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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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„Die Wolken verziehen sich!“ Albus schob vorsichtig seinen Kopf durch die Nebentür und riskierte einen Blick zum Himmel. „Ich kann die Sterne sehen! Das Gewitter ist vorbei!“ Die Wangen des Kriegsmagiers glühten vor Freude.

Gancielle, der seinen gebrochenen Arm in schonender Position hielt, ließ sich erschöpft auf die Treppenstufen fallen. „Dann hat es unser Freund mit den übernatürlichen Kräften tatsächlich geschafft“, seufzte er. „Ich habe es fast nicht mehr für möglich gehalten.“ Ein erleichtertes Raunen ging durch die Reihen der Soldaten.

Von den ehemals gut fünfzig Banditen war nur noch ein Dutzend am Leben. Diejenigen, die tiefer in den Tempel geflüchtet waren, hatte man inzwischen allesamt eingefangen. Einige hatten versucht, sich ins Freie zu retten, waren aber von Brynnes Blitzen erschlagen worden, die keinen Unterschied zwischen Verbündeten und Feinden gemacht hatten. Nun saßen die Schurken zitternd und jammernd auf dem Boden und wurden von den Soldaten bewacht.

Meister Syndus führte Fjedor zu seinen Spießgesellen. Der Schmugglerkönig wirkte beinahe erleichtert. Viele seiner Leute waren im Kampf gefallen und er selbst war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Eine Kerkerzelle war besser als das Schicksal, das Brothain und Loronk ereilt hatte. Brynnes Leibwächter lag mit dem Gesicht nach unten im Eingangsbereich und der Speer, der sein Leben beendet hatte, ragte wie eine Standarte ohne Banner aus seinem Rücken. Loronk lehnte in aufrechter Position an der Wand. Sein kantiges Kinn war ihm auf die Brust gesunken und wäre nicht die tiefe Wunde in seiner Flanke gewesen, aus der sein Blut sickerte, hätte man denken können, er wäre eingenickt.

„Wenn die Luft rein ist, sollten wir nachsehen, ob einige unserer Kameraden dieses grausame Blitzgewitter überlebt haben“, rief Syndus und wies auf den Vorplatz. „Außerdem möchte ich, dass jeder, der noch unverletzt und bei Kräften ist, nach den Pferden Ausschau hält. Vielleicht können wir sie wieder einfangen und sie mit unseren Toten beladen. Sie haben ihr Leben für die Sicherheit Gäas gegeben. Für ihre Tapferkeit verdienen sie weit mehr, als ein einfaches Grab auf diesem fürchterlichen Berg.“

Sofort meldeten sich Albus und einige weitere Freiwillige. Während sie sich unter der Führung des Kriegsmagiers auf die Suche nach Überlebenden und den Pferden machten, kümmerte sich Indra um die Verletzten. Unter den Anwesenden gab es kaum jemanden, der keine Blessuren davongetragen hatte und die Zahl der Patienten war entsprechend lang. Die dunkelelfische Heilerin begann mit drei Soldaten, die Brynnes Angriff schwerverletzt überlebt hatten und die ihre Pflege am dringendsten benötigten. Dahinter bildete sich eine lange Schlange voller Soldaten, die Schnittwunden und Knochenbrüche davongetragen hatten.

Geyra schälte sich stöhnend aus ihrer Rüstung. Ihre zerborstene Brustplatte, die von Loronks Keule einfach gesprengt worden war, fiel scheppernd zu Boden, und die Kommandantin rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die geschundenen Rippen. Rhist saß etwas abseits und versuchte die Blutung seiner schlimmen Bauchwunde zu stillen, indem er einen Fetzen Stoff darauf presste. Jels kurzer Schlagabtausch mit Brothain war glimpflich ausgegangen und die beiden Stichwunden im Schulterbereich, die ihm der Dunkelelf beigebracht hatte, waren verhältnismäßig harmlos. Dennoch standen auch ihm Erleichterung und Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, als er darauf wartete, dass man sich um seine Verletzungen kümmerte.

Auch Lazana und Wuleen hatten inzwischen mitbekommen, dass sich das Gewitter gelegt hatte. Nun näherten sie sich langsam der Versammlung der Überlebenden. Die blonde Zauberin war noch immer geschwächt vom übermäßigen Gebrauch ihrer magischen Kräfte und sie stützte sich auf ihren Stab. Wuleen dagegen hinkte und zog eine Spur aus Bluttropfen hinter sich her. Sein stoppelbärtiges Gesicht war zu einer wütenden und gleichzeitig gequälten Maske verzerrt. „Wo ist Vance?“, fragte er knurrig. „Wenn Wuleen seinen Lebensschwur nicht einhalten kann, wird er sich das nie verzeihen!“

„Er ist noch nicht zurück“, murmelte Gancielle und betastete vorsichtig seinen Unterarm. „Hoffentlich hat er es überlebt, Brynne aufgehalten zu haben.“

„Craig fehlt auch“, stellte Lazana leise fest.

„Ich habe vorhin gesehen, wie er sich abgesetzt hat“, rief Ratford und schulterte seine Axt. Vorsichtig befühlte er die Wunde an seinem Hals, die noch immer stark blutete. „Es sah so aus, als ob er Vance folgen wollte. Knack war bei ihm.“

„Und du hast ihn nicht aufgehalten?“, entrüstete sich Lazana. „Der Junge bringt sich noch um!“

„Tut mir ja wirklich sehr leid“, brummte Ratford beleidigt. „Aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nicht abstechen zu lassen.“

„Eure Sorge rührt mich ja wirklich sehr. Aber mir geht es blenden. Ich wäre lediglich sehr dankbar, wenn mir jemand diesen Kerl abnehmen würde.“

Lazana hob überrascht den Kopf. Craig kam mit angestrengtem Grinsen die Treppe hinab. Er hatte einen von Vances Armen um seine Schulter gelegt und schleifte den reglosen Dorashen hinter sich her. Knack folgte ihm humpelnd. Der Knucker krümmte seinen Körper gequält und hatte die Fortsätze an seinem Hinterkopf eng angelegt.

Erneut ging ein Raunen durch die Reihen der Soldaten, diesmal allerdings vor Ehrfurcht. Wuleen wollte sofort zu Craig eilen, um ihm Vance abzunehmen, aber Ratford war schneller. Der bullige Krieger sprang auf und lief ihm entgegen. Als die Last von seinen Schultern genommen wurde, seufzte der Craig glücklich.

Vance sah mehr tot als lebendig aus. Schorfiges Blut verklebte seine Ohren und seine Wangen, seine Kleidung hing ihm in versengten Fetzen vom Körper und seine Handflächen und Schultern wiesen fürchterliche Verbrennungen und Brandblasen auf. Schwarzer Ruß bedeckte seine Haut und seine Lippen waren spröde und aufgeplatzt.

„Ist er…ist er tot?“, fragte Lazana zögerlich. Wuleen ballte zähneknirschend die Fäuste.

Craig schüttelte den Kopf. „Nein, er atmet noch“, verkündete er. „Aber es hat ihn ganz schön übel erwischt und er ist bewusstlos.“

Syndus bahnte sich mit geraffter Robe einen Weg durch die Reihen seiner Soldaten. Atemlos blieb er vor Craig stehen und sah ihn mit großen Augen an.

„Was ist mit Brynne?“, erkundigte er sich.

„Der ist erledigt“, antwortete Craig und reckte stolz die Brust vor. „Dieser Mistkerl hat dort oben ein ganz schönes Spektakel veranstaltet, da konnte einem wirklich angst und bange werden. Aber letztlich ist ihm seine eigene Macht zum Verhängnis geworden.“

„Und dieser Ring?“, fragte Syndus. „Was ist mit dem Finger der Wolken?“

„Den hat Vance pulverisiert“, erwiderte Craig und deutete schmunzelnd auf den Dorashen, den Ratford gerade vorsichtig gegen die Wand lehnte.

„Dann ist der Finger der Wolken also verloren“, stellte Syndus leise fest.

„Tut mir leid, dass es keine Möglichkeit gab, ihn zu retten“, murmelte Craig kleinlaut. „Aber ich glaube, dass es ohnehin besser so ist. Nach allem, was ich gesehen habe, bin ich mir sicher, dass kein Sterblicher jemals über so eine Macht verfügen sollte.“

„Die Weisheit deiner Worte ist der Weisheit deiner Jahre weit voraus“, sagte Syndus und nickte bedächtig. „Ich sehe das genau wie du. Leider sind viele hohe Gelehrte und Magier anderer Meinung. Und es gibt noch zahlreiche weitere Artefakte, die nie in die falschen Hände fallen dürfen. Vielleicht ist das, was hier geschehen ist, ein Weckruf für die Akademien und Zauberschulen Gäas. Unsere Welt ist für eine solche Macht noch lange nicht bereit.“ Er sah Craig tief in die Augen. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ascor den Angriff Brynnes nicht überlebt hat?“

Craig nickte bedrückt und Syndus stieß ein langgezogenes Seufzen aus. „Nun, dann ist dieser Ort von nun an herrenlos“, rief er. „Und für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Wir überlassen diesen Berg am besten wieder den Wolken und kehren nach Eydar zurück, sobald wir die Verletzten versorgt haben.“

„Mit Verlaub, Meister, eine Angelegenheit gibt es noch zu klären“, mischte sich Gancielle ein. Mit düsterem Gesichtsausdruck deutete er auf Ilva, die seit dem Ende des Kampfes teilnahmslos an der Wand lehnte und den Kopf gesenkt hielt. „Wie sollen wir mit dieser Frau verfahren?“

„Was ist mit ihr?“, fragte Syndus überrascht.

„Sie gehörte zur Besatzung des Schiffs, das für den Sturmerzschmuggel verantwortlich war“, erwiderte Gancielle grimmig.

„Aber sie hat Kommandant Rhist und mir das Leben gerettet!“, rief Jel entrüstet und kam energisch die Stufen hinauf. „Ohne sie hätte uns dieser Dunkelelf aufgeschlitzt wie ein paar Bluthechte in der Auslage!“

„Trotzdem trägt sie eine Mitschuld an allem, was hier geschehen ist“, beharrte Gancielle und wich dem anklagenden Blick des Fähnrichs aus.

„Jetzt fangt Ihr schon wieder damit an“, stöhnte Lazana. „Sie hat uns nach Kräften unterstützt und nun wollt Ihr sie bestrafen?“

„Schmuggel ist und bleibt ein Verbrechen“, sagte Geyra leise und sah Syndus erwartungsvoll an.

„Macht doch, was Ihr wollt“, rief Ilva resigniert. „Ich habe den Tod meines Käptens gerächt. Mehr wollte ich nicht. Nehmt mich fest, sperrt mich weg. Es ist mir völlig egal, was jetzt mit mir passiert.“

„Stimmt es, was Gancielle sagt?“, fragte Syndus streng. „Wart Ihr ein Teil der Crew dieses Schiffs?“

Ilva nickte entnervt. „Ja doch!“, stöhnte sie ungeduldig. „Kommt schon, ich will es endlich hinter mich bringen.“

„Und handelt es sich bei diesem Schiff zufällig um den Kahn mit dem klangvollen Namen Sirene, der im Tal der Asche vor Anker liegt?“, stellte Syndus ungerührt eine weitere Frage.

Ilva nickte erneut, diesmal wortlos und mit finsterem Gesichtsausdruck.

„Das bedeutet, Ihr habt Erfahrung in der Seefahrt“, fuhr Syndus fort. „Könnt Ihr dieses Schiff steuern?“

Misstrauisch schob Ilva die Augenbrauen zusammen. „Das will ich meinen“, brummte sie zögerlich.

„Nun, unter diesen Umständen muss ich von einer Verhaftung absehen, Gancielle“, schmunzelte Syndus. „Wir haben einen ganzen Haufen von Verbrechern und doppelt so viele Verletzte, die irgendwie zurück nach Eydar kommen müssen. Und der Weg durch die Berge ist schon anstrengend genug, da möchte ich ihnen nicht noch zusätzlich einen Fußmarsch durch die Düstermarsch zumuten. Mit dem Schiff reist es sich so viel bequemer.“

Gancielle verstand, worauf der alte Ordensmeister hinauswollte. Die grimmige Maske fiel von seinem Gesicht ab und auf seinen Lippen erschien ein warmherziges Lächeln.

Ilva stand der Mund offen. „Moment!“, rief sie. „Was soll das heißen?“

„Ganz einfach“, antwortete Syndus. „Wenn Ihr uns mit Eurem Schiff sicher nach Eydar bringt, seid Ihr eine freie Frau. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich für Euch sogar die Möglichkeit, mit unserer Unterstützung noch einmal von vorne zu beginnen und ein Leben als aufrichtige Seefahrerin zu führen?“
 

Auf der Spitze des Tempels quälte sich Gilroy stöhnend aus dem Dickicht und kraxelte den steilen Hang hinauf. Dort, wo ihn Knacks Schwanz mit der Wucht eines Peitschenhiebs getroffen hatte, zog sich ein blutiger Striemen über sein Gesicht. Dornen zerkratzten ihm die Haut und zerrissen seine Kleidung. Mühsam zog er sich nach oben, brach vor Erschöpfung zusammen, als er das Hochplateau erreicht hatte, und atmete stoßweise in den Staub.

Müde hob er den Kopf und richtete seinen Blick auf den großen Krater, der vor ihm im Boden klaffte. Angestrengt schleppte er sich darauf zu und spähte hinunter. Auf seinem Grund erkannte er Brynnes Leichnam. Bäuchlings lag er dort, rußgeschwärzt und mit verkrampften Gliedmaßen und Fingern. Der Ring war nicht zu sehen.

„Brynne hat versagt“, murmelte Gilroy und legte den Kopf in den Nacken. „Er war nicht der Richtige.“ Über ihm hatten sich die Wolken verzogen. Ein sternenklarer Nachthimmel breitete sein dunkles, glitzerndes Tuch über den Bergen aus. Nur am Gipfel der Wolkenspitze brodelte noch immer ein Gewitter, doch es war nicht mehr ansatzweise so beeindruckend wie zuvor. Statt gleißenden Blitzen zuckten nur noch ein paar einzelne, kleine Funken über den Himmel.

Gilroy stand ächzend auf und richtete seinen Blick nach Osten, wo jenseits der Wolkenberge das Festland von Shalaine lag. „Das Chaos wird zurückkehren“, flüsterte er wie im Wahn. „Und Gäa wird brennen.“



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