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Selbstmord ist keine Lösung......oder?

von

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Seine Geschichte *zensiert*

Als Carina und Grell endlich mit der zweiten Besichtigungsrunde fertig waren, verfärbte sich der Himmel draußen bereits in ein zartes Orange. „Ich muss los“, sagte Grell und schaute auf seine Uhr. „Meine Schicht endet in einer Stunde und ich muss noch 8 Seelen einsammeln.“ „Dann sehen wir uns morgen“, erwiderte Carina und klang dabei nicht gerade begeistert. Grell nahm es ihr nicht übel, auch er würde den morgigen Tag am liebsten überspringen. Und das, obwohl es ein Ball war!
 

Er klopfte ihr zweimal auf die Schulter. „Wir kriegen das hin. Du wirst schon sehen.“ „Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte sie, musste aber jetzt gegen ihren Willen lächeln. Mit Grell an ihrer Seite fühlte sie sich unbestreitbar sicherer. „Sorg einfach dafür, dass William und Ronald keinen Mist anstellen und auch wirklich hier auftauchen. Wir können jeden Kämpfer gebrauchen.“ „Keine Sorge, im Notfall mache ich ihnen einfach die Hölle heiß“, flötete er und ehe Carina darauf etwas erwidern konnte, schnippte er einmal spielerisch mit den Fingern und löste sich im nächsten Moment in Luft auf. Sie verdrehte die Augen. Grell und seine dramatischen Abgänge…
 

Die Schnitterin schaute sich kurz im Eingangsbereich der Villa um, ehe sie kehrt machte und den Weg zu ihrem Zimmer einschlug. Besonders weit kam sie jedoch nicht. In der einen Sekunde herrschte noch vollkommene Stille um sie herum, in der zweiten Sekunde jedoch schlugen all ihre Sinne plötzlich lautstark Alarm. Sie wirbelte herum und musste im nächsten Moment einen Aufschrei unterdrücken, als plötzlich Sebastian vor ihr stand. Der Butler lächelte, doch Carina konnte die kurz aufflackernde Schadenfreude dahinter sehen. Sie schnaubte. „Mach das nie wieder“, sagte sie ernst und nahm ihre Hand vom Griff ihrer Death Scythe herunter, den sie aus purem Reflex heraus gepackt hatte. Sebastians Grinsen wurde breiter. „Ganz wie Ihr wünscht“, sagte er mit einer kurzen Verbeugung und Carina konnte nicht anders, als mit den Augen zu rollen.
 

„Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Butler?“, entgegnete sie genervt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das Abendessen ist fertig“, teilt er ihr mit und deutete ihr gleichzeitig an ihm zu folgen, „und da ich mir sicher war, dass ihr Probleme haben würdet den Weg zu finden-“ „Schon verstanden“, unterbrach die Schnitterin ihn und wurde prompt rot im Gesicht. Großartig, jetzt hatten sich ihre navigatorischen Fähigkeiten schon herumgesprochen…
 

Als der Esstisch wenige Minuten später in Sichtweite kam, erfassten ihre Augen sofort Cedric, der sich direkt neben Ciel gesetzt hatte und diesem nun gut gelaunt mit seiner üblichen Gestik unterhielt. Der junge Earl wirkte alles andere als begeistert, beinahe schon eine Spur genervt. „Kein Wunder“, dachte Carina. Der Silberhaarige hatte wirklich ein Händchen dafür Leute an ihre Grenzen zu bringen, wenn er es darauf anlegte. Und scheinbar tat er genau das, denn obwohl der Tisch mindestens 5 Meter lang war hatte er sich genau neben den 14-Jährigen gesetzt. Umso weniger überraschte sie es daher, dass Ciel erleichtert aufatmete, als Sebastian und sie endlich eintraten.
 

Der Butler führte sie zu dem anderen Stuhl neben seinem Meister, sodass sie Cedric direkt gegenüber saß. „Earl“, sagte sie ruhig, aber nicht unhöflich. „Carina“, antwortete er im gleichen Tonfall und Angesprochene konnte nicht leugnen, dass es ihr auf eine gewisse Art und Weise gefiel, dass er sie nun bei ihrem Vornamen nannte. Das machte es persönlicher. Als würden sie sich gut kennen. Was zwar nicht wirklich der Fall war, aber dennoch schien es ihr ein gutes Zeichen für die Zukunft zu sein.
 

„Und? Konntest du Mr. Sutcliff das Anwesen ein wenig näher bringen?“, fragte der Phantomhive, während Sebastian in Richtung Küche verschwand. „Grell ist gut darin sich Räumlichkeiten einzuprägen“, sagte sie. Das „Im Gegensatz zu mir“ blieb unausgesprochen. Dennoch warf Cedric ihr einen Blick zu, der klar und deutlich zum Ausdruck brachte, dass er die nicht gesagten Worte von ihrem Gesicht ablesen konnte. „Dann dürfte für morgen ja soweit alles erledigt sein“, meinte der 14-Jährige. Carina seufzte. „Ja, zumindest was die Planung angeht. Allerdings wäre mir die Wortwahl „Dann kann ja morgen eigentlich nichts mehr schief gehen“ lieben gewesen.“ Ciel schaute sie wissend an. „Es kann immer etwas schief gehen“, erwiderte er. „Bedauerlicherweise ist das korrekt“, antwortete sie und schaute zu Cedric, als dieser einmal leise kicherte. „Gerade bei unseren Plänen“, gluckste er vergnügt und sorgte dafür, dass Ciel genervt den Blick abwandte und zu Carina schielte. Ganz so, als wollte er sie fragen, wie sie es nur mit dem Bestatter aushielt; seine gute Erziehung ihn allerdings davon abhielt so etwas laut auszusprechen. Carina musste schwer an sich halten, um nicht zu grinsen. Wenn der Junge nur wüsste, dass Cedric und er miteinander verwandt waren…
 

„Vermutlich würde ihn das eher ins Grab bringen als sein Deal mit dem Teufel.“
 

Ihre Augen wanderten zu Sebastian, der in diesem Moment das Essen auftischte. Er warf den beiden Todesgöttern ein Lächeln zu, doch seine Augen blitzten kurz hämisch auf. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob Shinigami Nahrung zu sich nehmen oder nicht, aber war bereit das Risiko einzugehen.“ „Hehe~ Wir sind nicht tot, Butler“, sagte der Undertaker grinsend und die 19-jährige Schnitterin deutete auf ihren Partner. „Habt ihr ihn denn noch nie seine Kekse essen sehen?“, fragte sie amüsiert, woraufhin Ciel und Sebastian zeitgleich laut ausatmeten und ein synchrones „Bedauerlicherweise doch“ hervorbrachten. Der Bestatter lachte herzlich, als er in all die genervten Gesichter sah. Über nichts konnte er sich so gut amüsieren wie der Kleingeist von manchen Menschen.
 

Carina würde es vor Sebastian niemals zugeben, aber das Essen war in jeglicher Hinsicht vorzüglich. Hatte sie nicht irgendwo mal gelesen, dass Dämonen einen gänzlich anderen Geschmackssinn besaßen als Menschen? Wie hatte er dann bitteschön gelernt Speisen so gut zuzubereiten? Neugierig, wie sie nun einmal war, konnte sie sich die Frage nach Ende des Hauptgangs nicht verkneifen. „Ich habe einmal gelesen, dass Dämonen normales Essen nicht so schmecken können, wie menschliche Wesen das tun. Wie hast du es also geschafft kochen zu lernen, Teufel?“ Ciel verschluckte sich neben ihr kurz an seinem Wasser und an der nicht gerade amüsierten Miene Sebastians konnte sie sehen, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Übung, Erfahrung und Präzision“, antwortete er kühl.
 

Ciel räusperte sich einmal und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab, um sein schadenfrohes Lächeln zu verbergen. „Glaube mir, wenn ich sage, dass es viel Übung gebraucht hat“, sagte er trocken, aber gleichzeitig amüsiert. Sebastian schenkte ihm einen unbeeindruckten, starren Blick. Carina war das nicht neu. Scheinbar konnten die beiden nicht anders, als hier und da einen Seitenhieb untereinander auszutauschen.
 

„Wie dem auch sei“, wechselte der Butler geschickt das Thema, „alle uns möglichen Vorkehrungen wurden für morgen getroffen. Alles Restliche hängt jetzt lediglich von uns ab. Und da mein Vater sich der Tatsache, dass wir ihn bekämpfen werden, bestens bewusst ist, müssen wir auf die schlimmstmöglichen Wendungen gewappnet sein.“ „Da würden mir so einige einfallen“, murmelte Carina und legte die Gabel weg. Wäre sie nicht schon mit dem Essen fertig, wäre ihr jetzt glatt der Appetit vergangen. Sebastian warf ihr einen angespannten Blick zu. „Dann solltest du diese Gedanken schnellstmöglich aus deinem Kopf vertreiben, denn mein Vater hat ein Händchen dafür zu sehen, was in den Köpfen seiner Opfer vor sich geht. Etwas, dass ihm aus seiner Zeit als Erzengel erhalten geblieben ist.“ „Großartig“, stöhnte sie und musste unweigerlich an die Legilimentik aus den Harry Potter Büchern denken. Sie wusste noch sehr genau, welchen Schaden Voldemort mit dieser Art von Macht angerichtet hatte.
 

Ciel schien die Vorstellung, jemand könnte in seinen Gedanken herumwühlen, ebenfalls ganz und gar nicht zu gefallen. Er schaute den einzig anderen anwesenden Aristokraten des Bösen an und sagte mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme: „Vielleicht sollten wir dann hoffen, dass er sich zuerst mit deinem Kopf beschäftigt, Undertaker. Möglicherweise haben wir Glück und er fällt anschließend dem Wahnsinn anheim.“
 

„Hehe, gut möglich, Earl“, grinste Cedric und ließ den kleinen Witz sang- und klanglos über sich ergehen. „Er kann es gerne versuchen. In meinem Alter ist man zumeist auf alles vorbereitet. Und es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht die Geheimnisse in meinem Kopf zu ergründen.“ Carina runzelte bei seinem letzten Satz automatisch die Stirn. Was hatte das denn nun wieder zu bedeuten?
 

„Jeder der hier Anwesenden weiß, dass ich nur äußerst ungern Dinge dem Zufall überlasse“, ergriff Ciel erneut das Wort. „Es gehört zu den Aufgaben eines Earls für alle möglichen Gegebenheiten einen Plan zu haben. Aber hier haben wir es nun einmal mit dem Übernatürlichen zu tun. Und selbst ich habe durch die letzten Jahre begriffen, dass es in solchen Situationen nun einmal nicht immer möglich ist alles bis ins letzte Detail zu planen.“ „Und trotzdem seid Ihr noch hier, Earl“, grinste der Undertaker. Ciels Mundwinkel zuckten leicht, als er ein Lächeln unterdrückte. „Und trotzdem bin ich noch hier“, bestätigte er und schaute in die Runde. „Dieser Teufel, Erzengel oder als was auch immer er sich selbst bezeichnet wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht. Wenn wir mit ihm fertig sind, wird ihm klar werden, dass man sich niemals ungestraft mit einem Earl Phantomhive anlegt.“
 

Carina wusste selbst nicht wieso, aber die Worte dieses Jungen lösten die Anspannung in ihrem Inneren ein wenig. Beinahe fühlte sie sogar so etwas wie neue Zuversicht in sich aufsteigen. „Und mit Todesgöttern ebenso wenig“, sagte sie bestimmt und stellte Blickkontakt zu Cedric her, der ihr aufmunternd zunickte. „Wir werden ihm zeigen, dass man sich den Tod nicht einfach so zu Eigen machen kann. Und ich werde ihm zeigen, dass man mit mir keine Spielchen spielt; ganz besonders dann nicht, wenn es um die Menschen geht, die ich liebe“, beendete sie ihre kleine Ansprache und dachte, wie so häufig, an Alice. Dafür würde er bezahlen. Egal, wie das Ganze auch ausgehen würde, dafür würde sie ihn bluten lassen.
 

Cedric verzog die Lippen zu einem geschlossenen Lächeln und warf ihr diesen einen Blick zu, der jedes Mal dafür sorgte, dass sie mit ihm am liebsten sofort im Schlafzimmer verschwunden wäre. Diese besitzergreifende, stolze Miene.
 

„Apropos Menschen, die man liebt“, sagte er und wechselte mit seinen nachfolgenden Worten so geschickt das Thema, dass es kaum jemandem am Tisch auffiel, „warum leistet uns Eure liebreizende Verlobte eigentlich keine Gesellschaft?“ Ciel wurde purpurrot im Gesicht. Carina fand es herzallerliebst, dass der junge Adelige tatsächlich immer noch glaubte, dass seine Liebe für Elizabeth nicht für jeden mehr als offensichtlich war. „Sie war nach unserem Ausflug erschöpft und wollte sich ein wenig ausruhen.“ „Die junge Miss Midford schlief, als ich sie abholen wollte. Mein Herr befand, dass es besser wäre sie schlafen zu lassen“, ergänzte Sebastian. Carina grinste, als Ciels Gesicht nun einen noch tieferen Rotton annahm. „Was für ein Gentleman“, neckte sie ihn, woraufhin sogar Sebastian ein spöttisches Lächeln unterdrücken musste. „Ich habe mich geirrt. Undertaker und du passt doch perfekt zusammen“, erwiderte der 14-Jährige trocken; spielte damit auf die Tatsache an, dass sie ihn beide wohl gerne vorführten. „Vielen Dank, Earl“ gackerte der Silberhaarige. „Das war kein Kompli-“, begann Ciel genervt, belehrte sich dann allerdings eines Besseren, „ach, nicht so wichtig.“
 

„Das war doch wirklich mal ein interessanter Abend, findest du nicht?“, lachte der Bestatter eine Stunde später, als Carina und er endlich wieder auf ihrem Zimmer waren. „Ich bezweifle, dass Ciel das genauso sieht“, erwiderte sie schmunzelnd, während sie gleichzeitig Lilys Köpfchen hielt, die gerade an ihrer Brust lag und friedlich trank. „Der Earl hat für sein Alter viel zu wenig Spaß. Er muss das Leben mehr genießen.“ „Solange er es noch kann“, beendete Carina in Gedanken Cedrics Satz, denn beiden war klar, dass die Uhr für den Jungen laut tickte. „Ich schätze mal, er genießt die kleinen Dinge des Lebens. Auf seine ganz eigene Art und Weise“, antwortete sie ihm und legte sich ein Tuch über die Schulter, um anschließend Lily sanft in eine ähnliche Position zu bringen. „Stimmt. Hast du mal seinen Gesichtsausdruck gesehen, wenn einer von seinen Plänen funktioniert hat und der Gegner ihm hilflos gegenübersteht? Dieses überlegene, zufriedene Lächeln? Zum Totlachen“, kicherte der Bestatter erfreut. Die Schnitterin rollte leicht mit den Augen. Kurz dachte sie darüber nach ihm zu sagen, dass sie dieses Lächeln auch schon auf seinen Lippen gesehen hatte – nämlich auf der Campania – aber dann unterließ sie es doch. Cedric wurde immer melancholisch, wenn sie ihn daran erinnerte, dass ein paar Merkmale des Phantomhives aus seinem Erbe entsprangen.
 

Carina schaute auf die Uhr und seufzte. Es war schon spät genug, dass sie unter normalen Umständen vielleicht ins Bett gegangen wäre, aber irgendwie glaubte sie nicht, dass sie in der nächsten Stunde Schlaf finden würde. Ihre Augen glitten zur Badezimmertür und plötzlich kam ihr wieder der Gedanke in den Sinn, den sie beim ersten Anblick des Zimmers gehabt hatte. Sie linste zum Vater ihrer Tochter hinüber. „Lust auf ein Bad?“
 

„Endlich“, stöhnte Grell und ließ mit einem lauten Scheppern seinen Bericht in das entsprechende Fach fallen, was ihm einen tadelnden Blick von der Shinigami an der Rezeption einbrachte. Er war komplett erledigt. Eine Doppelschicht an sich war schon anstrengend genug, aber wenn man in der Zwischenzeit auch noch eine pompöse Villa besichtigen und sich einprägen musste, war das definitiv zu viel des Guten. Und obwohl sich seine Augenlider schwer anfühlten und das Bett in seinem Zimmer quasi schon nach ihm rief, schlug er genau die gegenteilige Richtung ein und schleppte sich mit schweren Schritten die Treppe in Richtung Büros hoch. Williams Büro, um ganz genau zu sein.
 

Obwohl er wusste, dass es nun einmal notwendig war vor dem morgigen Tag noch einmal mit William zu reden, hielt sich seine Lust dazu arg in Grenzen. Die letzten Gespräche, die sie in den vergangenen Wochen zwischen Tür und Angel miteinander geführt hatten, waren allesamt kühl und distanziert gewesen. Nicht, dass ihn das großartig gewundert hatte. Immerhin war er dieses Mal derjenige, der dafür sorgte, dass es genau so zwischen ihnen ablief.
 

Zwischen ihnen war einfach zu viel falsch gelaufen. Zuerst hatte Grell William hintergangen, indem er Carina zur Flucht verholfen und ihn deswegen beinahe ein ganzes Jahr belogen hatte. Dann hatte William ihn daraufhin wie den letzten Dreck behandelt, nur um ihm anschließend unverblümt vor den Latz zu knallen, dass er durch Carina wusste, dass Grell in ihn verliebt war. Was die ganze Sache zwischen ihnen nur noch weiter verkompliziert hatte.
 

Grell kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass er sensibel war, wenn es um seine eigenen Gefühle ging. Daher wusste er auch, dass er so wie bisher einfach nicht weitermachen konnte. Es war besser, wenn er William auf Abstand hielt und sei es auch nur, um sich selbst vor weiteren Enttäuschungen zu schützen.
 

Er hielt vor der Tür an und holte noch einmal tief Luft, um sie anschließend ebenso langsam aus seinem Mund entweichen zu lassen. Dann klopfte er zweimal bestimmt gegen das Holz und trat nach dem üblichen „Herein“ ein. „Guten Abend, William“, sagte er müde und schloss die Tür leise hinter sich. „Grell“, erwiderte der Aufsichtsbeamte und nickte ihm kurz zu. Noch etwas, über das sich der Rothaarige innerlich aufregte. Zwei Jahrhunderte lang hatte William ihn immer stur mit „Sutcliff“ angesprochen, egal wie sehr er ihn auch darum angebettelt hatte ihn beim Vornamen zu nennen. Und jetzt, wo dem Schnitter genau diese unfreundliche Anrede am allerliebsten gewesen wäre, nannte er ihn plötzlich „Grell“? Was sollte der Blödsinn?
 

„Ich wollte dich lediglich darüber informieren, dass sich an dem Plan für morgen nichts geändert hat. Carina und Undy befinden sich bereits auf dem Anwesen und wir sollen zusammen mit Ronald morgen zur vereinbarten Zeit zum Ball erscheinen. Unsere Garderobe habe ich wie gewünscht säubern lassen und auf unsere Zimmer gebracht, sodass jetzt eigentlich nichts mehr zu erledigen ist. Kann ich sonst noch etwas für dich tun? Falls nicht, würde ich mich jetzt gerne zum Schlafen zurückziehen. Für den morgigen Tag werden wir bestimmt alle Kräfte brauchen.“ Er glaubte kaum, dass der Schwarzhaarige seine stumme Anspielung verstand, dass auch er sich so langsam mal von seinem Schreibtisch lösen sollte. Aber es konnte ihm ja auch eigentlich egal sein.
 

William bedachte Grell mit einem prüfenden Blick. Er zeigte es nicht, aber diese Distanz zwischen ihnen ging ihm nach wie vor mehr auf die Nerven, als es Grells ursprüngliches Verhalten getan hatte. Und das wiederum nervte ihn noch mehr!
 

„Es scheint ja alles vorbereitet zu sein. Gibt es ansonsten noch etwas, was ich wissen müsste? Neuigkeiten über den Dämon?“ Der rothaarige Reaper schüttelte den Kopf. „Bisher nichts. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, werden wir wohl erst morgen herausfinden.“ Er zögerte kurz. „Carina meinte noch, ich solle aufpassen, dass du und Ronald auch tatsächlich auftauchen werdet. Und dass ihr keinen Mist baut.“ William schnaubte. „Charmant“, entgegnete er und einen Moment lang glaubte er Grells Mundwinkel daraufhin in die Höhe zucken zu sehen. Oder hatte er sich das nur eingebildet?
 

Unangenehmes Schweigen machte sich in dem Büro breit. „Dann sehen wir uns morgen“, sagte Grell schließlich und wandte sich zur Tür. Aus einem Impuls heraus wollte William ihn davon abhalten. Ronalds Worte schwirrten nach wie vor in seinem Kopf umher.
 

„Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an, Mr. Spears. Aber was auch immer zwischen ihnen beiden vorgefallen ist, ich würde es schnellstmöglich klären. Bevor es wirklich hässlich wird.“
 

William konnte sich ehrlich gesagt kaum vorstellen, wie es denn noch hässlicher werden sollte. Vielleicht, wenn Grell gar nicht mehr mit ihm sprach? Wenn er ihn plötzlich hasste? Letzteres sorgte dafür, dass sich ein komischer Druck auf seinen Magen legte, der ihm ganz und gar nicht gefiel. Warum also schaffte er es einfach nicht den Mund aufzukriegen?
 

Das Zufallen der Tür riss ihn abrupt aus seinen Gedanken heraus. Innerlich verfluchte der Beamte sich tausendfach. Erneut hatte er eine Chance vertan diese Sache mit Grell endlich aus der Welt zu schaffen. Und morgen hatten sie weitaus andere Sorgen, als sich mit diesem Thema zu befassen. „Nächstes Mal“, sagte er sich. „Das nächste Mal, wenn er in mein Büro kommt, werde ich das klären.“
 

Der Gedanke, dass es vielleicht gar kein nächstes Mal geben könnte, kam ihm in diesem Moment nicht.
 

„Ah“, stieß Carina wohlig hervor und ließ sich noch ein wenig tiefer in das heiße Wasser sinken. „Das war die beste Idee des heutigen Tages.“ Cedric, der ihr in der Wanne genau gegenüber saß, band sich seine langen, nassen Haare mit einem Band zurück und grinste. „Jetzt weißt du, warum sich die Aristokraten des Bösen überwiegend hier getroffen haben. Die Gastfreundlichkeit eines Earls nimmt man doch immer wieder gerne an, wenn sie sich einem bietet.“ „Wie geht das Sprichwort noch? Wenn das Leben einem Zitronen gibt, mach Limonade daraus?“, fragte Carina amüsiert und ließ ihre Schultern kreisen, um den letzten Rest Anspannung von dort herauszuholen. „Nie davon gehört. Muss wohl eins sein, was noch erfunden wird.“ Carina lachte leise auf. „Tja, wenn du es nicht kennst, wird es wohl so sein. Immerhin lebst du jetzt schon so lange, dass es sicherlich nicht vieles gibt, worüber du keine Kenntnisse hast, oder?“ Der Bestatter zuckte mit den Schultern, sodass das Badewasser mehrere kleine Wellen schlug. „Hier und da gibt es immer mal wieder Wissen, das man sich neu aneignet, aber du hast Recht. Vieles habe ich bereits kennengelernt.“
 

Carina betrachtete ihn schweigend. Oft vergaß sie einfach, wie viel älter er im Gegensatz zu ihr war. Wie viele Menschen er bereits getroffen, wie viele Generationen er bereits durchlebt und überlebt hatte. Unweigerlich erinnerte sie sich an das Gespräch, das sie am heutigen Nachmittag mit Grell geführt hatte.
 

„Du willst ihn nicht bedrängen, das ist mir klar. Aber vielleicht solltest du ihn endlich danach fragen, gerade in unserer jetzigen Situation. Ich meine… wir könnten morgen schon alle tot sein, wirklich tot diesmal, und dann hättest du nie die Wahrheit erfahren.“
 

Carina biss sich auf die Unterlippe. Grell hatte mit seinen Worten Recht, das musste sie zugeben. Und dass sie von Natur aus neugierig war, half bei dieser ganzen Angelegenheit nicht wirklich. Aber es war nun einmal ein hochsensibles Thema, für jeden von ihnen. Cedrics menschliches Leben mochte wesentlich länger zurückliegen, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er unbedingt besser damit klar kam. Alles in ihr sträubte sich dagegen ihn an etwas zu erinnern, was er vermutlich am liebsten vergessen würde.
 

„Worüber denkst du nach?“, fragte der Silberhaarige sie plötzlich und riss die Schnitterin wieder in die Gegenwart zurück. „Nichts“, sagte sie – offensichtlich zu schnell, denn Cedric sah nicht so aus, als würde er ihr auch nur eine Sekunde lang glauben. Er hob eine Augenbraue. „Und jetzt noch einmal die Wahrheit?“, fragte er erneut und sah sie auffordernd an. Ein weiteres Mal biss sie sich auf die Lippe, überlegte stillschweigend hin und her. Schließlich antwortete sie: „Ich will dir nicht zu nahe treten.“ Er blinzelte einmal verwirrt, dann stupste er mit seinem nackten, ausgestreckten Bein gegen ihres. „Ich glaube kaum, dass du mir in irgendeiner Art und Weise zu nah treten kannst, Carina“, gluckste er leise. „Sei dir da mal nicht allzu sicher“, dachte Angesprochene und zögerte immer noch merklich. Dann sagte sie: „Ich hab Grell heute gefragt, ob er die Zerstörung des Dispatchs bei deiner Flucht miterlebt hat.“
 

Der Bestatter hob nun auch noch die andere Augenbraue. „Und?“, fragte er neugierig, da er immer noch nicht so recht wusste, wieso die Mutter seines Kindes sich plötzlich so zurückhaltend benahm. „Er war nicht vor Ort, aber er hat die Auswirkungen zu Gesicht bekommen. Als ich ihm sagte, dass du derjenige warst, der dafür verantwortlich war, war er ziemlich überrascht. Nun ja… zugegebenermaßen nicht besonders lange“, fuhr sie fort und lächelte leicht, als Cedric amüsiert auflachte. „Aber worauf ich eigentlich hinaus will… also… er hat damals jemanden aus der Forensik dazu befragt. Einen Shinigami namens Othello. Du müsstest ihn kennen.“ Carina spürte, wie der Todesgott sich abrupt versteifte, als er den Namen des Wissenschaftlers hörte. Scheinbar bekam er langsam eine Ahnung, in welche Richtung dieses Gespräch ging.
 

„Was hat er dir erzählt?“
 

Sein Ton war wachsam, vorsichtig. Carina bereute bereits jetzt, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. „Dass du eine lebende Legende im Dispatch bist. Dass du der Inbegriff eines Todesgottes warst. „Und…“, sie zögerte ein weiteres Mal, zwang sich jedoch dann weiterzusprechen, „und, dass du unter der Nummer 136649 bekannt warst.“
 

Es hatte nur sehr wenige Augenblicke in ihrem bisherigen Leben gegeben, in denen sie Cedric so aufgewühlt gesehen hatte. Dieser hier war einer davon. Der Silberhaarige saß da wie in Stein gemeißelt und sein Gesichtsausdruck war genauso. Versteinert. Vollkommen still. Er bewegte sich keinen Millimeter.
 

Sofort ruderte Carina zurück. „Vergiss es, ich hätte es nicht ansprechen sollen. Lass uns über etwas anderes reden.“ Jetzt bewegte der Undertaker sich doch, indem er ihr in die Augen schaute. „Aber es interessiert dich“, stellte er ganz neutral fest, woraufhin Carina schluckte. „Es geht um dich“, antwortete sie sanft. „Natürlich interessiert es mich. Aber ich möchte dich nicht bedrängen. Und das Thema geht dir ganz offensichtlich nah, also-“ „Warum hast du dann eben so intensiv darüber nachgedacht?“, unterbrach er sie; nicht unhöflich, aber in einem doch sehr bestimmten Ton. „Großartig“, dachte Carina und seufzte. Natürlich konnte er das jetzt nicht auf sich beruhen lassen. „Weil wir morgen schon alle tot sein könnten. Und ich will ehrlich sein: Mich würde es irgendwie stören, wenn ich vor meinem möglichen endgültigen Tod nicht wenigstens den Großteil über dich wüsste.“ Sie schaute ihn verständnisvoll an. „Aber wie bereits gesagt, ich will dich nicht bedrängen. Ich weiß noch, wie schwer es mir damals im Weston College gefallen ist, dir alles über die vergangenen Jahre zu erzählen. Ich kann warten. Hoffentlich werden wir morgen also nicht alle sterben und es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du mir alles erzählen kannst. Und auch möchtest.“
 

Cedric lachte trocken auf, ohne jegliche Form von Humor. „Glaub mir, von möchten wird niemals wirklich die Rede sein. Aber… du hast Recht. Wir könnten morgen tatsächlich alle schon tot sein.“ Wenige Sekunden lang herrschte erneut Stille, dann setzte der Totengräber sich etwas aufrechter in der Badewanne hin. „Wenn ich mit einer Person darüber sprechen kann, dann bist du es, Carina. Ich befürchte nur, dass du mich danach vielleicht mit anderen Augen sehen könntest.“
 

Die Blondine hob eine Augenbraue und suchte unter der Wasseroberfläche nach seiner Hand, um sie anschließend fest in die ihre zu nehmen. „Tief in deinem Inneren weißt du selbst, dass das nicht passieren wird.“ Ihre Mundwinkel zuckten kurz in die Höhe. „Ich meine… nach all dem, was du dir bisher geleistet hast, bist du mich trotzdem nicht los geworden, oder? Das ist doch ein gutes Zeichen.“ Jetzt formten auch seine Lippen wieder ein Lächeln. „Ich schätze, dass das wohl stimmt“, antwortete er und erwiderte den Druck ihrer Hand. „Es wird jedoch vielleicht etwas schwierig für dich werden, es dir vorzustellen.“ „Stell mich auf die Probe“, entgegnete sie, obwohl sie nicht wirklich wusste, worauf er mit seiner Aussage hinaus wollte.
 

„Du weißt doch noch, in welchem Jahrhundert ich gelebt habe, oder?“ Sie nickte. „Geboren am 25. März 1035, gestorben am 28. Januar 1064.“ Er hob eine Augenbraue. Ihre Wangen wurden rot. „Was denn? Ich habe halt ein gutes Gedächtnis“, verteidigte die Schnitterin sich. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass sich dieser verdammte Stammbaum wie ein Brandmal in ihr Gehirn geätzt hatte.
 

„Die wenigsten Menschen oder sogar Todesgötter können sich jetzt noch vorstellen, wie es vor all diesen Jahrhunderten auf der Erde ausgesehen hat.“ Sein Blick schweifte in die Ferne und Carina wusste, dass er die damalige Welt vor seinen Augen Revue passieren ließ. „Kilometerlange Landschaften. Wiesen, Flüsse, Wälder und das alles vollkommen unberührt von den Menschen. Keine Fabriken, keine Straßen, keine Aneinanderreihungen von Häusern… Manchmal konntest du stundenlang reiten und bist trotzdem keiner einzigen Menschenseele begegnet.“ Gegen ihren Willen ploppte in Carinas Gedanken sofort ein Bild von Cedric in altertümlicher Kleidung auf einem Pferd auf. Sie konnte es sich erschreckend gut vorstellen.
 

„Wie du dir vielleicht denken kannst, war ich nicht immer so–“ „Albern? Verrückt? Wahnsinnig?“, unterbrach die Deutsche ihn grinsend und der Bestatter rollte gespielt beleidigt mit den Augen. „Ich wollte stark und klug sagen, du freches Ding, aber gut, von mir aus. Trotzdem, ein wenig albern war ich auch damals schon. Eine meiner besten Eigenschaften, wenn du mich fragst. Die Leute hatten auch damals schon viel zu wenig Humor.“ „Waren es damals nicht härtere Zeiten als heute?“ „Schon, aber im Großen und Ganzen hielt es sich in meiner Familie die Waage. Was allerdings auch an unserem Adelsstatus lag.“ Carina konnte nicht anders, sie lachte ungläubig auf. „Wie bitte? Du warst ein–“ „Adeliger? Allerdings“, grinste Cedric, denn er hatte mit so einer Reaktion von ihr durchaus gerechnet.
 

„Nun“, begann sie und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, „soll ich dich dann zukünftig mit Lord anreden?“ Er lachte leise. „Nun“, begann er – den gleichen Satzanfang verwendend – und ließ seine andere Hand einmal sanft an ihrem Oberschenkel entlangfahren, „in bestimmten Situationen würde mir das sicherlich gefallen.“
 

„Du lenkst vom Thema ab“, neckte sie ihn, genoss aber dennoch die kurze Berührung seiner Finger. „Ich weiß, ich weiß. Gut, keine Ausflüchte mehr.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. „Wie bereits gesagt, meiner Familie ging es nicht gerade schlecht. Das lag vor allem an den Verdiensten meines Großvaters väterlicherseits. Er gründete damals ein kleines Dorf, das sich aber durch seine günstige Lage über die Jahre hinweg zu einer kleinen Handelsstadt entwickelte. Mein Vater war der erstgeborene Sohn und erbte somit nach dem Tod meines Großvaters selbstverständlich den Titel und den beachtlichsten Teil seines Vermögens. Tja… und ich war ebenfalls der erstgeborene Sohn meines Vaters.“ „Du klingst nicht besonders glücklich darüber“, stellte Carina bekümmert fest, woraufhin Cedric nickte. „Kannst du dir mich als Kaufmann vorstellen?“, fragte er und erhielt postwendend eine Antwort. „Ich kann mich dir als vieles vorstellen, Cedric. Aber als Kaufmann? Nein, absolut nicht.“
 

„Eben“, erwiderte der Bestatter und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht. „Ich habe es gehasst, Carina. Ich habe es schlicht und ergreifend gehasst.“ Er tat einen tiefen Seufzer. „Das ganze Gerede über Geld und Geld und noch mehr Geld… Tagein, tagaus. Das war nicht das, was ich für mein Leben wollte. Aber ich war nun einmal sein Erbe, sein Erstgeborener. Es wurde von mir erwartet, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters trete. Und ich habe mich dem gefügt.“
 

Carina hob überrascht beide Augenbrauen. „Hast du?“, fragte sie verblüfft und der Silberhaarige lachte trocken auf. „Ich sagte dir ja bereits, ich war nicht immer so willensstark wie jetzt. Und für dich mag es sowieso schwer vorstellbar sein, weil du aus dem 21. Jahrhundert stammst, aber damals war das Wort des Familienoberhauptes Gesetz. Und glaube mir, ich habe nicht eine Sekunde darüber nachgedacht mich dem zu widersetzen.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer verbitterten Miene. „Keiner hat das. Meiner Mutter nicht, die ohne Wenn und Aber immer alles getan hat, was mein Vater von ihr erwartete. Meine beiden jüngeren Schwestern nicht, die bereits mit 13 Jahren verheiratet wurden. Und auch mein jüngerer Bruder nicht, der ebenso wie ich recht früh zu einem Kaufmann erzogen wurde. Versteh mich nicht falsch, wir waren eine glückliche Familie. Ich war das Problem.“
 

Der Mund der 19-Jährigen verzog sich zu einer unheilvollen Linie, sie spürte ein Knurren in ihrer Kehle aufsteigen. „Was soll das heißen, das Problem?“ Sie mochte nicht, wie Cedric das betont hatte. Als würde er sich tatsächlich selbst als genau das betrachten. Ein Problem.
 

„Meine Mutter hat meinen Vater wirklich geliebt und er sie ebenfalls. Sie passten perfekt zusammen, was zu damaligen Zeiten schon eine Seltenheit an sich war, wenn man die ganzen früh geschlossenen und arrangierten Ehen bedenkt. Meine Schwestern – zweieiige Zwillinge übrigens – konnten sich ebenfalls nicht beschweren. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass sie in gute Familien eingeheiratet haben. Er hat sie nicht an die erstbesten Handelspartner verschachert, sondern wirklich mit dem Hintergedanken vermählt, dass es seinen Töchtern gut gehen wird. Und was meinen Bruder angeht… er war das komplette Gegenteil von mir. Er liebte unser Vermächtnis und er liebte seinen Beruf. In seinen Augen konnte mein Vater einfach nichts falsch machen.“ Er schaute sie an. „Siehst du es jetzt, Carina? Siehst du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass allein ich das Problem war?“
 

Sie zögerte kurz, weil sie mit der Formulierung ihrer nächsten Worte haderte. „Du siehst dich als schwarzes Schaf, nicht wahr?“ „Damals tat ich das“, bestätigte er ihre Worte. Er lehnte sich mehr gegen den Rand der Wanne und schaute kurz zur Zimmerdecke herauf. „Ich glaube, es wäre leichter für mich gewesen, wenn ich eine schreckliche Familie gehabt hätte. Wenn mein Vater ein grauenhafter Mann gewesen wäre. Aber das war er nicht. Ich habe ihn geliebt. Ich habe sie alle geliebt.“ Er lächelte und schaute sie jetzt doch wieder an, als er an seine Familie dachte. „Meine Mutter. Flordelis. Sie war wunderschön. Entschieden und bestimmt in der Erziehung ihrer Kinder, aber niemals unfair. Und sie hatte diese kleine Eigenart… sie hat immer vor sich hin gesummt, wenn sie sich unbeobachtet gefühlt hat.“
 

Carina musste lächeln. Ob Cedric sich darüber im Klaren war, dass auch er genau das manchmal tat?
 

„Meine Schwestern, Aleidis und Audrina. Immer zu einer Schandtat bereit, wenn sie sich sicher waren nicht dabei erwischt zu werden. Sie teilten meine Vorliebe für Süßigkeiten.“ Er lächelte, während er weiter in Erinnerungen schwelgte. „Und meinen Humor. Wir haben so viel gespielt und gelacht, als die beiden noch Kleinkinder waren.“ In Carinas Kopf entstand ein Bild. Zwei kleine Mädchen, an Cedrics Beinen hängend, während alle drei zusammen lachten.
 

„Dann war da mein Vater. Godric. Stolz und hochgewachsen und mit so viel Intelligenz gesegnet, wie es früher selten der Fall war. Sein einziger Schwachpunkt war, dass er eine ganz genaue Vorstellung von seinem Leben hatte und sich davon nicht abbringen ließ, nicht mal um einen einzigen Zentimeter. Allerdings würden wohl viele sagen, dass genau das auch eine Stärke sein kann. Er wusste immer, was er wollte.“ „Vielleicht. Aber ohne je etwas Neues auszuprobieren, schränkt man sich auch in gewisser Weise ein. Es ist kein Raum da für Wachstum“, warf Carina sanft ein. Cedric warf ihr einen dankbaren Blick zu und sie drückte seine Hand ein weiteres Mal. Immer noch konnte sie spüren, dass dieses Gespräch ihm einiges abverlangte und sie befanden sich gerade erst einmal am Anfang. Zu seinem Selbstmord waren sie noch gar nicht gekommen.
 

Er holte erneut Luft und fuhr dann fort. „Und mein Bruder. Magnus. Ein kleines Genie und ausgestattet mit einer Mischung der besten Eigenschaften unserer Eltern. Schön wie unsere Mutter und begabt wie unser Vater. Sein ganzer Stolz.“ Der Silberhaarige verbarg es gut, aber Carina konnte dennoch die Verbitterung in seinen Worten hören. Das stumme Ich hätte derjenige sein sollen.
 

Carina konnte nicht anders, sie fühlte Wut gegen Cedrics Vater in sich aufsteigen. Kein Elternteil sollte seinem Kind jemals das Gefühl geben nur zweite Wahl zu sein. Oder gar die Geschwister bevorzugen.
 

„Ich war eifersüchtig“, gab Cedric nun ganz offen zu. „Ich fragte mich ständig, warum alle in meiner Familie genau das bekamen, was sie wollten, während ich leer ausging.“ „Was wolltest du?“, fragte sie interessiert nach und der Bestatter lachte, beinahe ein wenig peinlich berührt. „Ich wollte dem Ritterorden beitreten.“
 

Carina blinzelte. „Du wolltest ein Ritter werden?“, fragte sie nach, als ob sie ihn nicht richtig verstanden hätte. Als er nickte, schwieg sie einen Moment. Dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus und sie presste sich die Handfläche gegen den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. „Was?“, neckte der Todesgott sie. „Ich weiß nicht“, gab sie zurück. „Irgendwie… irgendwie finde ich, das passt zu dir.“ Sie konnte es sich jedenfalls tausendmal eher vorstellen als die Kaufmann Geschichte. Wenn man von einigen der ritterlichen Tugenden mal absah. Wie beispielsweise Mäßig- und Frömmigkeit.
 

„Es war damals eine Ehre dem Orden beizutreten. Ritter wurden im ganzen Land geachtet und bewundert. Ich konnte zudem gut mit einem Schwert umgehen, was meinem Wunsch nur zugutekam, aber vor allen Dingen wollte ich reisen. Ich wollte die Welt sehen. Menschen helfen. Ich wollte Gutes tun. Und seien wir ehrlich, ein Kaufmann zu sein ist das genaue Gegenteil davon.“
 

Er seufzte. „Wie ich bereits sagte, mein Vater hatte feste Vorstellungen und ich habe mich dem gefügt. Aber glaube nicht, dass ich das gerne getan habe. Ich habe mich nicht wie der Vorzeigesohn verhalten.“ „Das klingt doch schon viel eher nach dir“, sagte Carina, woraufhin er ihr einen belustigten Blick zuwarf. „Und, was hast du getan?“
 

Der Bestatter kicherte. „Sagen wir, ich hatte eine rebellische Phase. Eine sehr lange rebellische Phase.“ „Ja?“, blieb Carina dran, der nicht entgangen war, dass er sich vor der Antwort drückte.
 

„Zuerst waren es kleinere Dinge. Hier und da zu spät zu einer Ratsbesprechung erscheinen, Zahlenfehler in den Aufstellungen, unschöne Formulierungen in Briefen und Verträgen… Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass mein Vater irgendwann nachgeben und einfach Magnus zu seinem Nachfolger bestimmen würde, während ich dann endlich mehr Freiheiten bekäme. Als das nicht passierte… nun ja… sagen wir, ich wurde ein wenig dreister in meinem Tun.“ Carina hob lediglich fragend eine Augenbraue. Cedrics Lächeln verrutschte ein wenig und wirkte nun beinahe eine Spur… verlegen?
 

„Weißt du, ich war jung… und wir hatten ein großes Anwesen… und wirklich viele Kammerzofen und Hausmädchen in meinem Alter…“ Cedric beendete seinen Satz nicht, aber bei Carina fiel der Groschen dennoch. Und zwar laut.
 

Natürlich, sie hatte nicht erwartet, dass er sein menschliches Leben lang keuch geblieben war. Aber dass er seine – und Carina fiel an dieser Stelle wirklich kein besseres Wort ein – Gespielinnen scheinbar nicht mal mehr an zwei Händen abzählen konnte, das überraschte sie dann doch. Sie war nicht wirklich eifersüchtig, immerhin lag das alles mehrere Jahrhunderte zurück, aber ein Anflug von Missbilligung verspürte sie dennoch.
 

Mit weiterhin erhobenen Augenbrauen sah sie ihn an. „Du hast eure weibliche Dienerschaft beglückt, um deinem Vater eins auszuwischen?“, fragte sie trocken und der Silberhaarige kannte sie mittlerweile gut genug, um den verurteilenden Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. Er spürte, wie sich seine Wangen leicht röteten. Etwas, was ihm seit Jahrzehnten nicht mehr passiert war. „Ich will nicht bestreiten, dass das eine schöne Nebenerscheinung des Ganzen war, aber das war nicht der Hauptgrund. Also, ich meine… ich sagte doch bereits, ich war jung!“
 

Das ihm das Thema so ganz offensichtlich unangenehm war, schien Carinas Laune beträchtlich zu heben, denn jetzt lächelte sie wieder. „Mit anderen Worten: Du warst ein typischer Junge, der seine Hormone nicht im Griff hatte und wolltest dir die Hörner abstoßen, ja?“ „Schon möglich“, meinte er und stellte just in diesem Moment fest, dass er mit seinem jugendlichen Ich nicht mehr wirklich viel gemein hatte. „Was glaubst du wohl, warum ich nicht verheiratet war? Solche Eskapaden sprachen sich damals noch schneller rum als heutzutage und nicht mal der gute Einfluss meines Vaters konnte daran etwas ändern. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Damals hatte ich vieles vor, aber eine feste Beziehung gehörte ganz eindeutig nicht dazu.“
 

Carina grinste verschmitzt. „Dann kann ich ja froh sein, dass sich das mittlerweile geändert hat, nicht wahr?“ „Hehe“, grinste nun auch der Undertaker wieder. „Meine Eltern hätten dich vergöttert. Ich kann sie beinahe reden hören. Endlich mal eine Frau, die unseren aufmüpfigen Sohn in den Griff bekommt.“
 

Die Schnitterin versuchte ihre Überraschung und das damit einhergehende Glücksgefühl zu verbergen, das bei diesen Worten in ihr aufstieg. Er dachte wirklich, dass sie ihn in den Griff bekam? So empfand er das? Oft hatte sie nämlich selbst überhaupt nicht das Gefühl. Umso mehr freute es sie daher, dass er das jetzt so deutlich sagte.
 

Dennoch versuchte sie wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen. „Okay, du hast alles versucht, um deinen Vater von deiner Unfähigkeit zu überzeugen. Und dann?“ „Er war natürlich zornig. Und enttäuscht. Aber er ist nicht von seiner Meinung abgewichen. Es war nun einmal Tradition, dass der Erstgeborene in seine Fußstapfen tritt und er würde garantiert nicht der Erste in unserer Familie sein, der das änderte.“ Er lachte trocken auf. „Jetzt weißt du, woher ich meinen Dickkopf habe. Meine ganze Familie hat ständig auf mich eingeredet, ganz besonders Magnus. Siehst du nicht, was für eine unglaublich große Chance dir in die Wiege gelegt wurde, Bruder? Ich würde alles tun, um mit dir zu tauschen. Tja, es war unser typisches Streitthema. Denn genauso sehr hätte ich alles getan, um mit ihm zu tauschen. Der zweite Sohn zu sein und die Freiheit zu haben, über mich selbst zu bestimmen. Ich wollte nicht nachgeben.“ Er seufzte bekümmert. „Aber Carina… die Jahre vergingen und dennoch blieb alles beim Alten. Ich tat, was mein Vater von mir verlangte und tat gleichzeitig auch nicht das, was er von mir verlangte. Es war ein elender Teufelskreis.“
 

Der Bestatter schwieg einige Sekunden lang und sagte dann schließlich: „Ich war kurz davor nachzugeben, weißt du? Es einfach zu akzeptieren. Irgendwann geht auch dem stärksten Kämpfer die Kraft aus. Und ich wollte nicht mehr kämpfen, Carina. Ich hatte es so satt.“ Er strich mit seinem Daumen an der langen Narbe entlang, die sich über seine Kehle erstreckte. „Aber bevor ich einlenken konnte, war er auch schon gekommen. Mein Todestag.“ „Der Tag, an dem du zu einem Todesgott wurdest“, korrigierte Carina ihn sanft. Cedric war nicht tot und sie wollte ihn sich auch nicht tot vorstellen. Ihn nur von seinem Tod erzählen zu hören, bescherte ihr bereits ein unangenehm flaues Gefühl in der Magengegend.
 

„Ja“, gab er zurück und nickte. „Der Tag, an dem ich mich selbst ins Unglück stürzte.“ „Was ist passiert?“, fragte die Schnitterin leise und umfasste seine Hand jetzt wieder fester.
 

„Weißt du noch, als ich zu Anfang unseres Gespräches sagte, dass damals noch vieles unberührt von den Menschen war? Das war auch gleichzeitig etwas, was viele Konflikte hervorgerufen hat. Von den Kreuzzügen des Ritterordens mal abgesehen, gab es zahllose Streitigkeiten mit benachbarten Adelshäusern um ganze Ländereien, die noch nicht besiedelt oder bebaut waren. Nicht zu vergessen die Banditen, die umherzogen und den Sklavenhandel, der damals in England weit verbreitet war. Mit anderen Worten: Es war damals nicht ganz ungefährlich die Stadt zu verlassen.“ „Aber das hast du scheinbar getan?“, fragte Carina, die zwischen den Zeilen las. „Ja, weil ich musste“, seufzte der Undertaker. „In einer kleinen Stadt, nicht weit von meiner Heimat entfernt, gab es ein jährliches Treffen der hochrangigeren Kaufmänner in der Gegend. Dort wurden Entwicklungen besprochen, neue Kontakte geknüpft, Geschäfte ausgehandelt und noch vieles andere, was ich nach wie vor furchtbar langweilig und ermüdend finde. Normalerweise nahm mein Vater immer daran teil, aber er wurde nun einmal auch nicht jünger und es waren immerhin drei Tagesritte, die man auf sich nehmen musste. Daher hat er dieses Mal mich geschickt. Sicherlich auch, weil er die Hoffnung hatte, dass ich mich für so ein großes Ereignis endlich mal zusammenreißen würde.“
 

Carina spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Sie wusste, dass sie nun langsam zu dem Teil der Geschichte kamen, der jedem Todesgott besonders schwer fiel.
 

„Ich muss gestehen, dass ich mich selbst auch ein wenig über diese Reise gefreut habe. Endlich mal was anderes sehen als immer nur die gleiche Stadt, die gleichen Menschen, die gleichen langweiligen Vorschriften. Also folgte ich seinem Befehl ohne mich zu beschweren. Ich kleidete mich in meine besten Sachen, stieg auf mein Pferd und verließ ohne zu murren mit einem Teil der Stadtwache die sicheren Mauern meiner Heimat. Und ab dann…“, er stieß einen schweren Atemzug aus, „ab dann ging einfach alles schief.“
 

Es brauchte nicht viel Vorstellungsvermögen, um darauf zu kommen was wohl als nächstes passiert war. Immerhin hatte Cedric gerade eben erst erwähnt, wie gefährlich es zu damaligen Zeiten gewesen war. „Ihr wurdet überfallen?“ Er nickte. „Richtig. Eine kleine Gruppe von Banditen, die damals recht bekannt dafür war ihre Opfer entweder zu töten oder an Sklavenhändler zu verkaufen, kreuzte unseren Weg. Wir waren noch keinen ganzen Tag unterwegs.“ Obwohl das Wasser noch relativ warm war, bildete sich auf seinen Armen eine Gänsehaut, als er sich an das Geschehene von damals zurückerinnerte. „Das einzig Positive an der ganzen Sache war, dass es schnell ging. Ehe ich mich versah, waren meine Wachen tot und ich wurde verschnürt wie ein Paket davongetragen.“
 

Carina gefiel weder der Gedanke, noch die Vorstellung. Für sie war der Silberhaarige beinahe unantastbar. Ihn sich so hilflos vorzustellen, überstieg ihren Horizont.
 

„Wie ich jedoch sehr bald feststellen sollte, steckte hinter diesem Überfall weitaus mehr, als nur eine einfache Entführung.“ Der Deutschen ging ein Licht auf. „Stimmt. Warum sollten sie alle töten, aber ausgerechnet dich am Leben lassen?“, murmelte sie und verstand es noch im gleichen Moment. „Dein Vater…“ Er nickte erneut. „Jeder in der Gegend wusste, wer mein Vater war. Vor allen Dingen aber wusste jeder, wie reich er war. Natürlich wollten sie Geld. Und zwar eine stattliche Menge. Sie schnitten mir eine Haarsträhne ab, legten sie einem Brief bei und schickten diesen, zusammen mit einem der Köpfe meiner Leibgarde, in die Stadt zurück. Sollte das Geld nicht bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages an einer bestimmten Stelle deponiert worden sein, würde mein Kopf der nächste sein, den sie in Händen halten würden.“
 

Der Blick der Schnitterin glitt zu der Narbe an seinem Hals. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie glatt davon ausgegangen, dass die Banditen ihre Drohung wahrgemacht hatten. Aber Cedric war nun einmal unbestreitbar ein Todesgott. Es konnte faktisch nur auf eine Todesursache hinauslaufen und das war nun einmal Selbstmord.
 

Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf.
 

Hatte er…

Hatte sein Vater etwa…

Nein! Das konnte er nicht getan haben!
 

Cedric lächelte das traurigste Lächeln, das Carina jemals an ihm gesehen hatte. „Du weißt es“, bestätigte er das, was in ihrem Gesicht klar und deutlich zu lesen war. „Du weißt, wie die ganze Sache ausgegangen ist.“
 

Sie schluckte einmal hart, um sich die Kehle zu befeuchten. Dennoch klang ihre Stimme kratzig, als sie endlich den Mund öffnete und ihre Vermutung in den Raum warf. Oder eher die grausame Feststellung.
 

„Dein Vater hat dich im Stich gelassen?“
 

Sie hätte es anders sagen können. Dein Vater hat das Geld nicht bezahlt oder Dein Vater hat sich nicht auf der Erpressung eingelassen oder Dein Vater hat dich zum Sterben verdammt. Aber unterm Strich kam es immer auf das Gleiche hinaus. Er hatte ihn im Stich gelassen. Seinen eigenen Sohn.
 

Als Cedric bestätigend nickte, fügte es Carina beinahe körperliche Schmerzen zu. Wie? Wie konnte ein Elternteil nur so etwas tun? Sie selbst hatte Lily ab der Sekunde an geliebt, in der sie ihre Schwangerschaft wirklich richtig realisiert hatte. Und als sie dann endlich auf der Welt gewesen war… nichts konnte die Liebe beschreiben, die man für sein eigenes Kind empfand. Wie also, zum Teufel, hatte Godric Rosewell seinen erstgeborenen Sohn einfach so den Wölfen zum Fraß vorwerfen können?
 

„Weißt du, was das Schlimmste war?“, fuhr Cedric fort, klare Verbitterung in seinen Worten. „Ich hatte keine Zweifel. Die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag in Gefangenschaft habe ich keine einzige Sekunde daran gezweifelt, dass das Geld kommen würde. Ich war sein erstgeborener Sohn, sein Erbe. Natürlich würde er alles in Bewegung setzen, um mich sicher und heil wieder zurück nach Hause zu bringen.“ Sein Blick wurde dunkel. „Aber dann vergingen die Stunden. Es wurde Mittag, dann Nachmittag, früher Abend und immer noch kein einziges Anzeichen von jemandem aus meiner Heimat. Als die Sonne schon halb untergegangen war, da erst kamen bei mir die ersten Zweifel.“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf, als könnte er bis heute nicht glauben, wie dumm er damals gewesen war. „Plötzlich waren da ganz andere Gedanken in meinem Kopf. Es war wie eine Stimme, die mir leise ins Ohr flüsterte. Was, wenn das die perfekte Gelegenheit für ihn ist dich endlich loszuwerden? Du bist ein Nichtsnutz; warst nie der Erbe, den er sich für sein Imperium gewünscht hat. Warum sollte er für so jemanden wie dich einen Großteil seines heiß geliebten Vermögens opfern, wenn er stattdessen endlich mit dir abschließen und Magnus zum neuen Erben ernennen kann?“
 

Carina schluckte und spürte gegen ihren Willen brennende Tränen in ihren Augenwinkeln aufsteigen. Dieser Schmerz saß tief. So tief, dass sie instinktiv wusste, dass Cedric ihn noch genauso intensiv wie am allerersten Tag spüren konnte. Erneut wünschte sie sich ihn niemals darauf angesprochen zu haben, denn dann musste er seine Vergangenheit jetzt nicht noch einmal durchleben. Es gab nun einmal manche Dinge, die am besten nie wieder angesprochen werden sollten und das war mit hundertprozentiger Sicherheit eines davon.
 

„An diesem Tag fand ich heraus, wie stark Hoffnung sein kann. Denn als der letzte Sonnenstrahl verschwand und ich eben diese Hoffnung verlor, da passierte weitaus mehr in mir, als sich so manch einer vorstellen kann. Es veränderte mich. Es offenbarte eine Seite in mir, die ich bisher nicht kannte. Und von der ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, ob ich sie überhaupt mag.“ Die 19-Jährige wusste, wovon er sprach. Von der Seite, die Menschen in Frage stellte. Die Seite, die sich hinter dem ganzen Kichern und Lachen und kindlichen Scherzen verbarg. Die Gefahr; das Dunkle, das unter der Oberfläche lauerte.
 

„Sie diskutierten lange untereinander, was sie mit mir machen würden“, fuhr er fort. „Einige wollten ihre Drohung wahr machen und mir aus Wut den Kopf abschlagen. Andere meinten, dass sie trotzdem noch versuchen wollten durch mich an Geld zu kommen, indem sie mich verkauften. Ich konnte lesen und schreiben, war jung und gesund… so etwas bekam man damals nicht häufig. Mit Sicherheit würden sie schnell jemanden finden, der mich ihnen abnehmen würde.“ Er sagte das so neutral, als würde er nicht über sich selbst, sondern über irgendein Tier sprechen, das zum Verkauf stand. Carina wurde übel.
 

„Aber das hast du nicht zugelassen“, flüsterte sie und verstand endlich, endlich den Zusammenhang. „Nein“, antwortete er und lächelte selbstzufrieden. „Habe ich nicht.“ Er ließ ihre Hand los und fuhr sich mit den Fingern einmal über die Stirn, um sich ein paar lästige Haarsträhnen wegzustreichen. „Da es schon dunkel war, wollten sie erst am nächsten Morgen aufbrechen. Ich lag die ganze Nacht gefesselt vor einem ihrer Zelte und malte mir die schlimmsten Horrorszenarien aus. Mein Zuhause war zwar ein goldener Käfig gewesen, aber das alles würde verblassen im Vergleich zu dem, was mir bevorstand. Wenn man erst einmal ein Sklave war, kam man da nie wieder raus. Meine Freiheit wäre für immer Geschichte gewesen und dabei war es doch genau das, wonach ich mich immer so sehr gesehnt hatte.“ Er pausierte kurz, um tief Luft zu holen. „Und gleichzeitig wusste ich, dass ich meine Familie nie wieder sehen würde. Obwohl sie mich verraten hatten, wollte ich nichts anderes, als sie noch ein letztes Mal zu sehen. Und sei es auch nur, um nach dem Warum zu fragen. Warum hatten sie mich bei der erstbesten Gelegenheit aufgegeben? Warum war ihnen das Geld schlussendlich wichtiger als ich?“ Er schwieg erneut für einige Sekunden. „Und dann wurde es mir bewusst. Ich war allein. Es gab niemanden mehr, der sich um mich scherte. Was machte es schon für einen Unterschied, ob ich lebte oder eben nicht?“ Jetzt grinste er und da war sie. Seine dunkle Seite.
 

„Ich wollte verdammt sein, wenn ich diesen Männern gab, was sie wollten. Wenn ich schon nicht im Leben frei sein konnte, dann wollte ich es zumindest im Tod sein. Also wartete ich ab, leistete keinen Widerstand und hoffte auf eine Gelegenheit, die auch schon recht bald kam. Während sie auf Pferden unterwegs waren, musste ich an den Handgelenken gefesselt hinter ihnen her stolpern. Aber der Reiter vor mir trug an seinem Gürtel ein Messer.“ Er kicherte kurz. „Niemand konnte behaupten, dass diese Idioten schlau waren. Hätte ich den Mann töten wollen, hätte ich es tun können. Stattdessen aber nutzte ich meine Chance. Ich sprintete am Pferd vorbei, riss das Messer aus seiner Scheide und umklammerte es mit beiden Händen, um es nicht versehentlich fallen zu lassen. Bevor auch nur einer dieser Schwachköpfe irgendetwas unternehmen konnte, trieb ich mir die Klinge einmal quer über die Kehle. Und mehr hat es auch nicht gebraucht.“
 

Das war Carina mehr als klar. Die Haut am Hals war dünn, wenn man den Kopf nach hinten lehnte und außerdem äußerst empfindlich. Vermutlich hatte er nicht einmal großartig Kraft aufbringen müssen, um das Blut fließen zu lassen. Wobei fließen hier vielleicht das falsche Wort war. Die Schnitterin hatte dank ihres Berufs bereits gesehen, wie es aussah, wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde. Eine Sekunde lag passierte gefühlt gar nichts. Doch wenn sich der Schnitt dann bildete, sprudelte die lebensnotwendige Flüssigkeit geradezu nur so über. Es war weitaus weniger blutig, wenn man den Kopf direkt im Ganzen abtrennte.
 

„Gerade dir muss ich wohl nicht erklären, wie sich die letzten paar Sekunden meines menschlichen Lebens angefühlt haben“, sagte Cedric neutral und Carina schüttelte den Kopf. Nein, das musste er nicht. Wie sie es bereits Emma erzählt hatte, konnte sie sich noch sehr genau an den schnellen Blutverlust und die entsprechenden Nebenwirkungen ihres eigenen Selbstmords erinnern. Die Kälte. Die Kraftlosigkeit. Die kleinen, wild flackernden Punkte in ihrem Sichtfeld. Die erlösende Dunkelheit.
 

Cedric lachte urplötzlich schallend auf. Die 19-Jährige starrte ihn irritiert an. Hatte sie was verpasst? Der Todesgott bekam sich eine ganze halbe Minute lang gar nicht mehr ein, ehe er schließlich doch endlich die Worte fand, die so für seine Belustigung sorgten. „Stell dir meinen Gesichtsausdruck vor, als ich nach meinem Selbstmord erfuhr, dass ich mich gerade in den nächsten Käfig hinein katapultiert hatte und zwar für alle Ewigkeit. Das war vielleicht ein Spaß.“ Er lachte fröhlich weiter, aber Carina war klar, dass er es damals wohl alles andere als witzig gefunden hatte. Dieses Lachen hier war seine Art darüber hinwegzutäuschen.
 

Aber jetzt verstand sie es. Alles ergab nun endlich einen Sinn, das Puzzle war vollständig.
 

Warum er im Dispatch lieber unter einer Nummer gelebt hatte, als unter seinem richtigen Namen. Den Namen, dem seine Familie ihm gegeben hatte.
 

Warum er sich immer so zurückgezogen hatte, sich für niemand anderen interessiert hatte. Die furchtbare Angst davor, erneut verletzt zu werden.
 

Warum er sich in seine Arbeit als Schnitter gestürzt hatte, als würde sein Leben davon abhängen. Um all das zu vergessen, was ihm passiert war. Um nicht daran denken zu müssen.
 

Und schlussendlich natürlich, warum er alles dafür getan hatte dem Dispatch zu entfliehen. Um auch endlich den letzten Käfig hinter sich zu lassen, der ihn hatte fesseln wollen.
 

Carina hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch mehr lieben könnte, aber genau das tat sie. Unendliche Zuneigung durchströmte in diesem Moment jede Faser ihres Körpers, als sie daran dachte, dass dieser Mann zu ihr gehörte. Dieser unglaubliche, faszinierende Mann.
 

„Wir sind uns so ähnlich, was unser selbstbestimmtes Ende angeht“, meinte sie plötzlich und zuckte einmal sachte mit beiden Schultern, als der Silberhaarige ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Beide haben wir den Tod gewählt, um etwas zu entkommen, was wir für schlimmer gehalten haben. Nicht, weil wir sterben wollten, sondern weil uns die Umstände dazu gebracht haben.“ „Ja“, nickte Cedric und lächelte melancholisch. „Vielleicht verstehst du jetzt, warum es mir damals am Weston College so wichtig war dir zu zeigen, dass du dich nicht schämen musst für das, was dir passiert ist.“
 

„Ich erinnere mich“, erwiderte sie und spürte, wie ihr Herz schneller pochte, als sie an die Anfänge ihrer Beziehung dachte. Cedric mochte damals viele Fehler gemacht haben, aber er hatte ihr nie das Gefühl gegeben in der Hinsicht auf ihren Tod etwas falsch gemacht zu haben. Im Gegenteil, er hatte ihr dabei geholfen diese Seite an sich zu akzeptieren. Das würde sie ihm nie vergessen.
 

„Du hast vorhin gesagt, dass du damals gedacht hast, dass du das Problem in deiner Familie warst“, sagte sie vorsichtig, schaute ihn aber gleichzeitig bittend an. „Aber heute nicht mehr, oder? Sag mir, dass du das heute nicht mehr so siehst.“ „Nein, jetzt nicht mehr“, gab er zu. „Aber es hat mich viel Zeit gekostet. Jahrhunderte.“
 

„Es tut mir so leid“, murmelte sie. „Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist.“
 

Cedric lächelte erneut, doch dieses Mal erreichte es endlich seine gelbgrünen Augen. „Das ist inzwischen so lange her, Carina. Versteh mich nicht falsch, es wird immer ein Teil von mir sein, aber… ich habe das alles hinter mir gelassen. Und jetzt bin ich nicht mehr allein. Ich habe dich und Lily. Das ist alles, was jetzt noch für mich wichtig ist.“
 

Carina schluckte, als sie unwillkürlich spürte, wie ihre Augenwinkel anfingen zu brennen. In einer fließenden Bewegung rutschte sie zu ihm herüber, neigte ihr Gesicht dem seinen entgegen und küsste ihn mit all der Hingabe, die sie in diesem Moment für ihn aufbringen konnte. „Gott, ich liebe dich, Cedric“, wisperte sie gegen seine Lippen und küsste ihn gleich darauf erneut, während er sie nun komplett auf seinen Schoß zog.
 

[...]
 

Auch lange, nachdem sie beide wieder ihre Sinne vollkommen beisammen hatten, machten sie keine Anstalten sich zu bewegen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte Carina das auch weiterhin nicht getan, aber langsam wurde sie sich der Kälte des Wassers unangenehm bewusst. Na ja… von dem Rest Wasser, der sich noch in der Wanne befand.
 

„Ich liebe dich übrigens auch“, räusperte sich Cedric plötzlich und die 19-Jährige brauchte einige Sekunden, um sich daran zu erinnern was sie vor dieser kleinen Eskapade zu ihm gesagt hatte. „Ich weiß“, murmelte sie vergnügt und drückte ihm einen langen Kuss auf die Wange. „Dass du mir deine Geschichte erzählt hast… ich glaube, das war der größte Liebesbeweis, den du mir je gemacht hast.“ Er grinste und zuckte einmal mit den Schultern, tat es als kleine Geste ab. Aber Carina wusste genau, wie viel es ihn gekostet hatte seine Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen.
 

„Ich mag sie“, sagte sie einige Sekunden später plötzlich, nachdem sie beide die Badewanne verlassen und sich in warme Badetücher gewickelt hatten. Der Silberhaarige kräuselte irritiert die Stirn, doch da fuhr sie bereits fort. „Diese besagte Seite an dir.“ Ungläubig starrte er sie an. Meinte sie das ernst?
 

„Sie gehört nun einmal zu dir. Und sie hat dich zu dem Mann gemacht, der du heute bist. Wir alle haben Seiten an uns, die wir nicht besonders mögen. Aber sie machen uns aus.“ Ihr Lächeln wurde breiter und sie legte ihm sanft eine Hand auf die Brust. „Und das ist genau der Mann, in den ich mich verliebt habe.“
 

Der Todesgott musste auf einmal schwer schlucken, seine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. Er schaute sie an, diese wunderschöne Frau, die Mutter seiner Tochter, seine Carina. Und er hörte Grells Worte in seinem Kopf.
 

„Du wirst sie erst fragen, wenn ich mir etwas Romantisches für euch überlegt habe.“
 

„Tut mir leid, Grell“, ging es ihm noch durch den Kopf, ehe er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Bis auf einen.
 

Carina blinzelte irritiert, als der Undertaker mit einer raschen Bewegung ihre Hand ergriff und sie fest drückte. Sein Blick wirkte entschlossen, als würde er sich auf etwas wappnen wollen und die Blondine wollte schon beinahe fragen, ob es ihm gut ging. Doch angesichts seiner nächsten Worte, vergaß sie alles um sich herum. Vielleicht hatte sie plötzlich einen Schlag auf den Kopf bekommen? Oder – was viel wahrscheinlicher war – vielleicht war sie auf dem nassen Badezimmerboden ausgerutscht und hatte jetzt eine Gehirnerschütterung? Denn das, was sie da gerade aus seinem Mund gehört hatte, konnte er unmöglich gesagt haben.
 

„Kannst… kannst du das nochmal sagen?“, fragte sie matt und Cedric lächelte verlegen, als er die Worte für sie noch einmal wiederholte.
 

„Werde meine Frau. Heirate mich, Carina.“



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