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Ich bin doch kein Wolf!

von

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Eine blutige Lippe und ein Anarchist

Ich schaffte es mit der Hilfe meines neuen Freundes Georg genau eine Woche Hector aus dem Weg zu gehen, dann erwischte er mich doch. Bis jetzt hatte uns die gerade angelaufene Handballsaison in die Hände gespielt. Ein Großteil des Rudels war Mitglied in der Mannschaft und trainierte jede freie Minute für die kommenden Wettkämpfe. Und Hector war, wie hätte es anders sein können, ihr Captain. Da blieb glücklicherweise nicht viel Zeit übrig um nach einem aufmüpfigen neuen Rudelmitglied wie mir zu suchen.

Ich verbrachte die Pausen zusammen mit Georg entweder hinter der Turnhalle oder in der Bibliothek, und nach der Schule war ich einer der ersten die das Gelände verließen.

Ich wähnte mich in Sicherheit, irgendwie war ich der Meinung Hectors Macht würde sich einzig und allein auf die Schule und die Sportplätze darum herum beschränken.

Das stellte sich als fataler Fehler heraus.

Er erwischte mich nach Unterrichtsschluss auf dem Heimweg.

Normalerweise nahm ich immer den direkten Weg, das waren knapp zwanzig Minuten an einer gut befahrenen Hauptstraße entlang bis zu dem Feldweg der zu unserem Häuschen führte. Alles gut einsehbar und voller potentieller Zeugen.

Nur an diesem Tag entschied ich mich für eine kleine Änderung im Plan. Ich wusste dass es noch einen weiteren Weg gab den ich nehmen konnte, er führte jenseits der Straße zwischen den Feldern hindurch und dann durch den kleinen Wald der irgendwann direkt an unserem Garten endete. Das hörte sich romantisch an, und mir war nach einer Abwechslung.

Ich bog von der sicheren Hauptstraße ab und folgte dem Weg aus festgefahrener Erde bis hinter die ersten Ausläufer des Waldes, von dort führte er als besserer Trampelpfad zwischen Unterholz und dicken Baumstämmen hindurch bis zu einer kleinen Lichtung.

Und dort warteten sie auf mich.

Ich wusste nicht ob es einfach nur Zufall oder so geplant gewesen war, aber Hector wirkte kein bisschen überrascht als er mich zwischen den Bäumen hervorkommen sah. Um ihn herum hatten sich noch mindestens ein halbes Dutzend Mitglieder des Rudels verteilt, und auch sie beobachteten mich mit völlig ausdruckslosen Mienen.

„Wage es ja nicht abzuhauen, du hättest eh keine Chance. Nicht dieses mal!“ Hectors Stimme hallte weit, und ich zuckte ängstlich zusammen. Ich konnte die Wut in ihr brodeln hören, und mir wurde ganz elend. Er hatte Recht, das letzte Mal hatte ich einfach nur Glück gehabt. Und Georg, aber der war weit und breit nicht zu sehen. Das hier musste ich wohl oder übel alleine durchstehen.

Ich machte einen unsicheren Schritt auf die Lichtung hinaus und versuchte nicht ganz so verängstigt auszusehen wie ich mich fühlte.

Hector fletschte die Zähne, seine Augen waren zusammengekniffen, seine Körperhaltung drohend.

Ich überlegte fieberhaft. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich einem wütenden Artgenossen gegenüber, und ich wusste nicht wie ich mich verhalten sollte. Meine Instinkte rieten mir zur Flucht, ich war dem anderen hoffnungslos unterlegen, aber gleichzeitig drängten sie mich zum Angriff. Ein Wolf war wohl selten ein geborener Feigling.

Anstatt also das klügste zu tun und den Rückzug anzutreten spannte ich mich ebenfalls, meine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, ich zeigte die Zähne.

Das war das Signal zum Angriff.

Mit einem wütenden Brüllen stürzte Hector sich auf mich, riss mich zu Boden, und nur Sekunden später rollten wir eng umschlungen über den Boden. Es war ein ungleicher Kampf, ich hatte keine Chance. Der andere war nicht nur ein paar Jahre älter als ich, sondern auch deutlich kampferprobter. Es dauerte keine zwei Minuten dann lag ich festgenagelt im Dreck, Blut tropfte aus meiner aufgeschlagenen Lippe, ein Auge begann bereits zuzuschwellen.

Das war eine deutliche Niederlage.

Während des Kampfes hatten uns die anderen Jungen schweigend, aber interessiert zugesehen, nun begannen sie sich langsam abzuwenden. Anscheinend war ihr Interesse mit Hectors eindeutigem Sieg schlagartig erloschen; alles blieb so wie es war, ihr Anführer hatte dem neuen gezeigt wo sein Platz war, und nun konnten sie sich wieder anderen Dingen zuwenden.

Hector dagegen schien es überhaupt nicht eilig zu haben den Schauplatz des Kampfes zu verlassen. Er wartete noch bis der letzte der anderen die Lichtung verlassen hatten, dann erst erhob er sich, und streckte mir überraschenderweise die Hand entgegen.

Damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich ließ sich mir von Hector auf die Beine helfen, wischte mir mit dem Handrücken das Blut von der Lippe, und sah ihm misstrauisch ins Gesicht. Was sollte das jetzt werden? Unsere Zuschauer waren weg, verschwunden im Wald, es gab also keinen Grund mehr irgendeine Show abzuziehen.

Aber das hatte Hector anscheinend auch nicht vor. Er erwiderte meinen Blick ruhig und gelassen, dann lächelte er. Ohne gebleckte Zähne.

„Es war mutig von dir mich herauszufordern; dumm, aber mutig. Das hat dir Respekt bei den anderen verschafft. Und du weißt jetzt wo du stehst. Wir sind nicht nachtragend, und das solltest du besser auch nicht sein.“ Er deutete mit einem Nicken auf mein zerschlagenes Gesicht.

„ Trotz blutiger Lippe.“

Ich war immer noch völlig verblüfft über diesen plötzlichen Stimmungsumschwung und wusste nichts passendes zu erwidern. Gerade eben hatten wir uns noch knurrend im Dreck gewälzt, und jetzt wollte Hector Smalltalk machen. War das so üblich unter...uns?

„Soll ich dich nach Hause bringen oder schaffst du das alleine?“ unterbrach der andere meine Gedanken, und ich schüttelte schnell den Kopf. Mist, das war keine entweder-oder-Frage.

„Äh, ich schaffs allein, schon gut. Ist ja nicht mehr weit.“ stotterte ich, und Hector lachte. Er klopfte mir auf die Schulter und ich wurde direkt ein paar Zentimeter kleiner. Der Kerl hatte Kraft!

„Na gut, ich glaube dir mal. Wir sehen uns sicher in der Schule, und wenn nicht da dann auf der nächsten Versammlung. Mach´s gut!“ Er winkte mir zum Abschied, dann verschwand er genau wie die anderen vor ihm zwischen den Bäumen.

Ich blieb mit schmerzenden Gliedern und völlig verwirrt allein auf der Lichtung zurück.
 

Nach dem Kampf mit Hector wurde es erfreulich ruhig für Georg und mich. Wir wurden größtenteils ignoriert, aber laut meinem neuen Freund war das der normale Status quo. Solange wir niemanden herausforderten würden sie uns links liegen lassen, und das hatte ich ehrlich gesagt auch nicht vor. Einmal verprügelt werden hatte mir gereicht.

Georg und ich trafen uns nun auch nach der Schule häufiger, meistens bei ihm, aber es schien als würden ihm meine unzähligen Fragen zum Thema Wölfe langsam lästig werden. Er beantwortete sie mir zwar weiterhin geduldig, aber man merkte dass er am liebsten über etwas anderes geredet hätte. Es war mir nicht entgangen dass er den Kontakt zum Rudel so gut es ging vermied, aber ich traute mich nicht zu fragen warum das so war. Die Streitigkeiten mit Hector waren laut Georgs eigenen Worten durch meine Niederlage aus der Welt geschafft, zu befürchten hatte er also nichts mehr. Und trotzdem, mehr als eine unterwürfige Geste wenn wir Hector begegneten war nicht drin. Georg grüßte nicht, auch nicht die ihm gleichgestellten oder unterlegenen Rudelmitglieder, und das war laut meinen Beobachtungen so nicht üblich. Selbst mit mir betrieben die anderen ab und an mal Smalltalk, und ich war nicht nur neu, sondern auch noch gerade in meine Schranken verwiesen worden.

Irgendwann konnte ich meine Neugierde nicht mehr zurückhalten. Wir hatten uns zum Lernen für eine anstehende Matheklausur verabredet, aber noch bevor Georg seine Unterlagen auspacken konnte kam ich ihm mit meiner Frage zuvor.

„Warum hältst du dich eigentlich von den anderen fern? Ich dachte Hector ist jetzt nicht mehr sauer auf uns.“

Ich hockte rücklings auf Georgs Schreibtischstuhl, er zu meinen Füßen auf dem Boden, den Kopf in seiner Schultasche. Seine Stimme klang gepresst als er mir antwortete.

„Das hat mit Hector gar nichts zu tun. Ich will einfach nichts mit dem Rudel zu tun haben. Das sind alles Testosteron gesteuerte Idioten die sich grundlos die Köpfe einschlagen. Das ist mir zu blöd.“ Georg hörte auf in seiner Tasche zu kramen und sah mich an. Ich erwiderte den Blick, dann senkte ich schnell den Kopf. Sein Stirnrunzeln war Warnung genug. Ich biss mir auf die Lippe. War das echt schon alles? Georg hatte einfach keinen Bock auf die anderen weil sie ihm zu…primitiv waren? So ganz konnte ich ihm das nicht glauben, aber ich traute mich auch nicht weiter zu fragen. Er wollte eindeutig nicht darüber reden, und ich hatte seine Nerven mit meiner Fragerei schon genug strapaziert.

Jetzt war Zeit für Mathe.

Ich rutschte vom Schreibtischstuhl herunter zu ihm auf den Fußboden und zog meine eigene Schultasche heran.

„Hm, okay, keine Ahnung ob das alles Idioten sind. Aber du, du bist zumindest keiner.“ ich schenkte ihm ein breites Lächeln, und Georg erwiderte es. Zumindest für einen Moment, dann wies er mich schon wieder zurecht.

„Ricci, deine Zähne. Versuch zu lächeln ohne die Zähne zu zeigen. Du weißt doch…“

Ich verdrehte die Augen.

„Ja, ich weiß, keinem die Zähne zeigen. Man ist das nervig!“

Er lachte über mein Gemecker, dann schlug er das Mathebuch auf und riss zwei leere Blätter aus seinem Block. Eins davon gab er mir.

„Wie gut bist du in Mathe?“

Ich zuckte die Schultern.

„Grottig, befürchte ich.“

Jetzt war es an Georg genervt die Augen zu verdrehen. Er schob sein Mathebuch in die Mitte und tippte mit seinem Stift auf eine kompliziert aussehende Aufgabe.

„Versuch das hier zu lösen, und wenn du nicht mehr weiter weißt darfst du mich fragen.“

Ich warf einen zweifelnden Blick auf die Aufgabenstellung, las sie mir zweimal durch, dann setzte ich bereits zur ersten Frage an.

Georg unterbrach mich mit einem halb genervten, halb belustigten Seufzer.

„Okay, nicht nur ein schlechter Wolf, sondern auch noch ein Hohlkopf. Du passt wirklich gut ins Rudel. Also, wo ist das Problem?“

Ich schluckte eine passende Erwiderung auf diesen Seitenhieb hinunter und konzentrierte mich. Georg meinte es nicht böse, das konnte ich an seiner Stimme hören. Und trotzdem regte sich da etwas in mir, etwas das ihn für seine respektlosen Worte am liebsten bestrafen würde.

Das war doch verrückt! Ich würde niemanden für ein paar bedeutungslose Bemerkungen mir gegenüber den Kopf einschlagen. Und schon gar nicht Georg! Ich atmete tief durch und senkte meinen Blick erneut in das Mathebuch. Wir waren hier zum Lernen, und nicht um uns zu streiten. Und wenn man es genau nahm hatte ich ja sogar angefangen, ich mit meinen indiskreten Fragen. Georg traf keine Schuld. Er hatte nur gekontert.

Jetzt huschte sein Stift über mein Blatt, er dröselte die Aufgabe auf und erklärte mir Schritt für Schritt wie ich sie zu lösen hatte. Trotz seiner Hilfe scheiterte ich noch an zwei weiteren bis ich endlich auch von selbst zu einer richtigen Lösung kam. Ich warf meinen Stift in das immer noch aufgeschlagene Mathebuch und grinste ihn breit an.

„Siehst du? Anscheinend bin ich doch nicht so hohl wie du befürchtest hast!“

„Und deine Zähne hast du diesmal auch nicht gezeigt, du lernst wirklich dazu.“ erwiderte Georg und zwinkerte mir zu. Dann stand er auf und räumte seine Schulsachen zusammen. Ich tat es ihm gleich, ein Blick auf mein Handy sagte mir dass es bereits kurz nach sechs Uhr war. Zeit zum Heim gehen.

Georg brachte mich noch bis zur Haustür, dann verabschiedeten wir uns und ich machte mich auf den Heimweg.

Während ich die nur noch spärlich von der untergehenden Sonne beschienene Straße hinunter schlenderte musste ich über Georgs Worte nachdenken. Ich verstand noch nicht viel davon was es hieß das Mitglied eines Wolfsrudels zu sein, aber wenn man meinem neuen Freund Glauben schenken durfte war das alles andere als spaßig. Meine eigenen schmerzhaften Erfahrungen unterstützten diese Aussagen nur noch. Andererseits war Hector mir nachdem die Fronten geklärt worden waren wie ein ganz umgänglicher Kerl vorgekommen, und dafür dass er sich an bestimmte Regeln und Traditionen halten musste konnte er ja nichts. Er hatte mich ja offensichtlich auch nicht zum Spaß verprügelt.

Ich war verwirrt.

Einerseits mochte ich Georg und wollte es mir mit ihm nicht verscherzen, andererseits hatte ich keine Lust Hector und dem Rudel negativ aufzufallen.

Und Georg fiel negativ auf, das war mir nicht entgangen. So wie es aussah war er doch nicht die beste Wahl um mich mit den Gepflogenheiten des Rudellebens bekannt zu machen. Ich hatte mich offensichtlich mit einem Anarchisten angefreundet, und das machte die ganze Sache deutlich komplizierter. Georg versuchte den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die anderen zu bringen während ich nichts lieber getan hätte als noch mehr über sie zu lernen. Für mich war meine neue Identität wie eine Offenbarung, sie war aufregend, aber Georg empfand sie eindeutig als Fluch.

Ich wusste nicht wie ich das unter einen Hut bringen sollte ohne mit einer der beiden Seiten Ärger zu bekommen. Ich konnte mich ja schlecht gleichzeitig anpassen und trotzdem rebellieren. Noch flog ich erfolgreich unter dem Radar, ich hielt mich von den anderen fern, aber das würde ich sicher nicht für den Rest meiner schulischen Laufbahn durchhalten. Das hatte selbst Georg zugeben müssen. Er war praktisch der Großmeister im Unsichtbarsein, aber selbst er geriet ab und an in die ein oder andere Außeinandersetzung. Und er hatte jahrelang Zeit gehabt die Regeln zu lernen! Für mich war das alles Neuland!

Es war frustrierend. Ich konnte nicht verhindern das meine Unwissenheit mich in Schwierigkeiten brachte, und Georg konnte nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf mich aufpassen. Wir sahen uns selbst in der Schule ja nur zu den gemeinsamen Unterrichtsstunden, und in den Pausen, aber wir hatten unterschiedliche Sportkurse und Georg gab zusätzlich noch Nachhilfe. Ich war umringt von anderen Wölfen die mich mit Argusaugen beobachteten und auf einen Fehler meinerseits lauerten. Da half auch Hectors sympathische Seite nichts. Laut Georg war es dem Anführer nicht erlaubt Partei für einen niedereren Wolf zu ergreifen oder sich in körperliche Außeinandersetzungen einzumischen, in Georgs Abwesenheit war ich also völlig auf mich allein gestellt.

Und machten wir uns mal nichts vor, ich war kein großer Kämpfer. Da halfen auch die vermeintlichen Wolfsgene nichts. Ich war kleiner als der Durchschnitt meiner Altersgenossen, dazu eher schlank als robust und auch nicht besonders ausdauernd. Ich konnte nur verlieren. Wahrscheinlich wäre es wirklich besser ich würde auf Georg hören und mich möglichst fern des Rudels halten. Die Truppe war zwar durchwachsen, aber selbst die schwächeren Mitglieder hatten deutlich mehr Kampferfahrung als ich. Egal wie ich es anstellte, es würde auf jeden Fall auf ein paar sehr schmerzhafte Erfahrungen für mich hinauslaufen. Und darauf hatte ich nach der Begegnung mit Hector erst einmal keine große Lust mehr.

Nur leider sahen das die anderen natürlich ganz und gar nicht so. Für sie war ich ein gefundenes Fressen und eine einfache Möglichkeit sich ein bisschen mehr Respekt in den eigenen Reihen zu verschaffen.

Und so dauerte es keine halbe Woche bis mich ich meinem nächsten Kampf um einen Platz im Rudel gegenübersah.



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