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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Kapitel ist etwas kürzer als die anderen (also eigentlich genau in meiner Seitenvorgabe, aber gut ;) ). Es bot sich allerdings an, am Ende einen Cut zu machen.

Kleine Trigger-Warnung: es wird über Selbstmord gesprochen Komplett anzeigen

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Vierzehn

Jean hatte zwar den Rest der Nacht nicht geschlafen, aber er war auf der Couch geblieben, unter Knox‘ Decke, die ihn nicht nur mit ihren Daunen gewärmt hatte. Sie roch durch und durch nach dem blonden Jungen: ein bunter Mix aus Sonne, Sonnencreme, Duschgel und Knox hatte. All das hatte Jean seine Alptraumbilder nach und nach vergessen lassen, die ihn in der Nacht so fest im Griff gehabt hatten, dass er für einen Moment geglaubt hatte, Riko vor sich zu sehen und nicht seinen Kapitän.
 

Der raue Stoff des Sofas hatte sich seltsam an seiner Wange angefühlt, während er mit dem Rücken zur Lehne die letzten, dunklen Stunden der Nacht wie auch die ersten, grauen des kommenden Morgens gedöst hatte, die Schlafgeräusche des anderen Jungen im Nebenzimmer.
 

Soviel also zu seinem Plan, dass er unten im Keller schlief. Soviel dazu, dass er seine Alpträume vor Knox verheimlichte.

Jean fragte sich schon, ob die Entführung aus Evermore und die Sonne Südkaliforniens seinen Überlebensinstinkt so gedämpft hatten, dass er so unvorsichtig wurde, sich in den ersten zwei Monaten bei einer solchen Respektlosigkeit und Schwäche erwischen zu lassen.
 

Noch vor einem Monat wäre er vor Angst nicht in der Lage gewesen, richtig zu atmen und zu denken. Er hätte sich zusammengekauert und auf eine Strafe gewartet, die in Evermore mit Sicherheit gekommen wäre. Und nun? Ja, auch jetzt hatte er Angst gehabt, doch diese hatte sich von Knox‘ Stimme und seinen Worten, vielmehr aber von dieser blöden, verfluchten Decke beruhigen lassen, die sein Kapitän ihm um die Schultern gelegt hatte.
 

Knox hatte ihn nicht nur nicht gestraft, er hatte ihn auch weder verspottet noch ausgelacht für sein Verhalten und im Nachhinein wunderte Jean das überhaupt nicht. So war er, der Kapitän der USC Trojans.
 

Wenn Knox wüsste, was er mit seinen Worten und seinem Handeln in ihm angerichtet hatte.
 

Jean zog sein Handy hervor und öffnete sein Nachrichtenprogramm. Wie immer waren die Gruppenchats der Foxes und der Trojans voller Abkürzungen, die er nicht verstand, die aber anscheinend zur allgemeinen Erheiterung beitrugen. Es war wieder ein Zeichen dafür, wieviel er über die Jahre verpasst hatte in Evermore.

Josten verstand sie ebensowenig, aber im Gegensatz zu dem rothaarigen Jungen machte Jean nicht durch seine gravierende Unkenntnis auf sich aufmerksam.

Lange musste er nicht scrollen, bis er auf Minyard stieß und ihren Chat öffnete. Jean schnaubte. Chat? Countdown. Seit seiner Ankunft hier in Los Angeles zählte der blonde Junge herunter, bis zum Ende ihres Deals, ohne dass Jean jemals darauf geantwortet hatte.
 

Nun aber schwebten seine Finger über der Tastatur und für einen Augenblick lang wollte Jean seine Gedanken nicht verschriftlichen. Er wollte weiterhin schweigen, bis der Tag null kam, ohne seine Gedanken jemals zu verdeutlichen, doch etwas in ihm wehrte sich dagegen, das er schwerlich beziffern konnte.

~Warum hast du dich nach dem Missbrauch nicht umgebracht?~, fragte er so direkt, wie sie auch in Abbys Haus miteinander gesprochen hatten, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Minyard beteiligte sich nur selten an den Chatexzessen seines Teams und wenn, dann waren die Nachrichten zynisch und geradezu unfreundlich.

Doch noch während er auf seine Frage starrte, sah er, dass Minyard diese nicht nur gelesen hatte, sondern auch tippte.

~Es hat keinen Unterschied gemacht.~

~Was?~

~Zu leben oder zu sterben.~

~Wie kann das keinen Unterschied machen?~

~Indem es egal ist.~
 

Jean rollte mit den Augen. Eigentlich hätte er keine andere Antwort erwarten sollen. Er schnaubte lautlos.

~Du hast dir die Arme aufgeschnitten~, schrieb er genauso schonungslos, wie sie jede ihrer Unterhaltungen geführt hatten. Keiner von ihnen nahm ein Blatt vor den Mund, wenn es um die Vergangenheit des jeweils anderen ging. Ein bitteres quid pro quo, mit dem sie beide anscheinend eine Basis gefunden hatten. Jean hatte sich schon bei Abby gefragt, wie es wohl gewesen wäre, wenn Minyard tatsächlich Rikos Angebot angenommen hätte, Torhüter der Ravens zu werden.

~Dabei ging es um Macht und Kontrolle.~

Jean verstand das, auch wenn er es nicht nachvollziehen konnte. Macht über andere und Macht über sich selbst war letzten Endes immer Macht.
 

~Ist dir jetzt immer noch egal, ob du lebst oder stirbst?~, fragte er und dachte an Josten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was die Beiden aneinander und an den Neurosen des Anderen fanden. Minyard hatte Riko für Josten den Arm zertrümmert. Er war immer an der Seite des rothaarigen Großmauls, sich wie ein Hütehund immer wieder versichernd, dass seine Herde bei ihm war.

~Planst du, mich umzubringen? Wenn ja, bist du nicht sonderlich gut darin~, wich Minyard einer Antwort aus und Jean schnaubte. Wie immer, wenn es um Josten ging. Es sei denn, man bedrohte den rothaarigen Jungen.

~Du schon~, erwiderte er und es war keine Frage, ganz und gar nicht.

~Es ist immer noch Selbstmord.~

Jean hielt inne. Technisch gesehen würde es das sein, schließlich hatte er sein Einverständnis gegeben.
 

~Wir haben einen Deal~, schrieb er zurück, wenngleich das mehr eine Erinnerung für ihn selbst war an das, was kommen würde. Minyards Antwort war entsprechend schlicht, auch wenn sein Teil des Handels das garantiert nicht war. Wie konnte der andere Junge Damit leben? Wie hatte er mit dem ersten Tod leben können? Jean runzelte die Stirn. In Abbys Haus hatte er auf die mörderische Ruchlosigkeit des Torhüters gezählt und hatte verloren. Zumindest augenscheinlich.
 

~Ja.~
 

Es brauchte etwas, dann schickte ihm Minyard die Zahl des heutigen Countdowns. Früher als sonst, dennoch nicht weniger einprägsam.
 

14
 

Jean starrte die Zahl mit gemischten Gefühlen an und senkte das Handy. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er vor Freude gelacht über diese Zahl. Nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. Vierzehn Tage waren wenig. Sie würden, wie der Rest auch, verfliegen wie nichts und am Ende der zwei Monate könnte Jean sagen, dass sich keine seiner Erwartungen, mit denen er nach Los Angeles geflogen war, erfüllt hatte.
 

Das wäre doch ein guter Grabsteinspruch.
 

Jean seufzte drehte sich auf den Rücken. Die Couch war verführerisch bequem und lullte ihn ein, lockte ihn weg von seinen düsteren Gedanken, ohne dass er sich wirklich dagegen wehren konnte. Erneut nahm er sein Handy hoch und öffnete die Bilder-App. Instagram, so hieß sie. Knox hatte ihm das Bild von ihm, sich selbst und Coach Rhemann nach der Pressekonferenz geschickt, das durch den Campusreporter gemacht worden war. Für seine mittlerweile bestätigten, offiziellen Social Media-Accounts, wenn er es denn hochladen wollte.
 

Bislang hatte Jean kein Interesse daran gehabt, nun jedoch rief er es auf und besah sich das Bild noch einmal genauer. Knox stand ganz vorne, was seiner Position innerhalb des Teams und seiner tatsächlichen Größe geschuldet war. Links von ihm stand Jean, rechts davon Coach Rhemann vor der Pressewand der Trojans. Knox grinste breit und es war ein ebensolches Lächeln, wie auch Day der Presse schenkte, nur eben ehrlicher. Coach Rhemann lächelte weniger strahlend und Jean gar nicht. In Evermore war es Riko und Day vorbehalten gewesen, sein Part war immer derjenige, andere einzuschüchtern. Das war ihm ganz gut zu pass gekommen, da er sowieso keinen Grund gehabt hatte zu lächeln.
 

Jean schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Bild. Er musste etwas suchen, bis er die Funktion fand, mit der er es hochladen konnte. Die Filter, die ihm automatisch vorgeschlagen wurden, ignorierte er.

Sollte er etwas unter das Bild schreiben? Jean runzelte die Stirn. Er wüsste nicht was. Vielleicht die Namen? Die waren doch bekannt. Wo das war? Ja, das vielleicht.
 

Pressekonferenz USC Trojans, Los Angeles, tippte er und postete das Bild, bevor er sich davon abhalten konnte. Nicht, dass ihn das von dem Problem befreite, dass er zusätzlich auch noch ein Profilbild brauchte.

Jean wechselte auf seine Bildergalerie und scrollte sich durch die wenigen Bilder, die er bisher gemacht hatte. Es gab eines, was er von dem Sonnenuntergang über dem Meer gemacht hatte. Das könnte er nehmen, doch das wäre zu kitschig. Vielleicht war da das von dem Strand besser. Wellen im Sand, hatte er das Foto innerlich an jenem Tag, an dem er ein Stück seiner Angst abgelegt hatte, getauft.
 

Er wählte den warmen, weichen Sand, den er in jeder Ritze seiner Tasche und seiner Kleidung gefunden hatte. Auf seiner Haut, als wäre es Puderzucker.
 

Jean lud es als sein Profilbild hoch und stellte fest, dass er bereits Herzchen dafür erhalten hatte. Likes, wie Knox es ihm beigebracht hatte. Die Namen, die er las, waren ihm völlig fremd und er fragte sich, wie sie das so schnell gefunden hatten.

Er schloss die App und wechselte zu der mit dem Vogel. Twitter, so hieß sie. Auch hier konnte man Bilder hochladen und etwas dazu schreiben. Jean sah zwar nicht den Sinn darin, etwas doppelt zu posten, aber Knox hatte gemeint, dass er es bei offiziellen Exyposts genauso machte.
 

Hier ging es ihm schneller von der Hand und er dachte sogar daran, den entsprechenden Hashtag der USC-Trojans zu verwenden und die jeweiligen Namen zu taggen.
 

Es dauerte keine zwei Minuten, da lachte es im Schlafzimmer und Jeans Kopf ruckte in die Richtung der angelehnten Tür.

„Du hast das Bild getwittert!“, rief sein Kapitän hellwach und Jean hob die Augenbrauen. Er fragte sich, ob es respektvoll war, von der Couch aus zurück zu rufen und entschied sich dagegen. Langsam löste er die Decke von seinem viel zu warmen Körper und kam zur Schlafzimmertür. Vorsichtig öffnete er sie und sah den anderen Jungen auf seinem Bett sitzen, der blonde Haarwust eine Unordnung sondergleichen. Knox kämmte sich sie jeden Abend, wie konnten die Strähnen nur so durcheinanderstehen?
 

„Das habe ich“, erwiderte er mit Bedacht und wurde mit einem Lächeln bedacht.

„Sieht gut aus! Und dein Profilbild auch.“

„Ich habe es am Strand gemacht“, erwiderte Jean unnötigerweise. Lob an sich war etwas, das er nicht wirklich kannte und dem er auch nicht traute. Lob für etwas, das nichts mit Exy zu tun hatte, war unverständlich für ihn.

„Du hast ein gutes Auge dafür.“

„Für Sand?“, fragte er staubtrocken mit einer Spur Zynismus und Knox grollte, aber Jean erkannte keine Spur an echter Wut.

„Du spottest noch vor dem ersten Kaffee, Moreau?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augen

„Gerade vor dem Ersten“, korrigierte Jean und hob die Augenbrauen, als sein Kapitän sich mit einem leidenden Laut unter der Bettdecke begrub und etwas darunter vordrang, das verdächtig nach „Geh weg, du grausamer Franzose!“ klang.
 

Jean blinzelte. Für einen Moment lang erlaubte er sich die irrwitzige Vorstellung, Knox die Decke wegzuziehen. Es ließ ihn ob der vollkommenen Unmöglichkeit schmunzeln und er verschränkte die Arme, starrte auf den Deckenberg hinunter. Schlussendlich drehte er sich um und ging ins Wohnzimmer, holte sich die rote Decke, unter der er geruht hatte. Kommentarlos warf er sie auch noch auf den Deckenwust und Knox protestierte gedämpft, aber nicht minder leidenschaftlich.
 

„Ich würde gerne joggen gehen“, stellte Jean leise in den Raum und langsam schraubte sich der Kopf aus dem Berg an Decken.

„Jetzt?“

Jean starrte Knox in die erschrockenen Augen und schüttelte den Kopf. „Grundsätzlich“, korrigierte er. „Außerhalb des Stadions.“

Knox nickte. „Klar, natürlich! Du kannst laufen, wo du willst.“ Kurz stockte sein Kapitän. „Soll ich mitkommen?“

Stumm nickte Jean. Alleine würde er keinen Schritt vor die Tür setzen können, geschweige denn zurückfinden. Er wusste, dass Knox das wusste und er war dankbar darum, dass der andere Junge darüber keinen Ton verlor.
 

„Okay, dann heute Abend! Wo möchtest du denn laufen?“
 

Jean musste unwillkürlich an sein Bild vom Sonnenuntergang denken. Er räusperte sich. „Am Strand entlang?“, schlug er vor und erntete dafür ein begeistertes „Ja!“ von seinem Kapitän.
 

~~**~~
 

Abwehrend hielt Jeremy die Hand hoch, während er sich vorneüberbeugte und seinen überflüssigen Speichel neben sich auf die Grasnarbe der Strandpromenade von Venice Beach spuckte. Verzweifelt versuchte er nach Luft zu schnappen, was ihm seine schreienden Lungenflügel zunächst einmal verweigerten. Seine schmerzenden Beine zeigten ihm ganz klar, dass er mit seinem Backliner, der ihre kleine Joggingrunde weniger desolat überstanden hatte als er, nicht hatte mithalten können. Klein. Wenn er noch hätte lachen können, Jeremy hätte gelacht.
 

Sein Blut rauschte in seinen Ohren und für einen Moment musste er die Augen schließen. Er war komplett schweißgebadet. Jean hingegen… Jean hatte auch auf die letzten Meter so gewirkt, als könne er immer noch weiterlaufen und stand nun auch wie eine stumme Statue neben ihm, wartete mit vermutlich hoch erhobener Augenbraue, dass er wieder zu Besinnung kam.
 

Anklagend richtete Jeremy seinen Finger auf Jean, der – wie er nun sah - ebenfalls schweißgebadet neben ihm stand und den Anstand hatte, zumindest in Ansätzen außer Atem zu sein.

„Du…du…“, presste er hervor und atmete tief durch. „Du…verdammt, Moreau, ich verfluche dich, den Tag deiner Geburt und den Tag deiner Zeugung und ich verfluche meine Naivität!“, keuchte er und Jean hob nun tatsächlich die Augenbraue.

„Du solltest eher deine mangelnde Kondition verfluchen“, erwiderte er brutal ehrlich, wie immer neuerdings, wenn es um Sport oder Exy ging, und erhielt ein Zischen als Antwort.

„Wir sind Exyspieler, keine Marathonläufer“, wimmerte Knox und begann mit seinen Dehnungsübungen zum Entspannen, was seinem marathonlaufenden Backliner anscheinend nicht gefiel. Mit sturmgeweihter Stirn sah er auf ihn hinunter und Jeremy hatte eine wirklich schlimme Vorahnung.
 

„Wir sind noch nicht fertig. Wir haben noch drei Kilometer im Sand“, sagte Jean stirnrunzelnd und Jeremy riss entsetzt die Augen auf.

„Niemals!“

„Knox, das…“

Jeremy ließ sich ohne viel Federlesens auf seinen Hintern fallen und verschränkte die Arme. „Ich bleibe hier.“

Jean sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Fragend hob er die Hände. „Knox, was…?“

„Wenn du willst, dass ich da unten“, er deutete auf den Strand. „noch weiterlaufe, dann musst du mich tragen!“
 

Taxierend musterte Jean ihn und eine Sekunde lang hatte Jeremy Angst, dass Jean ihn wirklich hochnahm. Doch dann ließ sich der Junge neben ihm nieder um seine Muskeln ebenfalls zu dehnen und Jeremy atmete innerlich erleichtert auf.
 

So langsam kam er auch wieder zu Atem und sah auf seine Uhr und damit auf die zwanzig Kilometer, die sie am Strand von Venice Beach hinter sich gebracht hatten. Jeremy stöhnte auf. Wie gut, dass sein Auto unweit von ihnen auf dem Parkplatz stand.

„Du solltest dich mit Neil zusammentun, der läuft auch so gerne und so viel“, ächzte Jeremy und Jean sah auf. Er schien kurz mit sich über etwas zu ringen, dann straffte er sich.
 

„Als Josten in Evermore war, sind wir zusammen gelaufen“, erwiderte er schließlich und Jeremy bemerkte, dass sein Akzent wieder stärker hervortrat als sonst. Jean belastete das, was er ihm sagte. Vorsichtig hielt Jeremy inne.

„Es war der letzte Rest an Freiheit und Selbstbestimmung, egal, wieviel Schmerzen das verursacht hat.“

Jeremy nickte stumm. Er würde es niemals nachvollziehen können, aber er verstand, was es nicht nur für Jean bedeutet haben mochte. Und vor allen Dingen, was es ihm jetzt bedeutete. Freiheit.

„Er ist schnell und ausdauernd.“
 

Jeremy verzog das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. „Das habe ich bei unserem Spiel gegen die Foxes gesehen.“

Jean hob eine Augenbraue. „Es war immer noch keine taktisch gute Entscheidung.“

„Aber immer noch sportlich fair“, hielt Jeremy dagegen. Jean schwieg bedeutungsschwanger und widmete sich wieder seinen Übungen.
 

„Willst du das eigentlich entfernt haben?“, fragte Jeremy schließlich, als er sich soweit gelockert hatte, dass er seine Beine bequem von sich strecken konnte. Wortlos deutete er auf die Drei auf Jeans Wange und unwillkürlich befühlten dessen Finger die Tätowierung.

„Das geht?“

„Mittlerweile schon. Hier in L.A. werden viele Laserbehandlungen angeboten. Man braucht zwar mehrere Sitzungen, aber danach sieht man fast gar nichts mehr.“

Dass es Jean schwer fiel, auch nur darüber nachzudenken, sah Jeremy. Seine Mimik spiegelte nur zu deutlich die Erinnerungen, die mit der Drei auf seiner Wange einhergehen mussten und Jeremy tat es leid, das Thema angeschnitten zu haben.
 

Nicht jetzt, wo Jean trotz des Alptraumes in der Nacht gut durch den Tag gekommen war. So gut, dass er Jeremy in eine Jogging-Falle gelockt hatte, deren Auswirkungen er sicherlich übermorgen noch spüren würde.
 

„Sorry, ich hätte das Thema nicht anschneiden sollen“, entschuldigte er sich und Jean schüttelte den Kopf.

„Es ist in Ordnung. Es ist nur so…einfach.“

Jeremy hob die Augenbrauen. „Einfach?“

„Schlimmes wieder gut zu machen.“

Er lächelte. „Wir bemühen uns hier in L.A..“ Schlichte Worte, hinter denen soviel mehr steckte, insbesondere in Bezug auf Jean und dem, was er in Evermore hatte erleiden müssen. Jean nahm das zur Kenntnis und seufzte.

„Danke“, sagte er schließlich und verzog das Gesicht, als wäre dieses Wort etwas Bitteres, Saures gewesen. „Danke dafür.“
 

Das ist selbstverständlich, wollte Jeremy aufbegehren. Das mache ich gerne und ich werde es jederzeit wieder tun, wenn es dir gut tut. Er ahnte, dass er Jean damit überfordern würde, also begnügte er sich mit einem Lächeln und einem ruhigen „Gerne.“.
 

Die grauen Augen huschten, wie so oft während ihres Laufes, in Richtung Wasser, nur um dann wieder zum sicheren Boden zurück zu kehren. „Alvarez meinte, dass die Trojans nach dem Saisonbankett am Wochenende auf einer Party seien“, sagte er, nicht ganz eine Frage und Jeremy hob die Augenbrauen. Wie er Alvarez kannte, hatte sie es so klingen lassen, als müsste Jean mitkommen.

„Sie sagte, dass es Pflicht für alle Spieler sei“, fuhr Jean fort und Jeremy grollte innerlich. Als Jean ihn erwartungsvoll ansah und nicht wusste, wie er weitersprechen sollte, seufzte er.

„Für gewöhnlich gehen wir alle zu den After-Bankett-Partys, das stimmt. Aber niemand ist gezwungen. Du musst nicht gehen, wenn du nicht willst.“
 

Unwirsch runzelten sich die schmalen Lippen, als Jean versuchte, aus seinen Worten etwas anscheinend für ihn Sinnvolles zu machen.

„Ist es eine dieser Teambuildingmaßnahmen?“, fragte er schließlich. „So wie das Spielen auf dem Dach?“

Nachdenklich wiegte Jeremy seinen Kopf hin und her. „Könnte man so sagen. Wir waren bisher immer zusammen dort.“

„Was wird dort geschehen?“

„Schwer zu sagen. Meist wird in irgendeiner Bar oder einem Club getanzt, viel getrunken und gequatscht. Danach gibt sehr viel ungesundes Essen, falls das Bankettessen nicht ausreichend war.“
 

Jeremy grinste in die offene Missbilligung hinein, die die grauen Augen soviel dunkler machte. Jean damit aufzuziehen war seine Lebensaufgabe geworden und er fand diese mittlerweile offene Kritik um Längen besser als die Angst, die vorher dort gelauert hatte.

„Wie wäre es, wenn du mal für mich nach deinen Vorstellungen kochst?“, fragte er und Jean runzelte nachdenklich die Stirn.

„Ich habe noch nie einen Menschen vergiftet“, erwiderte er dann ernst mit gerade eben jener Spur an beißendem Zynismus, den Jeremy so gerne herausforderte.

„Es gibt für alles ein erstes Mal!“

„Das wäre nicht praktikabel. Das Team benötigt seinen Kapitän.“

Theatralisch fasste Jeremy sich ans Herz. „Nur deswegen?“
 

Jeans Augen waren zu neutral, als dass das nicht etwas Bitterböses kommen würde. Jeremy ahnte es. Er wusste es.

„Weswegen denn sonst?“. Da hatte er sie, die staubtrockene Bosheit, die sich hinter dem minimalen Lächeln verbarg. Nicht minder theatralisch warf sich Jeremy in das Gras hinter ihnen.

„Dann lass mich gleich hier zurück, du Elendiger!“, jammerte er, doch seine Beschwerde traf auf taube Ohren. Ungerührt kümmerte sich Jean um seinen Körper und die Dehnübungen, lediglich einen Seitenblick gönnte er Jeremy.

„Das geht nicht. Du hast den Wagen“, argumentierte Jean schließlich und Jeremy rollte sich zu ihm. Mit großen Augen starrte er zu seinem Backliner hoch und verzog die Lippen zu so etwas wie einer traurigen Grimasse.
 

Dass es eher amüsant aussehen musste, erkannte er an dem minimalen Lächeln, das Jean sich gönnte.
 

„Dann wird es Zeit, dass du den Führerschein machst“, grinste er und das gerade noch existente Lächeln verschwand zugunsten von etwas, das Jeremy als nachdenkliche Sehnsucht interpretieren würde. Sicher war er sich da aber nicht, insbesondere jetzt nicht, wo Jean sich von ihm abwandte und wieder zum Meer sah, das ruhig und in der Abendsonne glitzernd vor ihnen lag.
 

Das gab Jeremy die Möglichkeit, das Profil seines Backliners genauer zu betrachten. Jean hatte mehr Farbe bekommen und das stand ihm gut. Es ließ die Verletzungen in den Hintergrund treten, die Hämatome und Narben, auch an den langen Schenkeln, die wie beim Training auch in einer kurzen Hose steckten und Muskeln zum Vorschein kommen ließen, die Jeremy Respekt verschafften.

Die Schenkel, die ihn – Starting Striker der USC Trojans – in einem derart ausdauernden Tempo gefordert hatten, dass Jeremy sich vorgekommen war wie die lahmste Schnecke auf der Welt. Trotz allem war es ein Ansporn gewesen, schneller und besser zu werden.
 

„Knox?“

Jeremy tauchte auf seinen Gedanken auf. „Hmh?“

„Könnte ich dorthin gehen?“

Jeremy folgte dem Fingerzeig des anderen Jungen zum Strand hin und zuckte mit den Schultern.

„Klar. Willst du alleine gehen?“

Jean nickte stumm und Jeremy winkte lächelnd. „Dann geh, Großer, ich kann mich sowieso nicht von der Stelle bewegen.“
 

Überrascht sah Jean ihm in die Augen und Jeremy zuckte unschuldig mit den Schultern. „Beschwer dich bei Renee?“, versuchte er sich zu rechtfertigen und das traf auf ein leises Schnauben.

Unverschämt behände erhob Jean sich und trat nach einem weiteren, versichernden Blick auf ihn auf den Strand.
 

~~**~~
 

Er hatte nur noch zwei Wochen, bis Minyard nach Los Angeles kommen und seinem Leben ein Ende setzen würde.
 

Das war Jean in all seiner Finalität bewusst geworden, als Knox den Führerschein erwähnt hatte. Er würde nicht mehr genug Zeit haben, fahren zu lernen. Er würde auch nicht mehr genug Zeit haben, ein Spiel gegen Renee und Josten zu gewinnen. Beide würde er zum letzten Mal am Wochenende sehen, ebenso wie die übrig gebliebenen Ravens. Eine Tatsache, die Jean wortwörtlich den Atem raubte, wenn er daran dachte und so schob er es bis in die hinterletzte Ecke seiner Gedanken. Er würde sich ihnen nicht nähern müssen, sie nicht anschauen müssen, das wusste er, aber dennoch hatte er Angst. Unsinnige Angst davor, dass sie ihn zurückschleiften, obwohl der Hauptzweig der Familie ihm anderes befohlen hatte.
 

Auch das würde vergehen, denn eine Woche später hätte er sein erstes und letztes Spiel mit den Trojans. Vier Tage später würde es nur noch ein letztes, erstes Mal geben und dann wäre es vorbei.
 

Jean ahnte, dass es genau das war, was ihn in Richtung Meer getrieben hatte.
 

Eisern richtete er seinen Blick auf den Sand und nicht auf das Wasser, zu dem es ihn zog. Einmal noch wollte Jean sich näher trauen, als er es beim letzten Mal geschafft hatte. Einmal, ein einziges, wollte er in der Nähe des Wassers stehen und auf das Glitzern starren, bis seine Augen schmerzten. Wie in Marseille vor gefühlt ewig langer Zeit.
 

Hellwach waren seine Ohren und schlussendlich blieb er stehen, als das Rauschen zu laut wurde um noch angenehm zu sein. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, nur um dann umso schneller weiter zu schlagen. Nichts konnte ihm hier passieren, das wusste er, das interessierte nur seine Angst nicht, die ihm einflüsterte, wie es gewesen war, als die Spieler der Ravens ihn niedergehalten hatten, damit Riko ihn foltern konnte.
 

Doch Riko war tot und er war hier, stand unter freiem Himmel am Strand und konnte sich in relative Nähe zum Wasser begeben, ohne, dass er in kalten Schweiß ausbrach.

Ein weiterer Sieg über seinen Ex-Kapitän war das und Jean gestattete sich ein Lächeln. Eben jenes nahm er nun auch als Schutz, als er den Blick hob und sich an dem Glitzern festbiss, das ihm die Unmengen an Wasser verdeutlichte, die noch weit genug entfernt vor ihm lagen.
 

Nichts konnte ihm passieren. Nichts. Er war hier in Sicherheit, das wusste er.
 

Jean atmete tief durch, atmete den Salzgeruch des Meeres ein, das an den Strand rauschte. Über ihm schrien Möwen auf der Suche nach Futter und er wusste unwillkürlich an die Möwe Jeremy denken, die sicherlich immer noch von Alvarez auf dem Dach ihres Hauses gefüttert wurde. Ob die Möwe auch hier war?
 

Jean blinzelte die Tränen weg, die sicherlich durch die brennende Helligkeit kamen. Das hier war ein Fortschritt und mit mehr Zeit, mit mehr Wochen, Monaten, Jahren, hätte er es vielleicht auch geschafft, einen Schritt ins Meer zu treten. Doch heute stand das außer Frage, also begnügte er sich mit diesem Anblick, den er mit ins Grab nehmen würde, wenn Minyard das tat, wozu ihm selbst der Mut fehlte.
 

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Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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