Zum Inhalt der Seite

Lokis Strafe

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Erinnerungen...

...AN FERNE KINDHEITSTAGE
 

Sie waren fünf Jungs, drei Mädchen und - zwei Aussenseiter. Denn Fandral und Hogun gehörten definitiv nicht zu ihnen. Doch da keinem der magischen Kinder eine gute Ausrede einfiel, um die zwei wegzuschicken, mussten sie ihnen wohl oder übel gestatten, zuzuhören. Nicht einmal Loki konnte heute mit einem seiner üblichen genialen Ideen aufwarten: er schien sowieso irgendwie nicht ganz anwesend zu sein.
 

Seine Freunde wunderten sich schon gar nicht mehr gross darüber: so zerstreut wirkte Loki immer, wenn er mal wieder bei dem Alten gewesen war.
 

Lyceanus, wie der Greis hiess (er musste schon weit über achttausend Jahre alt sein) war ein seltsamer Genosse und ihnen allen eigentlich ziemlich unheimlich. Nur Loki schien in letzter Zeit geradezu fasziniert von ihm zu sein.
 

Was vermutlich daran lag, dass der Alte ihn in magische Geheimnisse einweihte, die kaum ein anderer kannte. Vielleicht nicht mal Odin selbst.
 

Wie jenes, über das er vorhin ansatzweise zu sprechen begonnen hatte – und wären nicht Fandral und Hogun aufgetaucht, hätte Loki sicher noch weitere Einzelheiten enthüllt. So aber war er augenblicklich still geworden.
 

«Was wollt ihr denn hier?» hatte er nur mit hochgezogener Braue gefragt und die beiden um zwei Jahre älteren Jungs spöttisch gemustert. «Gibt’s keine Schlägerei mehr heute, bei der ihr mitmachen könnt?»
 

Lokis Freunde hatten gelacht. Bis ein finsterer Blick aus Hoguns dunklen Augen sie verstummen liess. Sie mochten Hogun nicht: er war finster und meistens schlecht gelaunt. Oder zumindest nahmen sie das an. Es war ein wenig schwer zu bestimmen, da er nur selten sprach.
 

Fandral nahm Lokis Spott hingegen gelassen hin. Er hatte nicht nur vor dem Prinzen wegen seiner magischen Tricks ziemlich grossen Respekt, sondern vor allem auch vor dessen älterem Bruder Thor. Ausserdem wusste er selbst, dass sie mitten in eine offenbar intensive Unterhaltung geplatzt waren.
 

Fandral interessierte sich allerdings nicht wirklich für Magie, er zog es einfach vor, sich nicht ernsthaft mit jemandem anzulegen, der sie beherrschte. Bei Hogun dagegen sah es ganz anders aus: Magie war seine heimliche Leidenschaft. Auch wenn er das nie im Leben zugegeben hätte, weil er selber leider keinerlei Talent dafür besass. Als er noch sehr klein gewesen war, hatte seine Mutter, selbst eine begabte Magierin, ihn unterrichten wollen. Doch sie hatte innert kürzester Zeit entnervt aufgegeben und ihren Sprössling stattdessen zu Thor und seinen kampfeslustigen Freunden ins Training geschickt. Mochte er lernen, wie man perfekt eine Waffe schwang – wie man einen Zauber wirkte, würde er nie begreifen!
 

Trotzdem war Hogun nach wie vor extrem fasziniert von Magie. Und er beneidete Loki insgeheim heiss um dessen immer deutlicher zutage tretendes Talent. Warum der Prinz und nicht er? Klar, auch Lokis Mutter war eine Magierin... Aber dennoch! Es war einfach nicht fair. Der andere hatte doch auch so schon alles, was man sich nur wünschen konnte. Warum musste er auch noch jene Fähigkeiten besitzen, die Hogun sich so sehnlichst für sich selbst wünschte?
 

Immerhin, das war wohl das erste Mal, dass Loki sich gründlich vertan haben musste, wie Hogun nicht ohne Schadenfreude feststellte. Denn was er und Fandral da eben aufgeschnappt hatten, konnte ja wohl nur eines sein: völliger Quatsch!
 

«Eine dunkle Ebene, die unter der eigentlichen Welt liegt?» spottete Hogun und merkte zunächst gar nicht, wie ihn alle anstarrten. Dass er sprach – noch dazu auf solche höhnische Weise – war derart ungewohnt, dass sich die umstehenden Kinder fragten, ob das wirklich ‘der Grimmige’ war, wie er von den meisten längst genannt wurde. «Diesen Blödsinn hat dir wohl Lyceanus erzält?»
 

Lokis Braue hob sich lediglich noch ein wenig mehr und sein Mund verzog sich noch ein kleines bischen spöttischer. Ansonsten reagierte er nicht.
 

Fandral bemühte sich um einen ernsthaften Ton, obschon er Hoguns Meinung insgeheim teilte: diesmal hatte sich Loki gründlich vergriffen! Oder dieses alte Knochengestell namens Lyceanus, mit dem er seit Neuestem ständig zusammensteckte. «Ernsthaft, Loki, der Alte erzählt doch sicher einfach nur Schauermärchen. Es mag andere Dimensionen geben, das will ich nicht bestreiten…» Er ignorierte Hoguns verächtlichen und unwilligen Blick, «…aber unter unserer Welt? Und dann soll es noch dazu ein Ort voller Dämonen und Bestien sein, in dem die gefangenen Opfer nur überleben können, wenn sie nicht stehen bleiben? Weil sie von Monstern gefressen werden, sobald sie nicht mehr weitergehen können? Entschuldige, aber das tönt wirklich total abstrus!»
 

So, wie Fandral es aussprach, klang es tatsächlich seltsam. Er hatte es ruhig gesagt, beinahe wissenschaftlich (obschon er nicht allzu viel von Wissenschaft verstand) und dies verfehlte seine Wirkung nicht.
 

Lokis Freunde blickten sich gegenseitig an und entschieden dann offensichtlich, ihm Recht zu geben. Sie begannen, verlegen zu lachen und sagten, sie hätten ja nur Spass gemacht und ob Fandral und Hogun denn echt drauf reingefallen wären.
 

Die beiden Älteren hätten ihnen fast geglaubt – wäre nicht Loki gewesen, der immer noch ruhig und spöttisch dastand und die Szene fast gelangweilt betrachtete.
 

Fandral zuckte zusammen, als er in seine Augen blickte. Etwas Unheimliches funkelte darin.
 

Aber da zog ihn Hogun auch schon weiter. Als er einen letzten Blick zurückwarf, sah er, dass die anderen schlagartig aufgehört hatten zu lachen und sich wieder alle um Loki scharten. Die Köpfe zusammensteckend führten sie ihr Gespräch offensichtlich weiter – sehr viel leiser diesmal.
 

Sowohl Fandral als auch Hogun gingen zurück zu ihrem Training. Am Ende eines langen und intensiven Tages hatten sie das Gehörte beide wieder vergessen.
 

Erst viele Jahrhunderte später würde Fandral sich wieder erinnern – als es um sein Leben ging!
 


 


 

______________________________________________________________________________
 


 


 

...AN DEN ORT DES GRAUENS
 

Er liess absichtlich los – im sicheren Wissen, dass es sowohl seinen Tod als auch das Überleben bedeuten konnte. Aber Odins Worte hatten ein solches Gewirr an Gefühlen in ihm ausgelöst, dass sich seine Hand, die Odins Stab Gungnir umklammerte und an dessen anderen Ende Thor hing (der wiederum von ihrem Vater an einem Bein festgehalten wurde) fast von selber öffnete.
 

«Nein Loki.»
 

Nur zwei Worte. Doch sie zerschmetterten Loki innerlich in tausend Stücke. Er spürte Tränen in sich aufsteigen und schaffte es knapp, sie wegzudrücken, ehe seine Finger den Griff lösten und er fiel.
 

Doch, er hätte es geschafft, ein guter König zu sein und Asgard zu regieren! Mit Sicherheit tausendmal besser als sein hohlköpfiger Bruder – der gar nicht sein Bruder war, wie er seit kurzem wusste.
 

Beinahe war er am Ziel gewesen: Thor nach Midgard verbannt, Odin im Odinsschlaf. Er war als einziger übrig gewesen, um Asgard zu regieren. Und er hätte es gut gemacht – richtig gemacht. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen und hätte ihn endlich als ebenbürtigen Erben anerkennen müssen.
 

Aber dann war Thor zurück gekommen und Odin aus seinem Schlaf erwacht.
 

Gerade noch rechtzeitig, um seinen ältesten Sohn am Bein zu packen, als dieser zusammen mit Loki in die Tiefen des Alls zu stürzen drohte, weil die Regenbogenbrücke in sich zusammenfiel. Thors Werk – der Idiot hatte die Brücke zerstört und damit den Bifröst gleich mit.
 

Somit war nicht nur Lokis Plan, durch das feste Ausrichten des Bifröst das verhasste Jotunheim zu zerstören, gescheitert, sondern auch der zweite, weitaus wichtigere Plan...
 

Der Plan, Thor für immer los zu sein und Asgards Kronprinz zu werden.
 

In einem letzten verzweifelten Versuch, sich zu rechtfertigen, hatte Loki dem Vater zugerufen, dass er es nur seinetwegen getan hatte. Und dass er ein guter König gewesen wäre.
 

Doch Odins ‘nein’ war das endgültige Aus gewesen. Dieses eine, kleine Wort hatte alles in Loki hochgespült, was er unter einer Hülle an Selbstbeherrschung und Zynismus begraben geglaubt hatte: Zorn, Hass, Enttäuschung, Verbitterung und vor allem Schmerz.
 

Darum liess er los. Obwohl er Thors schreckgeweiteten Augen deutlich vor sich sah und die eindringliche Bitte, es nicht zu tun, in seinen Ohren widerhallte.
 

Er liess los, weil er alles verloren hatte... Und es somit nichts mehr zu verlieren gab.
 

Und es war ihm egal, ob der Sturz in das Wurmloch mit seinem Tod oder seinem Überleben enden würde.
 

Doch der Fall endete zunächst mit einem ‘weder noch’...
 

Loki spürte, wie die kosmischen Kräfte ihn beinahe in Stücke rissen – wortwörtlich diesmal – und sein Körper einzig durch die ihm innewohnende Magie zusammen gehalten wurde. Mehrmals glaubte er, dass er auseinanderbrach und wieder neu zusammengesetzt wurde. Vielleicht geschah das auch tatsächlich. Er ersparte es sich, genau hinzusehen – überhaupt hinzusehen. Sobald er in das Wurmloch einschlug, schloss er die Augen.
 

Von da an fühlte er nur noch ein Reissen und Zerren und Fallen.
 

Ein endloses Fallen ins Nichts...
 

Doch als er schon glaubte, es nicht mehr auszuhalten, wurde der Sturz auf einmal abgebremst. Loki wunderte sich und öffnete beinahe automatisch die Augen. Was er dann sah, raubte ihm die Sinne. Buchstäblich.
 

Das konnte doch nicht sein! Ein Eintauchen in diese Dimension war unmöglich.
 

Zumindest hatte Lyceanus das vor unendlich langer Zeit behauptet.
 

Aber was auch immer gerade hier geschah... Der Ort, von dessen Existenz er bisher nur aus geheimen Büchern und Erzählungen der alten Magier gehört hatte (und von dem kaum jemand wusste), tauchte unter ihm auf. Loki hörte sich schreien – doch der Laut wurde sogleich verschluckt.
 

Seine Füsse trafen auf festen Grund. Doch um ihn herum schwankte und blubberte alles. Und vor ihm leuchtete das dunkle, finstere Licht auf.
 

Genau, wie Lyceanus es beschrieben hatte.
 

Eine Legende hatte er es genannt. Eine Legende, die auf Tatsachen beruhte – und dennoch seit langem als Legende abgetan worden war.
 

Weil erst ein einziges lebendes Wesen von diesem dunklen Ort entkommen war und davon hatte erzählen können.
 

‘Na toll!’ dachte Loki mit einem Anflug von bitterem Galgenhumor. ‘Aber ausgerechnet mich muss es natürlich auch hierhin verschlagen.’
 

Aber wie? Und warum?
 

Wobei das eigentlich unwichtige Fragen waren im Vergleich zu der einzigen, die jetzt zählte: wie kam er hier wieder raus?
 

Der Tod wäre ihm egal gewesen. Aber ein Dahinvegetieren an diesem grauenvollen Ort war es definitiv nicht.
 

Und wie grauenvoll der Ort war, erfuhr er schon bald...
 


 


 

Er sah an sich herunter... und erschrak. Sein Körper war nicht mehr wirklich vorhanden. Zwar sah er ihn noch, aber er wirkte wie ein undeutliches, nebliges Gebilde. Aus der Erinnerung stiegen Lyceanus Worte in ihm auf: «Einst war eine Magierin in der dunklen Dimension gefangen gewesen. Seit sie entkommen konnte, wissen wir, dass magische Existenzen an diesem Ort meist in einem Zwischenstadium aus Leben und Tod verharren. Das schützt sie einerseits, weil sie so vor gewissen Gefahren sicher sind - ist andererseits aber auch eine zusätzliche Qual, weil sie Dinge wahrnehmen, die ausser ihnen niemand spüren kann. Das absolut Böse an diesem Ort kann nur von Magiern erkannt werden. Genauso wie das absolute Grauen, das dort herrscht.»
 

Loki merkte sehr schnell, was seinem nicht mehr voll materiellen Körper erspart wurde. Und was sein dadurch erweiterter Geist auf der anderen Seite einstecken musste.
 

Die Unruhe, vorwärts gehen zu müssen, um den Bestien zu entkommen, von denen Lyceanus gesprochen hatte, spürte er nicht. Die Bestien waren zwar da, er konnte sie aus der Ferne sehen, aber er war für sie nicht interessant, weil sein kaum vorhandener Körper keine Nahrungsquelle darstellte.
 

Dafür brach das andere mit voller Wucht über ihn herein...
 

Schon nach wenigen Sekunden spürte er eine Panik, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Und er sah, was um ihn herum war – all die Dinge, die nur magische Augen sehen konnten.
 

Aber auf deren Anblick er hätte verzichten können!
 

Der Schmerz war unglaublich und nicht auszuhalten. Keine physiche Qual liess sich damit vergleichen. Loki stand stocksteif da und versuchte, ihn wegzudrücken. Es gelang ihm nicht. Genauso wenig, wie er die Schreie ausblenden konnte.
 

Die Schreie von Millionen von schemenhaften verlorenen Seelen, die durch diese Dimension irrten.
 

Dies war weder die Hölle noch Helheim. Aber es war definitiv auch weder der Himmel noch Walhalla.
 

Es war ein Reich, das gar nicht existieren sollte.
 

Der Ausweg... In Lokis bereits umnebelten Gehirn formten sich diese Worte. Es gibt einen Ausweg....
 

Nur, was war es gleich nochmal gewesen?
 

Lyceanus hatte von etwas gesprochen, das man sich weben konnte. Aus den Stoffen der Umgebung und vor allem den lebenden Elementen unter dem blubbernden Boden.
 

Weben..? In Lokis Gehirn schien ein Rädchen falsch einzuschnappen. Etwa wie ein Stück Stoff?
 

Doch, genauso ähnlich hatte Lyceanus es bezeichnet gehabt.
 

Er starrte auf den Boden. Fest um seine Füsse herum, sich bewegend und schwankend überall sonst. Die Wesen, die darunter schwammen, erkannte er ebenfalls nur zu deutlich. Ekel stieg in ihm auf. Hätte sein Magen die Fähigkeit besessen, sich übergeben zu können, hätte er das wohl jetzt getan. Aber Frostriesen kannten sowas wie Brechreiz nicht.
 

Trotzdem: da sollte er hineingreifen und dieses schleimige Zeugs darunter packen, um...?
 

Ja, um was zu tun, eigentlich?
 

Ausserdem blieb die Frage, ob er überhaupt nach etwas greifen konnte mit Fingern, die gar nicht mehr wirklich vorhanden waren.
 

Er atmete tief durch, presste die Lippen aufeinander und ging in die Knie, die Hände zu Boden gerichtet. ‘Augen zu und durch!’ sagte er sich vor. Doch sobald seine Finger den Untergrund berührten, durchzuckte ihn ein glühend heisser Schmerz, als wenn er sich an einem offenen Feuer verbrannt hätte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Wie sollte er an die Wesen darunter herankommen, wenn seine Hände vorher versengt wurden?
 

Keuchend zog er sich wieder hoch und besah sich den Schaden.
 

Der nicht wirklich vorhanden war...
 

Seine Handflächen waren vollkommen unversehrt. Aber das konnte nicht sein – er hatte das Feuer gespürt, ganz deutlich. Überdeutlich!
 

Es sah ganz danach aus, als hätte Lyceanus ein paar Details ausgelassen...
 


 


 

Loki hatte es bislang in seinem nicht gerade kurzen Leben grösstenteils geschafft, schmerzhaften Erfahrungen auszuweichen. Klar hatte es die eine oder andere Verletzung im Kampf gegeben (einige davon durchaus ernsthaft und daher ziemlich schlimm), aber immer war es ihm relativ leicht gefallen, die Schmerzen auszublenden und seinen magischen Sinn auf eine beschleunigte Heilung auszurichten. Einer der Gründe, warum er jeweils sehr viel schneller wieder auf die Beine gekommen war als alle seine Gefährten – Thor inbegriffen.
 

Nein, echte körperliche Schmerzen kannte er eigentlich nicht wirklich. Und sogar jetzt, an diesem grässlichen Ort, schaffte er es bald, die Nervenzellen, die von seinem Körper noch übrig waren, zum Verstummen zu bringen. Zumindest jene, die die Nachricht ‘Schmerz’ an sein Gehirn weiterleiten wollten.
 

Doch er wäre glücklich gewesen, wenn es nur um rein Physisches gegangen wäre.
 

Was nicht der Fall war.
 

Panik hatte er bisher überhaupt noch nie empfunden. Nun lernte er dieses Gefühl, das jenseits der Angst lebte, kennen. Doch irgendwie schien ihm schon nach kürzester Zeit, dass die Beschreibung ‘Panik’ nicht weit genug griff um das auszudrücken, was er hier empfand. Was ihn ausfüllte, voll und ganz in Beschlag nahm und ihn kaum noch richtig denken liess.
 

‘Lähmung’ kam dem Zustand wohl am nächsten.
 

Gelähmt vor Angst, Schock, Grauen... Nein, es gab einfach keine Worte für das hier!
 

Aber es waren nicht seine eigenen Empfindungen, die auf ihn einstürzten, sondern die der verruchten Welt um ihn herum. Die Gefühle und Schreie der Geister, welche diese Dimension bevölkerten, tobten durch sein Bewusstsein und liessen ihn nicht in Ruhe. Niemals - die ganze Zeit nicht.
 

Loki hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange er so dastand: reglos, unfähig, sich in irgendeiner Weise zu bewegen, gefangen in Schock und namenlosem Entsetzen.
 

Hätte er auch nur ansatzweise gewusst, dass auf Asgard beinahe ein halbes Jahr vergangen war, so hätte er mit Sicherheit den Verstand verloren.
 

Doch Nichtwissen war in diesem Fall eine Gnade. Erst später – sehr viel später – würde er erfahren, wie viel Zeit er in diesem Nirgendwo verbracht hatte.
 

Nach jener Zeitspanne, die ihm aber glücklicherweise (noch) nicht bekannt war, setzten sich seine Füsse plötzlich in Bewegung. Von ganz alleine und zunächst ohne, dass Loki es überhaupt mitbekam. Die gequälten Stimmen sprachen mit ihm, die schrecklichen Bilder der gepeinigten Bewohner dieses dunklen Reiches tanzten vor seinen Augen, und die grenzenlose Angst der hier Festsitzenden schüttelte ihn regelrecht durch. Aus diesem Grund bekam er erst nach vielen Schritten mit, dass er sich inzwischen bewegte.
 

Vermutlich merkte er es nur darum überhaupt, weil sich der Neben in seinem Gehirn durch die körperliche Betätigung ein wenig zu lösen begann.
 

Dafür nahm die Panik noch zu. Auch wenn Loki bis eben noch behauptet hätte, dass dies gar nicht mehr möglich sei, wurde er nun eines Besseren belehrt. Wie konnte es sein, dass sein noch immer schlagendes Herz nicht augenblicklich den Dienst aufgab bei so viel Schrecken und Qual?
 

‘Den Ausgang weben... Aus den Stoffen der Umgebung und den Wesen unter der Oberfläche...’
 

Lyceanus Stimme in seinem Kopf. Das erste Mal seit Ewigkeiten – wie lange wohl? – wieder eine andere Stimme als die der Geister hier.
 

Ja, diesen Gedanken hatte er doch schon mal gehabt. Gestern..? Vorgestern..? Nein, es war eindeutig länger her – rund hundertzweiundachtzig Tage, genau gesagt.
 

Die Stoffe der Umgebung... Loki streckte die Hand aus und erwartete schon, dass sie wieder zu brennen beginnen würde wie damals, als er den Boden berührt hatte. Doch das tat sie überraschenderweise nicht. Es fühlte sich sogar seltsam weich an, als ob er nach Watte greifen würde. Doch Watte war es definitiv nicht, was er jetzt in seiner Hand hielt.
 

Lokis Augen sahen das, was nichtmagische Augen nicht erkennen konnten. Sie nahmen nicht nur die Schemen der Gefangenen dieser Dimension wahr, sondern auch das feine Netz, das überall in der Luft lag. Es war Spinnweben nicht unähnlich. Als Loki danach griff, leuchtete es in seinen Händen dunkel auf.
 

Und im selben Moment kam die Erinnerung an den Ausweg zurück – wie ein Schlag mit dem Hammer!
 

Loki hätte darüber fast so etwas wie Erleichterung verspüren können... Wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, das nicht zu schaffen. Denn das, was er tun musste, hatte schliesslich nur ein einziges Wesen vor ihm je hinbekommen.
 

Jene Magierin, von der Lyceanus damals erzählt hatte.
 

Frigga – seine Adoptivmutter!
 


 

____________________________________________________________________
 


 

...EINES WAHNSINNIGEN TITANEN
 

Thanos staunte nicht schlecht. Das, was sich da aus der dunklen Dimension zog, lebte tatsächlich noch. Aber das konnte eigentlich nicht sein. Noch niemand war da je wieder rausgekommen.
 

Darum liebte er es ja dermassen, seine unzähligen besiegten Feinde dahin zu schicken!
 

Sein kurzes empfundenes Entsetzen wandelte sich in Neugier. Wer immer da gleich Gestalt annehmen würde: es musste ein äusserst interessantes Wesen sein! Sicher lohnte es sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen.
 

Und wenn es eine Gefahr darstellte, konnte er es immer noch zurück befördern!
 

Das Etwas kroch nur langsam durch die Öffnung, was kein Wunder war, denn schliesslich klebte der Durchgang wie zähflüssiger Schleim an einem fest. Nicht, dass Thanos die Erfahrung schon selbst gemacht hätte. Aber er hatte schon einige seiner Gefolgsleute mit dem halben Körper da reingesteckt um ihnen zu zeigen, was sein konnte, wenn sie nicht spurten.
 

Sie hatten immer alle schleunigst gespurt!
 

Doch von der anderen Seite ganz aufgesogen zu werden... und es dann aus eigenem Antrieb wieder rauszuschaffen? Nein, bis heute eine unmögliche Vorstellung.
 

Der Titan verschränkte die Arme über der Brust und wartete.
 

Als das Etwas, das sich da rauszwängte, endlich ganz durch war, verspürte Thanos im ersten Moment allerdings sowas wie Enttäuschung.
 

Im ersten Moment...
 

Dann fühlte er instinktiv, dass der schwarzhaarige, bleiche Asgardianer, der da vor seinen Augen langsam wieder richtige, feste Gestalt annahm, unglaubliches Potential besass. Ein Magier, das war klar gewesen, denn andernfalls hätte sein Körper nie seine Substanz zur Hälfte aufgelöst. Doch Magier gab es viele, und nur wenige davon schafften es, Thanos in Erstaunen zu versetzen.
 

Doch dieser hier...
 

Bei diesem hier nahm der Titan etwas wahr, das seine kühnsten Erwartungen bei weitem übertraf!
 

Seine Lippen kräuselten sich. Der Schmerz und der Zorn des Mannes vor ihm waren so offensichtlich spürbar, dass unwillkürlich heisse Erregung in ihm aufstieg. Das war mehr, als er je bei einem anderen Wesen gesehen hatte – mehr Qual, mehr Wut und vor allem... mehr Möglichkeiten!
 

Es war einfach herrlich!
 

Thanos hatte lange und schon beinahe verzweifelt nach einem geeigneten Werkzeug gesucht. Nun wurde es ihm auf dem Präsentierteller gereicht!



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück