Zum Inhalt der Seite

Last verse of dawn

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

3

Alles, was ich hier erfahre, werde ich durch meine Augen erfahren. Kein Wort wird mir helfen und als ich in das Meer aus Stämmen eintauche und in die unangenehme Düsternis dieser Umgebung, das presse ich die Lippen aufeinander.

Dieses Dorf verätzt die Seele.

Es ist wie ein Schatten, der sich herabsenkt, erdrückend, erstickend und in all seiner Kraft erbarmungslos. Was er zurücklässt, ist das, was mir in den Gesichtern der Menschen begegnet. Hier kann man nur existieren, wenn man kein Gefühl besitzt, das zerstört werden kann.

Wie Seelenlose wirken die Menschen auf mich. Leer wie kalte Gefäße und stumpf. Es ist als würde ein Bann auf ihnen liegen und wie grüble ich und frage mich, ob der Priester es ist, der die Wurzel darstellt. Etwas geschah in diesem Dorf, etwas geschieht noch immer und wie oft höre ich das Knacken des Unterholzes, wie oft das Rascheln des Blattwerkes. Als würden mich unsichtbare Schatten verfolgen, ohne dass ich ihre feste Präsenz spüre. Dann hingegen ist es mit einem Mal still und ich höre nur noch Tims Flügelschläge.

Der Weg, dem ich folge, wirkt unscheinbar, doch erzählt von all den Füßen, die oft über ihn hinwegziehen. Man nutzt ihn oft. Hie und da sehe ich kleine Gegenstände, mal eine Kordel, die sich von der Kleidung löste, an einer Stelle den ledernen Riemen eines Schuhs. Die dünnen Äste sind geknickt und so folge ich dieser Spur und gehe weit, bis sich die Bäume in der Ferne lichten und mir das Ziel preisgeben.

Es ist ein Friedhof, vor dem ich mit einem Mal stehe und ich vereise, als ich den maroden Zaun erreiche, der das Gelände umschließt. Lautlos öffnet sich mein Mund, während meine Augen über den Anblick schweifen.

Einst schien es eine Ruhestätte wie jede andere zu sein. Die Grabsteine wurden liebevoll gefertigt, die älteren von ihnen offenbaren noch vergraute Insignien der Verstorbenen. Irgendwann scheint es auch noch Beete gegeben zu haben, auf denen Blumen wuchsen, doch diese Zeit verging und was ich nun vor mir habe, ist ein verfluchtes Stück dieser Erde, auf denen sich hoch konzentriert improvisierte Gräber aneinander drücken.

Die geordneten Reihen der ersten Ruhestätten rückten längst in den Hintergrund.

Überall grub man die Erde auf. Die Grabsteine wurden ersetzt durch kleine, rote Stöcke, die die Toten nur vermuten lassen und in ein seltsames Licht rücken. Sie sind rot wie die Schreckensstatue in der Kirche.

Als ich weitere Schritte gehe, blicke ich auf ein Meer von ihnen und kurz versuche ich einzuschätzen, wie viele Tote hier unter dem grauen Himmel ruhen.

Ein kalter Wind bahnt sich seinen Weg unter meine Uniform und absent ziehe ich den Mantel um mich.

Es ist kühl. Eine Gänsehaut kriecht über meine Arme und selbst Tims Flattern verebbt in meinen Ohren, als ich zum Zentrum des Friedhofes blicke. Was sich dort erhebt, wirkt mit viel Fantasie wie ein Altar. Im Grunde ist es nur eine Steinplatte, die von denselben Stöcken umrahmt wird. Selbst sie schimmert in dezentem Rot und einen ebenso unscheinbaren Geruch wahrnehmend, trete ich näher.

Der Wind pfeift in meinen Ohren, als ich über die Erde hinwegziehe und dann stehe ich an meinem Ziel und starre hinab.

Die Statue in der Kirche ließ mich noch auf Farbe hoffen, doch als ich vor dem Altar stehe, da rieche ich das stechende Aroma von Kupfer. Es ist tatsächlich Blut, das hier vergossen wurde und unbewusst beiße ich die Zähne zusammen, als ich um mich spähe. Auch hier fühle ich mich beobachtet. Augen scheinen geradewegs aus der Dunkelheit des Dickichts nach mir zu stechen.

Ich habe vorsichtig zu sein. Vor allem jetzt und seit dem Treffen mit dem Priester.

Der Finder verschwand ganz offensichtlich nach kurzer Zeit und der Geruch dieser Steinplatte lässt mich ahnen, wie weit die Menschen hier zu gehen bereit sind.

Flüchtig kommt es mir in den Sinn, dass ich vor kurzem und in der Kirche einem Broker gegenüberstand und es der Zufall gut mit mir meinte. Es sind keine Tiere, die hier begraben liegen, sondern der Grund für die seichte Bevölkerung des Dorfes.

Langsam verlasse ich den Friedhof und ich mache es gerne, entziehe mich dem Gestank, der konzentrierten Atmosphäre des Elends, tauche ein in den Wald, doch kehre nicht zum Dorf zurück. Eine ziellose Suche scheint sich auszuzahlen. Bisher erhielt ich alle Antworten, ohne Fragen zu stellen und so pirsche ich mich in das Dickicht.

„Schau dich um“, flüstere ich Tim zu, bevor ich mich unter einem Ast ducke und sofort flattert er davon.

Es wird dunkel, während ich durch den Wald ziehe. Es könnte normal sein oder bereits zum Abend dämmern. Mir fehlt jedes Zeitgefühl, denn der Himmel bleibt grau und die Sonne diesem Ort weiterhin fern. Die Bäume werfen dunkle Schatten, nur selten lassen Brisen ihr Geäst aufleben und wie oft halte ich inne und versuche mit tiefen Atemzügen Leben zu tanken.

Es scheint aus mir zu fließen. Mit jedem Moment, den ich hier verbringe. Mein Gemüt wird schwer und noch schwerer, wenn ich daran denke, dass diese Mission eine lange Zeit in Anspruch nehmen könnte. Wenn mir niemand antwortet und ich stets auf meinen Rücken zu achten habe. Ich stehe alleine gegen diese Übermacht aus Schweigen und Ablehnung und Komui zu kontaktieren, ist keine Möglichkeit, die mir bleibt.

Hier scheint es nichts zu geben, das auf Strom angewiesen ist.

Auch der Finder wird für mich unerreichbar bleiben und so habe ich es in Kauf zu nehmen. Natürlich könnte ich das Dorf verlassen, nach einem Telefon suchen, die Mission vorübergehend ruhen lassen und ihr bald darauf mit Verstärkung wieder treu werden, doch es scheint eine Spur zu geben, kaum sichtbar zu meinen Füßen. Wie eine Fährte, die man verliert, wenn man ihr zu wenig Beachtung schenkt.

So werde ich also weitergehen und das Risiko zum erneuten Mal als Gefährten willkommen heißen.

Mehrere Stunden lasse ich mich von meinen Füßen tragen, den Friedhof umrundend und auf alles achtend, das sich der Abweichung dieses Dorf anzupassen scheint. Nur einmal stoße ich dabei auf einen versteckten Pfad und betrachte mir abermals rote Stöcke, die, im Boden steckend, ein Dreieck bilden. Das ganze Umfeld des Dorfes scheint infiziert und ich stehe noch immer dort, als sich das goldene Leuchten meines Golems aus dem Dickicht löst.

Ich höre, wie er sich mir nähert, spüre kurz darauf, wie sich seine Zähne in meinem Mantel versenken und nur kurz braucht er an ihm zu zerren, bevor ich auftauche aus meiner Absenz. Er scheint fündig geworden zu sein und so hebe ihn vor mein Gesicht und betrachte mir, was er preisgibt.

Mit weit geöffnetem Maul ruht er auf meinen Händen und wie konzentriert erforsche ich seine Erinnerungen. Das Bild flackert und doch erkenne ich es binnen kürzester Zeit. Abrupt löse ich die Hände von ihm und lasse ihn sich in die Lüfte erheben.

„Führ mich hin“, bitte ich ihn und wie spürbar schlägt das Herz in meiner Brust, als ich seinem Leuchten folge. Abermals in die Dunkelheit des Dickichts und erpicht auf einen Ort, der mich weiterhin mit Befürchtungen nährt. Es braucht nicht viele Schritte, bis Tim flatternd inne hält und ein letztes Gebüsch raschelt unter meiner Eile, bevor ich stehen bleibe und gegen die Trockenheit meines Halses schlucke.

Wieder umgibt mich Stille, wieder kreucht ein Schauer durch meinen Leib und dann hebe ich die Hand und bette die Fingerkuppen vertieft auf meinen Lippen.

Es sind drei Gräber, die ich vor mir habe, recht unscheinbar auf den ersten Blick. Wer auch immer hier in der Erde versenkt wurde, man gab sich wenig Mühe. Anscheinend blieb es bei Löchern, die die Körper senkrecht verschluckten, bevor man sie mit der Erde füllte. Vereinzelte Fußabdrücke verraten mir die genauen Positionen und erneut studiere ich die Umgebung, bevor ich in die Knie gehe.

Nur eines der drei Gräber macht einen anderen Eindruck. Die Erde scheint gelockert, als hätte man sie erneut umgegraben. Die Spuren der Füße, die den Boden fest traten, sind verwischt und unter einem Ächzen senke ich das Gesicht und reibe mir die Stirn.

Meine Erwartungen beinhalteten nichts dergleichen. Ich befürchtete viel, doch nicht, dass ich drei Leichname auszugraben habe, von denen sich einer ohne jeden Zweifel als der vermisste Finder herausstellen wird.

Und es gibt zwei weitere, die ich nicht einzuordnen weiß.

Die Bewohner des Dorfes scheinen ausnahmslos auf dem verfluchten Friedhof zu enden, um im Blut ihrer Freunde und Angehörigen zu verwesen. Diese behelfsmäßigen Gruben fallen aus dem Raster und resigniert spähe ich irgendwann zu Tim.

„Du passt auf, während ich grabe“, seufze ich im Angesicht des Unabwendbaren und komme auf die Beine.

Der Weg zum Friedhof ist zu weit und auch die Aussicht, dort auf Spaten zu treffen, äußerst gering.

Es wird schmutzig und das in jeder Hinsicht.

Während Tim sich in die Lüfte erhebt, streife ich den Mantel von meinen Schultern. Ein dicker, langer Ast hat mir als Werkzeug zu genügen und so wende ich mich dem ersten Grab zu und ramme das Holz in die Erde. Es ist eines der beiden Unbeschadeten und ich grabe nicht tief, bis ich auf die Knie sinke und die Hände nutze.

Es gäbe nichts, das passender wäre in der permanenten Dämmerung dieses verfluchten Ortes.

Die Bäume schweigen immer noch, als ich mich tiefer arbeite und bald darauf die letzte Erde von etwas streife, das sich als Hand entpuppt. Dunkel haftet die Erde auf den leicht angewinkelten Fingern und dann erkenne ich den Ärmel des vertrauten Mantels. Es ist tatsächlich der Finder und er war jung, als er starb.

Ächzend wische ich mir den Schweiß von der Stirn, bevor ich abermals nach dem Ast greife und mich dem nächsten Grab zuwende.

Von hier an tappe ich im Dunkeln und in der Gegenwart des schlummernden Kameraden setze ich die Arbeit fort. Längst ist die finstere Masse aus Wut und Feindseligkeit in mir gewachsen und während ich grabe, sehe ich das Gesicht des Priesters vor mir. Ich sehe sein Schmunzeln, sein widerliches Gefühl der Überlegenheit und die abgrundtiefe Niedertracht, als Mörder eine solche Sicherheit zu empfinden.

Vielleicht sah er es als Gerechtigkeit und den Finder als Bedrohung für sein erbärmliches Werk. Vielleicht tötete er ihn qualvoll und wurde dabei durchströmt von warmer Rechtschaffenheit und dem Stolz seines blutroten Gottes. Zuweilen schließen sich meine Finger fester um den Ast.

Ob nun ein schlichter Mensch, der lediglich dem Wahnsinn verfiel oder als Broker, der sich über die Fehler seiner Taten bewusst ist und seine Motivation aus einem mir unbekannten Gewinn schöpft.

Er machte sich die Falschen zum Feind.

Tim verhält sich noch immer ruhig, als ich abermals in die Knie gehe und mich in das Loch neige. Ich habe den Toten noch nicht erreicht, als mir ein vertrauter süßlicher Geruch in die Nase steigt. Anfängliche Verwesung strömt mir entgegen. Dieser Körper scheint schon etwas länger tot zu sein und kurz darauf erreiche ich auch ihn. Es ist der Kopf, der sich diesmal zuerst offenbart.

Brünettes Haar schimmert zwischen dem Dreck und ich halte den Atem an, beuge mich tiefer und grabe mich durch zu dem Wissen, das ich brauche. Der Mann ist mir unbekannt. Sein Gesicht ist älter und kurz halte ich inne, als ich die Erde von seinen Zügen wische und ein kleines Loch in seinem Jochbein erspähe.

Eine Kugel muss es durchbohrt haben. Das Blut auf seiner weißen Haut ist schwarz und trocken und irritiert verzieht sich meine Miene, als ich unter seinem Ohr ein kleines Stück Stoff erkenne. Die Kleidung des Toten offenbart sich mir und sofort greife ich nach ihr und befreie sie aus ihrem Grab. Es ist eine Kapuze und mein Atem stockt, als ich auch sie dem Mantel eines Finders zuordne. Stockend lasse ich sie los und setze mich zurück. Es sind zwei Finder, die hier vergraben liegen.

Kurz rege ich mich nicht, bevor ich um mich spähe. Soweit ich weiß, war der Finder alleine, als er dieses Dorf betrat. Von hier an verwischt sich die Geschichte. Ein Kitzeln zieht sich über mein Gesicht, bevor eine Schweißperle von meinem Kinn tropft und dann spähe ich zum dritten Grab.

Wer auch immer dort sein Ende fand, allem Anschein nach grub man ihn wieder aus. Die Erde sackte etwas ab und doch beginne ich auch dort zu graben.

Wie auch immer die nächsten Momente verlaufen, denke ich, im Anschluss werde ich in den ersten Gräbern nach den Telefonen der Finder suchen. Vielleicht versenkte man auch sie im Loch und wie hoffe ich darauf, denn die Dringlichkeit, Kontakt mit Komui aufzunehmen, wächst.

Es sind Informationen, auf die ich angewiesen bin. Die Standorte der Finder sind zumeist bekannt. Sie melden sich, folgen Befehlen. Ihre Wege sind nachvollziehbar, doch Komui erwähnte es nicht. Er sprach von einem Vermissten und so befürchte ich einen Zufall, der sich schwer zurückverfolgen lässt.

Schon bald halte ich inne. Das dritte Grab ist tatsächlich leer und meine Ratlosigkeit immens.

Umso wichtiger ist es, ein Telefon in die Finger zu bekommen, doch so sehr ich auch grabe, stets umgeben vom Gestank des Todes, die schwarzen Löcher beherbergen nur die beiden zu bedauernden Kameraden und letztendlich entferne ich mich um wenige Schritte von ihnen, sinke auf den Boden und gegen einen Baum.

Erschöpft betrachte ich mir den grauen Himmel, reinige meine Hände gedankenverloren im Gras.

Drei Menschen starben an diesem Ort und der Dritte stellt mich vor das vollendete Rätsel.

Mit einem lauten Knurren meldet sich mein Magen und zermürbt schließe ich die Augen.

Er verlangt nach etwas, das ich ihm hier nicht bieten kann. Wenn ich zurückkehre in die vermeintliche Herberge, wird das, was man mir serviert, vermutlich zur einen Hälfte aus etwas Ungenießbarem bestehen und zur anderen aus Gift und Hass.

Auf den Feldern werde ich auch nichts finden und der nächste Ort ist weit entfernt. Vielleicht wäre es das Klügste, sich erst einmal zurückzuziehen, sich in einer sicheren Umgebung zu erholen und dann mit gestärkten Kräften zurückzukehren, um dieses Drama zu beenden.

Unter einem Seufzen schließe ich die Augen.

Beenden, denke ich mir indessen. Der Reaktion der Wirtin nach zu urteilen, wäre es nicht nur der Priester, der sich mir in den Weg stellen würde. Vermutlich wäre es das ganze Dorf und zermürbt treibe ich meinen Kopf zu der letzten Höchstleistung. Alle, die hier hausen, könnten demselben Wahnsinn verfallen sein. Vielleicht täte ich nichts Falsches, wenn ich sie ihrem erbärmlichen Schicksal überlasse, doch die Gräber vor mir machen es unmöglich. Mindestens zwei Finder wurden hier ermordet. Sie machen die Zustände hier zu meiner Angelegenheit und verwehren mir die Abreise.

Lange bleibe ich noch kauern, reglos und nur in der Gesellschaft Timcanpys, der auf meinen Beinen sitzt. Und ich überlege, während der Tag sich seinem Ende entgegen neigt. Es wird dunkel, noch dunkler und mit dem Einbruch der Nacht kehrt endlich ein gewisses Zeitgefühl zurück. Ein einziger Tag an diesem Ort war bitter und ich frage mich, wie der nächste wird.

Irgendwann komme ich auf die Beine, streife mir den Mantel über und verabschiede mich vorerst von meinen Kameraden. Sobald diese Mission beendet ist, werden sie Nachhause kommen und befreit von diesem trostlosen Boden.

In langsamen Schritten kehre ich vorerst zum Dorf zurück. Vielleicht wartet dort auch auf mich eine Kugel, doch nicht dasselbe Schicksal. Was dem einen Finder das Leben nahm, wird mir kaum schaden, sondern nur meine Wut nähren.

Vielleicht wäre es das einzig Richtige, das gesamte Dorf dem Erdboden gleich zu machen.

Kurz darauf erinnere ich mich jedoch an die Kinder, die ich sah und die Tatsache, dass diese Geschöpfe schuldlos sind. Sie sind rein, werden erst in diesen Wahnsinn getrieben und so sehr diese Menschen mich auch erzürnen, ein Teil meines Weges ist es, sie zu beschützen. Ich legte nie Hand an ein menschliches Wesen. Ich töte Akuma und Broker und kurz darauf folgt schon die Grenze, die ich nicht überschreiten will.

Gedankenlos betrete ich bald darauf den kleinen Pfad, der zurück in das Dorf führt.

Die Welt um mich herum ist bereits pechschwarz und umso schneller bemerke ich in weiter Ferne das Licht vieler Fackeln, die sich wie ein Meer zwischen den Stämmen wiegen.

Sie kommen auf mich zu und kaum höre ich auch das Knirschen vieler Schritte, da weiche ich zur Seite aus und ziehe mich zurück in das finstere Dickicht. Flink greife ich nach Tim, bevor ich hinter einen Stamm trete und dann lauere ich dort und lausche der sich nähernden Gruppe.

Sie kommt aus dem Dorf, folgt dem Weg Richtung Friedhof und ich befürchte viel, als ich sie in sicherer Ferne an mir vorbeiziehen sehe. Es ist der Priester, der sie führt. In feierlichen Schritten und gehüllt in ein weißes Gewand. Ein helles Glöckchen begleitet rhythmisch jeden seiner Schritte und ebenso anmutig folgt die Masse.

Es muss das ganze Dorf sein, das gen Friedhof strömt und wie konzentriert folge ich ihnen. So lautlos wie möglich, Tim fest im Griff und bis zum Waldrand, hinter dem die unheilvolle Lichtung liegt.

Dort kauere ich mich abermals nieder und fixiere Tim unter meinem Mantel. Das Zentrum des Friedhofes zu erkennen, ist unmöglich durch die Masse der Anwesenden. Überall sehe ich die weißen Gewänder, überall auch die Fackeln und nur kurz spähe ich um mich, bevor ich nach einem hohen Ast greife und mich emporziehe.

Ich muss sehen, was dort unten geschieht und so klettere ich noch höher auf den Baum, bis sich mir der blutrote Altar offenbart. Der Priester hielt inne. Mit einem Mal verstummt auch das Glöckchen und als die Masse still verharrt, andächtig versammelt um diesen Kern, da erhebt sich seine Stimme.

Er scheint ein Gebet zu rezitieren und wie huldigend lauscht die Masse seinen Worten. Es gibt keine störende Regung, kein Husten, keine Menschlichkeit in den starren weißen Reihen und irgendwann werde ich auf eine Frau aufmerksam, die nahe dem Altar steht.

Starr wie eine Puppe, während auf ihrem weißen Gewand ein goldener Streifen glänzt. Ihre Hände sind leer. Sie hält keine Fackel und irgendwann kniet sie nieder und verbeugt sich vor dem stinkenden Gestein. Beiläufig bewege ich die Hand an der Rinde, sichere meinen Halt und presse die Lippen aufeinander.

Es ist makaber, doch ich weiß, was in den nächsten Momenten geschieht.

Das Gebet ist lang und ebenso lange harrt die Frau in demutsvoller Haltung aus. Sie wirkt ruhig. Vielleicht ist sie gar stolz und vollends vertieft in diesen Faktor zucke ich zusammen, als ein lautes kollektives Raunen durch die Masse geht. Die Menschen begleiten einen kurzen Vers und dann erheben sich die Fackeln über ihre Köpfe.

Unzählige Arme strecken sich und erst jetzt bemerke ich, wie trocken mein Mund ist. Nur selten wurde ich Zeuge eines solchen Wahnsinns und ich blinzle nicht, als die Frau feierlich auf den Altar steigt.

Aufgerichtet und anmutig bewegt sie sich und wie konzentriert versuche ich sie zu verstehen, als sie wenige Worte spricht, stolz die Anwesenden überragend auf der erhöhten Plattform.

Flüchtig befeuchte ich die Lippen mit der Zunge. Wieder streichen meine Finger über die Rinde. Ich habe mit mir zu kämpfen. Etwas in mir schreit danach, zu verhindern, was nun folgt, doch der Preis wäre zu hoch.

Gehe ich dazwischen, wird es in einem Gemetzel enden. Höchstwahrscheinlich ist Rettung auch das Letzte, wonach sich diese Frau sehnt und so klammere ich mich um einen nahen Ast. Ich werde es nicht verhindern, werde hier oben sitzen bleiben und meinem wankenden Plan treu. Was auch immer hier vor sich geht, hier und jetzt darf sich die Richtung nicht ändern.

Vor mir auf dem Altar streift sich die Frau das Gewand vom Körper. Keine Faser bedeckt noch ihre Haut, als sie den Stoff an einen Mann weitergibt und aus den Händen eines anderen einen Dolch nimmt. Abermals erhebt sich die Stimme des Priesters und sie tut es permanent, als sich die Frau niederlegt auf das kalte Gestein und sich postiert.

Langsam neige ich mich nach vorn und verenge die Augen. Ihre Hände strecken sich dem Himmel entgegen. Eine von ihnen hält die Klinge und erneut zieht ein Raunen durch die Masse, als sie sie an ihren Unterarm legt und ohne das geringste Zögern tief in ihn schneidet. Die Klinge sinkt tief, augenblicklich rinnt das Blut ihre helle Haut hinab und lautlos öffnet sich mein Mund, als sie den Dolch in die andere Hand wechselt und sich auch den anderen Unterarm aufschneidet.

Die Überzeugung scheint abgrundtief zu sein und nicht einmal, als das warme Blut aus ihrem Körper strömt und somit das Leben, scheint es Angst in ihr zu geben. Unter dem anhaltenden Gebet des Priesters bettet sie die Arme viel eher friedlich auf der Brust und gibt sich dem Schlummer hin, während sich das Gestein unter ihr erneut rot färbt. Wie sind meine Sinne gebannt, wie endlos mein Entsetzen und erst, als die Frau stirbt, fließt das Bewusstsein über meine Umgebung in mich zurück.

Ich schenkte dem Wald kaum Beachtung, hörte kein Geräusch, doch ein abrupter Impuls ist es, die meine Augen losreißt und zum schwarzen Dickicht finden lässt. Es ist eine fremde Präsenz, die ich mit einem Mal spüre und langsam wende ich mich um, hinabstarrend, selbst meinen Atem zügelnd.

Jemand schlich sich über den Boden des Waldes. Ein Aufpasser aus dem Dorf, denke ich, doch gleichzeitig durchströmt mich ein seltsames Gefühl. Nicht sofort definierbar, sich verratend nur durch Ahnung. Fast ist es angenehm, auf irritierende Weise vertraut und wie erfriert der Atem in meiner Brust, als ich in all der Finsternis ein Gesicht ausmache.

Unscheinbar, verborgen, nur schwerlich zu erkennen, doch während mein Atem stockt, lebt mein Herz auf. Mit einem Mal sind es spürbare Schläge, die das Blut wärmend durch meinen Körper senden und mit versteinerter Miene erwidere ich den Blick, der jede Finsternis durchdringt.

Nichts könnte so schwarz sein wie diese Augen, die mich weitaus früher erfassten und das Grauen auf dem Friedhof verliert an Existenz, während wir reglos verharren.

Ich wusste nicht, dass er hier ist.

Ich spürte ihn nicht, obwohl ich seine Gegenwart doch gewöhnlich in jedem Winkel meines Umfeldes fühle. Nicht weit entfernt lehnt er an einem Baum, starr wie eine Skulptur, doch alles an diesem Ort abrupt mit seiner Präsenz füllend. Ich glaube sogar, ihn mit einem Mal zu riechen und wie groß ist die Überwindung, mich flüchtig von ihm loszureißen und zurück zu spähen zu dem blutigen Ritus.

Die Frau ist tot, doch das Gebet fließt weiter und ich zögere nicht, bevor ich unter mich taste, vom Ast gleite und dem Erdboden entgegen. Es spielt keine Rolle mehr, was dort geschieht. Nicht in dieser Nacht und wie eilig sind meine Schritte, die mich anschließend zu ihm führen.

Ich dränge mich an einem Gebüsch vorbei, erreiche ihn und keine Nacht könnte verbergen, was ich erblicke. Er ist erschöpft und blass. Offen und wirr umrahmt das Haar sein Gesicht und wie willenlos hebt sich meine Hand, einer abrupten Schwäche verfallend, dem Drang erliegend, und bettet sich auf seiner Wange.

Sie fühlt sich kalt an. Ein müder Atem strömt über seine Lippen und beiläufig streife ich eine lange Strähne aus seinem Gesicht, bevor ich die letzte Distanz überwinde und die Arme um ihn schließe.

Das vertraute Gefühl seines Körpers scheint wie das einzige Licht in dieser Dunkelheit und nicht nur die abgrundtiefe Zuneigung lässt mich ihn festhalten. Neues Leben scheint in mich zu strömen, mich zu stärken und weder Blut noch Tod existieren in unserem behüteten Kern, als sich das Gewicht seines Armes auf meine Schulter senkt. Eine Hand bettet sich auf meinen Rücken und wie genüsslich schließe ich die Augen, die Wange an seinem Hals und begierig seinen Geruch in mich aufnehmend.

Wie bizarr, hier an diesem Ort auf ein solches pures Glück zu treffen.

Wohlwollend durchströmen mich Behagen und Frieden und wie tief hole ich Luft, um die Haut seines Halses anschließend mit meinem Atem zu wärmen. Es geschieht oft, dass er mich findet, wenn ich in völliger Dunkelheit erstarre und wie lange verharren wir reglos, wie lange halten wir uns fest, bevor sich seine Hand von meinem Rücken löst und ich zurücktrete. Meine Finger streifen seine Seiten, unbewusst nach Verletzungen tastend, doch er scheint unversehrt.

„Was tust du hier?“, flüstere ich, doch bemerke die Regung seiner Hand. Sie hebt sich, bittet mich um Stille und als seine schwarzen Augen an mir vorbeidriften, wende ich mich um und schließe mich seiner Beobachtung an. Mit einem Mal dringt der Friedhof zurück in unsere Existenz. Noch immer das Blut, noch immer die Fackeln und diese abgrundtiefe Widerwärtigkeit, doch mit einem Mal scheint eine Grenze zwischen uns zu existieren. Es ist wärmer auf unserer Seite.

So stehen wir in der verborgenen Finsternis, ohne ein Wort, doch stattdessen mit endlosen Gedanken.

Die Fackeln auf der Lichtung setzen sich bald in Bewegung. Die Menschen strömen durch die Kluft im Zaun, um sich mit ihren Lichtern zurück in ihr Dorf zu ergießen, während unsere Gegenwart an diesem Ort stetig mehr zur einzigen wird. Die Monster driften aus unserem Umfeld und selbst als die Stämme eine undurchsichtige Mauer zwischen uns und den Fackeln bilden, ist es noch still zwischen Kanda und mir.

Er bat mich darum, nicht zu sprechen, also warte ich auf seine Worte. Annähernd absent blickt er in die Dunkelheit, längst wieder den Halt des Stammes nutzend und wie lange sehe ich ihn nur an, nicht ungeduldig oder erwartungsvoll, denn es gibt keine Wünsche in mir, wenn ich ihn vor mir habe.

„Wir ziehen uns zurück“, erhebt er dann endlich die Stimme. Sie erreicht mich leise, dieselbe Schwäche in sich tragend, wie sie seinen Körper zeichnet. „Nach Süden und tiefer in den Wald, bis wir weit genug entfernt sind.“

Somit löst er sich bereits vom Stamm. Seinen Beinen fällt es schwer, der Belastung standzuhalten und nur flüchtig durchzuckt mich der Wille, ihm die Hand zu reichen. Mein Arm jedoch regt sich nicht, da ich die Seele des Japaners kenne. Er bewältigt es selbst und dann setzen wir uns in Bewegung.

Wir sind alleine, als wir den Friedhof umgehen und nicht selten spähe ich durch die wenigen Bäume, die uns von ihm trennen. Noch immer ruht der weiße Körper der Frau auf dem kalten Gestein, doch als ich mich abwende, kehre ich nicht nur ihr den Rücken. Es ist jedes Fragment, das ich vorerst hinter mir lasse, um mich an der Seite meines Freundes zu halten.

Mit niemandem würde ich diesen grausamen Weg lieber gehen.

„Bis zum nächsten Dorf werden wir es nicht schaffen“, dringt kurz darauf sein Flüstern zu mir. „Selbst eine Mahlzeit wird vom Zufall abhängig sein.“

„Was brauchst du?“

„Jemanden, dem ich meinen Schutz anvertrauen kann. Ich muss schlafen.“ Kurz treffen sich unsere Blicke. „Hat Komui dich geschickt?“

„Ja. Das Hauptquartier verlor den Kontakt zu einem Finder, der Nachforschungen anstellen wollte“, antworte ich und erkenne ein knappes Zucken seines Mundwinkels. Es wirkt wie der Deut eines humorlosen Grinsens und dann wendet er sich ab. „Du weißt etwas darüber.“

„Ich weiß alles“, höre ich ihn murmeln. „Die ganze Wahrheit, um die mich niemand beneiden dürfte. Ich erzähle es dir später.“
 

Stunde um Stunde durchstreifen wir den Wald und mit jedem Schritt meine ich, die Luft um uns würde klarer. Sie lässt sich leichter atmen, als würden wir einen verfluchten Bereich verlassen. Das Laufen wird einfacher dadurch und wir sprechen nicht viel, denn der passende Moment ist noch nicht erreicht und wir vermuten den nahen Sonnenaufgang am Horizont, als wir letztlich innehalten.

Es geht nicht darum, den richtigen Platz zu finden, wir suchen nur nach Distanz und geben uns mit ihr zufrieden, als sich ein Hügel vor uns erhebt und uns leichten Unterschlupf bietet.

Keiner Menschenseele begegneten wir in all den Stunden und auch hier haben wir das Gefühl der nötigen Abgeschiedenheit. Ein kleines Fleckchen Wiese und eine Nische der Anhöhe machen wir zu unserem Lager und Kanda sucht nicht nach Bequemlichkeit. Er sinkt in das Gras, legt sich nieder und auch ich gönne meinen Beinen Entspannung, als er die Augen schließt und innerhalb weniger Momente schläft.

Er ist in Sicherheit, denke ich mir.

Was auch immer er erlebte, es wird ihn nicht erreichen, wenn ich an seiner Seite bin, mühelos die Last seines Schutzes tragend. Stunde um Stunde kann er schlafen, ohne dass ihm etwas widerfährt und ich sitze neben ihm, grübelnd und absent.

Vor kurzem zweifelte ich am Schicksal und an seiner Güte, wenn es den Blick auf mich richtet.

Die Wege, die Kanda und ich bestritten, führten so weit auseinander, doch hier an diesem ruchlosen Ort kreuzen sie sich.
 

-tbc-



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück