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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe noch gar nicht danke gesagt für die Kudos, Subscriptions, Favorisierungen und Bookmarks, also... danke. :3 Komplett anzeigen

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Captain Sunshine

Jean hatte kein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen, seitdem er die Narben angesprochen hatte. Schweigend hatte er neben ihm gesessen, dieses Mal nicht ängstlich oder vorsichtig, sondern ablehnend, als hätte Jeremy mit seiner Frage einen Schutzreflex ausgelöst, der vorher nicht dagewesen war. Hier war er, der Backliner der Ravens, dem niemand zu nahe kam und mit dem niemand ein Gespräch anfing auf den Banketten oder nach Spielen. Unnahbar und kalt war er, abweisend und arrogant.
 

Jeremy konnte nicht sagen, was ihm weniger lieb war. Der verletzte, furchtsame junge Mann, der hier angekommen war und vor ihm zurückzuckte, als wollte er ihn schlagen oder derjenige, der gerade knapp hinter ihm lief, eine furchteinflößende Präsenz in seinem Nacken. Kein noch so vorsichtiger Versuch, den Anderen zu einem Gespräch zu überreden, hatte gefruchtet. Lediglich direkte Fragen hatten direkte, einsilbige Antworten hervorgebracht. So plapperte Jeremy einfach vor sich hin und erklärte Jean jedes einzelne Geschäft in der Mall, für was es da war, was man kaufen konnte, in welche Preiskategorie es gehörte… als würde der Andere zuhören und nicht wahrscheinlich schon längst abgeschaltet haben.
 

Schlussendlich blieben sie vor dem Sportgeschäft stehen und Jeremy drehte sich mit einem schwachen Lächeln zu der schweigenden Mauer in seinem Rücken herum.
 

Er sah hoch und erkannte, dass er das Schweigen des Backliners anscheinend zumindest teilweise falsch eingeschätzt hatte. Dessen Gesicht drückte alles andere als die Ablehnung der Autofahrt aus. Die grauen Augen wollten gar nicht stillstehen, so unstet, wie sie ihre Umgebung betrachteten und versuchten, jeden einzelnen Reiz in sich aufzunehmen. Er sah Staunen auf dem zerschnittenen Gesicht und konnte es nachempfinden. Mehr als das. Als er das erste Mal einen Fuß in diese Mall gesetzt hatte, war er ebenso überwältigt gewesen von der schieren Größe und angenehmen Atmosphäre.
 

„Cool, oder?“, wagte Jeremy einen neuen Versuch, sich ein Gespräch mit Jean zu sichern und hatte Erfolg. Langsam geriet er in den Fokus der grauen Augen. „Es ist nicht die größte Mall hier in L.A., aber mit die Schönste, weil sie so hell ist. Man tritt sich hier nicht so tot, das ist ganz angenehm.“

Es brauchte etwas, bis seine Worte verarbeitet wurden und noch viel länger, bis Jean sich dazu entschloss, ihm zu antworten. „Ich war noch nie in einer solchen Mall“, sagte er kühl und Jeremy nickte. Er konnte sich denken, warum nicht. Er konnte sich denken, an welcher kurzen Kette die Ravens Jean gehalten hatten…im übertragenen Sinn und wortwörtlich.
 

„War ich bis vor ein paar Jahren auch nicht. Ich komme eigentlich aus einem kleinen Ort mitten in der Pampa, zwischen ewig langen Feldern und dem Horizont irgendwo in der Ferne. Da gab es so etwas nicht…und als ich das erste Mal hier war, habe ich Bauklötze gestaunt und meinen ganzen Monatsbeitrag hier ausgegeben.“ Mit Bedacht wählte Jeremy etwas Leichtes, das er erzählen konnte. Etwas Schönes, das Jean vielleicht aus seinem Versteck hervorlocken würde. Wie es schien, hatte er damit Erfolg.

„Ist es da genauso sonnig wie hier?“, fragte Jean und Jeremy nickte.

„Im Sommer heißer. Aber es gibt mehr Regen, dann ist es schwül.“
 

Jean sagte nichts dazu, aber Jeremy sah, wie er sich Gedanken um das machte, was er gerade gesagt hatte. Er sah zum ersten Mal so etwas wie Interesse in Jean aufleuchten, auch wenn dieses nur Sekunden später im Keim erstickt wurde.

„Ich kann dir mal Fotos von unserer Farm zeigen, wenn du magst“, bot Jeremy an und wurde mit einer Unsicherheit konfrontiert, die er bereits schon gut kannte. In Jeans Augen stand ein Nein, aber seine Lippen wagten es anscheinend nicht, dieses zu äußern. Jeremy lächelte.

„Nur wenn du möchtest, irgendwann. Du meldest dich einfach, wenn du sie sehen möchtest“, wiegelte er ab und deutete auf den Sportladen vor ihnen. „Trainingsklamotten?“
 

Jean folgte schweigend seinem Fingerzeig und Jeremy ging vor, als er sich sicher sein konnte, dass er keine Antwort mehr erhielt. Dass Jean vollkommen überfordert mit der Auswahl war und entsprechend nervös wurde, entging Jeremy dabei nicht.

„Hast du eine bestimmte Marke, die du gerne trägst?“, fragte er möglichst ruhig und wurde mit einem minimalen Kopfschütteln belohnt.

„Deine Größe ist ja offensichtlich…was hältst du denn davon, wenn du Dinge anprobierst und danach entscheidest, was du mitnimmst?“
 

Jeremy hätte auch gut und gerne ein Spießrutenlaufen vorschlagen können, so schnell, wie der Körper neben ihm gefror.

„Anprobieren?“, fragte Jean heiser nach und Jeremy gab einen zustimmenden Laut von sich. Langsam genug, dass der Backliner sich nicht durch seine Bewegungen ängstigte, drehte er sich zu ihm.

„Wir können die Sachen auch kaufen und du probierst sie zuhause an. Ganz in Ruhe und ohne kritisch guckende Sportler anderer Sportarten.“ Es war als auflockernder Scherz gedacht, doch in dem Moment, in dem die Worte Jeremys Mund verlassen hatten, begriff er zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit, dass das Gegenteil von gut in allererster Linie gut gemeint war.
 

Jean zog seine Schultern ein um sich vor Blicken zu schützen, die es defacto nicht gab. Nur ein dummer Spruch, einfach daher gesagt. Ein dummer Spruch zuviel, schalt er sich innerlich.

„Ah… nicht, dass jemand guckt, das war nur so daher gesagt!“, versuchte er zu beschwichtigen, scheiterte aber, wie so oft, an dem Schicksal, das sich ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Weg stellte und ihm Stöcke zwischen die Beine warf.
 

„Captain Sunshine!“, röhrte eine Stimme durch den Laden, die er nur zu gut kannte und die natürlich die Aufmerksamkeit der umliegenden Kunden auf sie zog. „Captain, mein Captain“, schallte es dramatisch zu ihnen und Jeremy drehte sich grinsend um.

„Ajeet…du hier!“, gab er sich überrascht und wurde in eine erdrückende Umarmung gezogen und mühelos vom Boden hochgehoben. Jeremy ächzte unter dem Griff seines dritten Torhüters, der ihm anscheinend jede Rippe brechen wollte mit seinen Armen aus Baumstämmen.

„Wo soll ich sonst sein?“

„Bei deinen Eltern in der Firma! Dass du überhaupt in die Mall darfst, wundert mich.“
 

Sie alle kannten Ajeets strenge Eltern, die ebenso stolz auf ihren Sohn waren wie sie auch Bestleistungen von ihm forderten. In ihrer ansässigen Firma mitzuarbeiten, zum Beispiel, und das auch noch über die Semesterferien hinweg. Jeremy beneidete ihn nicht um die räumliche Nähe seines Elternhauses zur Uni, wirklich nicht.

„Ich habe mich weggestohlen, aber sag‘ es ihnen nicht“, donnerte der Riese von einem Jungen, der, so fiel es Jeremy auf, auch noch ein Stück größer war als Jean.

„Wow“, entfuhr es ihm beeindruckt. „Uff.“

Mühelos war er mal wieder der Kleinste in der Runde mit den beiden Riesen hier.

„Gehst du einkaufen mit deinem…“, fragte Ajeet und wandte sich zum Schrecken Jeans abrupt an diesen. „…ach du Schande, das ist ja Moreau! Alter! Das ist aber ein weiter Weg von Evermore bis nach hierhin. Bist du auf Austausch hier? Anstandsbesuch um mal rauszukommen aus dem Schloss?“
 

Ja, das Schicksal hatte definitiv etwas gegen ihn.
 

Jeremy sah sich verstohlen um und erkannte, dass die Kunden, die ihnen am Nächsten standen, sie aufgeschreckt durch die Worte Ajeets eingehender musterten. Genau das hatte er verhindern wollen, weil genau das Jean nun so sehr verschreckte, dass er stocksteif neben ihnen stand und sich überhaupt nicht mehr rührte, die Hände zu Fäusten geballt, deren Haut sich weiß um die Knöchel spannte, das Gesicht auf kalte Ablehnung gepolt.
 

Jeremy räusperte sich. „Jean, darf ich dir unseren dritten Torhüter Ajeet Anand vorstellen. Er sieht nur so aus, als könnte er einen Baum mit bloßen Händen ausreißen, er ist aber eine herzensgute Seele.“ Er versuchte es wirklich, er versuchte, die Situation für Jean angenehmer als sie es jetzt war, zu gestalten. Aber auch Ajeet hatte einen Deal mit dem Schicksal. Natürlich.

„Das stimmt gar nicht, erinnerst du dich nicht an letztes Jahr, wo wir die gemeinnützige Arbeit im Altenheim gemacht haben. Da habe ich einen Baum mit bloßen Händen herausgerissen.“
 

Jeremy erinnerte sich. Es war witzig gewesen damals und heute ebenso. Aber ein Blick in Jeans Gesicht zeigte ihm, dass der andere Junge es überhaupt nicht komisch fand.

Jeremy senkte seine Stimme und lenkte die Aufmerksamkeit des Bären von Jean ab. „Ajeet, Jean ist unser neuer Backliner. Der Deal wurde ganz frisch eingefädelt und eigentlich sollte das eine Überraschung für euch sein… nach den Semesterferien.“
 

Für eine Sekunde herrschte überraschtes Schweigen und Jeremy sah, wie sich Jean schon alleine aufgrund der Lautstärke, die er vorgab, entspannte und einen Blick in Ajeets Augen warf. Jeremy sah das als Fortschritt an und sah mit innerlichem Horror, wie sein Riese von einem Torhüter nichts Besseres zu tun hatte als Jean in eine allumfassende, verschlingende Umarmung zu ziehen und ihm so kumpelhaft auf den Rücken zu klopfen, dass Jean vor Schmerz aufstöhnte.
 

Oh. Nein.
 

Die Sekunden, die Jeremy mit Starren vertat, nutzte Ajeet dazu, Jean so eng an sich zu pressen, dass kein Blatt Papier mehr zwischen die Beiden passte. An sich war das nichts Ungewöhnliches für den Hünen, hatte er diese Tradition doch nahtlos bei den Trojans eingeführt. Hier aber war es eine kommende Katastrophe, der sich Ajeet noch nicht einmal bewusst, Jeremy aber sehr wohl.
 

Jean rührte sich nicht, die Arme unbewegt an seinen Seiten. Ihm war jedwede Farbe aus dem Gesicht gewichen und in seinen Augen stand eben jener überrascht-erschrockene Horror von Menschen, die mit vielem gerechnet hatten aber nicht mit dem, was ihnen gerade passierte.

Jeremy überlegte noch, ob er beide auseinanderzerren sollte und damit die Szene noch größer machte, als sie es jetzt schon war oder ob er versuchen sollte, danach die Wogen zwischen beiden zu glätten, als Ajeet sich von Jean löste.
 

„Schön, dass du da bist! Wird cool mit dir als Backliner, ich freu mich sehr!“ Ahnungslos wie er war, strahlte er den vollkommen ruhigen Jungen an, der keinen von ihnen beiden musterte, sondern wie eine Statue vor ihnen stand, den Blick abwesend. Erst jetzt sah Jeremy das Zittern, das den gesamten Körper ergriffen hatte und legte Ajeet eine Hand auf den Arm, als dieser verwirrt nachfragen wollte, ob alles okay war.
 

War es nicht. Ganz und gar nicht.
 

„Jean…?“, versuchte Jeremy sich die Aufmerksamkeit des Anderen zu sichern. Er brauchte zwei Anläufe dafür, bevor ihm die grauen Augen auch nur den Hauch einer Beachtung schenkten.

„Nein.“ Noch während Jean das Wort herauspresste, trat er einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ein weiteres Mal, dieses Mal noch zittriger. Wieder einen Schritt mehr.

„Jean, vielleicht solltest du dich setzen, du siehst etwas blass aus.“

Sein Vorschlag wurde zugunsten weiterer Schritte weg von ihnen ignoriert.

„Sollen wir zurück zum Auto?“, fragte Jeremy aus einem Impuls heraus und wurde mit einem Kopfschütteln und einer abwehrend ausgestreckten Hand davon abgehalten, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.
 

Immer noch in dieser beunruhigenden Trance gefangen, drehte sich Jean um und verließ den Laden, ließ sie hier stehen. Als Jeremy ihm hinterhersetzen wollte, hielt ihn Ajeet mit einer Hand an seinem Arm auf. Bedauernd sah er auf ihn hinunter.

„Lass ihn, Cap. Ich glaube, er braucht gerade mal ein bisschen Abstand. Tut mir leid, dass ich’s verbockt habe“, schob er noch nach und senkte den Kopf.

Jeremy seufzte. „Du hast gar nichts verbockt, du konntest nicht wissen, dass er kein Kontaktmensch ist.“

„Hatte er Angst vor mir, Jer?“
 

Ajeet formulierte es als Frage, aber Jeremy sah, dass der Funken an Bestürzung bereits seinen Weg in das Selbstbewusstsein des Torhüters gefunden hatte. Nichts war für ihn schlimmer, als wenn Menschen von ihm glaubten, dass er ihnen etwas antun würde. Dazu war seine eigene Familienvergangenheit zu geprägt von der Gewalt seines Großvaters. Niemals hatte er etwas Böses im Sinn.

„Er mag Kontakt zu anderen Menschen nicht“, versuchte Jeremy zu erklären, was er selbst nicht erklären konnte, weil er alles, was er sonst dazu sagen müsste, nicht ohne Jeans Zustimmung an Dritte weitertragen würde. Allerdings würde er auch nicht zulassen, dass Ajeet sich wegen einer Umarmung brachiale Vorwürfe machte.
 

Angesichts der Tatsache, dass Jean bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden war und er Kevins Warnung, den Ex-Raven nie aus den Augen zu lassen, ernst nahm, traf Jeremy eine Entscheidung, die, so hoffte er, dieses Mal nicht zu einer Katastrophe führen würde.

„Morgen Nachmittag im Stadion…hast du Zeit für ein kleines Training, du, er und ich?“, fragte er und Ajeet nickte mit eingezogenem Kopf.

„Aber ich möchte ihn nicht weiter verschrecken.“

„Ich habe eine Idee, wie genau das nicht passieren wird“, erwiderte Jeremy. „Jetzt sei mir bitte nicht böse, aber ich werde schauen, ob es ihm gut geht. Also? Morgen um drei?“

„Okay, Cap. Ich sag‘ meinen Eltern Bescheid.“

„Mach das und grüße sie von mir!“
 

Jeremy winkte und lief dann ebenso aus dem Laden nur um festzustellen, dass Jean nirgendwo zu sehen war. Wie vom Erdboden verschluckt war er und Jeremy fluchte wortgewaltig. Kevins eindringliche Warnung, Jean nicht alleine zu lassen, weil ein Raven nicht wusste, wie es war, alleine zu sein, stand in großen, leuchtenden Buchstaben über dieser Katastrophe und er ahnte nichts Gutes.

Der Ausdruck auf Jeans Gesicht war nichts weiter als blanke Panik gewesen und das konnte nichts Gutes bedeuten. Er hatte Angst davor gehabt, angefasst zu werden. Er hatte Schmerzen gehabt. Sein Gesicht war schmerzverzerrt gewesen, als Ajeet ihm auf den Rücken geklopft hatte.
 

Verdammter Mist!
 

Jean hier in dem Zentrum zu finden war wie eine Nadel im Heuhaufen zu suchen. Vielleicht wollte er auch gar nicht gefunden werden oder war wütend, hasste ihn, fürchtete sich…

Was auch immer es war, Jeremy musste die Wogen glätten und Jean finden und so suchte er das komplette Einkaufszentrum ab. Zunächst systematisch die Wege, die sie bereits gegangen waren, die Geschäfte, die er Jean erklärt hatte. Nirgendwo gab es auch nur den Hauch einer Spur von Jean.
 

Erst, als er sich sicher war, das gesamte Zentrum durchkämmt zu haben, lief Jeremy zurück zum Parkhaus und ging dort zu seinem Wagen zurück, den er auf einem der überdachten Oberdecks abgestellt hatte. Es war schattig, aber immer noch warm genug, dass ihm von der Lauferei der Schweiß ausbrach.
 

Während er zu seinem Auto ging und Jean auch dort nicht anzutreffen war, wurde sich Jeremy schmerzlich bewusst, dass Jean zwar ein Handy hatte, sie aber ihre Nummern noch nicht ausgetauscht hatten. Sicherlich könnte Kevin ihm da weiterhelfen, doch er sträubte sich davor, den anderen Jungen erneut zu belästigen und erklären zu müssen, warum er so panisch klang wie er nun einmal klingen würde, weil er es verdammt nochmal war.
 

Jeremy raufte sich die Haare und machte sich daran, auch die ganze Etage des Parkhauses abzusuchen, bevor er trotz seines Widerwillens zur Option Kevin greifen würde. Jeden Winkel der Etage durchkämmte er, von Minute zu Minute hoffnungsloser, dass er Jean finden würde und ihm das Ganze erklären könnte. Bis…
 

Abrupt blieb er stehen, als er in der hinterletzten, dunkelsten und ruhigsten Ecke des Decks eine leise Stimme hörte, die ihm sehr bekannt vorkam, auch wenn er sie noch nicht so häufig gehört hatte, wie er sie gerne hatte hören wollen in den vergangenen vier Tagen.
 

Hinter einer alten, klapprigen Rostlaube, im hinterletzten Winkel des Parkhauses saß Jean, dessen Stimme unmissverständlich zu ihm drang. Es war leise um sie herum, deswegen konnte Jeremy die beinahe geflüsterten Worte des Anderen gut ausmachen, die er zunächst für ein Selbstgespräch hielt.

Die weibliche Stimme, die Jean antwortete, widersprach dem.
 

„Ich kann das nicht, Renee“, murmelte der Backliner und Jeremy trat einen Schritt näher, auch wenn sich in ihm bereits ein schlechtes Gewissen regte, dass er ein Gespräch belauschte, welches nicht für ihn bestimmt war. „Es ist alles so anders hier. Sie sind alle so anders. Nichts ist so wie in Evermore oder… bei euch.“

Die weibliche Stimme – Renee Walker – seufzte und es war ein derart weicher, mitfühlender Laut, dass es Jeremy unweigerlich das Herz aufgehen ließ. Er kannte sie von ihren Spielen und den Banketten und sie war niemals etwas Anderes als freundlich zu ihm gewesen, doch das war es auch. Freundlich und höflich. Das hier war jedoch etwas Anderes.
 

„Er hat dich nur umarmt“, erwiderte sie und Jeremy wusste, was gemeint war. Wer gemeint war. „Das machen manche Menschen einfach so.“

„Niemand macht etwas einfach so.“

Sie lachte. „Wir haben uns auch schon umarmt.“

Jean brummte und Jeremy hob überrascht seine Augenbrauen. Er mochte das unerwartete Geräusch in all seiner offenen Menschlichkeit. „Das ist etwas Anderes.“

„Weil ich dich vorher gefragt habe.“

„Weil du…du bist.“

Renee seufzte schwer. „Ach, Großer. Und er ist er… er hat es sicherlich nicht böse gemeint.“

„Er hat mir auf den Rücken geschlagen.“

„In freundlicher Absicht?“

„Das weiß ich doch nicht. Sicherlich nicht.“

„Warum?“
 

Schweigen folgte Renees Worten und Jeremys verräterische Füße brachten ihn noch ein Stück näher, sodass er jetzt einen kurzen Blick auf Jean erhaschen konnte, der mit angezogenen Beinen mit dem Rücken an eine alte Rostlaube gelehnt saß und mit Renee chattete, die ihm auf dem Bildschirm seines Handys entgegenlächelte.

„Du könntest ihn fragen“, schlug die Spielerin der Foxes vor und Jean schnaubte.

„Selbst wenn er antworten sollte, ist es dann wichtig?“

„Ja, es hilft dir, sie zu verstehen.“
 

Wieder herrschte Stille, dann ließ Jean seinen Kopf gegen die Tür des Wagens fallen. „Selbst der Trainer ist anders. Er hat mir die Hand gegeben. Er hat etwas von leichtem Training gesagt. Wieso macht er so etwas? Der Herr hätte niemals…“

Renee grollte und Jeremy zuckte überrascht zusammen. Er hätte niemals gedacht, dass aus dieser zarten Person so ein tiefer, wütender Laut herauskommen würde, der selbst Kevins Grollen in den Schatten stellte.
 

Sie war diejenige gewesen, die Jean aus Evermore geholt hatte, kamen ihm Kevins Worte in den Sinn. Unwillkürlich fragte sich Jeremy, wie sie es gemacht hatte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte.

„Niemand ist wie Moriyama, Jean. Dieser Mann ist kein Maßstab für den Rest der Liga. Nicht für Wymack, nicht für Rhemann oder sonst irgendwen. Er ist ein dreckiges Arschloch, ein ekelhafter Scheißkerl. Die Anderen sind das nicht. Rhemann ist wirklich nett. Er würde dir niemals etwas antun.“ Die sanfte Stimme solche Worte in den Mund nehmen zu hören, verursachte Jeremy rote Ohren.
 

Gleichwohl ließ es ihn schaudern. Herr? Jeremy hatte geahnt, dass die Uhren in der Edgar Allan anders tickten, doch das grenzte an seine gewaltsame Sekte. Ein Trainer, der sich Herr nennen ließ? Es passte zu dem Eindruck, den er von der gegnerischen Mannschaft so manches Mal gewonnen hatte, insbesondere bei Banketten. Immer zusammen, ein einziger, schwarzer, die Anderen verachtender Haufen, dessen Spielweise im besten Fall als unsportlich zu bezeichnen war. Jeder Spielzug war von einer Aggressivität geprägt gewesen, die Jeremy sich manches Mal hatte fragen lassen, wie man ein solches Level selbst bei ihrem Sport aufrecht erhielt. Und Moriyama mitten drin in diesem Haufen, eine unangefochtene Respektsperson, dessen Wort Gesetz war.
 

Er schnaubte stumm, als er an die unzähligen Male dachte, die er dem Backliner, der nun zu ihnen gehörte, auf dem Spielfeld nicht entkommen war und gegen die Bande gedrückt oder zu Boden gecheckt worden war, alles am Rand der Legalität. Es hatte Spiele gegen die Ravens gegeben, da war er blau und grün vom Feld gehumpelt und hatte noch Wochen danach Blicke am Strand auf sich gezogen, weil er aussah, als wäre er misshandelt worden.
 

Wie es schien, hatte die Aggressivität ihren Grund und Ursprung und Jeremy empfand nichts als Wut und Verachtung für eine solche Vorgehensweise, was ihn aber auch gleichzeitig stolz auf seine eigene Mannschaft machte. Sie waren nicht so und würden nie so sein.
 

„Ich weiß nicht, wie ich das glauben soll“, gestand Jean ein und Jeremy straffte die Schultern. Er atmete tief ein und trat um das Auto herum.

„Ich aber schon“, erwiderte er und wusste, dass seine Anwesenheit den anderen Jungen erschrecken würde. Das tat sie tatsächlich und Jeremy schenkte ihm sein bestes, sanftestes Lächeln, konnte aber nicht verhindern, dass Jean das Handy aus der Hand fiel.
 

Als der Andere keine Anstalten machte, es aufzuheben, bückte sich Jeremy und drehte den Bildschirm so, dass er Renee sehen konnte.

„Hey“, grüßte er sie mit einem kurzen Grinsen und sie winkte zurück.

„Ach guck mal, Captain Sunshine!“

Jeremy rollte mit den Augen. Nicht auch noch sie. Bis wohin hatte sich das denn verbreitet? „Hör mal zu, Regenbogenmädchen…“, begann er spielerisch, während er sich neben Jean auf den Boden setzte und das Handy so hielt, dass sie beide zu sehen waren. Angesichts des Abstandes zwischen Jean und ihm keine einfache Sache, aber mit ein paar Verrenkungen machbar. Renee lachte.

„Hast du etwa gelauscht, Knox?“, fragte sie mit tadelnd erhobener Augenbraue, während Jean stocksteif neben ihm saß.

„Nur ein paar Minuten und lange genug, um die Ehre meines... unseres Trainers verteidigen zu können“, scherzte er zurück und sie schnaubte.

„Dann leg mal los, Knox!“
 

Jeremy nickte und hielt Jean erst einmal das Handy hin. „Hier, das ist deins“, sagte er zu dem Jungen, dessen Hände unruhig seinem Schoß gelegen hatten und der nun anscheinend überrascht war, dass er sein Telefon zurück erhielt. Schweigend hielt er es weiterhin so, dass sie beide zu sehen waren und Jeremy kam nicht umhin, das latente Zittern zu bemerken, das Besitz von seinen Händen ergriffen hatte. Die Verwunderung in den grauen Augen schmerzte ihn.
 

Tief atmete er ein, theatralisch gar, aber humorvoll genug um die Situation zu entspannen. Er wandte sich leicht Jean zu, schließlich ging es darum, den Backliner zu beruhigen. Um Jean aber nicht im Fokus seiner vollständigen Aufmerksamkeit zu lassen und ihn somit zu verschrecken, fasste er Renee ins Auge. Er erzählte ihr, was er über seinen Trainer loswerden wollte, auch wenn er wusste, dass die Information ausschließlich für Jean wichtig war.
 

„Rhemanns Art zu trainieren ist ein bisschen, als würde ein strenger, aber liebevoller Zirkusdirektor seinen Sack voller Flöhe hüten und versuchen, dass sie nicht in alle Richtungen laufen und das sie alle das tun, was er möchte. Manchmal klappt das, oftmals hat er teilweise Erfolg und sehr oft sind wir ein chaotischer Haufen, der einfach Spaß hat an dem, was er tut, und im Training eine gute Zeit miteinander verbringt. Auch wenn er grummelig erscheint, ist Rhemann im Grunde seines Herzens dann doch ganz froh um uns und möchte uns nicht missen. Letztes Jahr hatte er zum Beispiel eine fiese Grippe, die er sich im Skiurlaub eingefangen hatte. Da musste ich mit dem Tablet das Trainingsfeld filmen, damit er dabei sein konnte. Er liebt diesen Sport und er liebt den Sportsgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl, die damit einhergehen. Und er liebt uns, auch wenn er das niemals zugeben würde.“
 

Jeremy atmete tief wieder aus. Jean nicht in den Mittelpunkt seines Fokus zu rücken, war genau die richtige Entscheidung, befand er. So hatte der neben ihm sitzende Junge die Möglichkeit gehabt, in Ruhe zuzuhören und sich seine eigenen Gedanken machen zu können.

„So sieht‘s aus bei uns. Wie wir alle seit dem letzten Spiel gegen euch wissen, Renee, sind wir die Guten, nicht die Klugen.“ Er zwinkerte und sie tat ihm dem Gefallen, über seinen schlechten Scherz zu lachen.
 

„Dafür habt ihr ja jetzt den besten Backliner der Liga“, hielt sie dagegen und mit Faszination beobachtete Jeremy, wie Jean den Kopf einzog und sich seine Ohrläppchen rot färbten.

„Das stimmt gar nicht“, murmelte eben jener beinahe unhörbar. Am anderen Ende der Leitung schnaubte Renee.

„Jean Moreau, vertrau einer Expertin auf diesem Gebiet“, tadelte sie ihn spielerisch. Mit Erstaunen sah Jeremy so etwas wie ein Lächeln auf Jeans Gesicht und er wurde sich bewusst, dass da durchaus etwas mehr zwischen den Beiden schimmerte, als er bisher angenommen hatte.
 

Es war Renee gewesen, die Jean aus Evermore geholt hatte mit ihren Verbindungen. Laut Kevin hatte sie sich dafür stark gemacht, dass Jean eine andere Mannschaft fand. Mehr noch. Eher mit halbem Ohr hatte Jeremy bei ihrem letzten Bankett mitverfolgt, wie Renee sich dem verschlossenen Raven genähert hatte, der in ihrer Liga berüchtigt für seine Spielweise und für seine Nichtbeachtung anderer Spieler war. Irgendwann am Ende des Abends hatte er die beiden zusammen und tatsächlich so etwas wie Emotionen auf Jeans Gesicht gesehen.
 

War es da abwegig, dass die beiden zusammen waren oder sich zumindest sehr nahe standen? Nicht im Geringsten, beschloss Jeremy.
 

„Wenn du Jean besuchen möchtest, wir haben auch ein Gästezimmer bei uns im Haus“, bot er entsprechend augenzwinkernd an. Sie verstand – im Gegensatz zu Jean – seine latente Zweideutigkeit und lachte.

„Ich habe hier eine Saison zu spielen und euch den Hintern zu versohlen, Captain Sunshine. Da bleibt keine Zeit für Ablenkungen!“

„Angebot steht, Regenbogenmädchen. Jean soll mir nur Bescheid sagen, dann reserviere ich euch den Schlüssel!“

Sie zeigte ihm einen Daumen hoch, während Jean auch damit nichts anfangen konnte. Verwirrt huschten die Augen über sein Gesicht und suchten nach dem Sinn der Worte. Jeremy hatte schließlich ein Einsehen, als Renee es anscheinend nicht für nötig hielt, ihr Pendant aufzuklären.

„Das ist unser kleines, aber feines Äquivalent zur Socke an der Tür. Aus leidvoller Erfahrung, möchte ich meinen.“
 

Jean runzelte die Stirn. „Socke an der Tür?“

Zunächst glaubte Jeremy an einen trockenen Scherz des anderen Jungen. Wer kannte denn nicht die Socke an der Tür? Jeder kannte die Socke an der Tür! Das konnte doch nicht sein.

Jean machte aber keine Anstalten, seinen Scherz aufzulösen, so begriff Jeremy mit verstreichender Zeit, dass der neben ihm sitzende, junge Mann keine Ahnung von dieser Universitätstradition hatte. Und das mit 21 Jahren. Scheiß Edgar Allan.
 

Jeremy seufzte tief und lächelte. „Also, wenn jemand seine Freundin oder seinen Freund zu Besuch hat und etwas ungestört sein möchte, dann gibt es diesen Raum. Bei uns schließt man den Raum dann ab, wenn man nicht gestört werden möchte, in manchen Unis hängt dann eine Socke an der Tür“, erläuterte er und sah, dass das auf Verstehen stieß. Zufrieden nickte Jeremy und warf einen Blick auf Renee, die ihn mit hocherhobener Augenbraue musterte und augenrollend den Kopf schüttelte.
 

„Im Übrigen, der Große neben dir mag Rührei zum Frühstück!“, warf sie scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen in den Raum – vielmehr das Parkhaus – zwischen ihnen dreien und alarmiert fuhr Jeans Kopf hoch.

„Renee!“, entfuhr es ihm, als hätte sie seine intimsten Geheimnisse preisgegeben, was Jeans Beinaheentsetzen durchaus liebenswert machte.

„Ja, Jean?“, fragte sie unschuldig, während Jeremy in sich hineingrinste.

„Mit Toast?“, fragte er dazwischen, die gute Gelegenheit nutzend, spielerisch mehr über die Essgewohnheiten seines Zimmernachbarn herauszufinden.

„Zwei Stück.“

Renee!“
 

So wenig Jeremy die latente Verzweiflung in der Stimme seines neuen Backliners gefiel, so wenig ließ er sich aber auch davon abbringen, ihre Worte und ihren Wortwechsel wie einen Schwamm in sich aufzusaugen.

„Rührei mit Toast, jawohl!“, nickte er knapp und wandte sich an Jean, der ihn ansah, als wäre er der Leibhaftige persönlich.

„Ich sag’s doch. Ich hätte mit dir wetten sollen, Moreau, ich wäre reich geworden“, stöhnte Renee auf und Jean schnaubte.

„Du bist reich.“

Noch reicher!“
 

Mit Erstaunen sah Jeremy dem Austausch zu. „Wetten?“, fragte er und noch bevor Renee ihm darauf antworten konnte, war es Jean, der mit den Schultern zuckte.

„Die Junkies sind spielsüchtig und wetten um alles, was nicht niet- und nagelfest ist.“
 

Blinzelnd versuchte Jeremy den Worten, ihrer Intonation und Jeans Stimmfärbung zu folgen, die soviel anders war als alles, was der Ex-Raven ihm bisher gesagt hatte. Da war abwertende Kälte in der Stimme, die mit soviel Zynismus durchsetzt war, dass er sich unweigerlich fragte, ob er Renee damit nicht gerade zwangsweise beleidigte. Der Ton, den er gerade vernommen hatte, war eben jener, der zu dem Backliner Jean Moreau passte, den Jeremy in den letzten Jahren kennengelernt hatte. Und dennoch meinte er auch, Humor daraus zu hören, auch wenn Jeremy sich dessen nicht sicher war.
 

Nicht so sicher, wie Renee, die bis über beide Ohren grinste. „Eine Wette über dich haben wir noch laufen“, sagte sie mit Genugtuung und Jean verdrehte erneut die Augen. Fasziniert beobachtete Jeremy ihn dabei, ihn und seine offene Mimik, die er anscheinend Renee so freigiebig schenkte, wie er sie ihm so vehement verneinte.

„Sag Josten und Minyard…“, begann er, doch sie schnalzte tadelnd mit der Zunge.

„Sag es ihnen selber, die Nummern sind in deinem Telefon eingespeichert.“
 

Was genau an diesem Satz nicht gut war, konnte Jeremy nicht genau sagen. Er führte jedoch dazu, dass jedwede Offenheit in Jeans Gesicht einer Ausdruckslosigkeit wich, die beinahe schon körperlich schmerzte. Renee bemerkte diesen Stimmungsumschwung ebenso wie er und seufzte.

„Na los, frag ihn schon“, forderte sie Jean sanft auf. Stumm den Kopf schüttelnd verweigerte er sich ihr, den Blick gesenkt und die Augen pointiert in eine andere Richtung gelenkt. Es ging um ihn, erkannte Jeremy und fragend legte er den Kopf schief. Jean sollte – und wollte? – etwas fragen, traute es sich aber nicht?

„Jean. Es ist okay“, sagte er hoffentlich ruhig genug, dass er den Backliner eben nicht davon abbrachte, seine Frage zu stellen. „Was möchtest du wissen?“

Erwartungsvolle, aber auch angespannte Ruhe kehrte zwischen ihnen beiden ein. Jeremy benötigte Geduld dafür, aber letzten Endes zahlte sich genau diese aus, als Jean erneut hochsah und zunächst einmal Renees Blick begegnete, die ihm stumm zunickte.
 

Erst dann wandte er sich halb an Jeremy, seine ganze Haltung auf Abwehr programmiert. „Dürfte ich… das Telefon behalten?“, fragte er schließlich und malträtierte seine Unterlippe unruhig zwischen seinen Zähnen. Irritiert versuchte Jeremy, sich einen Reim auf die Frage zu machen.

„Es ist dein Telefon. Warum solltest du das nicht dürfen?“

Die Überraschung, die er in den grauen Augen sah, schmerzte. Sie tat weh und riss an seiner naiven Vorstellung, dass jeder Mensch Grundrechte hatte, die es einzuhalten gab. Anscheinend hatte Jean das nicht so erfahren, was sogar bis zum Besitz eines Handys reichte.
 

„Ist es mir erlaubt, mit Anderen zu schreiben?“

War die vorherige Frage schon schlimm, so zerbrach diese Jeremy schier das Herz. Wieso sollte Jean das nicht dürfen? Wieso sollte es ihm jemand verbieten?

„War es in Evermore verboten?“, fragte er vorsichtig und wurde mit einem Nicken belohnt, das durch seine Neutralität und Ausdruckslosigkeit viel von dem Leid offenbarte, was dahintersteckte.

„Bei uns hat jeder die Freiheit zu tun, was er möchte und das Chatten mit einem Handy oder die eigene Meinung zu äußern gehören ganz klar dazu. Grenzen sehen wir nur in harten Drogen, Straftaten und diskriminierendem oder rassistischem Verhalten.“

Jean ließ sich seine Worte einige Augenblicke durch den Kopf gehen und wagte schließlich erneut den Augenkontakt.

„Danke.“
 

Es tat Jeremy beinahe schon körperlich weh, dass ihm für so etwas Selbstverständliches gedankt wurde. Ebenso wie es ihn schmerzte, dass Jeans Tonfall sich wie Tag und Nacht von dem unterschied, den er Renee gegenüber anschlug. Vor ihr hatte er keine Angst, vor ihm anscheinend schon.

„Nicht dafür“, wiegelte er mit zugeschnürter Kehle ab und lächelte gezwungen. Jean blinzelte und schluckte dann. Kurz huschte sein Blick zu seinem Handy und Renee nickte in Jeremys Augenwinkel.
 

„Möchtest du zurück in die Mall, Jean?“, fragte er, alleine um sie von dem schlimmen Thema abzulenken, und erhielt ein Kopfschütteln.

„Der kleine Laden…“ An sich machte der Satz keinen Sinn und Jeremy erkannte verspätet, dass er eigentlich eine Bitte war.

„Klar. Gerne.“

„Kauf dir mal etwas nicht Schwarzes, das wird dir gut stehen“, mischte sich Renee ein und zog ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich. Jean sagte nichts, nur Jeremy grinste.

„Wird gemacht, Chefin!“, stimmte er dem zu und sie streckte ihm die Zunge heraus.

„Ich erwarte ein Foto, Jean“, mahnte sie und eben jener gab einen unbestimmten Laut der Zustimmung von sich.
 

Jeremy selbst erhob sich mit einem Ächzen und klopfte sich den Staub der Tiefgarage von seinen Shorts. Er ließ sich Zeit damit, bis Jean sich von Renee verabschiedet hatte und drehte sich dann um. Ruhig sah er Jean in die Augen und streckte seinem Backliner die Hand entgegen um ihn hochzuziehen.
 

Sie hatten sich schon einmal in einer ähnlichen Position befunden. Sie waren auf die Ravens getroffen und Jeremy hatte es tatsächlich geschafft, sich gegen Jean durchzusetzen, mit dem Ergebnis, dass sie beide zu Boden gestürzt waren. Jeremy hatte sich zuerst aufgerappelt und hatte gesehen, dass Jean anscheinend noch zu benommen war, um selbst wieder hochzukommen. Er hatte ihm die Hand gereicht, doch Jean hatte sie mit einem verächtlichen Blick weggeschlagen, nur um sich umständlich und offensichtlich unter Schmerzen selbst wieder aufzurichten.
 

Jetzt war es anders. Jean maß seine Hand, als könne sie ihm einen Aufschluss über Jeremys Motivation geben. Lange zog sich der Augenblick zwischen ihnen beiden hin, bevor er tatsächlich einschlug und sich von Jeremy hochhelfen ließ. Mit Freuden sah Jeremy an ihm hoch und lächelte.

„Ajeet wollte dir nichts tun. Er ist ein großer, lieber Bär, der jeden umarmt, der ihm zu nahe kommt. Er freut sich, dass du bei uns bist, deswegen hat er dich umarmt.“

Zweifelnd begegnete Jean seinem Blick bevor er ihm ein minimales Nicken schenkte. Schweigend drehte er sich zum Wagen und legte die Hand auf den Türgriff der Beifahrerseite, anscheinend darauf wartend, dass Jeremy aufschloss.
 

„Ähm…“ Verlegen fuhr sich eben jener durch die Haare. „Das ist nicht mein Wagen…“
 

Langsam drehte sich Jean zu ihm um. Durchdringend wurde er gemustert und Jeremy lächelte schief, während er hinter sich auf seinen alten Wagen deutete und feststellte, dass die rot werdenden Ohren des Backliners durchaus ihren Charme hatten.
 

„In der Rostlaube hier würde ich nicht durch die Gegend fahren“, scherzte er und erntete dafür den Jackpot des ganzen Tages: ein Schnauben, das kurz davor war, amüsiert zu klingen.
 

Nicht schlecht für den fünften Tag.
 

~~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Man möchte meinen, dass Renee und Jeremy zusammen ein Duo infernale sind, die es Jean wirklich wirklich schwer machen, abzutreten oder sich zurück zu ziehen. Bisschen tut er mir ja leid, der arme Jean.

Außerdem habe ich mal eine Frage an euch... wie würdet ihr Jean und Jeremy bezeichnen? Als Jungen, junge Männer oder Männer? Grundsätzlich würde ich ja junge Männer sagen, aber das klingt immer so holprig beim Schreiben. Komplett anzeigen

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