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Rescue me

When a dragon saves a puppy - Seto x Joey
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Musikinspiration für dieses Kapitel:

All The Things You Are - Tony Bennett, Bill Charlap

Spotify: https://open.spotify.com/track/7dW9KIZvcQJnjQb3vy5Q6i?si=HSO7u2v0TkSJeS5hZaV5ZQ
YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=bLF1VMYuBi8

Time and again I longed for adventure,
Something to make my heart beat the faster.
What did I long for? I never really knew.
Finding your love I found my adventure,
Touching your hand, my heart beats the faster,
All that I want in all of this world is you.
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Rescue me... from graduation

Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen, schon allein deshalb, weil Joey deutlich mehr gearbeitet hatte als normalerweise. Wie üblich ging er seinem Job im Café nach, war aber zeitgleich auch öfter im Waisenhaus tätig gewesen. Mrs. Nakamura war sofort Feuer und Flamme für die Idee gewesen, weil sie, ähnlich wie schon Seto, begeistert davon gewesen war, wie schnell Joey es geschafft hatte, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Sie hatte erklärt, dass selbst neue Mitarbeiter, die schon sehr viel Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mitbrachten, lange nicht so schnell einen Draht zu ihnen fanden.

 

Es war komisch, weil Joey gar nicht so richtig verstand, wieso es bei ihm einfach auf Anhieb geklappt hatte. Das Wort ‚Naturtalent‘, das sowohl Seto als auch die Waisenhausleiterin nutzten, um diesen Zustand zu beschreiben, klang in Joeys Ohren irgendwie überheblich. Es passte auf irgendeine Weise einfach nicht so richtig zu ihm, auch wenn es vermutlich das Wort war, das es noch am treffendsten beschreiben konnte. Aber am Ende war das ‚Warum‘ ja auch gar nicht von Relevanz – wichtig war, dass es überhaupt so war, machte es ihm doch nicht nur die Arbeit leichter, sondern auch deutlich angenehmer. Und dass er sehr viel Spaß daran hatte, das konnte er schon nach seinem ersten Tag dort nicht mehr leugnen.

 

Er erinnerte sich, dass er vor seinem ersten ‚Probetag‘ mehr als aufgeregt gewesen war, weil er nicht so richtig gewusst hatte, was ihn erwarten würde. Wie immer, wenn die Nervosität drohte, überhandzunehmen, konnte Joey darauf zählen, dass Seto ihn in den Arm nehmen und ihn beruhigen würde, und es verfehlte auch in diesem speziellen Fall seine Wirkung nicht. Und kaum hatten sich die Türen des Waisenhauses geöffnet, wurde er so herzlich begrüßt, von Mrs. Nakamura, anderen Mitarbeitern, aber auch Kindern, die er schon bei seinem ersten Besuch kennengelernt hatte, dass sofort alle Anspannung wie weggeblasen war. Er konnte es gar nicht verhindern, er fühlte sich sofort wohl.

 

In den Wochen danach erhielt er Einblicke hinter die Kulissen des Waisenhauses, die er so bei ihrem ersten, kurzen Besuch noch nicht bekommen hatte. Er hatte vorher gar nicht groß darüber nachgedacht, aber ein solches Waisenhaus zu führen, bedeutete unheimlich viel Arbeit. Es waren ja nicht nur die Kinder, die beschäftigt und beaufsichtigt werden wollten, es gab außerdem noch unzählige administrative Aufgaben zu lösen. Dazu zählten, nebst vielen anderen Dingen, die Essenszusammenstellung und auch -bestellung, Beschaffung von Kleidung und das Ersetzen von Möbeln, wenn zum Beispiel mal wieder ein Bett durchgebrochen war, wenn ein Kind zu stürmisch darauf gespielt hatte – und das passierte wirklich öfter, als man als Außenstehender vermuten mochte. Außerdem musste der Garten instand gehalten werden, und auch wenn es für die meisten Tätigkeiten natürlich einen entsprechenden Gärtner gab, so musste man immer einen Blick darauf haben und die Prioritäten festlegen.

 

Und dann war da natürlich auch noch das Thema Budgetierung und Finanzierung. Während seiner Zeit dort, gab Mrs. Nakamura Joey wirklich einen kompletten Überblick über alle Abläufe und Tätigkeiten im Waisenhaus, auch wenn klar war, dass Joey nicht in jedem Bereich gleichermaßen arbeiten würde, sollte er sich für die Arbeit dort entscheiden. Das wäre auch für einen einzelnen Menschen schwer zu leisten. Dennoch gewährte sie ihm selbst Einblicke in solch sensible Bereiche. Das war auch der Zeitpunkt, an dem er erfahren hatte, wie viel Seto eigentlich zur Finanzierung beitrug und wie sein Geld ausgegeben wurde.

 

Joey hatte nicht vergessen, wie unheimlich überrascht und erstaunt er gewesen war, als er die Summe gesehen hatte. Im Vergleich zu allen anderen Spendern war Seto definitiv der großzügigste von allen, das war unschwer zu erkennen gewesen. Aber selbst ohne den Vergleich anzustellen, war der Geldbetrag, den er auf dem Bildschirm sehen konnte, allein für sich schon nicht unerheblich. Er hatte ja schon gewusst, wie wichtig dieses Waisenhaus für Seto war, aus offensichtlichen Gründen, aber das setzte dem Ganzen noch mal die Krone auf.

 

Aber trotz all der Arbeiten, die im Hintergrund abliefen – die meiste Zeit verbrachte Joey dennoch mit den Kindern. Er musste feststellen, dass das auch der Teil war, der ihm am meisten Spaß und Freude bereitete. Es erwärmte jedes Mal sein Herz, wenn eines von ihnen lachte, oder wenn Joey es schaffte, eines zu trösten, wenn es hingefallen oder aus ihm zunächst unerfindlichen Gründen traurig gewesen war. Trotz der Tatsache, wie viele Kinder das Waisenhaus beherbergte, konnte Joey doch eine Verbindung zu jedem Einzelnen aufbauen, wenn auch nicht immer gleichermaßen tief. Er erfuhr mehr über die Hintergründe, warum sie überhaupt ins Waisenhaus gekommen waren, und sie hätten diverser nicht sein können. Auch bei Alter, Bildung und Herkunft gab es erhebliche Unterschiede, aber gerade das machte es für Joey nur noch spannender.

 

Ein Kind im Speziellen war Joey besonders ins Auge gestochen. Es war ein Mädchen, etwa zwölf Jahre alt, und sie war immer allein. Sie war so ziemlich die Einzige, die Joey immer abgeblockt hatte und auch sonst nichts und niemanden an sich ranließ. Sie hatte ihm zur Begrüßung nicht mal ihren Namen genannt, ihn nur mit zu Schlitzen geformten Augen grimmig angestarrt. Mrs. Nakamura war auch keine große Hilfe gewesen – sie hatte ihm eröffnet, dass das Mädchen noch nicht ein Wort gesagt hatte, seit sie vor etwa einem halben Jahr allein ins Waisenhaus gekommen war. Über sie war nichts weiter bekannt, sie war einfach wie aus dem Nichts aufgetaucht, und auf die Frage, ob sie noch Eltern oder andere Verwandte hätte, hatte sie nur den Kopf geschüttelt. Mehr war aus ihr bisher nicht rauszukriegen gewesen.

 

Und vielleicht war es auch genau das, was Joey so sehr an ihr faszinierte. Er wollte unbedingt mehr über sie erfahren, aber an ihr hatten sich schon sämtliche andere Mitarbeiter die Zähne ausgebissen. Dennoch konnte Joey nicht anders als sich der Herausforderung anzunehmen – möglicherweise genau deshalb, weil sie so unlösbar schien.

 

Zunächst hatte er einfach versucht, mit ihr zu reden, aber sie wirkte immer desinteressiert und schien auch gar nicht richtig zuzuhören. Wenn er sie ein Buch lesen sah, recherchierte er dessen Inhalt, um das nächste Mal mit ihr darüber zu sprechen, und immer, wenn er einen Versuch in diese Richtung unternahm, schmiss sie es in die Ecke und holte sich ein neues hervor, unabhängig davon, ob sie es schon zu Ende gelesen hatte. Er hatte ihr sogar mal eines mitgebracht, von einem Autor, den sie offensichtlich gern mochte, weil sie schon einige Bücher von ihm in der Hand gehalten hatte, aber sie hatte das Geschenk nicht angenommen und war stattdessen weggerannt, hatte Joey sehr verwirrt zurückgelassen.

 

Er war aus ihr einfach nicht schlau geworden. Selbst die anderen Angestellten hatten ihm schon geraten, es einfach zu lassen, sie einfach in Ruhe zu lassen, wenn es offensichtlich das war, was sie wollte, aber Joey beschlich das Gefühl, dass das eigentlich gar nicht der Fall war. Dass sie den Kontakt wollte, ja, brauchte, aber es einfach nicht zulassen konnte. Niemand wusste, was ihr passiert war, weil sie sich bisher niemandem anvertraut hatte, und Joey hatte nicht eingesehen, aufzugeben. Also hatte er es weiter versucht, immer und immer wieder. Hatte probiert, irgendwie zu ihr durchzudringen, indem er mit ihr Spiele spielte oder sie zu überreden versuchte, einen Film mit ihm zu schauen.

 

Bis er irgendwann feststellen musste, dass es zwecklos war. Es hatte ziemlich aussichtslos ausgesehen, weil er wirklich alles ausprobiert hatte, was ihm in den Sinn gekommen war. Vielleicht war er gerade deswegen gescheitert? Hatte er sich ihr vielleicht doch zu stark aufgedrängt?

 

Kurz bevor seine Probearbeit dort enden sollte, hatte er sie erneut beobachtet, wie sie sich in einer Ecke des großen Gemeinschaftsraums verkrochen und ihr Buch gelesen hatte. Joey hatte in einiger Entfernung gestanden, aber dennoch hatte er bemerken können, wie unwahrscheinlich fasziniert sie von dessen Inhalt gewesen sein musste. Mit glänzenden Augen hatte sie die Wörter förmlich in sich aufgesaugt und hatte die Seiten gar nicht schnell genug umblättern können. Ihre Wangen waren rosig gewesen und zum wiederholten Male hatte sich Joey gewünscht, verstehen zu können, was in ihr vorging. Aber er hatte gewusst, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und es war nicht anzunehmen gewesen, dass sie sich in der Kürze der Zeit noch annähern würden.

 

Mit einem Seufzen hatte er sich von der Wand, an der er gestanden hatte, abgestoßen und war zu ihr rüber gegangen. Sie schien ihn bemerkt zu haben, weil ihre Augen für einen winzigen Augenblick von den Zeilen des Buches zu ihm hinauf gegangen waren, doch schon im nächsten Moment hatte sie den Blick wieder abgewendet. Joey hatte zu dem Zeitpunkt längst eingesehen, dass er sich vermutlich geirrt hatte. Alles hatte gegen seine Theorie gesprochen, dass sie selbst auch Kontakt zu anderen Menschen wollte. Vielleicht war es einfach sein eigenes Wunschdenken gewesen, das er auf sie projiziert hatte. Was auch immer der Grund dafür gewesen war, dass sie nicht kommunizieren wollte, er hatte es am Ende akzeptiert und respektiert.

 

Und als er dann da so neben ihr gesessen hatte, hatte ihn plötzlich der Wunsch überkommen, ihr dennoch ein paar letzte Worte mit auf den Weg zu geben, für den Fall, dass er sich für die Arbeit im Café und gegen die im Waisenhaus entscheiden würde. Also hatte er zu ihr gesagt: „Hey, keine Sorge, ich werde nicht wieder versuchen, dich dazu zu bringen, irgendwas mit mir zu machen. Es ist okay, wenn du das nicht willst, wirklich. Jeder Mensch ist eben anders, und ich bin ganz sicher, du hast deine eigenen Gründe, warum du nicht mit mir reden magst. Weißt du, ich habe in meinem Leben auch schon ziemlich viel durchmachen müssen. Mein Dad war... sagen wir einfach, er war nicht wirklich nett zu mir. Und es hat ziemlich lange gedauert, bis ich es geschafft habe, darüber hinwegzukommen. Aber dann habe ich einen Menschen getroffen, durch den ich genau das gepackt habe, obwohl ich immer gedacht habe, ich würde es niemals überwinden können. Was ich damit sagen will, ist, dass ich verstehen kann, wenn man niemanden an sich ranlassen will. Ich habe genau dasselbe getan, sehr, sehr lange sogar, und auch wenn ich deine genauen Beweggründe nicht kenne, so kann ich dich doch gut verstehen.“

 

Aus dem Augenwinkel hatte er sehen können, dass sie ihn von der Seite aus gemustert hatte, aber noch immer hatte sie kein Wort gesagt. Joey hatte gewusst, dass er das nicht mehr würde ändern können, und das war absolut okay gewesen. Also hatte er ihr noch mal ein freundliches Lächeln geschenkt und war dann wieder abgezogen, hatte sie wieder ihrem Buch überlassen.

 

Wenige Tage später war der Tag gekommen, der das Ende seiner Probearbeit markiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich noch nicht entschieden, welchen Job er annehmen wollen würde. Die Bezahlung war in etwa gleich, auch die anderen Rahmenbedingungen unterschieden sich größtenteils nicht. Es war also mehr eine Entscheidung darüber gewesen, wofür sein Herz ein kleines bisschen mehr schlug.

 

Zum Abschied hatte er noch einige Worte an die Kinder gerichtet, die sich im Gemeinschaftsraum versammelt hatten. Es war ihm etwas schwergefallen, weil er eben noch nicht gewusst hatte, ob er wiederkommen würde, und ihm waren alle Kinder ans Herz gewachsen. Und dass er zu diesem einen, speziellen Mädchen nicht durchgedrungen war, ja, das hatte ihn auch ein bisschen gewurmt, aber es war eben so, und es hatte auch nichts mehr gegeben, was er nicht versucht hatte.

 

Und gerade, als er sich verbeugt hatte, um sich höflich zu verabschieden, ertönte plötzlich eine Stimme: „Kommst du wieder?“

 

Joey hatte in den vergangenen Wochen wirklich mit jedem Kind gesprochen, aber als er diese Stimme gehört hatte, da hatte er sie nicht zuordnen können. Und als dann klar geworden war, wem diese Stimme gehörte, da wurde auch deutlich, warum – denn es war die des Mädchens, das er nicht ein Mal hatte sprechen hören.

 

In dem Moment schien er nicht der Einzige im Raum gewesen zu sein, der überrascht darüber war. Daher hatte er zunächst überhaupt nichts sagen können, hatte nur beobachten können, wie sie ein paar Schritte aus der Masse herausgetreten war und ihn mit selbstbewusstem, ja, fast forderndem Blick angestiert hatte. Doch dann war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen – es war eindeutig ein Zeichen von Vertrauen gewesen. Joey konnte nur vermuten, woran das lag, aber er glaubte, es hatte wohl etwas damit zu tun, was er zuletzt zu ihr gesagt hatte. Womöglich hatte er tatsächlich den Kern der Sache getroffen mit dem, was er gesagt und von sich selbst offenbart hatte. Was auch immer es gewesen war, es hatte ihn in diesem Augenblick mehr als glücklich gemacht.

 

Ein Lächeln hatte sich anschließend auf seine Lippen gelegt, ehe er geantwortet hatte: „Möchtest du denn, dass ich wiederkomme?“

 

Sie hatte nichts mehr gesagt, aber ihr heftiges Nicken hatte eine eindeutige Sprache gesprochen. Joeys Lächeln hatte sich noch ein wenig verstärkt und er hatte ihr kaum merklich zugenickt. Damit war seine Entscheidung mehr als klar gewesen – noch am selben Tag hatte er seinen Arbeitsvertrag im Waisenhaus unterschrieben.

 

Als er das seinem Chef im Café offenbart hatte, war der zwar ein wenig traurig darüber gewesen, konnte Joeys Entscheidung aber auch nachvollziehen. Bis zum Abschlussball würde Joey auch noch im Café arbeiten, bevor er dann in Vollzeit im Waisenhaus anfangen würde, sodass es kein sofortiger Abschied gewesen war. Und doch konnte der Blonde genau spüren, dass er den richtigen Entschluss gefasst hatte. 

 

Ja, er hatte seine Arbeit im Café immer gemocht, und er wäre auch heute vermutlich noch unheimlich glücklich, dort zu arbeiten. Aber die Arbeit mit den Kindern im Waisenhaus gab ihm noch etwas mehr, so als wäre es vorherbestimmt. Vielleicht war er ja wirklich das Naturtalent, das sie immer alle aus ihm machen wollten. Und auch wenn er mit der Wortwahl noch immer nicht ganz einverstanden war, so steckte möglicherweise doch ein Körnchen Wahrheit drin.

 

Und nun war der Tag ihres Schulabschlusses gekommen. Dass Joey hier heute überhaupt sitzen durfte, war Seto zu verdanken. Um noch präziser zu sein: ausschließlich ihm. Weil er ohne ihn die Abschlussprüfungen garantiert vergeigt hätte. Joey war ja schon immer die Faulheit in Person gewesen, aber wenn es auf wichtige Prüfungen zuging, wurde es immer noch einen Ticken schlimmer. Er war vielleicht nicht der allerdümmste Mensch auf diesem Planeten, auch wenn er das oft von sich selbst glaubte – und auch Seto war ja vor nicht mal einem Jahr noch an derselben Front gewesen. Allerdings hatte er überhaupt kein Interesse am Lernen von Dingen, für die er sich absolut nicht begeistern konnte, und konnte sich deshalb nie wirklich dazu durchringen. Und selbst, wenn er sich ernsthaft angestrengt hätte – sein Intelligenzlevel reichte bei weitem nicht an das von Yugi geschweige denn an das von Seto ran. Ganz so größenwahnsinnig war Joey dann doch nicht.

 

Als Seto gemerkt hatte, wie sich Joey vehement gegen das Lernen gesträubt hatte, da hatte er alle Register gezogen, und als der Blonde sich nun daran zurückerinnerte, konnte er ein grummeliges Knurren nicht unterdrücken.

 

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„Das... das kann nicht dein Ernst sein, Seto.“ Joey sah seinen Drachen mit weit geöffneten Augen und vor Schock aufgeklapptem Mund an. Er konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Konnte Seto wirklich so grausam sein?

 

Lässig zog sich Seto sein Hemd an, während Joey noch immer völlig entsetzt am Eingang ihres Ankleidezimmers stand. Während der Braunhaarige die Knöpfe seines Hemdes mit geschickten Handgriffen durch die entsprechenden Löcher drückte, drehte er sich zu Joey um und sagte: „Doch Joey, mein voller Ernst. Und wenn du durchfällst, kannst du noch härtere Konsequenzen erwarten.“

 

Joeys Gemütszustand schwankte zwischen absoluter Fassungslosigkeit und Trauer über die Erwartung darüber, wie seine nächsten Wochen aussehen würden. Seine Augen füllten sich mit Tränen, dann fragte er Seto schluchzend: „Liebst du mich etwa nicht mehr?“

 

Doch der Angesprochene lachte nur leicht auf, während er sich eine Hose überzog und den Reißverschluss zuzog. Ein Mundwinkel leicht nach oben gezogen, kam er auf Joey zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt, Joey. Und genau deshalb mache ich das ja auch. Es ist nur zu deinem Besten.“ Dann küsste er ihn auf die Schläfe und verschwand aus dem Ankleidezimmer, um seine Schulsachen zu packen, bevor sie sich zum Frühstück aufmachen würden.

 

Und während Joeys Gesicht langsam von Tränen benässt wurde, da realisierte er, was Seto ihm gerade offenbart hatte: Kein Sex, bis sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatten. Er wollte sich auch überhaupt nicht ausmalen, was Seto wohl mit ‚härtere Konsequenzen‘ meinte, auch wenn er so eine leichte Vorahnung hatte. Wenn er das Schuljahr wiederholen müsste, weil er die Abschlussprüfungen nicht schaffte, dann müsste er wohl noch länger...

 

Nein, einfach nein. Das war keine Option. Er wusste zwar nicht, wie Seto es schaffte, bei seinem ‚Vorschlag‘ so beherrscht zu klingen, aber Joey war sich absolut sicher, dass er es tatsächlich ernst meinte. Und wenn ein Kaiba sich erst mal was in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte ihn so schnell nichts und niemand davon abbringen. Es war klar, was jetzt zu tun war.

 

Mit zu Fäusten geballten Händen drehte er sich um und ging zu Seto ins Wohnzimmer, der noch immer dabei war, seine Schultasche zu packen. Mit entschlossenem Blick und vielleicht – möglicherweise – leicht zu piepsiger Stimme, rief Joey: „Gut, aber du lernst mit mir! Ich schaffe diese dämlichen Prüfungen! Und dann... und dann...!“

 

Seto stemmte die Hand in die Hüfte und grinste ihn arrogant an. „Braves Hündchen.“

 

~~~~

 

Und Joey hatte gelernt. Verdammt noch mal, und wie er das hatte. Vermutlich mehr, als er jemals in Grund-, Mittel- und Oberschule zusammen gelernt hatte, aber er konnte die längerfristigen Konsequenzen, die es mit sich bringen würde, wenn er die Prüfungen nicht bestanden hätte, nicht riskieren. Joey hatte es natürlich zwischendurch immer mal wieder probiert, Seto zu verführen, aber keine Chance. Er blieb so standhaft wie der Eiffelturm, während Joeys Frustration ins Unermessliche wuchs.

 

Aber er hatte es tatsächlich gepackt. Zwar war er bei einer Prüfung nur haarscharf daran vorbeigeschlittert, durchzurasseln, aber bestanden war bestanden, oder? Seto hatte ja keine Vorgaben gemacht, welche Noten er erreichen müsste. Gott sei Dank, denn das wäre sicherlich noch eine viel größere, wenn nicht sogar unmögliche Herausforderung für Joey geworden.

 

Joey atmete noch ein Mal tief durch, dann nahm er seinen Platz ein. Es war ein wunderschöner, sonniger Sommertag im Juni. Ein leichter Wind wehte ihm um die Nase und er hatte einen leichten Geruch von frisch gebackenen Waffeln in der Nase. Vermutlich hatte einer der unteren Jahrgänge einen Stand aufgebaut, wo sie diese verkauften. Klassische Einnahmenquelle für Abschlussfeiern oder Schulausflüge, und Joey wäre vermutlich der Erste, der sich ein Dutzend davon bestellen würde. Aber erst mal müssten sie diese Zeremonie hinter sich bringen.

 

Sie saßen in einer der hintersten Reihen, Seto links von ihm direkt am Gang und rechts von ihm seine Freunde. Vor ihnen waren noch etliche weitere Stuhlreihen für die Schüler aufgestellt worden, die Lehrer der Abschlussklassen saßen ganz vorn. Joey wurde heiß unter seinem langen, schwarzen Talar, und die Quaste an seinem viereckigen Abschlusshut fiel ihm aufgrund des seichten Windes ständig ins Gesicht. Als ihm das zum abermillionsten Male passierte, lachte Seto neben ihm auf, griff sich die Quaste und legte sie wieder in die richtige Position, sodass sie nun wieder korrekt links neben Joeys Kopf hing. Fragte sich nur, wie lange das dieses Mal halten würde. Nachdem Seto diese kleine, sich selbst auferlegte Aufgabe erledigt hatte, ließ er seine Hand über Joeys Wange gleiten und sah ihm verträumt in die Augen. Joey blickte ihn nun auch an. Setos Augen wurden leicht von der Sonne angestrahlt und leuchteten wie funkelnde Saphire. Der Wind wehte die Strähnen, die ihm in die Stirn hingen, leicht in alle Richtungen, was ihn irgendwie jünger wirken ließ. Nicht unbedingt kindlich, nur... sanfter. Joey drückte sich der Berührung an seiner Wange entgegen und schloss für einen flüchtigen Moment die Augen, während er spürte, wie sich seine Mundwinkel ein wenig in die Höhe bewegten und er glücklich aufseufzte. Als Seto die Hand wieder von seiner Wange nahm, öffnete Joey erneut die Augen. Er vermisste sofort das Gefühl von ihm an seiner Haut, also griff er nach seiner Hand und umschloss sie mit seiner, streichelte mit seinen Fingern leicht darüber. Seto verschränkte ihre Finger, und genau in diesem Augenblick nahmen sie Stimmen von der Bühne wahr, die für die Redner und die Zeremonie aufgebaut worden war, sodass sie ihre Blicke nun nach vorne wandten, sich aber nicht voneinander lösten.

 

Zunächst würde die Jahrgangssprecherin ein paar Worte an die Schüler richten, und er konnte beobachten, wie sie sich in Stellung brachte, während der Schuldirektor sie ankündigte. Nach einem kurzen Applaus, den Joey und Seto ausließen, weil keiner von beiden die Berührung ihrer Hände lösen wollte, trat sie an das Mikrofon und räusperte sich. Sie legte ihren Notizzettel auf das Rednerpult, richtete sich gerade auf und begann dann mit ihrer Rede.

 

„Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, ich möchte eigentlich gar nicht so viele Worte verlieren, weil ihr ja heute sowieso schon mehr als genug Reden hören werdet.“ Kurzes Lachen aus dem Publikum, dann fuhr sie fort. „Aber eines möchte ich sagen: Danke. Danke für drei aufregende, wundervolle, zum Teil auch herausfordernde Jahre. Es war sicher nicht immer einfach, jeder von uns hatte seine eigenen Kämpfe auszutragen. Aber, und ich kann hier nur für mich sprechen: Für mich waren es auch drei Jahre, die ich gemeinsam mit Menschen verbracht habe, die entweder schon Freunde waren, seit der Grund- oder Mittelschule, oder die dazu geworden sind. Und ich kann mir gut vorstellen, dass auch ihr diese Menschen in eurem Leben habt, die ihr vor drei Jahren noch nicht einmal gekannt habt und die heute wie selbstverständlich ein Teil eures Lebens sind. Wohin auch immer die Winde uns tragen werden, ich wünsche mir, dass dieses starke Band der Freundschaft auch darüber hinaus Bestand haben wird. Denn es sind diese Menschen an unserer Seite, die diese drei Jahre zu etwas ganz Besonderem gemacht haben.“

 

Joey spürte, wie Seto den Händedruck verstärkte, und er konnte wieder ganz deutlich die Schmetterlinge in seinem Bauch fühlen. Sie hatte ziemlich recht mit dem, was sie sagte. Er hatte es vorher gar nicht so richtig gesehen, oder nicht sehen wollen, aber wenn er nun in sich reinhorchte, da wusste er, dass er eigentlich immer ganz gern zur Schule gegangen war. Weil er dort seine Freunde treffen konnte, und vor allem Yugi, Tristan und Téa waren ihm in den letzten Jahren eine besondere Stütze gewesen, auch wenn er viele seiner Geheimnisse lange vor ihnen verborgen gehalten hatte. Aber sie haben ihm dennoch Kraft gegeben, zumindest für eine ziemlich lange Zeit. Er blickte kurz zu ihnen rüber und konnte erkennen, dass sie sich nun alle gegenseitig anschauten und wohl gerade exakt dieselben Gedanken hatten. Er war froh, dass sie alle in der Gegend bleiben würden, auch wenn Yugi durch die Turniere viel unterwegs und Téa an der Uni sehr beschäftigt sein würden, aber so schnell konnte ihre Freundschaft eh nichts erschüttern. Nicht nach dem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten.

 

Dann blickte er nach links und registrierte, wie Seto ihn ebenfalls mit seinen Augen fixierte, sein Blick sanft und warm. Ja, seine Freunde bedeuteten ihm alles, aber Seto war noch viel mehr für ihn. Er hatte ihn gerettet, immer und immer wieder, und Joey wusste, er würde ihn niemals fallen lassen. Und er war sich ganz sicher, dass auch ihr Band niemals durchtrennt werden könnte. Dafür würde er alles tun.

 

Er wurde jäh in seinen Gedanken unterbrochen, als die Jahrgangssprecherin ihre Rede fortsetzte. „Ich möchte uns allen dazu gratulieren, dass wir hier heute sein dürfen. Seinen Schulabschluss macht man nur ein Mal im Leben, dieser Tag wird einer der bedeutsamsten in unserem Leben sein und wir werden hoffentlich alle noch sehr lange positiv darauf zurückblicken können. Dieser Tag ebnet den Weg in unsere Zukunft. Bisher sah dieser Weg für uns alle wohl ziemlich ähnlich aus. Grundschule, Mittelschule, Oberschule. Von nun an wird jeder seinen eigenen Weg gehen, seine eigenen Interessen verfolgen. Aber egal, was auch passieren wird – wir sind diesen Weg gemeinsam gegangen, und das wird uns auf ewig verbinden. Ich wünsche euch allen viel Erfolg für die Zukunft, was auch immer sie für euch bereit halten mag.“

 

Mit diesen Worten verbeugte sie sich höflich und verließ unter tosendem Applaus die Bühne, um wieder ihren Platz in einer der vorderen Reihen einzunehmen. Joey ließ die Rede kurz gedanklich Revue passieren und musste anerkennend feststellen, dass sie tatsächlich richtig gut gewesen war. Von nun an würde er seinen eigenen Weg gehen, mit einer Arbeit, die ihm einen echten Sinn bieten konnte, und zeitgleich wusste er genau, dass die Verbindung zu seinen Freunden und nicht zuletzt zu Seto immer bestehen würde. Obwohl er dennoch einsehen musste, dass er die gemeinsamen Gespräche in der Kantine vermissen würde, die insbesondere, seit Seto Teil ihres ‚Stammtisches‘ war, sein Highlight im Schulalltag gewesen waren. Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen – na ja, dann würden sie eben einen anderen, regelmäßigen, wenngleich auch nicht täglichen, Treffpunkt finden, und noch hatten sie ja auch den Abschlussball vor sich, bei dem sie die letzten drei Jahre gemeinsam gebührend würden feiern können.

 

In diesem Augenblick trat der Schuldirektor ans Mikrofon. „Vielen Dank für diese wunderbare Rede. Bevor wir nun zur Ausgabe all Ihrer Zeugnisse kommen, möchten wir zunächst den Jahrgangsbesten ehren und ihm ebenfalls die Chance geben, ein paar Worte zu sagen. Daher möchten wir Sie nun auf die Bühne bitten, Mr. Kaiba.“

 

Joey drückte Setos Hand noch mal fest und lächelte ihn strahlend an. Er hatte schon gewusst, dass er ausgezeichnet werden würde, und Seto hatte ja auch eine Rede vorbereitet, wobei er diese im Gegensatz zur Jahrgangssprecherin nicht aufgeschrieben hatte. Natürlich nicht, er war ja schließlich Seto Kaiba, der die Oberschule nicht nur mit Bestnoten abschloss, sondern auch sonst so ziemlich alles spielend leicht schaffte – wie zum Beispiel freizusprechen. Joey bewunderte ihn sehr dafür und war gespannt darauf, was für eine Rede er vorbereitet hatte.

 

Nur für eine ganz kleine Millisekunde erwiderte Seto das Lächeln, jemand anders als Joey wird das kaum wahrgenommen haben. Dann machte er sich auf den Weg in Richtung Bühne, während Joeys Blick den gesamten Weg dorthin an seinem Rücken klebte.

 

Joey sah, wie Seto sein Zeugnis überreicht bekam und dem Schuldirektor die Hand schüttelte, bevor er ans Mikrofon trat. Er sah gefasst aus wie immer, völlig emotionslos, es war nicht mal ein winziges bisschen Nervosität an ihm zu erkennen. Gedanklich zuckte Joey mit den Schultern – vermutlich warf Seto einfach nichts so schnell aus der Bahn, und vor Menschen zu sprechen gehörte nun mal zu seinem Beruf. Wer, wenn nicht er, wäre dazu fähig, das mal so mir nichts, dir nichts zu meistern.

 

Als Seto zu sprechen begann, wurde die gesamte Luft von seiner Stimme erfüllt und Joey hielt für einen Moment den Atem an und bekam überall eine Gänsehaut.

 

„Vielen Dank an den Schuldirektor für diese Auszeichnung, und vielen Dank auch an meine Vorrednerin. Auch ich werde versuchen, mich kurzzufassen. Ich möchte mich unserer Jahrgangssprecherin anschließen – die drei Jahre in der Oberschule sind sicherlich ganz besondere Jahre, aus vielerlei Gründen. Allerdings möchte ich das noch ein wenig eingrenzen – denn aus meiner persönlichen Sicht ist es das letzte Jahr, das Abschlussjahr, das entscheidet, welchen Weg wir in Zukunft einschlagen werden.“

 

In dem Moment hob Seto den Kopf noch ein wenig mehr, und Joey konnte sehen, wie ihn zwei blaue Augen fixierten. Oh Gott. Ihm wurde sofort heiß und kalt und seine Wangen fingen an zu glühen. Die Art, wie er ihn anstarrte, war für jeden anderen nichts Außergewöhnliches. Vermutlich waren sie sich der Tatsache noch nicht einmal bewusst, dass Seto gerade nur ihn ansah. Aber Joey konnte es erkennen, ohne jeden Zweifel – dieser Blick, mit dem Seto ihn bedachte, war so... als wenn er ihn gleich auffressen würde, aber zeitgleich auch warm und liebevoll. Es waren so viele Emotionen, dass Joey seinem Blick fast nicht standhielt, ihn aber auch nicht abwenden konnte. Es war wie Hypnose, und während Seto das Pendel fest in seinen Händen hielt und langsam hin und her schwingen ließ, verfolgte Joey es rigoros mit seinen Augen, verlor sich im Strudel seiner nachfolgenden Worte.

 

Seto atmete ein Mal tief durch, dann setzte er seine Rede fort. „Wenn die ersten paar Monate des Abschlussjahres beginnen, dann fängt man an, sich zu fragen, was danach kommt. Man macht Pläne, wählt seine Kurse weise, für genau das, was man sich für seine Zukunft vorstellt. Man muss seine Zeit ein bisschen besser einteilen, um seine Ziele für das Abschlussjahr und alles, was danach folgt, zu erreichen. Es erfordert mehr Disziplin und Durchhaltevermögen, aber was immer mitschwingt, ist die Hoffnung, dass es sich am Ende alles auszahlt.“

 

Er stockte kurz – und konnte Joey da Setos Mundwinkel leicht zucken sehen?

 

„Was ich allerdings in meinem letzten Schuljahr herausfinden musste, ist, dass man so viel planen kann, wie man will – am Ende kommt doch alles anders, als man denkt.“ Joey fiel es schwer, Setos Blick nun zu deuten, und seine Worte sowieso. Er wusste nicht genau, ob er das jetzt positiv oder negativ meinte. Immerhin hing Seto sehr an seinen Plänen, und Joey konnte nur vage erahnen, wie sehr er sie wohl durcheinandergebracht hatte, wenn auch nicht freiwillig – zumindest nicht zu Beginn. Aber am Ende war es doch jetzt gut so, wie es war – oder sah Seto das etwa anders?

 

Und während Joey an seinen unsicheren Gedanken zu knabbern hatte und sich innerlich sehr über seine wiederkehrenden Selbstzweifel ärgerte, verfolgte er weiterhin gebannt die Bewegungen von Setos Lippen, als er weitersprach.

 

„Wird es das letzte Mal in unserem Leben sein, dass Pläne sich ändern? Ich denke nicht. Ist es verwunderlich, dass wir unsere Pläne aus diesem Jahr hinterfragen? Vermutlich auch das nicht, nein. Denn wenn wir ehrlich sind: Die meisten von uns waren noch nie in der Position, überhaupt Pläne für ihre Zukunft machen zu müssen. Wir sind dem vorgezeichneten Schulweg gefolgt, und nun, da wir am Ende dieses langen Pfades stehen, blicken wir in verschiedene Richtungen und müssen Entscheidungen treffen, wie wir sie vorher nicht treffen mussten. Vielleicht ist das für mich ganz persönlich ein bisschen einfacher, weil ich schon sehr früh angefangen habe, eine Firma zu führen und wichtige Entscheidungen zu fällen, aber auch ich habe die Erfahrung machen müssen, was für Auswirkungen Planänderungen haben können.“

 

Während Seto eine kurze Sprechpause einlegte, konnte Joey das Blut in seinen Ohren rauschen hören und sein Herzschlag beschleunigte sich noch ein wenig mehr. Er konnte nicht abwarten, die nächsten Sätze von Seto zu hören. Seine starke, tiefe Stimme zu hören, deren Wirkung durch das Mikrofon noch mal verstärkt wurde, war berauschend und er war süchtig nach jedem weiteren Wort, das über seine wunderschönen Lippen gleiten würde. Dass er ihn jetzt seit Wochen nicht wirklich hatte berühren dürfen, tat wohl gerade sein Übriges.

 

„Ich für meinen Teil habe in diesem letzten Schuljahr gelernt, dass Veränderungen auch etwas Positives sein können. Dass sie nichts sein müssen, wovor man sich fürchten muss. Denn genau diese Veränderungen haben mein Abschlussjahr zu einem Jahr gemacht, das ich niemals vergessen werde. Man denkt bei Veränderung ja oft an Instabilität, einem Bruch im Leben, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Zumindest war das bisher immer meine Sichtweise. Aber mir ganz persönlich haben die Veränderungen im letzten Jahr mehr Stabilität gegeben, als ich jemals geglaubt hätte, haben zu können.“

 

In diesem Moment wurde Setos Blick noch intensiver, und Joey wusste, dass seine nächsten Worte einzig und allein an ihn gerichtet waren. „Und dafür bin ich verdammt dankbar.“

 

Joey spürte eine warme Flüssigkeit über seine Wangen fließen, und als er seine Hände halb abwesend über sie gleiten ließ, da stellte er fest, dass es seine eigenen Tränen waren. Setos Blick sprach Bände. Dieser, gepaart mit seinen letzten Worten, war seine Art ‚Ich liebe dich‘ zu sagen, ohne, dass er die Worte auch nur ansatzweise in den Mund genommen hätte. Und wie er sich verändert hatte, das konnte Joey jetzt auch in aller Deutlichkeit sehen. Hier vor die gesammelte Schülerschaft zu treten und zu sagen, er wäre für etwas dankbar, das nicht gerade seine Firma betraf, hätte er vor einem Jahr tatsächlich niemals gemacht. Aber dieses Abschlussjahr hatte so viel verändert – für sie beide. Und auch Joey konnte nicht anders, als zu glauben, dass diese Veränderungen ihm eine Beständigkeit gegeben haben, die es in seinem Leben vorher noch nie gegeben hatte.

 

Setos letzte Worte - wohl noch ein paar Danksagungen an die Lehrer, die Schulleitung und auch ein letztes Danke für die Auszeichnung als Jahrgangsbester – nahm Joey nur gedämpft und hinter tränenverschleiertem Blick wahr. Viel zu langsam kam Seto wieder zu ihm zurück und setzte sich auf seinen Platz, sodass Joey Mühe und Not hatte, nicht schon bei der Hälfte seiner Strecke aufzuspringen und ihm hektisch um den Hals zu fallen. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, und als Seto endlich wieder neben ihm saß, spürte er dessen Hände an seinen Wangen.

 

„Ich liebe dich“, das waren die einzigen Worte, die Joey abgehackt flüsternd und schluchzend rausbrachte, und niemand außerhalb ihres eigenen Kosmos hätte es hören können. Seto zögerte kurz, wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte, aber Joey konnte nicht warten. Ganz langsam überwand er die Distanz zwischen ihren Lippen und küsste seinen Drachen, und auch wenn sie das bisher in der Öffentlichkeit vermieden hatten, so konnte er sich einfach nicht zurückhalten. Und es fühlte sich irrsinnig gut an, und es war Joey jetzt auch egal, ob man sie dabei beobachten konnte oder nicht. Dass sie zusammen waren, war ja schon seit einiger Zeit kein Geheimnis mehr.

 

Im Anschluss wurden alle Schüler nacheinander aufgerufen und die Zeugnisse wurden überreicht. Als der Schulleiter Joey seines überreichte, da war er tatsächlich ein bisschen stolz auf sich. Hätte Seto ihn die letzten Wochen nicht so gepusht, hätte dieses Tag für ihn heute auch ganz anders aussehen können.

 

Als er wieder von der Bühne trat, hatte sich die Menge schon verteilt, kaum noch einer saß auf seinem Stuhl – logisch eigentlich, immerhin wurden die Schüler nach Alphabet aufgerufen, und da Joeys Nachname nun mal mit einem ‚W‘ begann, gehörte er zu den letzten Schülern, die ihr Zeugnis erhielten.

 

Seto wartete unter einem schattenspendenden Baum auf ihn, lässig dagegen gelehnt, und als er nur noch ein paar Meter entfernt war, streckte er die Arme nach Joey aus. Der Blonde legte seinen Abschlusshut für einen Moment ab, ließ sich von Seto in eine Umarmung ziehen und kuschelte sich an dessen Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte. Die Hände weiterhin auf seinen Hüften, schaute Joey ihn nun direkt an, und Setos Mund umspielte ein glückliches Lächeln.

 

Er streichelte Joey sanft durch die Haare, als er sagte: „Ich bin verdammt stolz auf dich, mein Hündchen.“ Joey musste kurz auflachen, ein wenig vor Verlegenheit, aber auch aus Belustigung. „Müsste ich nicht eher stolz auf dich sein? Immerhin bin ich es, der mit dem intelligentesten Menschen des Jahrgangs, wenn nicht sogar der ganzen Schule zusammen ist.“

 

Setos Mundwinkel bewegten sich noch etwas stärker nach oben, aber er unterbrach die Liebkosungen nicht. „Können wir nicht einfach beide stolz aufeinander sein?“ Joey nahm daraufhin eine von Setos Händen und verschränkte ihre Finger ineinander. „Aber warum solltest du stolz auf mich sein? Immerhin habe ich den Schulabschluss auch nur mit Ach und Krach geschafft, und sicherlich auch nur deshalb, weil du mich mehr oder weniger dazu getrieben hast. Während ich mit dem klügsten Menschen der Erde zusammen bin, bist du mit dem dümmsten zusammen.“

 

Joey hatte unbewusst seinen Kopf gesenkt, sodass sein Blick nun auf Setos Schuhen lag. Doch dann spürte er einen von Setos langen Fingern an seinem Kinn, die seinen Blick wieder anhoben, und als er dem Braunhaarigen wieder ins Gesicht sah, war das verliebte Lächeln noch da, und ein wenig beruhigte Joey das.

 

„Noten sind nicht alles, mein Hündchen. Und du hast den Abschluss immerhin geschafft, oder? Das können sicherlich nicht alle von sich behaupten.“ Er strich Joey sanft eine Strähne hinters Ohr, und sein hinreißendes Lächeln verstärkte sich noch etwas mehr, bevor er sagte: „Weißt du, was du hast, was so viele nicht haben?“

 

Zaghaft bewegte Joey den Kopf von links nach rechts, was Seto kurz auflachen ließ. Der Brünette kam ihm näher, so nah, dass sich ihre Nasenspitzen nun schon fast berührten. Dann erklärte er: „Emotionale Intelligenz. Mehr, als ich sie bei jedem anderen Menschen bisher entdecken konnte. Und damit bin auch ich mit dem intelligentesten Menschen auf dem Planeten zusammen.“

 

Für einige Sekunden fiel Joey das Atmen schwer, und schon wieder verschwamm seine Sicht vor seinen Augen. Ihr darauffolgender Kuss war so viel mehr als nur eine Berührung – es war die Vereinigung zweier Menschen, die wie füreinander geschaffen waren. Wie zwei perfekt ineinander passende Puzzleteile. Wie der Moment, in dem die Sonne sich mit der Nacht verband und den Himmel rosa-orange färbte. Wie Schokosauce auf Vanilleeis. Und auch, als sie sich zu seinen Freunden gesellten und Opa Muto fleißig Bilder von ihnen schoss, während sie ihre Abschlusshüte in die Luft feuerten, konnte er diese Liebe in jeder einzelnen Zelle, in allen Poren seines Körpers spüren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Rosarockabye
2021-04-27T10:51:53+00:00 27.04.2021 12:51
Ich kann den vorherigen Kommentaren nur zu stimmen sehr schön :D
Antwort von:  Evi1990
27.04.2021 13:25
Vielen lieben Dank 👉👈🥰
Von:  Ryosae
2021-02-05T17:00:39+00:00 05.02.2021 18:00
Ach Evi das war wieder soo schön! 🥰
Vielleicht solltest du deine Ff umbenennen in: "1000 ways to say 'I love you' without saying it" 😂

Freut mich total das Joey in del Waisenhaus anfängt, das ist einfach sein Ding. Man merkt bei dem besonderen Mädchen das er es drauf hat. Bestimmt wird er selbst das Waisenhaus irgendwann leiten 😉

Freu mich wie immer total auf nächste Woche!

LG
Ryo
Antwort von:  Evi1990
05.02.2021 21:15
Vielen lieben Dank, ich freue mich wie immer sehr, dass es dir gefallen hat 😍🥰🥰 bis nächste Woche 😊
Von:  empress_sissi
2021-02-03T18:28:33+00:00 03.02.2021 19:28
Ach, wie süß die beiden sind 🥰 und Seto hat ja so Recht, emotionale Intelligenz ist ebenso wichtig wie schulisches Wissen.
Antwort von:  Evi1990
03.02.2021 20:18
Genau! Bis nächste Woche ❤
Von:  KayaPaws
2021-02-03T16:17:53+00:00 03.02.2021 17:17
Aaah soviel Zucker <3 wunderschönes Kapitel mal wieder, ich freue mich schon auf nächsten Mittwoch ^_^
Antwort von:  Evi1990
03.02.2021 20:17
Danke dir ❤ bis nächsten Mittwoch 😊
Von:  Onlyknow3
2021-02-03T16:11:35+00:00 03.02.2021 17:11
Was für ein tolles Kapitel, es voll gepackt mit Gefühlen aller Art. Was Seto da am ende zu Joey sagt, ist sehr richtig.
Denn ohne Joey, wäre Seto noch immer der gleiche, das hat Joey durch sein dasein geändert.
Beide haben nun die Schule hinter sich, was kommt jetzt? Seto hat seine Firma, Joey wird im Waisenhaus arbeiten, vielleicht kann er da eine Ausbildung machen?
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Evi1990
03.02.2021 20:17
Vielen lieben Dank, und bis nächste Woche 🥰


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