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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Jakob

Natürlich war sein Vorgehen letztlich vorhersehbar gewesen. So wie ein Stück von Bach eben auch, wenn man dessen Harmonie kannte. Und da er, gemessen an seiner Kunst, um sie wusste, hätte er weiterspielen können, hatte es aber nicht getan und sie stattdessen um ein gemeinsames Abendessen gebeten. Freilich, weil ihm klar war, wie sehr sie sein Spiel mochte. Sie hatte es ihm ja schon so oft gesagt ... Kurzum, er hatte mit seiner Taktik Erfolg gehabt: sie saß vor ihm, blickte ihm in die Augen und dachte sogleich: Gut aussehend ist er wirklich nicht. Nicht im eigentlichen Sinn. Vielmehr wirkte er selbst wie ein Stück von Bach. Ton an Ton reihten sich aneinander und vereinten sich zu einer Melodie, die sie so leidenschaftlich gern hörte und immer wieder hören konnte. Töne waren nicht an sich hässlich oder wunderschön, sondern entfalteten ihre Wirkung erst im Verbund. Und da man der Harmonie folgend nun bestimmte Töne erwartete, empfand man auch eben jene, die diese Erwartung erfüllten, als gut, wunderschön, brillant, diejenigen hingegen, die querschlugen, die im Moment aus der Reihe zu tanzen schienen, galten den Ohren als Misstöne, gar nicht gut anzuhören. Sie rüttelten und kratzten an einem, man wollte sie loswerden, wollte weghören und vermochte es doch nicht. Und genauso verhielt es sich mit ihm, diesem Gottfried-Jakob Praetorius. Es gab da Dinge an ihm, die ihr nicht gefielen, so sein Blick, der bisweilen gesenkt war, dann jedoch wieder leicht verhangen wirkte, wenn er sie, plötzlich einsilbig geworden, betrachtete, ja beinahe musterte und sie dann nicht wusste, was sie tun sollte. Lächeln? Oder ebenso ernst dreinschauen wie er und seinem Blick ausweichen, und sich dabei einreden, dass er nur der Müdigkeit wegen so schaute und nicht, um sie in irgendeiner Weise herabzuwürdigen. Oder auch, aber das waren Äußerlichkeiten, sein so akkurater Scheitel, das spärliche Haar, das er wieder über seine angehende Glatze gekämmt hatte, seine Lippen, zu denen sich die Hautreizung, wohl ausgehend von Stirn und Wangen, ausgebreitet hatte. Und es grenzte wohl an Ironie, dass er ihr einen dringenden Dermatologenbesuch ans Herz legte, selbst jedoch ganz offensichtlich einen nötig hatte. Wahrscheinlich aber war er in Behandlung. Hinzukam seine leicht teigige Haut, die ihm einen durchaus kranken Eindruck verlieh. Die Ringe unter den Augen zeugten jedenfalls von Müdigkeit. Dann waren da seine Schläfen, die, durch ein dichtes Netz aus Narben überzogen, von einer Jugendakne zeugten. All das – und sie schämte sich dafür, ihn so chirurgisch genau zu betrachten. Auch barg sich neben seinem linken Nasenflügel eine Warze. Dennoch, mochten es Misstöne sein, im Gesamt besaßen sie ihren festen Platz in dieser Harmonie. Kurzum, das war er, Gottfried-Jakob Praetorius, der Mann, der es in wenigen Minuten vermocht hatte, sie aus einer trüben Stimmung, einer Leere gar, zu holen und sie lächeln ließ. Und wie gern sie das tat. Lächeln. Er, der sie nun wieder ansah, so ernst dagegen. Aber sie bemerkte einen zwar verhangenen, jedoch nicht weniger aufmerksamen Blick, der sie maß und musterte, ja, aber doch keineswegs so abwertend, sondern nun durchaus interessiert. Und so entschied sie sich eben für ein Lächeln. Er jedoch senkte just den Kopf und bot ihr dadurch den Blick auf seinen Scheitel und das spärliche Haar.
 

„Jakob“, hörte sie sich sagen, „sehen Sie mich an.“
 

Er reagierte nicht und sie fragte sich nun, da sich diese Szene schon einige Male an diesem Abend wiederholt hatte, warum er sich so verhielt, sobald sie sich auf seinen Blick einließ. War er schüchtern? Ja? Aber warum war er’s dann nicht schon auf der Fenne gewesen und auch nicht nach seinem Gastspiel im Festsaal des Hallighus’? Warum jetzt? So plötzlich? Lag es daran, dass sie sich nun gegenübersaßen. War es die plötzliche Nähe? Der Zwang zu kommunizieren, irgendetwas zu sagen, wenn möglich noch etwas Witziges?
 

„Jakob“, wiederholte sie, „schauen Sie mich an. Bitte.“
 

Und er tat’s, hob tatsächlich den Kopf, öffnete den Mund und gab dadurch die Reizung seiner Lippen nur umso mehr Preis.
 

„Sie finden mich hässlich, nicht wahr?“
 

Sie schwieg, zu sehr hatte sie dieser Satz getroffen.
 

„Abstoßend“, fuhr er fort.
 

„Nein, nein“, beeilte sie sich zu erwidern. „Sie irren sich …“
 

„Reden Sie nicht. Ich erkenne es doch an Ihrem Blick.“
 

„Was, mein Blick?“
 

„Wie Sie mich mustern“, entfuhr es ihm.
 

„Aber ich mustere Sie doch gar nicht, ich versuche nur …“ Sie unterbrach sich, griff nach dem Glas Wein, nahm einen Schluck und wollte sich sogleich an ihm verschlucken, denn sie hörte ihn sagen: „Lügen Sie nicht. Auch wenn man es mir nicht anmerkt, besitze ich die Gabe, Gesichtsausdrücke sehr gut deuten zu können.“
 

Sie schnappte nach Luft und stellte das Glas zurück. Der Wein brannte ihr in der Kehle.
 

„Jakob …“, murmelte sie dann, „ich habe Sie nur angesehen, weil ich ein Gespräch mit Ihnen beginnen wollte und ich unmöglich zu jemandem sprechen kann, der seinen Blick ständig gesenkt hält.“
 

Er schwieg.
 

„Ich möchte Ihnen in die Augen sehen, wenn ich mit Ihnen rede.“ Und da er noch immer schwieg, fügte sie hinzu: „Wäre ich Ihrer Einladung gefolgt, wenn ich Sie hässlich, gar abstoßend fände? Ja, hätte ich mich, draußen auf den Fennen, so sehr gehen lassen und nach ihrer Musik getanzt, wenn … wenn … Jakob …“ Sie unterbrach sich, weil sie spürte, dass sie sich zu ereifern begann. Dass sie ihn für ein wohlkomponiertes Bach’sches Stück hielt, konnte sie ihm jedoch unmöglich sagen. Das wäre ihm wohl seltsam erschienen, wenn nicht gar anstößig und vor allem zu dick aufgetragen. Da er den Blick wieder senkte, sagte sie: „Jakob, ich mag Sie“ und, um dem ganzen Nachdruck zu verleihen, fügte sie hinzu. „Sehr sogar.“
 

„So?“, kam’s da unverhofft von ihm und wieder sah er ihr in die Augen. „Sie mögen mich?“
 

Sie nickte.
 

„Auch so sehr, dass Sie mit mir schlafen würden?“



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