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Sünde

von

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Gregor

Als ich am Nachmittag erwachte, war es seltsam dunkel im Raum. Ich warf die blaugemusterte Bettdecke zur Seite und setzte mich langsam auf. Jeder Muskel meines Körpers brannte und schmerzte, so als hätte ich mehrere Stunden Hochleistungssport hinter mir. Anscheinend war es für einen Körper fast genauso anstrengend, wenn sein Besitzer sich aus vollem Herzen hasste und verabscheute wie Leichtathletik. Merkwürdige Sache.

Müde schleppte ich mich zum Fenster und warf einen Blick auf unseren Garten, wo einige trockene Blätter, die wegen des Wassermangels von den Bäumen gefallen waren, von einem böigen Wind hin und her getrieben wurden. Dicke, schwarze Wolken jagten über den Himmel und versperrten die Sonne.

Trotz des aufkommenden Gewitters zog ich mich schnell an, stürmte ins Bad und schlich mich anschließend aus dem Haus, ohne dass Mel und Mutter mich bemerkten. Ich hatte einfach keine Lust auf ihre anklagenden, sorgenvollen Blicke und den Ärger, der mir noch bevor stand. Ich zog es vor, mir meine Standpauke abzuholen, wenn Paps wieder da war. Irgendwie schaffte er es, auch in solchen Momenten Ruhe in die Situation zu bringen.

Während die ersten Regentropfen auf den warmen Asphalt klatschten, zog es mich unaufhaltsam wieder Richtung Industriegebiet. Dort konnte ich alleine sein und nachdenken. Schließlich konnte es so nicht weiter gehen. Ich konnte nicht für den Rest meines Lebens meiner Schwester aus dem Weg gehen. Dafür liebte sie mich viel zu sehr. Ich wollte ihr nicht wehtun.

Doch ich konnte auch nicht länger in ihrer Nähe bleiben. Als ich in der Nacht nach Hause gekommen war, hatte ich Mels Präsenz auf dem Sofa deutlich gespürt, obwohl ich mir große Mühe gegeben hatte, sie nicht anzusehen. Es war so gewesen als hätte jemand neben mir ein großes Feuer angezündet, das mir die ganze rechte Körperhälfte verbrannt hatte. Und zu allem Überfluss hatte ich auch noch die ganze Zeit über diese Stimme im Ohr: Geh zu ihr. Nimm sie in den Arm. Küss sie.

Ein eisiger Schauer des Selbstekels kroch mir über den Rücken und mir wurde ein wenig übel, während ich mich zwischen den hohen, verfallen aussehenden Backsteingebäuden einer alten Fabrik hindurch drückte. Mit ihren leeren, hohen Fenster, die wie unendlich tiefe, schwarze Schlunde anmuteten, fühlte ich mich irgendwie von ihnen verstanden und beschützt. Augenscheinlich wurde ich allmählich verrückt.

Ich suchte mir wieder den Platz, den ich auf meinem Streifzug am letzten Tag gefunden hatte. Er lag gut versteckt hinter einem wild wuchernden Brombeerstrauch und war auf drei Seiten von hohen Mauern umschlossen. Selbst wenn außer mir noch ein Mensch hier herum laufen würde, würde mich dort so schnell niemand entdecken.

Ich rutschte im immer stärker werdenden Regen an den warmen Steinen entlang auf den Boden, lehnte den Kopf auf meine angezogenen Knie und starrte vor mich hin. Ich hatte das Gefühl, dass die ganze Sache mehr und mehr außer Kontrolle geriet.

Es war, als wäre an dem Abend der Filmvorführung mein Schutzpanzer, der in dieser einen Nacht vor inzwischen fast vier Wochen erste Risse bekommen hatte, vollständig von mir abgefallen. Nun konnten all die Gedanken und Gefühle, die ich vermutlich immer schon in mir gehabt hatte, ungehindert durch mein Bewusstsein wirbeln und mir das Leben zur Hölle machen. Ich war verflucht.

Für einen kurzen Moment musste ich grinsen. Hatte man es nicht im Mittelalter immer auf die Anwesenheit einer Hexe geschoben, wenn zwei Menschen bei inzestuösen Handlungen ertappt worden waren? Ja, vermutlich hatte man das bedauernswerte Mädchen der Hexerei bezichtigt und verbrannt, während sein männlicher Verwandter als armes Opfer ungeschoren davon gekommen war.

Mel eine Hexe? Manchmal konnte sie definitiv eine sein, aber nein, ich gab lieber mir selbst die Schuld. Ich war derjenige, der diese Gedanken hatte. Ich war derjenige, der ganz eindeutig krank im Kopf war.

Es musste eine Lösung her und zwar schnell. Aber wie sollte eine solche aussehen? Betrachtete man den Anteil der rückfälligen Pädophilen, schien der Erfolg einer Therapie bei einer verqueren Sexualität doch mehr als fraglich. Außerdem drehte sich mir der Magen um, wenn ich daran dachte, jemandem davon erzählen zu müssen, dass ich nachts von Sex mit meiner kleinen Schwester träumte. Das war schon abstoßend genug, ohne dass ich es aussprach.

Und wenn ich einfach von zu Hause fort lief? Irgendwohin, wo mich niemand kannte, wo ich Mel nie, nie wieder begegnen würde? Mit einem tiefen, kehligen Seufzen gestand ich mir ein, dass das auch keine Lösung war. Wenn ich einfach verschwinden würde, würde das meiner Familie – allen voran Mel – das Herz zerreißen. Außerdem würde besonders Paps niemals Ruhe geben. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, bis er mich gefunden hätte.

Ich lehnte den Kopf gegen die kalte, raue Wand aus roten Ziegeln. Der Regen, der sich inzwischen in Strömen aus den Wolken ergoss, rann in einem nicht enden wollenden Bach meinen Rücken entlang, während meine völlig durchnässten Kleider an meinem Körper klebten. Plötzlich musste ich heftig gähnen. Ich fühlte mich so müde, völlig ausgebrannt, leer...

Eine Windböe drückte sich in mein Versteck und ließ mich frösteln. Plötzlich war mir eiskalt... Mein Körper schien gar nicht mehr mit dem Zittern aufhören zu wollen. Vielleicht sollte ich einfach zurück nach Hause gehen und mich in mein warmes Zimmer verkriechen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Inzwischen wäre sogar mein Vater wieder daheim.

Vielleicht sollte ich einfach heimkehren und mit Paps über alles reden. Ich war mir sicher, er würde es zwar nicht verstehen, aber er würde mich auch nicht verurteilen. Vermutlich würde er mich damit beruhigen, dass ich ja nichts für die merkwürdige Synapsenbildung in meinem Hirn könne. Als ob das ein Trost wäre...

Warum konnte ich nicht einfach aufhören zu existieren? Mich einfach auflösen? Dass ich für Selbstmord zu feige war, hatte ich mir am vergangenen Tag ja hinreichend bewiesen. Wieso konnte das Schicksal nicht so gnädig sein und mir einen Meteor auf den Kopf fallen lassen oder so?

Ein gleißender Blitz erhellte den tiefschwarzen Himmel für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er von einem krachenden Donnergrollen abgelöst wurde. Ein Seufzer entstieg meiner Brust und mein Kopf sackte schlaff zur Seite. Ja, ich musste mich endlich aufraffen und nach Hause gehen. Ich konnte nicht einfach aufhören, zu existieren. Es gab Menschen, die mich trotz allem liebten und die sich auf mich verließen. Die ich mit meinem momentanen Verhalten tief verletzte und enttäuschte.

Ich war nicht allein auf dieser Welt, auch wenn ich mich momentan so fühlte. Ich musste endlich mit meiner Familie oder zumindest mit meinen Eltern reden und nach einer Lösung suchen, anstatt mich zu verkriechen und mich selbst zu bedauern. Dadurch änderte sich schließlich gar nichts.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend hievte ich mich wieder auf die Füße. Ich war inzwischen vollkommen durchnässt und Kleidung und Haare klebten mir unangenehm am Körper. Während des Fußmarschs nach Hause würde mir der nasse Stoff bestimmt die Haut aufscheuern. Na ja, geschah mir ganz recht. Was verkroch ich mich auch wie ein streunender Hund an so einem Ort?

Ich atmete noch einmal tief durch und machte mich dann auf den Heimweg. Mein Herz raste und trommelte, so als wollte es sein Gefängnis aus Knochen und Fleisch sprengen. Mir war klar, dass ich alles auf eine Karte setzte. In nur wenigen Stunden könnte ich meine ganze Familie verlieren, weil sie sich vor mir ekeln und mit einem abnormalen Monstrum wie mir nichts mehr zu tun haben wollen würde.

Aber dann könnte ich wenigstens gehen, diesem Albtraum aus Lust und Scham entfliehen, irgendwo neu anfangen. Egal, wie das Gespräch mit meinen Eltern ausgehen würde, es wäre eine Erleichterung.

Und vielleicht gab es ja auch einen Weg raus aus meinem Elternhaus, bei dem Mutter und Paps nicht die volle Wahrheit erfahren müssten. Während ich durch den prasselnden Regen stapfte, arbeitete mein Verstand fieberhaft an einem Plan.



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