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Rescue me

When a dragon saves a puppy - Seto x Joey
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Musikinspiration für dieses Kapitel:

The One That Got Away - Brielle Von Hugel

Spotify: https://open.spotify.com/track/1tg28JiXBuaUj5bZ8Ppuum?si=uTUiCDvWSZufRfCcFpc2MQ
YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=NNQEKoWHqJM

In another life, I would be your girl
And we keep all our promises, be us against the world
In another life, I would make you stay
So I don't have to say you were the one that got away
The one that got away

All this money can't buy me a time machine, no
I can't replace you with a million rings, no
I should've told you what you meant to me, no
'Cause now I pay the price


Und für etwas mehr Atmosphäre am Ende habe ich das im Hintergrund laufen lassen: https://www.youtube.com/watch?v=PSyxxtveRE8 Komplett anzeigen

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Rescue me... In another life?

Joeys Herz pochte wie wild, als er die Tür hinter sich schloss und damit auch ein Kapitel, wenn nicht das Kapitel seines Lebens. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was er fühlte. Er musste jetzt schnell handeln. Er kannte Seto. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu finden, und es war auch egal, dass Joey ihn darum gebeten hatte, es nicht zu tun. Vielleicht würde gerade das dafür sorgen, dass er es noch mehr wollte.

 

Noch immer vor Setos Zimmertür stehend, sah er nach links und nach rechts, um einzuschätzen, wohin er laufen musste. Verdammt, Mokuba stand genau an dem Ende des Ganges, an dem sich der Vordereingang des Krankenhauses befand. Er telefonierte zwar noch und war daher etwas abgelenkt, aber es war dennoch ziemlich riskant. Also blieb nur rechts, oder?

 

Der Druck, schnell die richtige Entscheidung treffen zu müssen, schnürte Joey die Kehle zu. Der Blonde wusste, sobald Mokuba zurück in Setos Zimmer war, würde die Suchaktion losgehen. Er hatte vielleicht ein paar Minuten. Wie sollte er es schaffen, an Mokuba vorbeizukommen, ohne dass er ihn sah?

 

Doch dann ergab sich seine Chance. Mokuba beendete das Telefonat und wurde von einer Krankenschwester angesprochen, die mit ihm zum Tresen am Vordereingang ging. Vermutlich würde sie mit ihm kurz über Setos Entlassung sprechen wollen, oder aber einfach über seinen allgemeinen Zustand. Aber das ging Joey nichts an, nicht mehr...

 

Als er die Hitze in seinen Wangen aufkeimen spürte, setzte er sich in Bewegung. Mokuba hatte ihm den Rücken zugekehrt, das Personal war anderweitig beschäftigt, niemand achtete auf ihn, wenn er sich nicht zu auffällig benahm. Das war seine Chance, eine Chance, die er so vielleicht nicht mehr bekommen würde. Also schaltete er für einen Moment seine Gefühle und Gedanken aus und konzentrierte sich ausschließlich auf das, was unmittelbar vor ihm lag. Und als er an Mokuba vorbeiging und die Tür nach draußen öffnete, da hielt er für eine Sekunde den Atem an, aus Angst, doch erwischt zu werden. Aber er schaffte es unbemerkt nach draußen, wo die Sonne erbarmungslos auf ihn herunter schien.

 

Und dann rannte er. Rannte, als wenn es um sein Leben ging. Er wusste nicht, wohin, aber er lief, so weit ihn seine Füße tragen konnten. Nahm Wege und Straßen, die er sonst nicht einschlagen würde, weil er sicherlich zunächst dort gesucht werden würde, wo er am ehesten vermutet werden würde.

 

Ob sie schon mit der Suche begonnen hatten? Wie viel Zeit war wohl schon vergangen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte? Noch immer rannte Joey ziellos durch die Straßen der Stadt, hechelnd und atemlos, und dachte, dass es sich eigentlich nur um Minuten gehandelt haben könnte, wobei er Schwierigkeiten hatte, seinem eigenen Zeitgefühl zu vertrauen. Darauf war wohl genauso wenig Verlass wie darauf, dass er Seto jemals wiedersehen würde.

 

Die Erkenntnis, was er da gerade getan hatte, traf ihn wie ein Schlag und er hielt in der Bewegung inne. Er beugte seinen Oberkörper nach vorn und stützte sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel ab, die andere Hand an seinem Hals, hoffend, endlich wieder zu Atem zu kommen. Er hatte kurz das Gefühl, sich übergeben zu müssen, teils wegen der körperlichen Erschöpfung, aber auch aufgrund dessen, welche Entscheidung er da getroffen hatte. Als er spürte, wie die ersten Tränen seine Augen benässten, schüttelte er den Kopf, konnte sie aber doch nicht vollständig vertreiben. 

 

Als er wieder einigermaßen Luft bekam, stellte er sich wieder aufrecht hin und sah sich um. Er war tatsächlich in einer Gegend gelandet, in der er bisher noch nie gewesen war. Aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Er wusste, er musste untertauchen und zu einem Geist werden, wenn er nicht wollte, dass Seto ihn fand. Und da fiel ihm wieder ein, was der Grund war, weshalb er ihn beim ersten Mal gefunden hatte.

 

Er zog sein Telefon aus seiner Tasche und sah darauf. Die wichtigsten Telefonnummern kannte er auswendig. Er schaute auf sein Hintergrundbild – ein Bild von Seto und ihm, das er geschossen hatte, während Seto geschlafen hatte. Joey grinste darauf frech, während Seto unheimlich friedlich aussah. Seine braunen Haare lagen ihm kreuz und quer im Gesicht. Der Blonde erinnerte sich, dass Seto kurz danach wach geworden war und grummelnd gesagt hatte, dass Joey wieder schlafen solle und ihn dann an sich gezogen hatte. Seto hatte den Kopf an Joeys Nacken gelegt, die Arme um seine Taille, und hatte sich dann schnurrend an ihn gekuschelt. Er war so warm gewesen und Setos Haare hatten Joey am Hals gekitzelt, sodass er hatte kichern müssen. Danach hatte er sich aus seinen Fängen befreit und sich zu ihm umgedreht, hatte seinen Kopf in beide Hände genommen und ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund gegeben, bevor er sich wieder an Setos starke Brust gelegt hatte und schnell eingeschlafen war.

 

Erst ein Strom aus Tränen, der seine Wangen hinunterfloss, holte ihn zurück in die Realität. Er musste einsehen, dass er ihn vermisste, jetzt schon, und es war, als wenn sich eine Hand um sein Herz legen und es zerquetschen würde, sodass es in kleinste Einzelteile zerfiel. Er hatte das Gefühl, sich nicht länger auf den Beinen halten zu können, also ging er in eine verlassene Seitengasse. Er lehnte sich mit dem Rücken an eine kühle Betonwand und rutschte dann langsam zu Boden, zog seine Beine nah an seinen Körper und bettete seinen Kopf auf seinen Armen, die er auf seinen Knien abgelegt hatte.

 

Er wurde von seinen Emotionen übermannt, und anders als am Krankenhaus, ließ er es jetzt zu. Seine Augen brannten schon jetzt aufgrund der vielen Tränen, sein Hals fühlte sich rau und trocken an und er hatte immer mehr Schwierigkeiten, sein Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen. Er spürte sein Herz rasen, so als wenn es ein Wettrennen gewinnen wollte, und was auch immer das wohl für ein Wettbewerb war, Joey wusste, dass es den Versuch nicht wert war, weil es nichts zu gewinnen gab.

 

Alle Muskeln in Joeys Körper verkrampften sich bei dem Gedanken daran, dass er Seto verlassen hatte. Und dieses Mal war es ein Abschied für immer. Er hatte das schon ein paar Mal gesagt in der Vergangenheit, aber es hatte immer auch einen Teil in ihm gegeben, der gehofft hatte, es würde Rettung für ihn geben. Aber dieses Mal war es anders, denn dieses Mal war es Seto, nicht er, der gerettet werden würde. Und genau deswegen gab es jetzt kein Zurück mehr.

 

Joey hob den Kopf ein wenig an und legte sein Kinn auf seinen Armen ab, starrte die gegenüberliegende Hauswand an. Sein Blick blieb tränenverschleiert und immer wieder rollten ihm einzelne Tränen über die Wangen. Er versuchte, tief durchzuatmen, gegen das Schluchzen anzukommen, aber es war mehr oder weniger zwecklos. Sein ganzer Körper zitterte, aber er wusste, er hatte die richtige Entscheidung getroffen.

 

Es hatte sein müssen. Joey hatte gesehen, was für eine Gefahr er für Seto sein konnte, und er liebte ihn viel zu sehr, als dass er ihn dieser Gefahr aussetzen wollte. Er konnte das Risiko nicht eingehen, bei ihm zu bleiben und ihn dann möglicherweise sterben zu sehen. Nein, er wollte ein Leben für Seto, und das Schicksal hatte ihm deutlich gezeigt, dass es das nur ohne ihn geben würde. Es tat weh, verdammt, es tat so unheimlich weh. Aber für Joey war klar, dass es keinen anderen Weg gab.

 

Kraftlos stand er auf und holte erneut sein Handy aus der Tasche. Noch ein letztes Mal sah er auf das Bild auf dem Display. Er entfernte die SD Karte aus dem Slot, auf der auch ihre gemeinsamen Bilder gespeichert waren, und verstaute sie sicher in seiner Jackentasche. Er würde sie so schnell nicht mehr betrachten können, aber so wusste er wenigstens, dass ein kleiner Teil von Seto immer bei ihm sein würde. Auch wenn sie nicht mehr zusammen sein würden – nie wieder.

 

Und dann schmiss er das Handy in eine Mülltonne in der Seitengasse. Das war er also. Der erste Schritt heraus aus seinem bisherigen Leben, sein Leben mit Seto, das es nun nicht mehr geben würde. Aber es war die einzige Möglichkeit. Joey wusste, Seto würde es schaffen, er würde ohne ihn klar kommen. Sein Drache war so stark und er hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Er würde auf eine erfolgreiche Zukunft blicken können, und auch wenn er sicherlich die ein oder andere Herausforderung zu bewältigen hätte, würde Joey nun keine mehr davon sein. Und auch keine mehr auslösen. Seto würde leben können, und das war alles, was Joey sich in diesem Moment wünschen durfte.

 

Joey trat aus der Seitengasse heraus, während die Sonne noch immer gnadenlos auf die Straße niederschien. Er ließ seine Hände in seine Hosentaschen gleiten und hielt den Kopf gesenkt. Noch immer weinte er still Tränen des Abschieds, und die salzige Flüssigkeit brannte in seinen Augen, auf seinen Wangen, seinen Lippen. Er wusste nicht, in welche Richtung er lief, aber er musste weg. Weit weg. So weit weg, dass Seto ihn auf keinen Fall fand. Er würde ein paar Maßnahmen treffen und sich um einige Dinge kümmern müssen, und trotzdem sich das wie eine überwältigende Aufgabe anfühlte, war es die einzige Möglichkeit, die Joey jetzt hatte.

 

Er musste sein Leben aufgeben, um Seto das Leben zu ermöglichen, das er verdient hatte. Und vielleicht würden sie sich irgendwann wiedersehen - in einem anderen Leben...

 

~~~~

 

Seufzend legte Seto den Stift auf seinem Schreibtisch ab. Vor ihm lagen wichtige Verträge, die er unterzeichnen musste, und das versuchte er jetzt schon seit geschlagenen drei Stunden. Aber er las sich Verträge immer bis ins kleinste Detail durch, bevor er seine Unterschrift druntersetzte. Er hatte die Dokumente immer und immer und immer wieder gelesen – aber keines der Worte hatte ihn wirklich erreicht. Er hatte nicht genug Konzentration dafür, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war das im Moment auch gar nicht so ungewöhnlich für ihn.

 

Wie viele Wochen war es jetzt schon her, dass Joey verschwunden war? Oder waren es gar Monate? Sein Blick wanderte zu seinem Schreibtischkalender. Es war Ende Oktober und er schreckte kurz auf, als er bemerkte, dass er seinen eigenen Geburtstag vergessen hatte. Doch dann erinnerte er sich, dass Mokuba ihm vor ein paar Tagen ja sogar gratuliert hatte, und Seto war heilfroh, dass er es dabei belassen und nicht wieder eine seiner berühmt berüchtigten Partys organisiert hatte. Immerhin gab es für den Braunhaarigen gerade wohl nichts Unwichtigeres als seinen eigenen Geburtstag. Wozu sich die Mühe machen, zu feiern, dass man ein Jahr älter geworden war? Das war nicht wichtig, genau wie so vieles anderes. Er würde alles, was er hatte, geben, all seine Besitztümer, seine Firma, alles, wenn er dafür nur sein Hündchen noch ein einziges Mal würde sehen dürfen.

 

Er erinnerte sich zurück an den Tag, an dem es passiert war, an dem sein blonder Engel ihn für immer verlassen hatte. Für einen kurzen Moment war Seto in einer Schockstarre gefangen gewesen, als Joey die Tür hinter sich geschlossen hatte. Schon Augenblicke später hatte Seto aufspringen und ihn zurückholen wollen, doch noch bevor er sich die Kanüle aus dem Arm und die Sensoren von seiner Brust hatte reißen können, hatte er festgestellt, dass er noch zu schwach gewesen war, um aufzustehen. Es war ihm nichts geblieben außer der Erkenntnis, dass er tatenlos hatte zusehen müssen, wie Joey verschwand. Und als der Blonde das getan hatte, da hatte er auch Setos Herz mitgenommen.

 

Irgendwann war Mokuba wieder in den Raum gekommen, und als Seto ihm berichtet hatte, was geschehen war, hatte Mokuba die Zügel in die Hand genommen und sofort einen Suchtrupp zusammengestellt. Sie hatten den ganzen Tag und die ganze Nacht gesucht, aber Joey war spurlos verschwunden. Natürlich hatte Seto versucht, ihn anzurufen, doch er war immer nur auf der Mailbox gelandet. Er hatte sein Handy orten lassen, gefunden wurde es in der Mülltonne einer verlassenen Seitengasse in einem Stadtteil, in dem er bisher noch nie gewesen war. Das war auch der letzte Ort gewesen, von dem man mit einiger Sicherheit sagen konnte, dass Joey dort gewesen war. Danach verlor sich seine Spur.

 

Nachdem Seto das Krankenhaus einige Tage später hatte verlassen dürfen, war er zunächst die offensichtlichen Möglichkeiten durchgegangen. Er hatte jeden von Joeys Freunden kontaktiert, und tatsächlich hatten sie eine Nachricht von ihm erhalten, allerdings immer unter einer anderen Nummer. Dasselbe galt auch für seine Schwester und seine Mum. Es war schon fast so, als hätte Joey das minutiös geplant, aber vielleicht hatte er auch einfach nur aus der Vergangenheit gelernt. Er tat ganz offensichtlich alles, um wirklich nicht gefunden zu werden. Er hatte seinen Freunden und seiner Familie geschrieben, dass er für einige Zeit wegmüsse und sie ihn nicht suchen kommen sollten, dass es ihm gut ginge und sie sich keine Sorgen machen müssten. Das war natürlich ein absurder Wunsch – Seto hatte schnell festgestellt, dass sich alle unwahrscheinlich große Sorgen um Joey machten, er selbst eingeschlossen.

 

Natürlich hatte er die Polizei eingeschaltet, aber sie hatten wenig tun können, da Joey freiwillig gegangen war und damit offiziell nicht als vermisst galt. Er hatte selbst Privatdetektive engagiert, aber auch sie hatten nur begrenzte Mittel und waren nicht weit gekommen, einfach weil es keinen hinreichenden Verdacht auf ein Verbrechen gab und Joey seine Spuren gekonnt verwischt hatte. Nur durch seine guten Beziehungen hatte Seto erreichen können, dass auch die anderen Nummern getrackt wurden, von denen Joey die Nachrichten an seine Freunde und seine Familie geschrieben hatte, auch wenn Seto schon damals gewusst hatte, wie aussichtslos das gewesen war. Am Ende hatte sich seine Befürchtung bestätigt – es waren ausnahmslose Wegwerfhandys gewesen, fast unmöglich nachzuverfolgen, und Joey hatte auch immer nur eine Nachricht von jeweils einer Nummer geschickt und die Handys mitsamt der SIM-Karten anschließend wohl entsorgt. Sein Hündchen hatte offensichtlich ziemlich genau gewusst, was er da getan hatte.

 

Das Waisenhaus hatte Seto informiert, dass Joey sogar angerufen und um unbefristeten, unbezahlten Urlaub gebeten hatte. Mrs. Nakamura hatte Seto das Telefonat genau geschildert, aber außer der Tatsache, wie ungewöhnlich sein Wunsch geklungen hatte, war ihr nichts besonders auffällig vorgekommen. Sie hatte ihn natürlich nach seinen Gründen gefragt, aber er hatte sich ziemlich vage ausgedrückt. Dass er sich privat um einige Dinge kümmern müsste oder so ähnlich. Am Ende war sie seinem Wunsch nachgekommen, auch wenn sie sich ein wenig Sorgen um Joey gemacht hatte.

 

Seto fand die Tatsache, dass er um unbezahlten Urlaub gebeten hatte, interessant. Hätte er nicht einfach kündigen können? Hieß das, dass er vorhatte, irgendwann wiederzukommen? Es war ziemlich offensichtlich, dass er sich die Möglichkeit dazu offen hielt, und Mrs. Nakamura war freundlich genug, ihm das durchgehen zu lassen. Wie hätte er sich entschieden, hätte die Waisenhausleiterin seine Anfrage abgelehnt? Hätte er dann wirklich alles fallen gelassen und gekündigt?

 

Es machte natürlich wenig Sinn, sich Gedanken über etwas zu machen, das so gar nicht passiert war, aber Seto wurde aus Joeys Beweggründen einfach nicht schlau. Er hatte gesagt, dass er verschwinden musste, damit Seto nicht in Gefahr war, und der Braunhaarige konnte absolut sehen, warum Joey das denken musste, so kurz nach dem hasserfüllten Angriff seines ehemaligen Mitarbeiters. Selbstverständlich war dieser mittlerweile seiner gerechten Strafe zugeführt worden. Die Polizei hatte ihn betrunken in irgendeiner Gasse aufgegabelt und er war nur allzu bereit gewesen, rauszuposaunen, was für einen Plan er geschmiedet hatte. Es war ziemlich schnell herausgekommen, dass er sich mit einem von Setos Sicherheitsleuten verbündet hatte – oder besser gesagt, er hatte ihn bestochen. Besagter Mitarbeiter war sein aktueller Sicherheitschef gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass Joey und Seto nach der Abschiedsfeier im Café nicht von seinen Sicherheitsleuten umgeben gewesen waren. Das war das Puzzlestück gewesen, das Seto noch gefehlt hatte, um Mr. Nodas Plan vollends zu verstehen, und er war gar nicht unlogisch aufgebaut gewesen. Zu dumm nur, dass der Mann offensichtlich ein zu redseliger Taugenichts war, wenn er seinen Plan einfach ausplauderte, als ihn die Polizei befragt hatte. Das war schon fast ein bisschen zu einfach gewesen.

 

Es verstand sich von selbst, dass auch sein bisheriger Sicherheitschef entlassen und den Behörden übergeben worden war. Im Anschluss daran hatte Seto neue Sicherheitsrichtlinien für die Einstellung von Mitarbeitern eingeführt. Er hatte eine unabhängige Agentur beauftragt, die jeden neu einzustellenden Mitarbeiter einer eingehenden Prüfung unterzog, bevor ein Arbeitsvertrag unterschrieben werden durfte – und das galt für alle Neueinstellungen in seinem Unternehmen, unabhängig vom Fachbereich oder der Hierarchieebene. Außerdem sollte es auch während der Anstellung regelmäßige, stichprobenartige Überprüfungen geben. Er hatte mit allen Mitgliedern des Sicherheitsteams begonnen und hatte schnell erleichtert feststellen können, dass sie alle sauber waren. Und die neuen Sicherheitsmaßnahmen würden ebenfalls dafür sorgen, dass das so blieb.

 

Hätte Joey das nicht auch wissen sollen? Dass Seto dafür sorgen würde, dass so etwas nie wieder passierte? Natürlich war es eine traumatische Erfahrung gewesen, für sie alle, aber vertraute Joey so wenig darauf, dass Seto die richtigen Maßnahmen würde treffen können? Stattdessen hatte er entschieden, ihn zu verlassen. Ein Teil von Seto hatte immer wieder die Hoffnung gehabt, dass er doch zurückkommen würde, insbesondere der Tatsache geschuldet, dass er seinen Job im Waisenhaus bisher nicht gekündigt hatte. Doch die Monate, die mittlerweile ins Land gezogen waren, hatten ihm gezeigt, dass diese Hoffnung absolut unbegründet gewesen war. Er würde nicht mehr zu ihm zurückkommen, das war inzwischen nicht mehr zu leugnen.

 

Seto hatte jeden Abend, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, auf dem Dach des Hauses verbracht, von dem Joey nun schon ein paar Mal hatte springen wollen. Mokuba hatte ihn irgendwann für verrückt erklärt, weil das zu seinem täglichen Ritual geworden war, egal welchem Wetter er sich auch hatte aussetzen müssen. Vielleicht war es die Hoffnung, dass Joey wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Vielleicht war es das Gefühl, ihm hier näher zu sein. Vielleicht war es auch einfach Angst. Irgendwann im Laufe der Zeit war Seto die Vermutung – oder eher die Befürchtung – gekommen, dass Joey vielleicht gar nicht mehr am Leben war. Er hatte seine Spuren gut verwischt, es war fast so, als hätte es ihn nie gegeben. Alle notwendigen Maßnahmen hatte er in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden getätigt. Seitdem gab es keine Spur mehr von ihm.

 

Und ja, die Möglichkeit, dass er nun endlich Suizid begangen hatte, war durchaus real. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er es versucht hätte. Und wenn es so wäre, dann hatte Seto ihn dieses Mal nicht aufhalten können. Dann hätte er es nicht geschafft, ihn zu retten.

 

Jeden Abend, wenn er auf diesem Dach stand, sah er in die Ferne, fast so, als wenn er hoffen würde, dass Joey einfach auftauchen würde, so als wäre nie etwas passiert. Er erinnerte sich an das allererste Mal, das sie sich hier getroffen hatten. Das war nun fast auf den Tag genau ein Jahr her, und seitdem hatte Joey Setos ganze Welt auf den Kopf gestellt. Immer und immer wieder. Ob er sich dessen wohl bewusst war?

 

Immer, wenn die Sonne langsam am Horizont begann unterzugehen, schmerzte die Erinnerung an Joey noch ein wenig mehr. Seto konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Joey noch am Leben war. Ob es ihn da draußen noch gab. Aber er wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er noch existierte, wenn er sich auch für ein Leben ohne ihn entschieden hatte. Aber eine Welt ohne den Blonden machte für Seto einfach keinen Sinn.

 

Er ließ sich jeden Abend von der Polizei über die Suizide in der Gegend informieren, und glücklicherweise hielt sich deren Zahl doch sehr in Grenzen. Und niemand von der Handvoll Menschen, die in den vergangenen Monaten diesen Weg für sich gewählt hatten, war sein Hündchen gewesen. Das Problem war allerdings, dass er diese Informationen nur für die spezifische Region bekam. Joey konnte mittlerweile überall sein. Seto konnte nicht mal sicher sein, dass er sich noch in Japan befand. Auch Setos Einfluss war begrenzt, solange kein Verbrechen vorlag, und das tat es nicht.

 

Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er sich eigentlich hinsichtlich gar nichts mehr sicher sein. Nicht darüber, wo Joey sich befand, oder ob er noch lebte, oder ob es ihm gut ging, oder ob er auch immer genug zu essen hatte. Hatte Seto etwas falsch gemacht? Hätte er ihm noch deutlicher machen sollen, wie sehr er ihn liebte? Wäre er dann vielleicht noch bei ihm? Joey hatte gesagt, er wäre gegangen, damit Seto leben konnte. Aber dieses Leben war trostlos. Es war wie das Leben, das er davor geführt hatte, nur mit dem Unterschied, dass er jetzt wusste, dass er etwas Wichtiges verloren hatte. In seinem Leben vor Joey hatte es nur seine Firma und Mokuba gegeben. Bis das Schicksal ihn zu seinem Hündchen geführt und ein Band um sie gesponnen hatte, das sie unzertrennlich gemacht hatte. Zumindest hatte Seto das bisher immer gedacht. Aber er musste jetzt einsehen, dass er sich geirrt hatte. Das Band gab es immer noch, und es war stark, schon allein der Versuch, es einfach so zerschneiden zu wollen, wäre absolut sinnlos. Aber es war dehnbar. So dehnbar, dass es auf jede Distanz ausgebreitet werden konnte. Und je mehr Joey sich wegbewegte, desto mehr wurde das Band in die Länge gezogen. Das führte zu brüchigen Stellen, und Seto wusste – es war nur eine Frage der Zeit, bis es an einer Stelle einriss und am Ende komplett zerreißen würde. Und wann immer dieser Zeitpunkt auch sein mochte – Seto war sich sicher, dass es ihn vollständig zerstören würde.

 

Am Ende hatte der Täter also doch das bekommen, was er gewollt hatte – dass ihm das, was ihm mehr als alles andere bedeutete, genommen worden war, wenn auch nicht durch den Tod. Und das hinterließ ein großes Loch da, wo sein Herz gewesen war. Denn das gab es nicht mehr. Das hatte Joey mitgenommen, und er würde es behalten – auf ewig.

 

Irgendwann kam Seto zurück ins Hier und Jetzt, in sein Arbeitszimmer in der Villa, die ohne Joey so still war, leblos. Er war jetzt schon seit einigen Monaten fort, aber Seto vermisste ihn wie an dem Tag, an dem er die Tür hinter sich geschlossen und nie wieder geöffnet hatte. Und mit Erschrecken musste Seto feststellen, dass die Erinnerungen an Joey ganz allmählich verblassten. Wie sah noch mal das Gold in Joeys Augen genau aus? Wie hörte er sich an, wenn er in ihren Kuss seufzte? Wie fühlten sich Joeys Lippen auf seinen an? Es waren zum Teil Kleinigkeiten, und doch bedeuteten sie für Seto die Welt.

 

Alles, was ihm geblieben war, waren die Bilder in ihrem Fotoalbum. Der Ordner, der sie einst auseinandergerissen hatte und der nun die einzig verbleibende Verbindung zu seinem Hündchen war. Er war voll von Bildern der Momente, in denen sie glücklich gewesen waren. All die Fotos zeigten ihre Geschichte, und Seto blätterte sich gedankenverloren durch die Seiten – bis er bei der letzten Seite angelangt war. Die einzige Seite, die noch nicht durch ein Foto geziert wurde.

 

Seto klappte den Ordner zusammen und warf ihn kraftvoll vom Tisch. Eine Wut stieg in ihm auf, vor allem auf sich selbst, weil er Joey nicht dazu hatte bringen können, bei ihm zu bleiben. Er hatte ihn nicht halten können. Und jetzt war er fort und die letzte Seite des Ordners würde für immer nur weiß bleiben, würde ihn ewig daran erinnern, wie leer auch sein Leben ohne Joey war. Er war zu schwach gewesen, hatte nicht genug um sein blondes Hündchen gekämpft, und jetzt war es zu spät. Und das würde er sich nie verzeihen. Niemals.

 

Schwungvoll stand Seto auf und ließ den Bürostuhl nach hinten rollen, der mit einem lauten Geräusch gegen die hinter ihm liegende Wand knallte. Hastig griff er sich seine Jacke und verließ das Arbeitszimmer. Mit schnellen Schritten ging er den Gang hinunter zum Fahrstuhl, fuhr in das Untergeschoss, wo seine Autos sauber aufgereiht standen. Mit einem Klick öffnete er seinen Lieblingswagen, den schwarzen Audi A8, und ließ sich auf den Sitz fallen, bevor er den Wagen startete und losfuhr.

 

Er wäre dumm zu glauben, dass es einen Ort gab, der ihn den Schmerz vergessen lassen könnte. Den gab es nicht und den würde es auch in Zukunft nicht geben. Alles, was er wusste, war, dass er hier wegmusste, wenn auch nur für ein paar Stunden. Ihm fiel die Decke auf den Kopf. Er hielt es einfach nicht mehr aus.

 

Ohne genaues Ziel irrte er durch die verregneten Straßen. Ein kleiner Sturm war aufgezogen, fast so, als wenn die Götter wüssten, wie es in seinem Inneren aussah. Denn auch in ihm tobte ein Sturm aus verschiedensten Emotionen – Angst, Verzweiflung, Wut, Selbsthass. Wie hatte er nur zulassen können, dass Joey einfach so verschwand? Warum hatte er es noch nicht geschafft, ihn zu finden? Er war Seto Kaiba und als solcher bekannt dafür, dass er eigentlich alles schaffte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Und die Leute hatten recht – das war bisher auch immer so gewesen. Bis er sich der Herausforderung gestellt hatte, Joey zu finden und zu ihm zurückzubringen. Vielleicht würde das die einzige Aufgabe sein, die selbst ein Seto Kaiba nicht würde bewältigen können.

 

Er fuhr auf eine Landstraße und ließ die Motoren heulen, trat das Gaspedal ganz durch. Er überholte gekonnte mehrere Autos, bevor die Sicht vor ihm frei war – zumindest soweit er das durch den Regen einschätzen konnte – und erhöhte die Geschwindigkeit weiter. Es war ihm egal, dass er sich selbst in Gefahr brachte, immerhin könnte er jederzeit von der Fahrbahn abkommen und gegen einen Baum knallen. Wäre das so schlimm? Wenn Joey tatsächlich nicht mehr lebte, würde er dann vielleicht sogar wieder bei ihm sein können?

 

Er verstärkte seinen Griff um das Lenkrad, als er allmählich wieder langsamer wurde. Ihm wurde bewusst, dass er nicht die einzige Person auf dieser Straße war, auch wenn gerade niemand direkt vor ihm fuhr. Er konnte sich von seiner Wut auf sich selbst und seiner Verzweiflung nicht dazu verleiten lassen, andere Menschen in Gefahr zu bringen. Das würde an seiner Situation auch nichts ändern.

 

Nach ein paar weiteren Kilometern hielt er am Straßenrand an, so, dass ihn alle anderen Autos locker überholen konnten. Der Regen prasselte gnadenlos auf die Frontscheibe und versperrte die Sicht auf alles um ihn herum. Seto schaltete den Scheibenwischer aus, überkreuzte seine Arme auf dem Lenkrad und legte seinen Kopf darauf ab. Sein Atem ging abgehackt und schnell, heiße Tränen liefen ihm über die Wangen. Und immer und immer wieder wiederholte sich eine Frage in seinem Kopf: Warum?

 

Warum nur war Joey nicht mehr da? Warum hatte er ihn einfach so verlassen können? Warum kam er nicht zu ihm zurück? Seto würde alles für ihn aufgeben, einfach alles. Er vermisste ihn so sehr, dass es ihm jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde die Luft zum Atmen nahm. Sein ganzer Körper zitterte und er presste kraftvoll seine Zähne aufeinander. 

 

Würde dieser Schmerz jemals weggehen? Oder würde er zumindest nachlassen, je stärker die Erinnerungen an Joey verblassten? Würde sein ganzes, zukünftiges Leben darin bestehen, Joey zu finden, oder würde er es irgendwann aufgeben? Könnte er denn aufgeben?

 

Nein. Nein, er könnte es nicht. Niemals. Und wenn es ein Leben lang dauern würde, ihn zu finden, selbst wenn er ihn nie fand – er musste es versuchen. Er musste sich an die Hoffnung klammern, dass er irgendwo da draußen war und auf ihn wartete. Es konnte nicht anders sein, denn wenn Joey nicht mehr wäre, dann...

 

Seto schrie. So, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht geschrien hatte. Ließ all die Emotionen raus, ließ das Geräusch an den Wänden des Wagens widerhallen. Es war so schwer ohne Joey. Er wollte nicht zurück zu seinem alten Leben, mit dem Wissen, wie sein Leben hätte aussehen können, wäre Joey noch an seiner Seite. Denn dieses Leben, wie er es bisher gelebt hatte, hatte ihm keine Freude gebracht. Das wusste er jetzt. Er hatte die Kontrolle über alles gehabt, ja, aber erst mit Joey hatte er wirklich gelebt. Und nun waren beide Leben vorbei – er konnte nicht einfach zurückkehren, aber ein Leben mit Joey gab es auch nicht mehr. Wie nur sollte er es schaffen, wieder ein Leben zu finden, das er für lebenswert hielt?

 

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Der Regen hatte deutlich nachgelassen, wenn er auch nicht gänzlich verschwunden war. Kraftlos ließ sich Seto nach hinten fallen, gegen den Sitz, und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er hatte alle Gefühle, die er in sich getragen hatte, rausgeschrien, und nun war nur eines übrig geblieben – Leere. Dieselbe Leere, die sein ganzes Leben erfüllen würde, von nun an für alle Zeit. Ein Leben ohne den Mann mit den goldenen Haaren und den goldbraunen Augen, dem ansteckenden Lachen und der Hingabe, sich um andere Menschen zu kümmern.

 

Seto startete den Motor erneut und schaltete die Scheibenwischer an. Er fuhr wieder auf die Straße, hielt sich nun aber an die geltende Geschwindigkeitsbeschränkung. Er wusste nicht genau, wohin er eigentlich fuhr, ließ sich von seiner Intuition leiten. Er hatte das Gefühl, es gab einen Ort, an den er gern wollte, auch wenn er ihn noch nicht richtig greifen konnte. Aber er war sich sicher – er würde es wissen, sobald er da war.

 

Und so war es. Als er auf den Parkplatz einbog, wusste er genau, wo er war. Der Regen war verschwunden und hatte dichtem Nebel platz gemacht, als Seto aus dem Auto stieg und ein paar Schritte machte. Er strich über die kleine Mauer vor sich, auf die sich Joey damals gelehnt hatte, den Blick nach vorn gerichtet. Er erkannte den Holzweg, auf dem sie gelaufen waren, bis sie den Sand unter ihren Schuhen gespürt hatten. Der Nebel versperrte ihm größtenteils die Sicht auf das dahinterliegende Meer, aber er konnte es schon hören, wie es heftige Wellen schlug. Er atmete tief durch, sog die salzige Luft in sich auf, dann nahm er den Weg in Richtung Meer.

 

Als das Wasser deutlicher in Sicht kam, stoppte er. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und ließ sich ganz von dem Anblick der Wellen einnehmen, hörte das Rauschen in seinen Ohren. Ein paar Möwen machten Geräusche und zogen vermutlich ihre Kreise, aber Seto konnte sie aufgrund des Nebels nicht sehen. Ab und an hörte er es donnern, aber der Regen war scheinbar schon weitergezogen. Sein Atem hinterließ eine heiße Luftwolke, wann immer er ausatmete.

 

Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal mit Joey hier gewesen war. Es war der Tag gewesen, an dem er ihm von seinem Vater erzählt hatte, alles, was er ihm angetan hatte. Seto hatte zwar später noch mehr Details erfahren, aber Joey hatte ihm an diesem Tag so viel anvertraut, dass es ihm noch heute den Atem raubte. Und auch der Braunhaarige hatte sich geöffnet, ihm Dinge erzählt, die niemand von ihm wusste. Es war ein magischer Moment gewesen. Und auch damals hatte es einen Sturm gegeben, der um sie herum getobt hatte, und als sie dann dort auf dem Steg gesessen hatten, da war es plötzlich so friedlich geworden, trotz des andauernden Regens. Man sagt, geteiltes Leid ist halbes Leid. Sie hatten ihren Schmerz miteinander geteilt, und für Seto war es so gewesen, als wenn einige Wunden dadurch geheilt wurden, auch wenn sie beide ihre Narben immer mit sich tragen würden.

 

Tief in Gedanken versunken, lief Seto den Strand entlang – bis ein Steg plötzlich in seinem Sichtfeld auftauchte, der bisher gut hinter dem Nebel versteckt gewesen war. Und er wusste – es war nicht nur irgendein Steg. Es war ihr Steg, der, auf dem ihr gemeinsamer Weg erst so richtig begonnen hatte.

 

Als Seto den ersten Schritt darauf wagte, knarzte das Holz unter seinen Sohlen, wie schon damals, und die Wellen schlugen genau so unerbittlich gegen die Planken. Durch den dichten Nebel konnte er das Ende des Stegs, das ins Meer ragte, noch nicht richtig sehen, also ging er ein paar Schritte weiter – bis er plötzlich in dem Nebel vor ihm einen Schatten entdeckte. Saß dort ein Mensch? Seto hielt für einen Moment inne, weil er nicht so richtig wusste, was er tun sollte. Was, wenn die Person nicht gestört werden wollte? Könnte er es ihr verübeln? Auch ihn hatte es offensichtlich hierher gezogen, um allein zu sein, während Seto zur gleichen Zeit in seinem eigenen Kummer ertrank.

 

Er wusste nicht, ob die Person ihn schon bemerkt hatte. Seine Neugierde gewann die Oberhand, und bevor er weiter darüber nachdenken konnte, ging er weitere Schritte auf den Schatten zu, darauf bedacht, möglichst wenige Geräusche zu machen. Sein Herz schlug plötzlich ganz schnell, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte. Noch nicht – denn als die Gestalt sich plötzlich als ein Mann mit blonden Haaren herausstellte, da traute er seinen eigenen Augen nicht. 

 

Seto schüttelte den Kopf. Er musste ganz offenbar den Verstand verloren haben, wenn er jetzt schon halluzinierte. Es gab keinen Grund dafür, dass Joey sich genau zu diesem Zeitpunkt an genau diesem Ort befinden sollte. Wäre das nicht sogar ziemlich dumm von ihm? Nein, es war absolut ausgeschlossen, dass der blonde Mann vor ihm sein Hündchen war.

 

Um der Person wieder mehr Ruhe zu geben, trat Seto einen Schritt zurück, was ein lautes Knarzen unter ihm auslöste – und den Mann dazu brachte, sich zu ihm umzudrehen. In der Sekunde, als sich ihre Blicke trafen, setzte Setos Herz für eine gefühlte Ewigkeit aus. Es war Joey. Es war tatsächlich Joey. Daran gab es absolut keinen Zweifel.

 

Minutenlang starrten sie sich nur an, keiner von beiden sagte ein Wort. Seto wusste auch gar nicht, was er hätte sagen sollen, dabei gab es so viel, was er ihm mitteilen, was er ihn fragen wollte. Aber dennoch verließ kein Wort seine Lippen. Auch Joey sah geschockt aus und konnte offenbar nicht glauben, was er sah. Es war um sie herum plötzlich ganz still geworden – oder bildete Seto sich das nur ein? Es war fast so, als ob er Joeys Atem direkt neben seinem Ohr wahrnehmen konnte, dabei saß er meterweit entfernt.

 

Setos Schockstarre löste sich erst, als Joey ein ganz kurzes Lachen von sich gab, die Augen schloss und dann den Kopf lächelnd wieder in Richtung Meer drehte.

 

„Ich hab‘ dir doch gesagt, du sollst nicht nach mir suchen.“

 

Joeys Stimme zu hören, war für Seto wie die Erlösung. Er konnte noch immer nicht fassen, dass sie sich nach Monaten endlich wieder am selben Ort befanden. War das Zufall? Oder Schicksal? War es vorherbestimmt, dass sie sich an genau dieser Stelle wiedersehen würden?

 

Was auch immer es war, Seto musste seine Chance nutzen – und hoffen, dass Joey nicht wieder wegrennen würde. Also ging er den Steg entlang, bis nach ganz vorne, und setzte sich neben Joey, und es war ihm absolut egal, dass dabei seine komplette Kleidung nass wurde. Beide warfen sich aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu, bevor sie die Augen wieder nach vorne aufs Meer richteten.

 

„Ich habe dich nicht gesucht“, erklärte Seto, musste sich aber sofort korrigieren. „Wobei, das stimmt nicht ganz. Ich habe dich nicht hier gesucht, zumindest nicht heute. Allerdings habe ich die letzten Monate wirklich versucht, dich zu finden.“

 

Joey seufzte. „Natürlich hast du das.“

 

Seto musste lachen und schüttelte dabei den Kopf.

 

„Warum lachst du?“, fragte Joey und drehte ihm den Kopf zu, seine Verwirrung war ihm deutlich anzusehen. Seto sah ihm direkt in die Augen, noch immer ein Lächeln auf den Lippen, als er sagte: „Ich kann es einfach nicht fassen. Ich habe alles in Bewegung gesetzt, um auch nur den Hauch einer Spur von dir zu finden, war aber absolut erfolglos. Ich wusste nicht mal, ob du überhaupt noch lebst. Und dann suche ich dich mal einen Tag nicht und finde dich. Einfach so.“ Er setzte die Arme zurück, lehnte sich zurück, auf seinen Händen abgestützt, und schaute auf den noch immer von Donner und Blitzen durchzogenen Himmel. „Was will uns das Schicksal wohl damit sagen, Joey?“

 

Nun musste auch Joey kichern, und sein Lachen war ansteckend. Seto stieg mit ein, und für wenige Augenblicke fühlte er sich so befreit. Das letzte Mal, das er gelacht hatte, war mit Joey gewesen, und es jetzt wieder mit ihm zu tun, fühlte sich unglaublich an.

 

Irgendwann wurde es wieder ruhig, ihre Blicke auf die Wellen des Meeres gerichtet. Dann ergriff Seto erneut das Wort. „Wo warst du, Joey?“

 

„Mal hier und mal da. Ich war für eine Weile aus der Stadt verschwunden, weil ich wusste, dass du da noch am ehesten nach mir suchen würdest.“

 

„Und warum bist du heute hier?“

 

Joey sah ihm grinsend ins Gesicht. „Dasselbe könnte ich dich auch fragen.“ Dann wandte er den Blick wieder ab, bevor er fragte: „Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, seit wir hier waren, oder?“

 

Seto nickte, sagte aber nichts weiter, weil er spürte, dass Joey noch mehr sagen wollte, und genau das tat er dann auch. „Ich hatte eigentlich kein genaues Ziel vor Augen, als ich in den Bus gestiegen bin, und plötzlich war ich hier. Schon komisch, irgendwie. Es war fast so, als hätte ich keine andere Wahl gehabt.“

 

Seto lächelte, als er feststellte, dass es Joey ganz ähnlich ergangen war wie ihm. Und nun wusste er, dass es das Schicksal war, das sie beide heute hierher geführt hatte. Sie konnten versuchen, voneinander getrennt zu sein, aber am Ende würden sie wie durch göttliche Fügung wieder vereint werden.

 

„Ich hab‘ dich vermisst, Joey“, sagte Seto und beobachtete, wie Joeys Blick nun wieder zu ihm schwenkte. „Ich hab‘ dich auch vermisst, Seto. Jeden Tag. Es gab nicht eine Sekunde, in der ich nicht an dich gedacht habe.“ Schweigend lächelnd sahen sie sich an. Wie gern würde Seto ihn jetzt berühren, aber er wusste nicht, wie viel Joey zulassen würde. Er war überfordert mit der Situation, war so vollkommen ohne Plan, und Joey war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der ihm so den Boden unter den Füßen wegziehen konnte – im positiven wie im negativen Sinne.

 

Doch Joey nahm ihm den Druck, Entscheidungen zu treffen, ab. Er stand auf, zog die Schnallen seines Rucksacks, der auf seinem Rücken lag, enger und ließ dann die Hände in seine Jackentaschen gleiten. Dann sagte er: „Ich werde jetzt wieder gehen. Es war schön, dich zu sehen, Seto.“

 

Nein. Nein! In dem Moment brannte bei Seto eine Sicherung durch. Er konnte nicht zulassen, dass er ihn wieder verließ, zumindest nicht ohne eine klare Antwort, warum. Also stand auch er hastig auf und ergriff Joeys Hand, hielt ihn so davon ab, den Steg zu verlassen.

 

„Warum, Joey? Warum willst du mich verlassen? Habe ich was falsch gemacht? Liebst du mich nicht mehr?“

 

Joey, der ihm bisher den Rücken zugewandt hatte, drehte sich nun zu ihm um und lächelte ihn liebevoll an. Er trat ein paar Schritte auf ihn zu, und mit seiner freien Hand streichelte er Seto zärtlich über die Wange. „Du hast absolut nichts falsch gemacht, mein Drache. Gar nichts. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Mehr als alles andere.“

 

Sie waren sich ganz nah, sodass Seto Joeys feuchten Atem in seinem Gesicht spüren konnte. „Was ist es dann? Wovor rennst du weg, Joey?“ Setos Stimme war kaum mehr als ein zittriges Flüstern, und mit jedem seiner Worte näherten sich ihre Gesichter noch weiter an. Joey schien kurzzeitig mit sich zu ringen, überwand dann aber doch den letzten Rest der Distanz. Als ihre Lippen sich vereinigten, spürte Seto in seinem gesamten Körper die Schmetterlinge fliegen. Es war ein betörendes Gefühl, sein Hündchen endlich wieder so nah bei sich zu haben, seine weichen Lippen auf seinen zu fühlen. Gleichzeitig öffneten sie den Mund und ließen ihre Zungen miteinander spielen, während Joeys Daumen noch immer Kreise auf Setos Wange zog.

 

Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander. Ihre Blicke waren verklärt, und Seto konnte die Sehnsucht in Joeys Augen aufblitzen sehen. Doch da war auch Schmerz, und Seto wusste, das konnte nichts Gutes bedeuten, spätestens dann, als Joey seine Hand von seiner Wange nahm und erneut Anstalten machte zu gehen. Doch Seto hielt noch immer die andere Hand des Blonden fest in seiner. Joeys Blick war auf den Strand gerichtet, als er sagte: „Ich bin gegangen, weil du ohne mich besser dran bist. Du wärst wegen mir beinahe gestorben. Ich weiß, dass alle anderen sagen, dass es nicht meine Schuld war, dass es allein der Täter ist, der das zu verantworten hat. Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass er gefasst und bestraft wurde, auch sein Komplize. Aber es gibt dennoch keine Garantie dafür, dass es nicht wieder passiert. Deshalb muss ich gehen, Seto. Ich weiß, dass du mich nicht gehen lassen wirst, wenn ich direkt vor deiner Nase bin, in greifbarer Nähe. Deshalb muss ich fort. Weit weg, an einen Ort, an dem du mich nicht finden wirst. Damit du dein Leben leben kannst. Denn genau das hast du verdient.“

 

Joeys Schluchzen, das irgendwann während der letzten Sätze begonnen hatte, ging Seto durch Mark und Bein. „Und du nicht?“, fragte der Braunhaarige mit vor Verzweiflung zitternder Stimme. „Hast du denn nicht auch ein Leben verdient, in dem du glücklich sein kannst? Habe ich dich nicht glücklich gemacht?“

 

„Doch, das hast du, mehr als Worte es jemals beschreiben könnten. Aber wenn du wegen mir getötet wirst, was wäre das dann für ein Leben? Ich lebe lieber in dem Wissen, dass du überhaupt ein Leben hast, als dich mutwillig in Gefahr zu bringen. Das könnte ich mir niemals verzeihen.“

 

Joey versuchte sich, aus Setos Handgriff zu befreien, blieb aber weiterhin erfolglos. Nein, so schnell würde er den Blonden nicht gehen lassen, er konnte einfach nicht. „Joey, ich habe alle möglichen Vorkehrungen in den letzten paar Monaten getroffen, damit so etwas nie wieder passieren kann. Hast du so wenig Vertrauen in mich, dass ich die Lage wieder unter Kontrolle kriegen kann?“

 

Joey schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Aber es ist trotzdem keine Garantie. Keiner deiner Pläne wird dich vollständig schützen können. Ich bin deine Achillesferse, Seto. Deshalb...“

 

„Nein!“, unterbrach Seto Joey harsch, doch sein Tonfall wurde sogleich wieder milder. „Nein, Joey, ich kann dich nicht gehen lassen.“ Er zog ihn näher zu sich, löste ihre Hände voneinander, nur um beide seiner Hände anschließend auf Joeys kühle Wangen zu legen.

 

„Vielleicht hast du recht. Vielleicht bist du meine Schwachstelle. Vielleicht gibt es keine Garantie dafür, dass so etwas noch mal passiert. Aber weißt du, wofür es eine 100-prozentige Garantie gibt? Dafür, dass ich dich liebe. Dafür, dass ich mein Leben nicht ohne dich verbringen will, egal was für Gefahren das auch mit sich bringt. Mal abgesehen davon, wie außerordentlich unwahrscheinlich es ist, dass so etwas noch mal passiert, dafür habe ich gesorgt. Joey, du bist mein Leben. Ohne dich habe ich gar keins. Ich liebe dich so sehr, dass jede Sekunde, die du nicht bei mir bist, furchtbar weh tut. Die letzten Monate waren die Hölle für mich. Ich kann nicht ohne dich sein, Joey. Und ich weiß, du kannst auch nicht ohne mich.“

 

Seto konnte viele Emotionen in Joeys Augen aufblitzen sehen – Angst paarte sich mit Hoffnung, Sehnsucht tanzte mit Verzweiflung, Trauer stand neben Liebe. Seto zog Joey in einen erneuten Kuss, den der Blonde erwiderte, mit einer Leidenschaft, die vor einigen Monaten noch so selbstverständlich zu ihrem Alltag gehört hatte. Joey konnte sagen, was er wollte, aber er hatte ihn vermisst, das wurde ganz deutlich.

 

Als sie sich wieder voneinander lösten, setzte Joey zum Sprechen an, doch Seto legte ihm einen Zeigefinger auf den Mund und bedeutete ihm so, zu schweigen. „Nein, Joey. Was auch immer du jetzt sagen würdest, lass es. Nichts davon wird mich vom Gegenteil überzeugen können. Ich kann nur mit dir existieren, und ich will auch nur mit dir existieren. Eine Zukunft ohne dich gibt es für mich nicht. Du bist mein Zuhause, Joey, egal wo wir sind. Und ich will mein ganzes Leben mit dir verbringen.“

 

Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Es war fast so, als ob die unbeherrschbaren Wellen um sie herum dem Sturm seiner Worte weiteren Auftrieb verliehen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag folgte er einfach seiner Intuition, und während er die nächsten Worte sprach, dabei beide Hände fest auf Joeys Wangen legte und ihm tief in die Augen blickte, breitete sich eine alles umfassende Gänsehaut auf seinem gesamten Körper aus.

 

„Heirate mich, Joey."



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Rosarockabye
2022-06-10T11:28:19+00:00 10.06.2022 13:28
Ich am Ende des Kapitel: Whus? ÔoÔ
Von:  Ryosae
2021-03-21T13:02:07+00:00 21.03.2021 14:02
Ohhhh Seto hat es geschafft! Endlich!

Ich verstehe diese wirren Gedanken von Joey nicht. Haben solche Typen wie der Attentäter nicht durch eine Trennung gewonnen? Lass dich wieder darauf ein, Joey!
Ist doch kein Zustand so.

Bin jetzt erstmal seeehr gespannt wie auf den Heiratsantrag reagiert wird. Freudig in die Arme springen eher noch nicht... noch nicht!

LG
Ryo
Antwort von:  Evi1990
21.03.2021 16:03
Stimmt, Joey gibt seinem Fluchtimpuls oft nach :) mal sehen, ob er endlich wieder auf die Spur kommt ;) wir sind tatsächlich auch schon näher am Finale, als es gerade aussehen mag. Dazu gibt es von mir am Mittwoch mit dem neuen Kapitel die Info, wann Rescue Me enden wird :) also, bis Mittwoch ❤️
Von:  Onlyknow3
2021-03-18T09:05:25+00:00 18.03.2021 10:05
Wars das jetzt? Glaubt Seto wirklich das ihm Joey mit fliegenden Fahnen in die Arme fällt?
Das ist eher unwahrscheinlich, nach dem er vorher Monate lang verschwunden war.
Joey hat seine Gründe, die auch Nachvollziehbar sind, deshalb wird sich Joey bedenkzeit erbitten.
Diese wird er brauchen, um das für und wieder abzuwägen. Was für seinen Carakter richtig wäre.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Evi1990
18.03.2021 12:23
Da bist du schon auf der richtigen Spur ;)
Von:  empress_sissi
2021-03-17T23:06:08+00:00 18.03.2021 00:06
Ein erster Schritt zum Happy End, wie ich hoffe (heißt jetzt nicht, dass ich mir nicht noch viele weitere Schritte/Kapitel wünsche 😉). Was Joey wohl sagen wird?
Antwort von:  Evi1990
18.03.2021 00:11
Tjaaaaaa... Was glaubst du, wie er reagieren wird? 😏
Antwort von:  empress_sissi
19.03.2021 00:48
Naja, wer wünscht sich nicht ein freudiges Ja, aber bei so ner plötzlichen Frage und der ganzen Vorgeschichte... Hm so einfach wirds wahrscheinlich nicht. Aber ich bin ne hoffnungsvolle Romantikerin 😜❤️
Antwort von:  Evi1990
19.03.2021 10:30
Hihihi 🤭 meine Lippen bleiben versiegelt 🤐 bis nächste Woche ❤️
Von:  KayaPaws
2021-03-17T19:25:21+00:00 17.03.2021 20:25
Holy shit was für eine 180 Grad Wende xD und wehe du sagst nicht ja, du Trottel! *Faust gen Joey schüttel*
Antwort von:  Evi1990
17.03.2021 20:28
Hihihi es sollte auch ein bisschen ein Überraschungseffekt werden ;D ob Seto sich da ein bisschen zu weit vorgewagt hat? ;)


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