Zum Inhalt der Seite

Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Notting war früher eine wohlhabende Insel gewesen, die ihren Reichtum ihrer zentralen Lage zwischen den Küsten des Kaiserreichs und des Königreichs Shalaine verdankte. Der Hafen war damals der wichtigste Umschlagplatz für Waren aller Art gewesen, die, zwischen den Dunkelelfen, der Bevölkerung von Ganestan und den Provinzen im Süden ausgetauscht wurden. Es hatte nicht einen Tag gegeben, an dem nicht mindestens zwei Schiffe in die Bucht gesegelt waren. Der Hafen war voll von Handelskoggen gewesen und bisweilen hatten große Frachtkähne mehrere Nächte auf offenem Meer ankern und darauf warten müssen, bis ein Anlegeplatz frei wurde. Als Knotenpunkt des Handels genoss Notting großes Ansehen unter Seefahrern und Kaufleuten. Mit den Händlern kam das Geld auf die Insel und ihre Bevölkerung fristete ein Leben in Wohlstand, das kaum einem anderen Einwohner Gäas außerhalb der großen Herrscherpaläste und Fürstenhäuser vergönnt war.

Doch der Reichtum war nicht von Dauer, denn eines schicksalhaften Tages lief eine Piratenflotte in den damals noch prächtigen Hafen ein. Es war der Tag, an dem Craig seine Eltern verloren hatte.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Weltenkrieg, als das Kaiserreich noch alle Hände voll damit zu tun hatte, wieder zur Normalität zurückzukehren, wimmelte es im Binnenmeer vor Seeräubern. Flüchtlinge und Kriegsverbrecher rotteten sich zu blutrünstigen Piratenbanden zusammen, die in regelmäßigen Abständen über die Gestade von Ganestan im Westen und die Küstengebiete von Shalaine im Osten herfielen. Plündernd und mordend zogen sie von Fischerdorf zu Fischerdorf und jedes Mal, wenn sie einen ihrer Beutezüge beendet hatten und mit ihren Schiffen wieder in See stachen, hinterließen sie nicht viel mehr, als einen Haufen rauchender Ruinen. Die Kaiserliche Flotte rang mit den Piraten lange um die Vormachtstellung im Binnenmeer und es sollte noch Jahre dauern, bis die Seestreitmächte von Ganestan das Korsarenproblem in den Griff bekamen.

Die Seeräuber von Varim dem Schwarzen waren zu jener Zeit die gefürchtetste Piratenbande im Binnenmeer. Ihr Kapitän war ein kriegerischer Dunkelelf und gehörte zu den meist gesuchten Verbrechern in ganz Gäa. Ihm wurde nachgesagt, während des Weltenkriegs ein Untergebener von Shraic Nachtwandler gewesen zu sein, der, nachdem sein Herr gescheitert war, kurzerhand mit einem Haufen Halsabschneidern losgesegelt war, um die Küstengebiete unsicher zu machen.

Craig konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als die Flotte von Varim über Notting hergefallen war. Die damals noch auf der Insel stationierte Wachtruppe der Dunkelelfen stellte sich den Piraten tapfer entgegen, doch sie waren der Masse und Grausamkeit ihrer Gegner nicht gewachsen. Die Seeräuber stürzten sich auf alles, was sich bewegte, und machten ihm im Handumdrehen den Garaus. Die Reihen der Dunkelelfen fielen viel zu schnell und es stand nichts mehr zwischen den Plünderern und den Häusern der Inselbewohner. Der Hafen brannte schon nach kurzer Zeit lichterloh und die mordende Horde kam auf der Suche nach lohnender Beute wie ein Sturm über die Bevölkerung von Notting.

Craig war damals gerade acht Jahre alt gewesen und er lebte mit seinen Eltern ganz in der Nähe des Hafens. Ihr Heim war eines der ersten Häuser, die dem Raubzug der Piraten zum Opfer fielen. Craig bemerkte zuerst nur das gedämpfte Johlen und Lachen der Seeräuber, doch bald war die Luft erfüllt von den verzweifelten Schreien der Inselbewohner, die vor den Piraten fliehen oder sich gegen sie verteidigen wollten. Als draußen auf der Straße das Chaos losbrach, wollte Craigs Vater nach dem Rechten sehen, doch als er im Begriff war, die Tür zu öffnen, wurde sie von außen gewaltvoll aufgebrochen und drei bewaffnete Männer drangen in das Haus der Familie ein. Der Anblick der blutbefleckten Säbel und ihrer mordlüsternen Augen brannte sich tief ins Craigs Gedächtnis ein. Sein Vater, der als Soldat im Weltenkrieg gekämpft hatte und, nachdem er seine rechte Hand verloren hatte, als Invalide aus der Kaiserlichen Armee entlassen worden war, stellte sich sofort zwischen die Seeräuber und seine Frau und seinen Sohn, doch es war ein hoffnungsloser Versuch, seine Familie zu beschützen. Die Piraten brachten ihn auf der Stelle um. Mit seiner Mutter ließen sich die Seeräuber mehr Zeit. Sie grölten und lachten, während sie sich an der hilflosen Frau vergingen, und erlösten sie erst von ihrem Leid, als sie keine Kraft mehr hatte, um nach Hilfe zu rufen oder um Gnade zu flehen.

Einzig Craig gelang die Flucht aus dem Haus. Durch die Hintertür rettete er sich schluchzend und zitternd ins Freie, verfolgt von den verzweifelten Schreien seiner sterbenden Mutter. Das Dorf stand bereits in Flammen und der panische Junge verlor in dem Chaos aus Feuer und Gewalt augenblicklich die Orientierung. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft und ließen seine Lunge brennen und seine Augen tränen. Flammen fraßen sich knisternd in Holz und dicke Balken zerbrachen funkensprühend. Überall tanzten die zerlumpten Gestalten der Piraten durch das tosende Inferno, schwenkten ihre blutigen Säbel und stießen schallendes Gelächter aus. Craig flüchtete sich ziellos in eine Gasse zwischen zwei lichterloh brennenden Häusern und dort lief er Varim dem Schwarzen direkt in die Arme.

Ihm lief noch heute ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an seine Begegnung mit dem Piratenkapitän dachte. Wie ein Dämon war er aus den Rauchschwaden und den züngelnden Flammen aufgetaucht. In der Hand hielt er eine zweischneidige Axt, deren silberner Glanz vom Blut seiner früheren Opfer getrübt worden war, und sein Gesicht war unter einer weiten Kapuze verborgen. Craig war beim Anblick des hünenhaften Dunkelelfen zunächst wie gelähmt, doch als sich Varim bis auf drei Armlängen genähert hatte, kam wieder Leben in den Jungen. Er wirbelte herum und wollte fliehen, doch genau in diesem Augenblick stürzte ein Teil des Hauses neben ihm ein. Craig wurde von den herabfallenden Trümmern umgerissen und als er auf dem Rücken im Staub landete, fiel ihm eine brennende Dachlatte direkt ins Gesicht. Seine Haut zischte unter der Hitze und er schrie voller Pein auf, während er das glühende Holz mit panischen Bewegungen von sich stieß. Hilflos und wimmernd rollte er sich auf den Bauch und versuchte, seine Lider zu öffnen. Tränen schossen ihm vor Schmerz in die Augen und er spürte eine warme Flüssigkeit, die von seinen verbrannten Wangen tropfte. Für einen kurzen, fürchterlichen Moment befiel den Jungen die Angst, dass er blind sein könnte. Sein Blut rauschte ihm in den Ohren und er hörte die Geräusche seiner Umgebung wie durch Watte. Varims Schritte hallten dumpf in seinem Kopf und Craig war sich in diesen angstgeschwängerten Sekunden sicher, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Wimmernd rollte er sich auf dem Boden zusammen und wartete darauf, dass ihm die Axt des Dunkelelfen den Gnadenstoß gab.

Doch dann hörte er, wie eine bekannte Stimme seinen Namen rief. Er nahm wahr, dass eine weitere Person die schmale Gasse betrat. Ein gedämpftes Grunzen ertönte und Craig zwang sich unter höllischen Schmerzen, seine Augen zu öffnen.

Vor sich erkannte er einen breitschultrigen Rücken, der sich schützend vor ihm aufgebaut hatte, und Ohrringe aus Messing, die im Feuerschein der brennenden Häuser glühten, wie frisch geschmiedetes Eisen.

„Hiob“, flüsterte Craig schwach. Der Dunkelelf kniete vor ihm in Staub und als er die Stimme des verletzten Jungen hörte, wandte er ihm das Gesicht zur Hälfte zu und lächelte zuversichtlich. Doch das konnte Craig nicht beruhigen. Er sah genau, dass Hiob unbewaffnet war und dass von Varims Axt frisches Blut zu Boden tropfte.

Nur mühsam und zitternd kam Hiob auf die Beine. „Kannst du aufstehen?“, fragte er und Craig fiel sofort auf, dass der Atem des Dunkelelfen stoßweise ging. „Du musst fliehen.“

Der Junge wusste, dass Hiob in einem Zweikampf mit Varim keine Chance hatte. „Und was ist mit dir?“, entgegnete er ängstlich. Hiob antwortete nicht, aber seine Rückenmuskulatur straffte sich. Varim wiederum erhob seine Axt zum Angriff.

Bevor er jedoch zuschlagen konnte, kam aus den Rauchschwaden das Kerngehäuse eines Apfels geflogen und traf den Piraten am Hinterkopf. Varim hielt mitten in der Bewegung inne und wirbelte herum. Dabei rutschte ihm die Kapuze vom Kopf. Craig konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen, doch dafür bemerkte er den Mann, der hinter dem Seeräuber aufgetaucht war. Sein kurzes Haar war schwarz und an ein paar Stellen bereits leicht ergraut. An seinem markanten Unterkiefer entlang sprossen dichte Bartstoppeln und auf seinem Gesicht lag ein schwermütiger, fast schon todtrauriger Ausdruck. Craig konnte später nicht mehr sagen, warum ihn der Anblick des Fremden plötzlich mit einem Gefühl der Geborgenheit erfüllte. Er saß einfach da, mit den Knien noch immer im Staub, starrte den Neuankömmling an und vergaß für ein paar wenige Augenblicke sogar den fürchterlichen Schmerz in seinen verbrannten Wangen.

Der Mann war in eine einfache, schwarze Tunika gekleidet, deren Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren. In der einen Hand hielt er ein großes Schwert, als wäre es aus Papier. Die breite Klinge war geschwärzt und an der Spitze der Schneide befand sich ein Widerhaken. In der anderen Hand hielt er einen Apfel, den er an seiner Tunika blank rieb und dann genüsslich hineinbiss.

„Kümmere dich um den Jungen“, rief er Hiob kauend und mit aller Gelassenheit zu. In diesem Augenblick holte Varim mit der Axt aus und schlug mit aller Gewalt zu. Der Fremde hob sein Schwert und wehrte den Hieb augenscheinlich mit Leichtigkeit ab. Der Mann warf den angebissenen Apfel weg und nahm Kampfhaltung ein. Varim setzte seinen wütenden Angriff fort, doch erneut stand die breite Klinge zwischen seiner Axt und dem Körper des Fremden. Craig starrte wie gebannt auf das Geschehen, doch er hatte keine Möglichkeit, das Duell weiter zu verfolgen, denn Hiob drehte sich zu ihm um und nahm ihn auf dem Arm. Dem Jungen entfuhr ein erstickter Schrei, als er einen Blick auf die linke Gesichtshälfte des Dunkelelfen erhaschen konnte. Vom Scheitel bis zum Kinn zog sich eine klaffende Schnittwunde durch Hiobs Antlitz. Dickflüssiges Blut lief ihm über den muskulösen Hals und sein linkes Auge fehlte.

„Sieh nicht hin!“, keuchte der Dunkelelf und presste Craigs Gesicht gegen seine Brust. Kaum berührten die verbrannten Wangen des Jungen den grobmaschigen Stoff von Hiobs Tunika, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Körper und der grub seine Fingernägel in die breiten Schultern des Dunkelelfen. Hinter ihm klirrten die Waffen der beiden Kämpfer. Hiob stieß ein gedämpftes Grunzen aus, dann lief er mit Craig in den Armen schwankend davon.
 

Neun Jahre waren seitdem vergangen. Craigs Elternhaus war den Flammen zum Opfer gefallen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Waise befühlte die längst verheilte, aber hässliche Brandnarbe in seinem Gesicht. Hiob hatte sich damals überhaupt nicht um seine eigene Verletzung geschert und erst den Jungen versorgt. Der Dunkelelf und Craig hatten den Ort des Geschehens damals noch nicht lange verlassen, als die Piraten wie aus heiterem Himmel auf einmal abgezogen waren, ohne die Insel vollständig zu plündern. Craig wusste bis heute nicht, wie der Zweikampf zwischen Varim und dem Fremden ausgegangen war. Man hatte ihm nur erzählt, dass Varim noch am Leben war und persönlich den Befehl zum Rückzug gegeben hatte. Den Mann mit dem Apfel wollte dagegen niemand gesehen haben. Für Craig stand fest, dass auch der Fremde noch lebte und dass es sein Verdienst gewesen war, dass sich die Piraten so plötzlich aus dem Staub gemacht hatten.

Als Craig ihn gefragt hatte, wer der Fremde gewesen war, hatte Hiob es ihm nicht sagen können oder wollen. „Wahrscheinlich ein Abenteurer aus dem Westen“, hatte er nur geantwortet, doch dabei hatte sein entstelltes Gesicht einen so ernsten Ausdruck angenommen, dass Craig das Gefühl beschlich, dass der Dunkelelf doch mehr über den Fremden wusste, als er zugeben wollte. Sooft Craig auch nachgehakt hatte, Hiob hatte ihn immer mit der gleichen Antwort vertröstet und stets beteuert, den Mann noch nie gesehen zu haben. Und schließlich hatte es Craig aufgegeben, den Dunkelelfen weiter mit seinen Fragen zu löchern.

Hiob hatte ihn zunächst in seiner ärmlichen Hütte nahe der Taverne aufgenommen. Vier Jahre lebten sie zusammen, doch je mehr Craig wuchs, desto weniger hielt er es in der Beengtheit der Hütte aus. Deshalb hatte er schließlich den Wunsch geäußert, sein eigener Herr sein zu wollen. Also hatte Hiob ihm dabei geholfen, den kleinen Unterstand zu errichten. Das war der Beginn von Craigs Leben am Flussufer gewesen. Nur mit einer Angel bewaffnet, war der Waisenjunge in sein neues Heim gezogen und hatte in der Folgezeit nach und nach weitere Werkzeuge angesammelt, die zur Ausbesserung seines Lagers unerlässlich waren.

Und dann hatte ihm Hiob eines Tages das Schwert geschenkt. Craig konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Waffe zum ersten Mal in seinen Händen gehalten hatte. Damals hatte es ihm noch große Mühen abverlangt, sie überhaupt anzuheben, aber der Anblick der geraden, glänzenden Klinge hatte ihn sofort fasziniert. Von da an hatte er den Entschluss gefasst, irgendwann zu einer großen Abenteuerreise aufzubrechen. Er wollte so sein, wie der Mann mit dem Apfel. Auch wenn Hiob seine Träumereien anfangs noch belächelt hatte, war Craig fest entschlossen, eines Tages durch fremde Länder zu ziehen und die Bevölkerung vor Ungerechtigkeit und Gewalt zu beschützen, genauso wie es der Fremde getan hatte, der Notting gerettet hatte.
 

Seit seinem Gespräch mit Hiob war ein Tag vergangen und Craig hatte sich eingestanden, dass er noch nicht den Mut aufbringen konnte, um seine Heimatinsel zu verlassen. Das Binnenmeer war so riesig und das Fischerboot seines Vaters, das seit Jahren unbenutzt nahe des Hafens im Sand lag, wirkte dagegen so winzig.

Der Waisenjunge war auf dem Weg zur Taverne. In seinen ausgelatschten Sandalen schlurfte er den staubigen Pfad entlang und warf immer wieder einen bedrückten Blick auf eines der niedergebrannten Häuser, die in regelmäßigen Abständen den Straßenrand säumten. Notting hatte sich bis heute nicht von dem Piratenüberfall vor neun Jahren erholt und der Anblick der Ruinen erinnerte Craig immer schmerzhaft an den Tag, an dem er seine Eltern und Hiob sein Auge verloren hatte. Obwohl er damals noch sehr jung gewesen war, konnte er sich noch genau daran erinnern, wie es auf der Insel ausgesehen hatte, bevor die Piraten an Land gegangen waren. Die Zerstörungen waren gewaltig gewesen und die Skelette der Gebäude wirkten wie Zeugen des damaligen Leids. Die Nachwirkungen, die der Angriff der Plünderer hinterlassen hatte, waren noch immer deutlich sichtbar und allgegenwärtig. Viele Häuser waren gar nicht erst wiederaufgebaut worden, nachdem sie den Feuern der Piraten zum Opfer gefallen war. Entweder waren ihre Bewohner bei dem Überfall ums Leben gekommen oder sie hatten Notting verlassen, nachdem sie ihr Heim verloren hatten. Deshalb waren niedergebrannte und rußgeschwärzte Ruinen kein seltener Anblick auf der Insel. Wo einst Wohlstand und Frieden geherrscht hatten, gab es nur noch Armut und Elend.

Nachdem die Wachtruppe des Hafens von den Piraten einfach niedergemetzelt worden war, hatten die Dunkelelfen Notting aufgegeben und die Insel schutzlos zurückgelassen. Der Versuch der Bewohner, eine Bürgermiliz aufzustellen, war gescheitert. Notting war vom schlagenden Herzen des Handels zwischen Ganestan und Shalaine zu einem verfaulten Apfel inmitten des Binnenmeeres geworden, und war in die absolute Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Insel war mittlerweile so verarmt, dass nicht einmal mehr für Piraten ein lohnendes Ziel abgab.

Seit dem Überfall von Varim war kein Schiff mehr mit schwarzen Segeln vor der Küste vor Anker gegangen. Das lag auch daran, dass die Kaiserliche Flotte im Binnenmeer ordentlich aufgeräumt hatte. Man munkelte bereits, dass es zwischen Ganestan und Shalaine keinen einzigen Piraten mehr gab. Die Flotte hatte die Gewässer endlich vollständig unter Kontrolle und sorgte für Ruhe und Frieden an den Gestaden.

Die Taverne lag auf einer kleinen Anhöhe auf der vom Meer abgewandten Seite des Dorfes und war zu weit vom Hafen entfernt, als dass sie damals von den Piraten direkt in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Der Mann mit dem Apfel hatte sich Varim entgegengestellt, bevor die Plünderer über das Gasthaus hatten herfallen können. Von der Eingangstür hatte man einen guten Blick über die gesamte Siedlung und konnte bis zur Anlegestelle sehen, die mit einem sich windenden Pfad mit dem Dorf verbunden war.

Craig war ein gerngesehener Gast in der Taverne. Preman, der Wirt, sah ihn beinahe als den Sohn an, den er nie gehabt hatte. Er war immer bereit, dem Jungen eine Mahlzeit anzubieten, wenn dieser genug von dem Fisch hatte, den er tagtäglich aus dem Fluss zog. Als Craig die Tür aufstieß und in den düsteren Schankraum trat, winkte Preman ihm fröhlich zu.

„Hallo!“, rief er und seine roten Backen schienen vor Freude zu glühen. „Du hast dich aber lange nicht mehr hier blicken lassen. Hast wohl Hunger bekommen, was? Warte einen Augenblick.“

Craig erwiderte die Begrüßung mit einem breiten Lächeln und setzte sich erwartungsfroh auf einen Hocker direkt am Tresen. Preman verschwand im hinteren Teil seines Gasthauses, aus dem es herrlich duftete, und kehrte kurz darauf mit einem Teller mit einem kleinen Käserad und einem Laib Brot, den er Craig zusammen mit einem großen, randvoll gefüllten Humpen Bier servierte.

Der Waisenjunge rieb sich vor Begeisterung die Hände und griff gierig nach dem Brotlaib, aus dem er ein großes Stück herausriss. „Gibt es irgendwas Neues?“, erkundigte er sich, während er noch mit vollem Mund kaute. Abgesehen davon, dass Preman ihn regelmäßig mit Mahlzeiten versorgte, die nicht aus Fisch bestanden, diente er Craig auch noch als Informationsquelle. Der Wirt bekam nahezu alles mit, was auf der Insel vor sich ging, wohingegen Craig in seinem Holzunterstand am Fluss ziemlich abgeschottet lebte. Meistens wusste Preman aber trotzdem nichts Interessantes zu berichten, denn es war selten, dass auf Notting etwas Außergewöhnliches geschah.

„Nicht wirklich“, antwortete Preman und zuckte die Schultern. „Alles ruhig. Durus hat sich beinahe den Daumen abgeschnitten, als er Holz sägen wollte, aber ansonsten ist nichts passiert.“

Craig seufzte. Kleine Handwerksunfälle waren für gewöhnlich tatsächlich das Aufregendste, was auf Notting geschah. Hier würde er nie das große Abenteuer finden, nachdem er sich sehnte. Das bedeutete wohl oder übel, dass er sich irgendwann doch in das Boot schwingen und das Binnenmeer überqueren musste.

Der Waisenjunge griff nach einem Messer, schnitt eine Ecke aus dem Käserad und blickte sich kauend im Schankraum um. Premans Taverne war selten gut besucht. Den meisten Bewohnern fehlte einfach das Geld, um sich den Luxus einer Bewirtung leisten zu können. In seltenen Fällen trafen sich die Fischer abends im Gasthaus, um gemeinsam mit einem Krug Bier anzustoßen. Doch das geschah meist nur, wenn sie einen besonders großen Fang gemacht hatten.

Ein Großteil von Premans Kunden bestand aus Seemännern und Kaufleuten auf der Durchreise, die eine Nacht auf Notting verbrachten. Aber auch solche Besuche waren rar gesät, denn seit es mit der Insel bergab gegangen war, legten kaum noch Schiffe im Hafen an. Craig mochte die Seeleute und ganz besonders die spannenden Geschichten, die sie für ihr Leben gern erzählten. In dem Waisenjungen fanden sie einen begeisterten Zuhörer, aber leider blieben die meisten von ihnen länger als einen Tag auf der Insel.

Auch die Taverne hatte vor dem Piratenüberfall bessere Zeiten gesehen. Das Gasthaus war während der Stoßzeiten vor Gästen fast aus den Nähten geplatzt. Seeleute hatten mit Vergnügen ihre Heuer für ein paar Krüge Bier verprasst und wohlhabende Händler hatten in Scharen in den Zimmern übernachtet, die Preman im Obergeschoss vermietete. Seine Gäste hatten ihm das Geld förmlich entgegengeworfen und der Wirt hatte sich dumm und dämlich verdient. Craig hatte die Taverne damals nie von innen gesehen, aber er konnte sich noch sehr gut an die lachenden und singenden Stimmen erinnern, die aus dem Gastraum bis hinaus auf die Straße geschallt hatten.

Doch die fetten Zeiten guter Laune und ausgelassener Stimmung waren längst vorbei. Craig wusste nicht, ob es in Premans Taverne schon immer so düster gewesen war oder die spärliche Beleuchtung auch nur eine Folge der Verarmung von Notting war. Fast schien es, als hätten die Piraten bei ihrem Überfall nicht nur Geld und Leben geraubt, sondern auch das Licht und die Hoffnung, nur um die Insel anschließend in Düsternis und Verzweiflung zurückzulassen.

Diesmal war neben Craig nur ein weiterer Gast anwesend. Es war ein stämmiger, junger Kerl mit sonnengebräunter Haut, der mit einem Krug Bier in der Hand in einer dunklen Ecke der Taverne an einem kleinen Tisch saß. Dicke Strähnen schwarzen Haares hingen ihm in die Stirn und seine Augen waren dunkel und glanzlos. Wie rußgeschwärzte Holzmurmeln lagen sie in den Höhlen und es kam Craig so vor, als würden sie jegliches Licht einfach schlucken. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass es in Premans Taverne ohnehin recht düster war.

Der Fremde trug abgewetzte Kleidung und klobige Stiefel aus ausgeblichenem Leder und an einem Seil, das er wie einen Gürtel um die Hüfte geschlungen hatte, hing ein altes Hackebeil. Craig runzelte die Stirn, als er die ungewöhnliche Waffe bemerkte. Er hatte den Mann noch nie gesehen und da Notting eine kleine Insel war, konnte er mit Sicherheit sagen, dass dieser Kerl ein Fremder war, der noch dazu einen ziemlich zwielichtigen Eindruck machte. Craig musste zwar zugeben, dass der junge Mann recht kräftig aussah, aber in den zerrissenen Lumpen, die er trug, gab er kein besonders imposantes Bild ab.

„Sag mal, wer ist dieser Kerl da?“, fragte er unbeeindruckt und lehnte sich zu Preman über den Tresen. „Der sieht ein bisschen aus, wie ein Pirat.“

Preman warf dem Waisenjungen einen nervösen Blick zu. Craig hatte sich keine Mühe gegeben, seine Stimme zu senken, doch falls der Fremde in der Ecke seine Worte gehört hatte, schien er sie zu ignorieren. Er zeigte jedenfalls keinerlei Reaktion, sondern trank stumm sein Bier.

„Er ist vor etwa einer Woche hier aufgetaucht und hat nach Arbeit gefragt“, flüsterte Preman dem Waisenjungen zu. „Seither repariert er im Hafen die Boote der Fischer. Keiner kennt ihn und er spricht nicht viel. Irgendwie ist er mir unheimlich. Aber er packt ordentlich mit an und bezahlt seine Zeche anstandslos, also kann er kein so übler Kerl sein.“

Preman verstummte schlagartig, als der Fremde zu ihm herüberblickte. Hastig griff der Wirt nach einem leeren Bierkrug, den er polieren konnte. Craig schob die Brauen zusammen und musterte den unbekannten Mann genauer. Dabei fiel ihm die blasse, kreuzförmige Narbe an seiner Wange auf.

„Hat der Kerl auch einen Namen?“, fragte er den Wirt.

Preman beugte sich zu ihm nach vorn. „Er hat sich mir als Vance vorgestellt“, antwortete er mit gesenkter Stimme. „Und er hat unglaublich viel Kraft. Er zieht die Boote der Fischer an Land, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt. Als beim Entladen des Handelsschiffs, mit dem er hier angekommen ist, der Flaschenzug geklemmt hat, hat er die schweren Kisten alleine von Bord getragen. Mich hat er vorgestern auch nach Arbeit gefragt und ich habe ihn Holz hacken geschickt. Er hat den ganzen Tag lang Scheite gespalten, ohne müde zu werden oder auch nur ins Schwitzen zu kommen, und hat dabei so viel Brennholz produziert, dass es für den ganzen Winter reicht. Und als der Ochsenkarren mit dem neuen Mühlstein für den Müller umgekippt und im Graben gelandet ist, hat er den gesamten Wagen samt Mühlstein mit bloßen Händen wieder aus dem Dreck gezogen. Ich weiß nicht, was er zum Frühstück isst, aber ich möchte mich lieber nicht mit ihm anlegen.“

Langsam war Craig interessiert. „Hat er dir erzählt, wo er herkommt?“, erkundigte er sich, doch Preman schüttelte den Kopf. „Kein Sterbenswörtchen“, entgegnete der Wirt und warf einen kurzen, verstohlenen Blick auf den Fremden. „Er hat mir nur seinen Namen genannt und mir gesagt, dass er auf der Suche nach Arbeit ist. Aber es klang für mich so, als wollte er nicht ewig auf der Insel bleiben.“

„Kein Wunder“, schnaubte Craig. „Hier liegt ja auch der Hund begraben.“

„Ach ja!“, rief Preman. „Wie sieht es mit deinen Plänen für deine große Reise aus? Hiob hat mir erzählt, dass du Notting bald verlassen möchtest. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, wundert es mich sowieso, dass du noch hier bist. Hiob klang so, als würdest du schon mit einem Bein auf dem Festland sein.“

Craig spürte, wie seine Ohren rot wurden. Nachdem er sich gestern gegenüber Hiob so aufgespielt hatte, war es ihm nun mehr als unangenehm, zuzugeben, dass er es noch nicht fertiggebracht hatte, sein Herz in die Hand zu nehmen und von der Insel zu verschwinden. „Ich warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt“, antwortete er ausweichend.

„Du hast die Hosen voll“, stellte Preman fest und grinste von einem Ohr bis zum anderen.

„Ach, halt doch die Klappe!“, rief Craig beleidigt und stopfte sich eine Brotkrume in den Mund. „Ihr nehmt mich alle nicht richtig ernst. Aber kaum taucht hier so ein Fremder auf, der ein bisschen die Muskeln spielen lässt, erstarrt ihr alle vor Ehrfurcht.“

In diesem Moment stand der Mann in der Ecke auf. Craig hörte, wie er seinen Stuhl knarzend zurückschob, und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Die schweren Lederstiefel stapften dumpf über den Dielenboden und Craig wusste, ohne sich umzudrehen, dass der Fremde direkt zum Tresen kam. Er konnte sehen, wie die Farbe aus Premans Gesicht wich. Der Waisenjunge spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er sich fragte, ob der Mann ihn gehört hatte. Bestimmt packte er ihn gleich am Kragen und würde ihm eine ordentliche Abreibung verpassen.

Craig hielt den Atem an, als der Fremde direkt neben ihm stehen blieb. Er wagte es nicht, den Kopf zu bewegen, sondern starrte wie versteinert auf die Gabel in seiner Hand. Dann hörte er, wie eine Münze auf den Tresen fiel.

„Ich bitte Euch“, rief Preman mit zittriger Stimme und hob abwehrend die Hände. „Ihr müsst doch nicht bezahlen. Ihr habt mir mit dem Brennholz wirklich sehr geholfen. Euer Getränk geht selbstverständlich aufs Haus.“

„Wie Ihr meint.“ Die Stimme des Mannes war tonlos. Er nahm die Münze wieder vom Tresen, ließ sie in einen kleinen Beutel unter seinem ausgeleierten Leinenhemd fallen und entfernte sich mit schlurfenden Schritten

Erst jetzt kam wieder Regung in Craig. Er drehte sich auf seinem Hocker um und blickte dem Fremden hinterher, als dieser das Gasthaus verließ. Im nächsten Moment packte ihn Preman am Ohr.

„Du bist ganz schön frech!“, fuhr er den Waisenjungen an. „Dieser Mann war mir und vielen anderen Inselbewohnern eine große Hilfe. Zeig ein bisschen mehr Respekt!“

Craig befreite sich aus Premans Griff und rieb sich das schmerzende Ohr. Am liebsten hätte er sich lautstark verteidigt, aber er wusste, dass der Wirt recht hatte. Außerdem schlug ihm sein Herz noch immer bis zum Hals. „Tut mir leid“, brummte er kleinlaut und rupfte einen Fetzen aus dem Brotlaib, den er lustlos zwischen seinen Fingern drehte. „Ich war nur so wütend, weil ihr mir überhaupt nichts zutraut.“

„Aber Craig“, seufzte Preman mitleidig. „Du musst uns doch nichts beweisen. Seit du ein Kind bist, lebst du allein am Fluss und versorgst dich selbst. Du hast uns allen schon längst gezeigt, dass in dir ein Kämpfer steckt.“

„Ein Überlebenskämpfer“, fügte Craig missmutig hinzu. „Aber das reicht mir nicht. Ich will andere Länder erkunden. Ist das denn so schwer zu verstehen?“

„Irgendwie schon“, gestand Preman. „Ich persönlich habe jedenfalls nicht vor, diese Insel zu verlassen.“

„Du hast aber auch deine Taverne“, entgegnete Craig und stopfte sich den Fetzen Brot in den Mund. „Ich lasse hier nichts zurück, außer vielleicht meine Angel.“

„Und was ist mit den Bewohnern dieser Insel?“, fragte Preman und wirkte ein wenig schockiert. „Lässt du uns etwa nicht zurück?“

Craig musste schwer schlucken, als ihm der Wahrheitsgehalt dieser Worte bewusst wurde. Sein Respekt vor dem Binnenmeer war eine Sache, die allein ihn aber nicht davon abhielt, augenblicklich in See zu stechen. Hier lebten zu viele Leute, an denen sein Herz hing, allen voran Hiob. Und plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob seine Angel tatsächlich das einzige war, was er auf der Insel zurücklassen würde.

Preman sah, dass der Junge hin- und hergerissen war. Er stellte den Bierkrug beiseite, den er gerade polierte, und stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen. „Hör mal, dir geht es hier doch nicht schlecht, oder?“, seufzte er. „Und du bist noch jung. Da ist es ganz normal, dass du dich zu Höherem berufen fühlst. Aber warte ein paar Jahre ab. Dann wirst du schnell bemerken, dass ein friedliches Leben auch seinen Reiz hat. Auch wenn es nur ein Leben in einer Hütte am Fluss ist.“

Die Worte des Wirts besserten Craigs Unentschlossenheit überhaupt nicht. Stattdessen streuten sie ein schlechtes Gewissen. Er fragte sich, ob er undankbar war, weil er sich nicht mit seinem friedlichen Leben begnügen wollte. Er hatte die Auswirkungen von Gewalt und Unrecht am eigenen Leib erfahren und dennoch sehnte er sich nach einem aufregenden Abenteuer.

Es schien Preman zufrieden zu stellen, dass Craig endlich Ruhe gab. Er deutete die plötzliche Schweigsamkeit des Jungen als dessen Erkenntnis, dass eine überstürzte Reise doch keine besonders gute Idee war. Offenbar stolz darauf, die richtigen Worte gewählt zu haben, griff der Wirt nach seinem Geschirrtuch und fuhr damit fort, den Bierkrug auf Hochglanz zu polieren.

Craig setzte sich mit einem Ruck auf. „Danke für den Käse“, murmelte er leise und schob Preman den Teller zu. „Ich werde mir mal ein bisschen die Beine vertreten.“ Mit hängenden Schultern drehte er sich um und ging mit schlurfenden Schritten zur Tür. Preman blieb alleine zurück und starrte ungläubig auf den Teller, auf dem noch ein halber Laib Brot und ein Käserad lagen, aus dem nur eine kleine Ecke herausgeschnitten worden war. Der Wirt kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Craig jemals auch nur einen winzigen Krümel einer Mahlzeit übrig gelassen hatte.
 

Dem Waisenjungen schwirrte der Kopf und er schlenderte gedankenverloren und ziellos über die Insel. Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war, als ihn seine Füße schließlich zur Küste lenkten, ohne dass er es beabsichtigt hatte. Die salzige Luft war erfüllt vom wütenden Geschrei der Seemöwen. Sie kreisten auf der Suche nach Fischen in Schwärmen über der Wasseroberfläche oder hockten auf den Überresten der Kaimauer, die inzwischen lediglich als Wellenbrecher dienten, und verteidigten ihre Beute eifersüchtig gegen ihre hungrigen Artgenossen. Den hölzernen Lastenkran, nur ein Schatten seines mächtigen Vorgängers, der beim Angriff der Piraten zerstört worden war, bedeckte ein weißer Teppich aus Vogelmist und die rostige Umlenkrolle bewegte sich quietschend in einer schwachen Meeresbrise.

Craig setzte sich auf einen großen Felsen nahe der Anlegestelle und blickte über das Binnenmeer nach Norden, wo sich am Horizont die Küstenlinie des Festlandes abbildete. Der Waisenjunge seufzte. Kein anderer Platz auf Notting hätte seine Unentschlossenheit besser unterstreichen können. Gedanklich hing er schon längst irgendwo zwischen dem Festland und seiner Heimatinsel, doch noch immer konnte er sich nicht entscheiden, ob er zu seiner Reise aufbrechen oder doch lieber bleiben sollte.

Ein Fischer, ein gebrechlich wirkender Mann mit lederner Haut, kehrte gerade in seinem kleinen Boot von seinem Fang zurück. Er trug ein schweres, mit Meerwasser getränktes Netz ans Ufer, das randvoll mit zappelnden Fischen war. Craig musste bei diesem Anblick lächeln. Dieser Fang war so gut, dass der Fischer und seine Familie eine Weile davon leben konnten. Craig gönnte jedem Inselbewohner diese kleinen Erfolgserlebnisse, denn sie waren viel zu spärlich gesät.

Während der Alte seinen Fang genauer unter die Lupe nahm, schleppte sein Gehilfe das Boot an Land. Craig hielt den Atem an, als er erkannte, dass der Assistent des alten Fischers der Fremde war, dem er vorhin noch in Premans Taverne begegnet war. Ohne sichtliche Anstrengung und nur mit einer Hand zog er das kleine Fischerboot an die Küste. Craig wusste, dass diese Arbeit einfacher aussah, als sie in Wirklichkeit war, denn man musste gegen den schwachen, aber doch vorhandenen Brandungsrückstrom ankämpfen, der das Boot erfasste und zurück aufs offene Meer schieben wollte. Doch der Fremde bestätigte die Kraft, die Preman ihm zugesprochen hatte, und brachte den kleinen Kahn mühelos an den Strand.

Craig beobachtete das recht unspektakuläre Geschehen so gebannt, dass er Hiob erst bemerkte, als sich der einäugige Dunkelelf direkt neben ihn setzte. „Du träumst ja schon wieder“, begrüßte er den Waisenjungen grinsend. „Als ich dich weder in der Taverne, noch am Fluss gefunden habe, hatte ich mir schon Sorgen gemacht, dass du tatsächlich schon zu deiner Reise aufgebrochen bist. Du klangst gestern ziemlich entschlossen.“

„Sowas Ähnliches hat Preman auch schon gesagt“, entgegnete Craig abwesend. „Aber das heißt ja, dass du mir tatsächlich zutraust, die Insel zu verlassen.“

„Dir traue ich jede Dummheit zu“, lachte er. „Aber mal im Ernst. Hast du dir schon überlegt, wann du aufbrechen willst?“

Craig scharrte mit den Füßen im Sand und wich dem Blick des Dunkelelfen aus. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt aufbrechen werde“, murmelte er kleinlaut.

„Ach wirklich?“ Hiob klang überrascht. „Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit bin, mein Leben hier zurückzulassen“, erklärte Craig und hob den Kopf, um den Dunkelelfen hilfesuchend anzusehen. „Ich meine, Knack kann ich mitnehmen. Aber was ist mit dir? Wenn ich die Insel verlasse, sehen wir uns vielleicht nie wieder.“

Hiob rieb sich den Nacken und seufzte. „Eigentlich sollte es ja meine Aufgabe sein, dich von deinem Plan abzubringen, statt dich darin zu bestärken. Aber wegen mir brauchst du dir definitiv keine Gedanken zu machen. Ich werde ohnehin nicht immer da sein, um auf dich aufzupassen.“

„Wie meinst du das?“, entfuhr es Craig und er sah Hiob entsetzt an.

Der Dunkelelf hob abwehrend die Hände. „Das war doch nur so ein Spruch!“, verteidigte er sich lachend. „Ich wollte damit lediglich sagen, dass du auf mich keine Rücksicht nehmen musst. Ich war schon immer ein Einzelgänger und komme auch alleine bestens klar. Wenn es also dein Wunsch ist, Notting zu verlassen, will ich dir nicht im Weg stehen. Aber ich glaube nicht, dass Preman und die anderen so begeistert sein werden, dich gehen zu lassen.“

Craig starrte nachdenklich auf seine Füße. Auch wenn Hiob ihn nicht davon abhalten wollte, zu seiner großen Reise aufzubrechen, fiel es ihm trotzdem schwer, seinen besten Freund einfach zurückzulassen. Er ließ seinen Blick schweifen und blieb wieder bei dem Fremden hängen, der gerade den Rumpf des Bootes nach möglichen Schäden absuchte. Dabei fiel ihm auf, dass zwei Grashalme aus seinem Mund ragten.

„Kennst du diesen Kerl?“, wechselte Craig das Thema und deutete mit einem Kopfnicken auf den schwarzhaarigen Mann.

Hiob folgte seinem Blick und grinste. „Ach, der“, antwortete er mit einer abwinkenden Handbewegung. „Der kam vor etwa einer Woche hier an, aber ich habe mich noch nicht mit ihm unterhalten.“

„Er ist ganz schön kräftig. Ich glaube, Preman hat deshalb Angst vor ihm.“

„Oh, ich glaube das liegt weniger an seiner Kraft, als an seiner Ausstrahlung“, entgegnete Hiob. „Die ist jedenfalls ziemlich einschüchternd.“

Craig erinnerte sich sofort wieder daran, wie gelähmt er sich gefühlt hatte, als der Fremde direkt neben ihm gestanden hatte. „Seine Ausstrahlung?“, wiederholte er verwundert und sah Hiob fragend an.

„Na klar“, antwortete der Dunkelelf und nickte wissend. „Jeder Dorashen hat diese Aura.“

Craig riss die Augen auf und wirbelte herum. Der Fremde unterhielt sich mit dem alten Fischer, der ihm für seine Hilfe eine Münze überließ.

„Dieser Kerl ist ein Dorashen?“, hauchte der Waisenjunge ehrfürchtig. „Ein Gottesstreiter? Aber er wirkt so…normal. Vielleicht ein bisschen düster. Aber schau dir mal die Fetzen an, die er trägt. So sieht doch kein Held aus.“

„Helden…“, sagte Hiob nachdenklich. „Helden sind die Dorashen schon lange nicht mehr.“

„Und du hast keine Angst vor ihm?“, fragte Craig ungläubig. „Ich meine, vor seiner Ausstrahlung?“

„Weshalb?“, lachte Hiob leise. „Der Kerl tut doch niemandem etwas. Und außerdem glaube ich, dass er nicht besser dran ist, als einer von uns.“

Craig warf dem Fremden einen verstohlenen Blick zu. Der Dorashen entfernte sich mit seinem spärlichen Lohn und sein Gesicht glich in seiner Ausdruckslosigkeit einer Maske.

Und Craig musste sich unweigerlich fragen, welches Unheil diese schwarzen Augen gesehen hatten, dass sie all ihren Glanz verloren hatten.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück