Zum Inhalt der Seite

Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Space

Dinge, die ich nicht erwartet habe:
 

1.Dass Tamino auftaucht—zwei Wochen vor Ablauf der sechs Wochen—weil ich gesagt habe, dass ich Schiss hab ohne ihn mit den anderen an einen See zu fahren.
 

2. Dass Tamino in der Lage ist, Leute anzuschreien. Ein wütender Tamino ist in der Tat ein beeindruckender Anblick. Verschwunden sind die Angst und die Panik und die Schüchternheit, zumindest nach außen bin. Was bleibt, ist ein beeindruckend großer Kerl mit Armmuskeln und Augen, die Funken sprühen, als er Basti, Lennard und Konstantin ins Gebet nimmt. Cem sieht aus, als würde er gleich in seine Badeshorts kommen.
 

3. Dass Tamino für mich einmal jemandem eine reinhauen würde. Konstantin gewinnt den Preis eines Faustschlags gegen seine Unterlippe, als er sagt, dass Schwimmen keine Kunst sei und ich mich nicht wie eine Schwuchtel anstellen soll.
 

Cem hat Selin angerufen, damit sie uns wieder einsammelt und ich hab keine Ahnung, wann sie aufkreuzen wird. Ich würde gerne eingreifen, während drei der Jungs Tamino davon abhalten, Konstantin zusätzlich zu einer geplatzten Lippe auch noch die Nase zu brechen.
 

Cem hockt neben mir, eine schwere Hand auf meiner Schulter, während ich wie ein Häufchen Elend im Gras sitze. Tamino hat mich in mein Badehandtuch gewickelt und gewartet, bis meine Panik ein bisschen abgeebbt ist, bevor er sich die drei Übeltäter vorgeknöpft hat.
 

Die anderen Jungs sehen alle etwas betreten aus. Wahrscheinlich ist das alles ein bisschen zu viel Emotion für sie. Panischer Kapitän, Tränen, Streit. Mit Taminos Wut ist alles immerhin wieder in einen Bereich gerutscht, den sie verstehen können. Geschrei und Schläge, da können sie geistig mithalten.
 

Ich würde mich vor Scham und allgemein empfundener Scheußlichkeit gerne unter dem Rasen vergraben. Mein Herz hämmert immer noch wie verrückt, aber wenigstens kann ich wieder atmen, auch wenn meine Lungen und meine Luftröhre wehtun, als hätte jemand sie in Brand gesteckt. Ich bin pitschnass und alles in allem ein erbärmlicher Anblick.
 

Dass Cem den Dreien schon die Leviten gelesen hat, habe ich nur sehr vage am Rande mitbekommen, weil ich zu sehr mit Atmen und Kotzen beschäftigt war.
 

»Wenigstens sieht Basti aus, als würde er sich schlecht fühlen«, meint Cem mit finsterer Miene. Ich gebe ein gurgelndes Geräusch von mir. Wahrscheinlich funktioniert meine Stimme nicht wirklich. Cem hat von irgendwo ein Pfefferminzbonbon hervorgegraben, damit ich nicht die ganze Zeit meine eigene Galle schmecken muss, die jetzt fünf Meter entfernt den Rasen ziert.
 

Ugh.
 

»Also… das erklärt zumindest die mangelnden Ausflüge ins Freibad«, sagt Cem mit matter Stimme und ich kann nicht umhin zu schnauben und ihn leicht mit der Schulter anzustupsen. Als Tamino zu uns zurückkommt fällt mir zum ersten Mal auf, dass er dünner aussieht als vor einem Monat. Und er hat dunkle Schatten unter den Augen.
 

»Er kann froh sein, dass ich ihn nicht kastriert habe«, grummelt er und wirft mir einen flüchtigen Blick zu, ehe er sich neben mir auf den Boden hockt und anfängt, Gras auszureißen.
 

»Ehrlich gesagt hätt‘ ich das gerne gesehen«, gibt Cem zu. »Wenn ich ihn noch einmal das Wort Schwuchtel sagen höre, reiß ich ihm vielleicht einfach die Zunge raus.«
 

»Ich halte seine Arme fest, damit er sich nicht wehren kann«, verspricht Tamino finster und die beiden stoßen kurz ihre ausgestreckten Fäuste gegeneinander, als wäre es ein ernstzunehmender Pakt, den sie gerade geschlossen haben. Mir ist irgendwie klar, dass nicht alles wieder in bester Ordnung ist und ich fühle mich auch zu elend, um so richtig erleichtert zu sein.
 

Aber Tamino ist wieder da. Und wie ich in den nächsten zwanzig Minuten erfahre, hat Noahs Vater ihn bis hierher gefahren. Allerdings standen sie zwischenzeitlich im Stau, deswegen war er zu spät. Anscheinend hat Tamino von Trainer den Ort des Ausflugs in Erfahrung gebracht. Weil er mich nicht fragen wollte, nehme ich an.
 

Ugh, ich will ins Bett. Ich will schlafen.
 

Vielleicht brauche ich nach dem heutigen Tag auch eine Therapie.
 

Vielleicht muss ich aus der Mannschaft austreten bevor unser Spiel nächsten Samstag stattfindet.
 

Selin taucht einige Minuten später auf, etwas verwirrt darüber, dass wir so schnell wieder zurückwollen und darüber, dass wir plötzlich zu dritt sind. Aber sie begrüßt Tamino freundlich und ich bin dankbar, dass sie wieder lauthals mit Cem türkischen Pop singt, sodass ich nicht in die Verlegenheit komme, mit Tamino zu sprechen.
 

Wir sitzen auf dem Rücksitz und er schaut aus dem Fenster. Obwohl nur etwa dreißig Zentimeter Platz zwischen uns beiden ist, fühlt es sich an, als wäre er kilometerweit weg von mir. Aber er ist zurückgekommen. Wegen mir. Entgegen aller Gefühle, die ihn sicherlich zurück ins Bett gezogen haben, zurück zu seinen Freunden, hat er das alles stehen und liegen lassen.
 

Für mich.
 

Mein Hals fühlt sich sehr trocken an, aber ich weigere mich, schon wieder zu heulen. Es reicht, dass ich auf der Party geheult habe. Und gerade eben. Ich habe definitiv genug geheult für den Rest meines Lebens. Vielleicht kann ich mir das nächste Mal für was wirklich Relevantes aufheben, wie die Beerdigung meiner Mutter—die hoffentlich in sehr ferner Zukunft liegt.
 

Nach einigen Minuten der Fahrt sehe ich aus dem Augenwinkel, dass Tamino die Augen geschlossen hat. Sein Shirt hängt immer noch feucht an seiner nackten Haut und lässt noch deutlicher werden, dass er abgenommen hat. Ich will ihn so dringend anfassen, aber ich traue mich nicht, also starre ich ihn den ganzen Rest der Fahrt an wie ein elender Stalker, weil ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass er wieder da ist.
 

»Willst du noch mit hochkommen?«, krächze ich, als Selin vor meiner Haustür hält. Cem tut so, als wäre er diskret und hält sich im Hintergrund, aber ich sehe, wie seine Augen Löcher in Taminos Hinterkopf brennen, als würde er ihn telepathisch dazu bewegen wollen Ja zu sagen.
 

»Ähm. Ok«, nuschelt Tamino leise und friemelt am Saum seines Shirts herum.
 

»Dann viel Spaß ihr Hübschen. Bis Montag«, ruft Cem vollkommen überenthusiastisch und schmeißt sich wieder neben seine Schwester ins Auto. Ich winke ihnen matt hinterher, ehe ich Tamino voran die Treppen zu unserer Wohnung hochsteige und aufschließe.
 

»Schon wieder d—warum bist du nass?«, sind Maris erste Worte, als ich die Wohnung betrete und sie gerade aus der Küche kommt, ein Teller voll geschnittenem Obst und eine Flasche Wasser in der Hand.
 

»Hey Tamino!«
 

»Hey«, sagt er mit müder Stimme und schafft ein halbes Lächeln. Dann wenden Maris Augen sich wieder mir zu.
 

»Ähm. N paar von den Jungs haben beschlossen, dass ich dringend auch baden gehen soll?«, krächze ich und merke schon wieder, wie meine Augenwinkel brennen. Fuck, fuck, fuck. Maris Augen werden groß wie Teller und sie stellt ihren Kram beiseite und zieht mich sofort in eine feste Umarmung.
 

»Oh scheiße«, flüstert sie gegen meine Schulter und drückt mich sehr fest an sich. Ich höre hinter mir, wie Tamino sich vorsichtig die nassen Schuhe auszieht und dann auf leisen Pfoten im Bad verschwindet.
 

»Bist du ok?«, will sie wissen.
 

Ich hole Luft und öffne den Mund. Dann klappe ich ihn wieder zu.
 

»Nein«, flüstere ich ehrlich.
 

»Soll ich loslassen?«
 

»Nein.«
 

»Ok.«
 

Ich weiß nicht, wie lange wir im Flur stehen, aber ich höre die Dusche im Bad laufen und dumpf wird mir klar, dass Tamino nach all der Zeit endlich auch angefangen hat sich in meiner Wohnung so zu verhalten, als wäre er schon oft hier gewesen. Als wäre er hier auch ein bisschen zu Hause.
 

Als Mari mich schließlich loslässt, bietet sie mir mit einem schwachen Lächeln eine Apfelspalte an, die ich dankend ablehne. Ich muss endlich aus diesen nassen Klamotten raus. Also tapse ich in mein Zimmer, reiße mir die ganzen klammen Sachen vom Leib und krieche ausschließlich mit frischen Boxershorts bekleidet unter meine Bettdecke und es dauert keine zwei Minuten, bis ich eingeschlafen bin.
 

Wahrscheinlich war es ziemlich egoistisch und unhöflich Tamino nach oben einzuladen, wenn ich dann direkt ins Bett krieche und einfach wegpenne, aber der Stress des Tages hat mich ausgeknockt. Als ich Stunden später aufwache und gegens Tageslicht blinzele, dauert es einen Augenblick bis die Erinnerungen im wahrsten Sinne des Wortes zurückgeflutet kommen.
 

Es kostet mich zwei Minuten angestrengt konzentriertes Atmen, um nicht sofort wieder in Panik zu verfallen. Als ich den Kopf drehe, stelle ich fest, dass Tamino noch da ist. Er trägt Klamotten von mir und sitzt neben dem Bett auf dem Boden, die Arme auf der Matratze verschränkt und den Kopf darauf abgelegt.
 

Er schläft.
 

Die Tatsache, dass er nicht einfach mit mir unter die Bettdecke gekrochen ist—wie er es vor mehreren Wochen garantiert getan hätte—tut mir beinahe körperlich weh. Wow, Julius, du hast es echt abgefuckt. Gut gemacht.
 

Ich betrachte Tamino schon wieder beim Schlafen und stelle mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn es andersrum gewesen wäre. Was, wenn ich auf dem besten Weg gewesen wäre, Tamino zu küssen und er dann panisch abgehauen wäre, woraufhin ich ihn in Tränen aufgelöst draußen gefunden hätte.
 

Mein Magen zieht sich sehr unangenehm zusammen.
 

Jap.
 

Ich würde auch denken, dass ich eine Grenze eingerissen habe. Ich würde denken, dass es unangemessen war. Und ja, ich würde ganz definitiv Sicherheitsabstand zu Tamino halten, aus Angst, ihm ungewollt auf Pelle zu rücken.
 

Meine Finger kribbeln, weil ich Taminos Haar anfassen möchte. Vielleicht würde ihm das zeigen, dass alles wieder ok ist. Dann wiederum stellt sich die Frage, ob wirklich alles ok ist. Wahrscheinlich nicht.
 

Wie auch?
 

Trotzdem gebe ich dem Impuls nach und strecke die Hand aus, fahre sachte über Taminos Kopf und schiebe meine Finger behutsam durch seine Locken. Er gibt ein leises, wohliges Geräusch von sich, ein bisschen wie eine Katze, und mein Herz macht einen dreifachen Salto, als er blinzelnd die Augen öffnet und mich anschaut.
 

Mein Gehirn stottert und kommt zum Halten, während wir uns einfach nur schweigend ansehen, meine Hand immer noch in Taminos Haaren. Dann, ganz langsam, als wäre er sich nicht sicher, ob es erlaubt ist—fuck, natürlich ist es erlaubt—angelt er meine Hand aus seinen Haaren und verhakt vorsichtig unsere Finger miteinander.
 

So behutsam, als wäre ich etwas Zerbrechliches.
 

Ich schlucke und starre ihn an, dann unsere verhakten Finger.
 

»Danke. Für vorhin«, krächze ich heiser. Meine Augen huschen zurück zu Taminos Gesicht und er betrachtet unsere Finger, als wären sie ein spannendes Puzzle, das er gerne lösen würde. Als sein Blick sich meinem Gesicht zuwendet, halte ich unweigerlich die Luft an.
 

»Ich... äh. Ich war schon da. Schon ein Weilchen. Aber—ähm. Ich hab. Ich hab noch einen Spaziergang um den See gemacht, weil ich—weil ich nervös war. Und. Ich bin sehr—sehr gerannt, aber—ja.«
 

Tamino wendet den Blick ab und beißt sich auf die Unterlippe, offenbar weil er ein schlechtes Gewissen hat. Als wäre es nicht absolut wahnwitzig, dass er extra hergefahren ist und mich aus dem See geangelt und Konstantin angeschrieen und geschlagen hat.
 

»Hey«, krächze ich und er schaut zögerlich wieder auf. »Kein schlechtes Gewissen. Nich‘ dafür. Nich‘—für nichts.«
 

Das ist der kläglichste Versuch eine Anspielung auf die Party zu machen, aber Tamino ist ein Typ für subtile Botschaften und ich sehe, wie er schluckt und seine Augen durch den Raum huschen. Die Finger, die mit meinen verhakt sind, verkrampfen sich ein wenig und ich fange an, mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streichen.
 

Als Tamino ausatmet, klingt es zittrig.
 

»Sieht aus als wärst du mal wieder mein Superheld«, versuche ich zu scherzen. »Rettest mein Abi, rettest mich vorm Ersaufen...«
 

Tamino schüttelt den Kopf und schafft ein halbes Lächeln, als er mich erneut ansieht.
 

»Wenn das stimmt, dann bist du auch mein Superheld«, murmelt er kaum hörbar. Sein Daumen malt jetzt Kreise auf meiner Handinnenfläche und meine Haut kribbelt so heftig, dass ich mich sehr aufs Atmen konzentrieren muss.
 

»Es war alles echt nicht—nicht gut, als du mich eingesammelt hast«, flüstert er. Ich erinnere mich daran, wie wir vor gefühlten hundert Jahren angefangen haben Zeit miteinander zu verbringen. Ich glaube mir war nie so richtig klar, dass Tamino unsere Freundschaft als Rettung empfunden hat, auch wenn es irgendwie Sinn macht. Mein Herz zieht sich zusammen und ich blinzele ein paar Mal Richtung Decke.
 

Nope, Juls.
 

Kein Geheule mehr.
 

Als Tamino schließlich aufsteht und sich streckt, lösen unsere Hände sich voneinander und alles in mir protestiert, aber ich sage nichts und beobachte ihn schweigend, während er wenige Sekunden ein bisschen verloren in meinem Zimmer steht und schließlich den Kopf hängen lässt.
 

»Ich—äh. Ich sollte mich auf den Weg machen. Ich hab Ororo vorhin nur schnell oben reingesetzt und... sie muss noch was essen«, murmelt er.
 

Ich möchte sagen »Nimm mich mit und lass mich bei dir im Bett schlafen«. Aber ich traue mich nicht und es kommt mir egoistisch vor so zu tun, als wäre alles beim Alten, wenn ganz offensichtlich irgendetwas nicht in Ordnung ist.
 

»Ok«, krächze ich und versuche mich von meiner Bettdecke zu befreien.
 

»Bleib ruhig liegen«, sagt Tamino. Seine Augen huschen über meine Ausgabe von Ari und Dante auf meinem Nachtschrank und ich könnte schwören, dass er lautlos seufzt. »Ich weiß ja, wo’s raus geht.«
 

Und mir bleibt nichts anderes übrig, als Tamino nachzusehen, als er aus meinem Zimmer verschwindet. Wenige Augenblicke später höre ich die Wohnungstür leise zugehen.
 

*
 

Ich hätte mir denken können, dass Tamino eigentlich noch nicht wieder fit ist, um alleine zu Hause zu sein. Zur Schule kommt er auch weiterhin nicht und jetzt muss ich mich mit dem Gedanken abfinden, dass meine Panik ihn aus seinem behüteten Nest gerupft hat. Statt diesen beschissenen Ausflug einfach abzusagen. Oder Cem zu erzählen, dass ich nicht schwimmen kann.
 

Nein, ich jammere bei Tamino und er kommt angeflogen und jetzt liegt er wahrscheinlich allein zu Hause im Bett und wünscht sich wieder da zu sein, wo er herkommt. Sein dämlicher Vater interessiert sich garantiert auch weiterhin für nichts, was seinen Sohn betrifft.
 

Ugh.
 

Ich frage mich, ob ich vorbeigehen soll, oder ob ich die Unterlagen und Hausaufgaben besser in den Briefkasten werfe. Dann wiederum war Tamino beim letzten Mal kaum in der Lage duschen zu gehen, also bezweifle ich, dass er es bis runter zum Briefkasten schafft. Vielleicht sollte ich mich einfach zusammenreißen und einsehen, dass es gerade nicht um mich geht.
 

Der einzige Grund, warum ich mich Montag nicht krankmelde, ist, dass ich für Tamino die Hausaufgaben einsammeln will, weil ich weiß, dass er auf seine schulischen Leistungen wert legt. Ansonsten hätte ich es mir definitiv gespart, von meinen Mannschaftskameraden die ganze Zeit von der Seite angestarrt zu werden, als würden sie befürchten, dass ich gleich in Tränen ausbreche.
 

Drecksmist.
 

Dass wir später auch noch Training haben, hilft nicht unbedingt meine Nerven zu beruhigen, auch wenn Cems Anwesenheit mich ein wenig beruhigt. Konstantin hat immer noch eine mittlerweile lila-bläulich gefärbte Beule im Gesicht, die ziemlich schmerzhaft aussieht.
 

Auch wenn die anderen sich mir gegenüber verhalten, als wäre ich aus Glas, fällt mir immerhin auch auf, dass sie Konstantin meiden. Vielleicht war ihnen seine Bemerkung dann doch zu geschmacklos. Vielleicht mögen sie mich mehr als ihn. Vielleicht hab ich auch einfach keine Ahnung, was in den meisten meiner Kumpels vorgeht.
 

Tatsächlich nimmt Konstantin nicht am Training teil, womöglich weil seine Lippe sonst wieder aufplatzen würde. Ich habe keinerlei Mitleid mit ihm. Wer hätte gedacht, dass Tamino so zuschlagen kann? Dann wiederum bin ich schließlich derjenige, der dauernd auf seine Armmuskeln starrt.
 

Cem erwähnt den Samstag mit keinem Wort und verhält sich, als wäre nichts Komisches passiert. Feli hat eindeutig bemertk, dass irgendetwas im Busch ist, aber sie hat nicht nachgefragt, sondern mich nur besorgtgemustert, während ich die komplette Deutschstunde Nikolaus-Häuser und formlose Kringel auf meinen Collegeblock gekritzelt habe.
 

Als ich schließlich frisch geduscht und nervös vor Taminos Tür stehe, mein Rucksack mit ein paar Einkäufen auf dem Rücken und einer Schachtel Kekse in der Hand, dauert es unendlich lange, bis der Türöffner betätigt wird.
 

Tamino lehnt im Türrahmen, als ich die Treppe hinaufkomme, seine Augen blutunterlaufen und endlos müde. Sein Mundwinkel zuckt kaum merklich, als er mich sieht und er tritt beiseite, um mich einzulassen.
 

»Hey«, nuschelt er und schließt die Tür hinter mir.
 

»Hey«, gebe ich zurück und kicke meine Schuhe in eine Ecke. »Ich hab Essen mitgebracht.«
 

Tamino folgt mir in die Küche und beobachtet, wie ich eine recht wahllose Auswahl an Lebensmitteln auspacke. Bananen, Zimtschnecken, Pudding, Nudeln, rote Soße im Glas, eine Gurke und zwei Tiefkühllasagnen finden ihren Weg auf den Küchentisch, bevor ich ungefragt anfange, alles weg zu sortieren.
 

»Hast du heute schon was gegessen?«
 

Tamino schüttelt den Kopf.
 

»Vielleicht sollte ich mir von meiner Mutter endlich mal richtiges Kochen beibringen lassen«, sage ich und kratze mir verlegen den Hinterkopf, ehe ich nach einer der Lasagnen greife und die Zubereitungsanleitung durchlese.
 

»Du musst nicht für mich kochen«, murmelt Tamino.
 

»Tja. Vielleicht will ich aber«, gebe ich schulterzuckend zurück und drehe den Ofen an, bevor ich die Lasagne hineinschiebe und mich zu Tamino umdrehe. Er sieht kolossal scheiße aus. Ich will ihn so dringend umarmen, aber ich merke auch, dass er Abstand hält, mir Platz macht, wenn ich an ihm vorbeigehe, als hätte er Angst sich zu verbrennen.
 

Ich sollte ihm einfach sagen, dass es ok ist, wenn er mich anfasst.
 

Aber natürlich traue ich mich das nicht.
 

»Hast du irgendwo eine Eieruhr?«
 

Tamino öffnet eine der Schranktüren und reicht mir eine schlichte, weiße Eieruhr. Während das Ticken der Uhr in meinen Ohren klingt, fange ich schweigend an, Taminos Fenster zu öffnen, sein Bett zu beziehen, Wasser auf seinem Nachtschrank abzustellen, frische Klamotten aus dem Schrank zu ziehen.
 

Tamino sagt kein Wort. Er hockt auf dem Fußboden neben seiner Zimmertür und umarmt seine Knie, die Augen unfokussiert ins Leere gerichtet.
 

Als ich mich im Schneidersitz vor ihm auf den Boden setze und die Hand nach ihm ausstrecke, zuckt er zusammen wie ein verletztes Tier. Ich ziehe meine Hand zurück.
 

»Sorry.«
 

Tamino zieht die Schultern hoch und fängt an, auf seiner Unterlippe herumzukauen. Ich sehe, dass seine Hände zu Fäusten geballt sind, die Fingernägel in die Handinnenflächen gebohrt. Mein Schlucken ist unnatürlich laut in der Stille.
 

Anfassen? Nicht anfassen?
 

Ich hab keine Ahnung, was die richtige Taktik ist. Letztes Mal hat anfassen geholfen, aber letztes Mal hat Tamino auch nicht reagiert wie ein angeschossenes Reh, dass von einem Hund beschnüffelt wird.
 

Fuck.
 

Kein Anfassen.
 

»Deep Space Nine zum Essen?«, frage ich und versuche angestrengt das Ziehen in meinem Brustkorb zu ignorieren.
 

»Ok.«
 

Tamino schafft nicht mal die Hälfte der Lasagne und reicht mir den Teller wortlos, während wir in ungewohntem Abstand zueinander auf dem Bett sitzen und Star Trek schauen. Bevor ich mich mit Tamino angefreundet habe, wäre es niemals ein Problem gewesen im Abstand von dreißig Zentimetern mit einem Freund auf meinem Bett zu sitzen und eine Serie anzuschauen.
 

Jetzt spüre ich den Abstand überdeutlich, als würde alles unter meiner Haut mich zu Tamino hinüberziehen. Als wäre er ein riesiger Magnet und ich ein Haufen kleiner eiserner Nadeln, die nichts lieber täten, als sich an ihn zu schmiegen.
 

Aber erstmal scheint Körperkontakt von der Liste der möglichen Dinge gestrichen worden zu sein. Also schlinge ich meine Arme um mich selbst und starre konzentriert auf den Bildschirm, während mein Gehirn vor lauter chaotischen Gedanken wabert.
 

Ein wahnwitziger Teil meines Gehirns wünscht sich, noch mal ins Wasser zu fallen, einfach damit Tamino sich aus Sorge um mich nicht mehr scheut mich anzufassen.
 

Vielleicht morgen, denke ich. Vielleicht nächste Woche.
 

Aber vielleicht, wispert mein Gehirn verräterisch, vielleicht auch gar nicht mehr.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (10)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Sei512
2019-05-29T06:52:47+00:00 29.05.2019 08:52
Also ich so jaaaaaa ein neues Kapitel. Im zweiten Moment. Fuck nein das wird nicht gut...das kann nicht gut werden. Lesen-nicht lesen-lesen-nicht lesen?? Verdammt ein neues Kapitel natürlich LESEN und nach den ersten drei Sätzen habe ich es schon bereut. Ja ich gebe meine Vorrädnern recht. Irgendwie wird es von Kapitel zu Kapitel schlimmer und verdammt. Ja ich kann Juls so verstehen. Diese verdammte Ungewissheit was richtig ist? Was falsch? Ich hoffe du hast bald Mitleid und schonste unsere Nerven es muss ja nicht gleich Friede Freude Eierkuchen sein aber bisschen? Glitzer so ein klitzte kleiner Moment?

Ich freue mich trotzdem aufs nächste Kapitel 😉
Antwort von:  Ur
29.05.2019 14:16
Vielleicht ein bisschen Glitzer, aber noch nicht zu viel Glitzer ;) Minimaler Glitzer, um auf eine spätere Glitzerkanone vorzubereiten :D Ich freu mich, dass du dich trotz des Dramas aufs nächste Kapitel freust! Danke fürs Kommentieren <3
Von:  Yamasha
2019-05-28T05:40:43+00:00 28.05.2019 07:40
Du hast echt kein Mitleid, oder? 😅 Weder mit unserer Gefühlswelt noch mit der von Tamino und Julius... Das ist so gemein!!! :/ ich hab so auf eine Aussprache gehofft!!! Jetzt mal ganz im Ernst: so kann das doch nicht weitergehen! Beide leiden wie bescheuert!!! Du bist so unfair...
Aber wenigstens meiden die anderen Konstantin und Mari war auch sehr verständnisvoll. Genauso wie ich Cems Taktgefühl schätze. 😀
Freu mich schon auf das nächste Kapitel!
Antwort von:  Ur
28.05.2019 10:38
Ich hab SO VIEL Mitgefühl, aber ein bisschen Drama zwischendrin muss sein :D Umso schöner ist es dann, wenn alles wieder gut wird ;) Danke fürs Kommentieren! <3
Von:  FreeWolf
2019-05-27T21:42:05+00:00 27.05.2019 23:42
Du liebe Zeit, du hast mir gerade mein Herz in zwei Teile gebrochen. Ich fühle schon lange mit dieser Geschichte, Tamino und Jules, nit, und ich weiß nur, dass ich hoffe, dass ihre Geschichte nicht so bald endet, sondern noch das eine oder andere Moment für uns stille Teilhabende hat. Mach weiter so!
Antwort von:  Ur
28.05.2019 06:18
Das Ende ist noch nicht allzu bald in Sicht, ich hab noch einige Dinge mit den beiden geplant ;) Ich freu mich, dass du mit den beiden so mitfühlst! Danke fürs Kommentieren <3
Antwort von:  FreeWolf
28.05.2019 16:54
Das freut mich sehr zu hören, Actio et Reactio gehört momentan nämlich eindeutig zu meinen happy places. :-) Ich freu mich schon darauf, wenn es wieder weitergeht!
Antwort von:  Ur
28.05.2019 17:15
Oooh, happy places <3 Das macht mich sehr glücklich! Das nächste Kapitel ist schon in Arbeit!
Von:  Yunaxxx
2019-05-27T21:07:04+00:00 27.05.2019 23:07
Ich leide mit den beiden. Ich hoffe dass die beiden schnell darüber reden und sich wieder in den Arm nehmen. Diese Distanz zwischen den beiden tut so weh. Wäre schön wieder was aus Tamino Perspektive zu lesen
Antwort von:  Ur
28.05.2019 06:17
Tamino ist jetzt wieder dran :D Dann könnt ihr alle mit ihm auch noch n bisschen mitleiden xD Danke fürs Kommentieren <3
Von:  chaos-kao
2019-05-27T20:19:29+00:00 27.05.2019 22:19
Ach Juls :( Trau dich! Umarme den armen Tammy endlich! Der macht sich vermutlich immer noch Vorwürfe ohne Ende wegen des Beinahe - Kusses und malt sich sonst was aus. Erlöse ihn und dich endlich von dieser Qual ;_; Auch wenn es nicht leicht ist, aber Tammy hat ja wohl die Wahrheit verdient und das möglichst bevor er ganz kaputt gegangen ist :(

Wie hältst du das beim Schreiben eigentlich aus, die beiden so zu quälen? :D
Antwort von:  Ur
28.05.2019 06:15
Vorwürfe ohne Ende sind definitiv Taminos zweite Vornamen, ja :'D Das liegt in seiner Natur. Ich glaube, ich halte es nur aus, weil ich weiß, was danach kommt *hust* Danke fürs Kommentieren <3
Von: Karma
2019-05-27T19:32:00+00:00 27.05.2019 21:32
;_____;
Ich sehe schon, du willst mich umbringen.
o___O
Gestorben an einem Übermaß an Gefühlen. Kann auch nicht jeder von sich behaupten. Und ich bin froh, dass ich nicht Juls bin; also kann mir auch keiner das Heulen verbieten.
*Katze und Taschentücher schnapp und noch ne Runde heulen geh*
Antwort von:  Ur
28.05.2019 06:15
Das war tatsächlich nicht meine Absicht, aber ich sehe total ein, wie du darauf kommst :'D Wir befinden uns hier definitiv am tiefsten Punkt, was das Drama angeht. Zumindest soweit die beiden mich nicht noch mit was Neuem überfallen, von dem ich bislang nichts geahnt habe :'D *Tempos reich* Danke fürs Kommentieren <3
Von:  Deedochan
2019-05-27T18:58:54+00:00 27.05.2019 20:58
Ohhhhh, wie tragisch :( am liebsten würd ich die beiden aneinander kleben.
Und... obwohl Juls an der Situation prinzipiell selbst Schuld ist, leide ich mit ihm am meisten mit, da es für ihn wegen des Wissens über seine eigenen Gefühle zu Tamino noch tragischer ist.
Hach... diese beiden :)

Bis bald!
Antwort von:  Ur
27.05.2019 21:00
Ja, ich fühle Juls schon auch sehr D: Aber es gibt momentan keinen einfachen Ausweg aus all dem Drama. Da müssen die beiden jetzt durch. Danke fürs Kommentieren! <3
Von:  Morphia
2019-05-27T18:54:18+00:00 27.05.2019 20:54
Ich leide... ich leide sehr...
Wie soll es nur weitergehen?! 😭
Ich dachte jetzt wird alles wieder Friede Freude Eierkuchen.
Antwort von:  Ur
27.05.2019 20:57
Ich leide auch. Und die beiden auch. Alle leiden sehr :'D Aber es wird auch wieder bergauf gehen! Versprochen <3 Danke fürs Kommentieren!
Von:  Schnullerkai
2019-05-27T18:01:07+00:00 27.05.2019 20:01
Das tut so weh beim Lesen. Aber es ist nicht dieses "Gott, seid ihr doof"-Wehtun, das man vielleicht in anderen Geschichten empfinden würde, wenn die Hauptfiguren nicht tun, wovon man als Leser überzeugt ist, das es das richtige wäre. Es zerreißt einem einfach das Herz, dass die beiden hier so auseinander driften, obwohl das ganz offensichtlich keiner der beiden will.
Ich hätte jetzt gern mal wieder Taminos Sicht. Das wird vermutlich nicht weniger schmerzhaft, aber seine momentane Reaktion auf Juls hätt ich gern von ihm selbst kommentiert.
Argh, und dabei fing das Kapitel so erfreulich an. v_v
Antwort von:  Ur
27.05.2019 20:04
Ich bin sehr froh, dass es nicht eine von diesen Sachen ist, wo man sich wegen der Dummheit der Protagonisten die Haare rauft :D Ich leide beim Schreiben auch sehr, falls das etwas tröstet *hust* Vielen Dank fürs Kommentieren <3


Zurück