jedes Mal, wenn jemand neu ist, frisch auf der Welt, schicke ich ihn hinaus um die Menschen kennen zu lernen, denn sie sind es, die wir geleiten“, erläutert mir Herr Mors und ich blinzle. Auch er wandelt sich und ich kann nicht genau festmachen, was so anders ist.
 

Es ist mehr ein Gefühl als wirklich ein optischer Eindruck und mein Mund wird trocken. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Mors…in der Mythologie der Römer der personifizierte Tod. Gevatter, in unserer Sprache ein Ausdruck für eben jenen. Sensenmann, auch wenn ich hier keine Sense sehe.
 

„Wenn sie lernen zu lachen, dann sind sie bereit für ihre Aufgabe.“
 

Was…?!
 

Ich muss reichlich dümmlich aussehen mit meinem offenstehenden Mund. Das ist ein Scherz, möchte ich sagen, doch ich weiß instinktiv, dass dem nicht der Fall ist, so wie ich auch instinktiv weiß, dass sie sich gewandelt haben, ohne einen Unterschied zu sehen. Tod und Mini-Tod stehen vor mir, leibhaftig und ich glaube, dass es ein guter Moment wäre, um einfach umzukippen. Ich tue es nicht, weil mein Kreislauf dafür zu stabil ist, aber anziehend ist die Möglichkeit schon. Der Tod steht vor mir und behauptet, dass er real ist. Er behauptet, dass er kleinen Mini-Tode produziert, die lachen lernen müssen.
 

Wirklich? Echt? Ich kneife mich, doch das ist kein Traum, also tut es auch entsprechend weh.
 

„Ich…öhm…gern geschehen?“ Nein, etwas Besseres fällt mir wahrhaftig nicht ein. Ich bin schließlich auch Ingenieur, kein Dichter. Was bislang okay war.
 

Die beiden Wesen vor mir nicken unisono und auch das erschließt sich mir jetzt. Ich lächle nervös ob des plötzlichen Begreifens.
 

„Würden Sie denn auch zum Essen bleiben?“, frage ich und innerlich schreie ich mich quasi an, ob es nichts Anderes zu fragen gäbe. Vor mir steht der Tod. Der Tod. Dabei bin ich noch nicht einmal zur Frage angekommen, ob er mich nun umbringen wird, da ich weiß, wer sie sind. Aber auch das kann ich verneinen, auch wenn ich keinen wirklichen Anhaltspunkt dafür habe, woher ich mein Wissen nehme. „Also ich meine…bei mir? Einen Baum habe ich schon. Ich koche auch. Ich koche selten, aber ich kann ganz gut kochen und es ist auch essbar, was ich produziere. Also zumindest sagt das meine Familie und Ella hat heute auch viel gegessen, das bedeutet, dass Sie ja auch Nahrung zu sich nehmen, irgendwie…“
 

Ich bemerke, dass ich das Plappern anfange und mit Sicherheit nicht damit aufhören würde, wenn ich mir jetzt nicht die Hand auf den Mund presse und darauf warte, was Herr Mors – Gevatter Tod – dazu zu sagen hat. Wer kann denn schon von sich behaupten, den Tod…und den Mini-Tod eingeladen zu haben?
 

Ich. Oh herrjeh.
 

Peinliche Stille tritt zwischen uns ein und ich nähere mich dem Punkt, an dem ich mein Angebot zurückziehen möchte, weil es anscheinend das Falsche war.
 

„Das wäre mir ein Vergnügen“, sagen Tod und Mini-Tod unisono in all ihrer Ernsthaftigkeit und ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder in Ohnmacht fallen soll. Was ich aber weiß ist, dass ich Millionen an neugieriger Fragen habe.
 

Ich hoffe auf eine Antwort zu jeder einzelnen. Das wird lange dauern, aber ich habe ja schließlich Weihnachtsurlaub. Lächelnd deute ich auf mein Haus.
 

„Darf ich sie hineinbitten?“
 


 

~~~~~~~~

Ende.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Niua-chan
2021-01-02T07:38:27+00:00 02.01.2021 08:38
Hallo^^
Dein herum experimentieren ist dir wirklich super gelungen. Ich habe die Geschichte neugierig gelesen und gerätselt was es denn mit den beiden auf sich hat. Die Auflösung war überraschend und ein wirklich toller Denkansatz. Das der Tod erst mal in die Welt geht um zu lernen finde ich eine schöne Idee. Das Elias die beiden a schließen zum Essen einlädt und auf die Beantwortung seiner Fragen hofft ist eine deutlich bessere Reaktion als schreiend wegzulaufwn und ich würde bei dem Gespräch gerne Mäuschen spielen.

Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr^^


Antwort von:  Cocos
06.01.2021 23:02
Hallo :)

Vielen lieben Dank dir für dein Lob! Die Idee hatte ich quasi "Last Minute" (nachdem ich vorher ein Brett vor dem Kopf hatte). Daher freut es mich umso mehr!

Wer weiß...vielleicht packt mich irgendwann nochmal die Muße und ich schreibe das Gespräch oder eine komplette Fortsetzung!

Dir auch ein frohes neues Jahr!


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