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Stolen Dreams Ⅷ

von

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7. Kapitel

Kim wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Er befand sich hier in Kanada, dieser wunderschönen wenn auch kalten Märchenwelt und hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als durch den Wald zu reiten und einem Bären fast in die Arme zu rennen. Musste er nicht zur Schule? Und was war mit seinen Eltern? Wussten sie, dass er hier war und sich mit einem Mann abgab, den er vor fünf Jahren verletzt aus einer Höhle voller Ratten geholt hatte? Kim hatte es ihnen wegen der Angst, sie wären wütend auf ihn, weil er einen Fremden ins Haus gelassen hatte, nie gesagt.

Er würde gerne mit Adrian darüber reden, aber der Russe hatte vorhin, als er und Kim von dem Ausritt zurückgekommen waren, von Lee, die anscheinend hier gewartet hatte, einen Aktenorder mit reichlich Inhalt in die Hand gedrückt bekommen und war danach in seinem Büro verschwunden. Kim vermutete, dass er mit etwas Wichtigem beschäftigt war, und wollte ihn dabei nicht stören, aber im Wohnzimmer auf der Couch zu sitzen und gedankenverloren dem Windspiel zu lauschen, das draußen hing, war ziemlich langweilig.
 

Nach kurzem Überlegen glitt er von dem Sofa und stieg die Treppe empor. Oben angekommen hörte er die tiefe Stimme von Adrian, der zwischen seinen Sätzen immer eine kleine Pause machte, in der Stille herrschte. Er schien zu telefonieren.

Kim hatte eigentlich vor, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und dort zu warten, aber als er erkannte, dass die Tür zum Büro sperrangelweit offen war, konnte er nicht anders, als es zu betreten, weil er bereits von der Treppe aus etwas entdeckt hatte, das seine hellen Augen zum Leuchten brachte.

Adrian saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte in einer Sprache, die Kim nicht verstand. Als er den Jungen erblickte, bat er den Anrufer, kurz zu warten, hielt das Handy von sich weg und sah zu Kim, dessen Blick fest an den großen Bücherregalen hing.

„Setz dich ruhig, Kleiner. Ich bin in zwei Minuten fertig.“

Kim hörte ihm gar nicht zu. Die Wand gegenüber der Tür war vollkommen hinter Regalen versteckt, die sich bis zur Decke erstreckten und neben einigen Akten und anderem uninteressanten Kram auch Bücher enthielten.
 

Der Dunkelhaarige fühlte sich, als hätte er einen Schatz gefunden. Adrians Anwesenheit völlig ignorierend ging er zu dem Regal und strich verträumt über einen der Buchrücken. ''Brave New World'', ein Klassiker. Er holte es heraus, schlug es auf und stellte enttäuscht fest, dass es sich um die englische Version handelte.

Kim knurrte leise. Jeder Mensch, dem er erzählt hatte, dass er zweisprachig aufgewachsen war, hatte sofort angenommen, dass er sprachlich begabt sein musste, was aber nicht der Fall war. Im Gegenteil – Kim war im Englischunterricht eine totale Niete. Es gab kaum ein Wort, das er nicht falsch aussprach, und sein Wortschatz war seit der fünften Klasse nicht gewachsen. Seine Eltern hatten immer gedacht, es läge daran, dass Kim Sprachen nicht mögen würde, aber auch das stimmte nicht. Kim würde seine Seele dafür verkaufen, die englische Sprache zu beherrschen. Dann könnte er endlich all die coolen Bücher lesen, für die es noch keine deutsche Übersetzung gab.

Er legte das Buch zurück und schaute sich die anderen Werke an. Von den meisten hatte er bereits gehört, aber es gab auch ein paar, die er nicht kannte. Am liebsten würde er so viele nehmen, wie er tragen konnte, und mit dem Lesen beginnen, aber er bezweifelte, dass auch nur ein einziges Buch auf Deutsch war.
 

„Also – was ist los?“, fragte Adrian, der soeben sein Telefonat beendet hatte. Er ballte seine Hand zu einer Faust und stützte sein Kinn darauf ab, während seine bernsteinfarbenen Augen über die Papiere schweiften, die sich über den ganzen Schreibtisch verteilten.

„Ich... wollte dich etwas fragen.“ Kim schluckte nervös. Das miese Gefühl von vorhin wurde immer stärker. „W-wissen meine Eltern, dass ich hier bin?“

Adrians Augen waren immer noch auf die Unterlagen gerichtet, aber ihm war anzusehen, dass seine Aufmerksamkeit etwas anderem galt.

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete er zögernd.

„Das heißt, sie wissen nicht, wo ich bin, und machen sich Sorgen um mich?“

„Ja... sieht wohl so aus.“

Adrian nahm eines der Blätter, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb, der einige Meter entfernt stand. Kim erwartete, dass er seine Antwort mit irgendetwas ergänzte, aber der Russe schwieg, als wäre das Gespräch bereits beendet.
 

„Hättest du etwas dagegen, wenn ich meine Eltern anrufe und ihnen sage, dass es mir gut geht?“

„Ja, hätte ich.“

„Und warum?“

„Weil das eine gewaltige unkontrollierbare Lawine auslösen würde.“

„Was meinst du damit?“

Adrian antwortete nicht, sondern zerknüllte ein weiteres Blatt Papier. Sein Schweigen bereitete Kim Angst. Es erinnerte ihn an den Tag, an dem er gelernt hatte, dass Schweigen oder Weinen bei Erwachsenen etwas anderes als bei Kindern bedeutete, und begann zu zittern.

„Was ist passiert?“, fragte er mit bebender Stimme. „Ist ihnen etwas zugestoßen?“

Adrian erhob sich von seinem Stuhl, führte Kim zu der Couch, die links neben der Tür stand, und ließ sich neben ihm nieder.

„Kim, ich bin mir sicher, dass deine Eltern dich vermissen, aber ansonsten geht es ihnen gut.“
 

Angesprochener sagte nichts. Er musste daran denken, wie er seine Mutter zum ersten Mal weinen gesehen hatte, und wurde erst wieder in die Realität zurückbefördert, als er Adrians große Hand auf seiner Schulter spürte.

„Momentan können wir keinen Kontakt zu ihnen aufbauen, aber sobald die ganze Sache abgekühlt ist, werden wir sie besuchen, okay?“

Kim nickte zögernd.

„Du bist ganz blass. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich... ich frage mich nur, wie es meinen Eltern geht. Sie haben sich immer eine große glückliche Familie gewünscht, aber... bei der Geburt meiner kleinen Schwester ist etwas schiefgegangen. Es gab eine Notoperation und dann hat Mom erfahren, dass ihr Baby es nicht geschafft hat und dass sie nie wieder in der Lage sein wird, Kinder zu kriegen. Das hat meine Eltern ziemlich traurig gemacht... und jetzt denken sie wahrscheinlich, dass ich entführt wurde und sie mich nie wiedersehen werden.“
 

„Das wurdest du auch. Aber nicht von mir“, erwiderte Adrian, woraufhin Kim den Blick hob und verwirrt die Stirn runzelte.

„Wann? Und von wem? Und warum kann ich mich nicht daran erinnern?“

„Ich kann dir diese Fragen nur sehr vage beantworten. Es wäre verdächtig gewesen, in ihren Angelegenheiten herumzuschnüffeln.“

„Von wem redest du?“

„Hör zu, Kim: Ich werde schauen, ob und wie ich mit deinen Eltern in Kontakt treten kann. Überlass das ruhig mir – ich kümmere mich darum.“

„Okay... danke.“

Adrian strich dem Jungen aufmunternd über den Kopf, ehe er aufstand und zu seinem ursprünglichen Platz hinter dem Schreibtisch zurückkehrte. Kim überlegte, ob er bleiben sollte, und entschied sich dagegen. Mit den Gedanken bei seinen Eltern und zahlreichen Spekulationen, was bloß passiert sein könnte, ging er ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an.
 

Die Programme waren selbstverständlich auf Englisch. Kim machte den Ton so leise, dass er nicht nach oben drang, und zappte sich durch die verschiedenen Sender. Er brauchte Ablenkung. Ablenkung von der Ungewissheit, von den Was-wäre-wenn-Gedanken und von seinem Heimweh. Nach einiger Zeit fand er einen Cartoon, welcher der Anzahl von Schimpfwörtern nach zu urteilen nicht für Kinder geeignet war. Obwohl Kim nichts verstand, fand er die Sendung ziemlich unterhaltsam, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Moment zurück, an dem Kim ohne Erinnerung in einem unbekannten Raum aufgewacht war, kurz bevor Lee das Zimmer betreten und ihn mit nach Kanada genommen hatte.

Was hatte er dort nur verloren? Adrian hatte gesagt, jemand hätte Kim entführt, aber daran konnte sich der Junge beim besten Willen nicht erinnern.

Frustriert seufzend griff er nach der Fernbedienung. Der Cartoon war soeben zum Ende gekommen und Kim hatte keine Lust, sich die Nachrichten anzusehen, von denen er kein einziges Wort versta--
 

Er hielt inne und beugte sich nach vorne. Neben der Nachrichtensprecherin, eine blonde Frau in ihren späten Dreißigern mit einem ziemlich breiten Mund, wurde ein Bild eingeblendet, das eine Person zeigte und so gut gezeichnet war, dass es einem Foto täuschend ähnlich sah.

Kim runzelte die Stirn. Das war nicht das erste Mal, dass er ein Phantombild erblickte, aber es war das erste Mal, dass er bei dem Anblick dachte: Den Typen kenn' ich.

Je länger er auf das Bild starrte, desto sicherer war er sich. Der ernste Blick, die dezent zu einem sanften Lächeln gezogenen Lippen, die ''hazel eyes'', wie die Nachrichtensprecherin das Bild gerade beschrieb, und die markante Kieferlinie – das war eindeutig Adrian.

Kim versuchte zu verstehen, warum Adrian – oder jemand, der sein Zwilling hätte sein können – gesucht wurde, aber das einzige Detail, das er verstand, war, dass ''Adrian'' eine Größe von sechs Füßen und sechs Zoll besaß.

Komm schon, du weißt, wie man so etwas in Zentimeter umrechnet, sagte Kim zu sich selbst. Das kam neulich in einem Buch vor... ein Fuß sind etwa 30,5 Zentimeter und ein Zoll ungefähr zweieinhalb. Also wären das... fast zwei Meter?
 

Kim wiederholte die Rechnung mehrere Male, um sich zu vergewissern, dass er keinen Fehler gemacht hatte, aber das Ergebnis war immer 198. Er schaltete die Nachrichten aus, die mittlerweile bei einem anderen Thema angekommen waren, und fragte sich, ob die gesuchte Person wirklich Adrian war. Falls das der Wahrheit entsprach, was bedeutete das dann für ihn? Dass er in dem Haus eines Kriminellen saß?

Kim musste unweigerlich an den Abend denken, als er Adrian in der Höhle gefunden hatte, und an den Ausritt, bei dem Adrian ihm die Frage, warum und wie er damals in jene missliche Lage geraten war, nicht beantwortet hatte. Dass er dem Jungen etwas verheimlichte, war klar, aber was wäre, wenn diese Geheimnisse mehr als nur ein paar persönliche Dinge waren?

Kim hatte schon oft über jenen Tag nachgedacht und war zu dem Entschluss gekommen, dass Adrian entweder etwas sehr Schlimmes getan oder sich gegen jemanden mit äußerst viel Macht gewehrt hatte. Er kannte sich mit Europas Rechtssystem nicht aus, aber er war sich ziemlich sicher, dass das, was Adrian erlebt hatte, nicht als gesetzliche Strafe vorgesehen war, was bedeutete, dass der Russe wahrscheinlich Kontakt zu kriminellen Organisationen besaß.
 

Was Kim vor den Augen hatte, wenn er an die Mafia dachte, waren starke, muskulöse, große Männer, die keinen Skrupel und ein Herz aus Stein besaßen und in Büchern und Filmen oft als absolute Idioten, unausstehliche Arschlöcher oder beides dargestellt wurden. Kim wusste, dass die Realität anders aussah, aber trotzdem konnte er sich Adrian nicht als einen Gangster vorstellen. Ja, er hatte den Körper eines Wrestlers, und ja, er verheimlichte Kim ein paar Sachen, aber--

Der Junge erschrak fast zu Tode, als er plötzlich eine Hand auf seinem Kopf spürte. Er wirbelte herum und wäre beinahe vom Sofa gefallen, wenn ein gewisser Jemand ihn nicht rechtzeitig am Arm gepackt und festgehalten hätte.

„Vorsicht, Kleiner“, lachte Adrian, ehe er Kim zu sich zog und losließ. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Falls das ein Versuch war, mich einen Herzinfarkt erleiden zu lassen, dann warst du ziemlich nah dran.“

„Tut mir ja leid, aber du warst nicht ansprechbar“, erwiderte der Russe mit einem charmanten Lächeln, für das andere Menschen töten würden. „Ich wollte dich fragen, ob du schon Hunger hast oder ob wir mit dem Abendessen noch ein wenig warten wollen.“
 

„Ähm... ist mir ehrlich gesagt egal.“ Kim zögerte. Sollte er Adrian darauf ansprechen, dass vorhin ein Phantombild von ihm im Fernsehen gezeigt wurde? Er würde gerne erfahren, was es damit auf sich hatte, aber er wusste nicht, wie er so eine Frage formulieren sollte. ''Ach übrigens, kann es sein, dass du ein gesuchter Verbrecher bist?'' - das klang seltsam.

Adrian hatte sich nach der Antwort von Kim abgewandt und war in die Küche gegangen, wo er sich einen Kaffee machte. Der Junge folgte ihm und krallte unsicher die Fingernägel in den Türrahmen.

Vielleicht war im Fernsehen auch von einem ganz anderen Mann die Rede und ich mache mich hier umsonst wahnsinnig. Aber... Adrian sieht haargenau so aus wie der Typ auf dem Bild. Und wenn die beiden jetzt auch noch die gleiche Größe besitzen, wäre damit rein theoretisch bewiesen, dass sie ein- und dieselbe Person sind, denn--

„Woran denkst du gerade?“, fragte Adrian und riss Kim damit aus den Gedanken.

„G-gar nichts, ich... ich wundere mich nur, wie groß du wohl bist.“

Adrian schmunzelte. „Du hast keine Ahnung, wie viele mich das schon gefragt haben.“ Er nippte an seinem Kaffee. „Ziemlich genau 1,98.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Arya-Gendry
2018-05-06T17:38:57+00:00 06.05.2018 19:38
Ja jetzt hat Kim wohl seine Antwort. Bin mal gespannt wie er reagiert und ob Adrian ihn die Wahrheit sagt. Freu mich schon auf das nächste Kapitel. ;)
LG.
Von:  Onlyknow3
2018-05-05T16:56:15+00:00 05.05.2018 18:56
Jetzt war die Bombe geplatzt, mit dieser Antwort. Was da wohl in Kim abgeht dabei?
Adrian wird ihm wahrscheinlich nicht auf die Nase binden das er mit der Mafia in Kontakt steht.
Aber was er wohl zu seinem Phantombild sagen würde wenn er es wüsste.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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