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Dear Junk

Kazzy's Vorgeschichte
von

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Melancholy

Seit acht Tagen befand er sich nun schon in der fremden Heimat. Acht Tage. Das waren 192 Stunden. 11.520 Minuten. 691.200 Sekunden. Und mit jedem Augenblick nahm diese Zahl zu. Die Zeit lief vorwärts.

Inoran trat aus der Bahnhofshalle in Onomichi. Sah sich, wie jedes Mal, kurz nach beiden Seiten um, obwohl er schon mehrfach hier gewesen war. Eine Reflexhandlung. Dann schritt er über den Vorplatz der Halle und überquerte die Straße, um schnellstmöglich ans Wasser zu gelangen. Ignorierte die hupenden Autos, die wegen ihm unverhofft bremsen mussten, da er wenig Acht auf den Straßenverkehr gab und stets leicht abwesend die Fahrbahn überquerte. Seine volle Aufmerksamkeit hatte die Gegend um ihn herum erst wieder, als er die Holzbohlen betrat und das ebenfalls hölzerne Geländer erreichte. Sein Blick schweifte sogleich über das Wasser, das sich vor ihm erstreckte. Die sich leicht bewegende Wasseroberfläche, die ihn immer irgendwie beruhigte. Hier fühlte er sich ein kleines bisschen frei. Ein bisschen wie die Möwen, die kreischend umher flogen und nach Beute Ausschau hielten.

Inoran hatte diesen Ort vor einigen Tagen mehr durch Zufall entdeckt, als er aus purer Langeweile mit der San'yo Main Line quer durch die Gegend gefahren war. Und die Langeweile war berechtigt, denn noch immer hatte er weder 'nen Job noch neue Freunde. Ersteres wollte er auch gar nicht haben. Er tat eigentlich so ziemlich alles, um nirgendwo angenommen zu werden. Das hatte ihn von Onkel Isamu bereits eine Ohrfeige gekostet. Und Letzteres wollte sich irgendwie nicht ergeben, wobei Inoran sich nicht ganz sicher war ob das nun an ihm oder an den Anderen lag. Vermutlich mehr an ihm, denn bevor er auf J getroffen war, erging es ihm in Seoul eigentlich nicht viel anders als heute hier in Hiroshima. Es war einfach seine verdammte Schüchternheit, die ihm so Vieles unmöglich erschienen ließ. Die Stärke, die er noch im Gefängnis bewiesen hatte, war dahin. Denn im Gefängnis bekam er noch Besuch von seinen Freunden. Der Faden war nicht abgerissen; er wurde vielleicht ein bisschen dünner, aber er blieb bestehen. Das alles war nun passé. Der Faden, die Verbindung ihrer Freundschaft, war mit seiner Abschiebung durchgeschnitten worden. Was hatte er nur davor gemacht, bevor er J und Sugizo kannte? Wie sah sein Leben vorher aus? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es war alles weg, als hätte es nie existiert. Die Ausweglosigkeit war das, was alles so hoffnungslos erschienen ließ.
 

Lucifer hatte es einfach nicht ausgehalten. Sie ertrug es nicht mehr als wenige Tage, J und Kazzy bei sich zu beherbergen. Sie war sich der Situation, in der die Zwei steckten, durchaus bewusst, aber sie hielt die Daueranwesenheit Beider einfach nicht länger aus und hatte sie somit nach zweieinhalb Tagen wieder rausgeschmissen. Obwohl es ihr bei J sichtlich schwer gefallen war. Doch Dieser hatte überraschenderweise sogar Verständnis für Lucifer's Entscheidung gezeigt und versprach, ihr das nicht übel zu nehmen. Er war schließlich nicht blind; er kannte das Mädchen und wusste, dass sie ein Einzelgänger war. Zudem war ihr kleines Zimmer nun wirklich nicht zu vergleichen mit Joe's geräumiger Bude. Er würde schon eine Unterkunft finden, meinte J.

Kazzy hatte den Rauswurf stillschweigend hingenommen. Obwohl es ihm schwerfiel, hatte er innerlich doch schon längst begriffen, dass er bei diesem Mädchen nie landen würde. So heiß sie auch war. Aber irgendwas hatte sie gegen ihn. Er wusste nur nicht was. Und wo sollte er nun hin? Als J ihm angeboten hatte, sich gemeinsam mit ihm nach einer Notunterkunft umzuschauen, hatte Kazzy dankend abgelehnt. Was er jedoch statt dessen vor hatte, das hatte er J nicht verraten.

Und obwohl Lucifer von Anfang an zu ihrer Entscheidung gestanden hatte, fühlte sie sich schlecht. Sie fühlte sich schlecht weil sie das Abkommen, dass sie unausgesprochen mit Joe vereinbart hatte, nicht halten konnte. Während ihres letzten gemeinsamen Zusammenseins, als Joe der Gruppe beichtete, von den Bullen verfolgt zu werden, hatte es zwischen ihm und Lucifer das heimliche Abkommen gegeben, dass sie zeitweilig seinen Platz einnahm. Er hatte ihr die Verantwortung von Snakebite durch die in Obhutnahme der zwei Jungs übertragen. Er hatte ihr vertraut. Und nun kam Lucifer sich vor wie der allerletzte Verräter. Sie wäre zu Vielem bereit gewesen um Joe zu demonstrieren, dass es ihr mit der Bande ernst war, dass sie ihr nicht egal war, dass sie weiterhin dazu gehören wollte. Sie hätte wirklich Vieles getan. Nur ausgerechnet das, was Joe von ihr verlangt hatte, das womit sie ihre Loyalität hätte unter Beweis stellen können, das war zu viel für sie gewesen. Gottverdammt, sie war einfach kein Samariter! Sie war nicht so gutmütig und großzügig zu jedem wie es Joe war! Das hatte er auch gewusst! Glaubte er etwa, das hätte sie einfach so mal abstellen können? Er kannte sie doch...

Frustriert und wütend über die Situation und sich selbst streifte sie durch die Straßen, auf dem Weg zu Joe's Wohnung. Sie hatte ihn schon seit Tagen nicht erreichen können, er ging nie ans Telefon und ließ auch keinem Anderen aus der Bande eine Nachricht zukommen. Das war äußerst ungewöhnlich für ihn. Ihr Boss ließ sie sonst nie so lange im Dunkeln über seinen jeweiligen Aufenthalt und seine Aktivitäten. Nie länger als zwei Tage. Die waren aber inzwischen schon voll und von Joe gab's trotzdem noch keine Spur. Nicht den geringsten Hinweis. Lucifer hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Inzwischen hatte sie das Viertel erreicht, in welchem ihr Boss wohnte. Sie bog in eine kleine Gasse ab, streulchte durch ein paar schmale Gänge die von Büschen und anderem Grünzeugs gesäumt wurden und stand dann schließlich vor Joe's kleiner Hütte. Sie hatte schon immer diesen Schleichweg bevorzugt. Doch als Lucifer's scharfsinnige Augen die zugenagelten Fenster erblickten, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl und mutierte zum halben Magengeschwür. Zögerlich trat sie noch ein paar Schritte näher an das Haus heran, sah die Treppe zur Eingangstür hinauf. Diese war zwar nicht mit Brettern verrammelt, jedoch konnte sie selbst von hier unten deutlich den Aufkleber erkennen, der den Türspalt mit dem Türrahmen versiegelte.

Bullen.

Sie waren hier gewesen.

Etwas unschlüssig blieb Lucifer noch immer am Fuße der Treppe stehen. Wann waren die Cops hier gewesen? Kurz nachdem sie von hier geflüchtet waren, vor knapp drei Tagen? Oder erst vor einer Stunde? Hatte Joe rechtzeitig fliehen können? Oder hatten sie ihn mitgenommen? Wenn sie ihn hatten, was mochten sie mit ihm anstellen? Was passierte dann mit Snakebite? Der Rotschopf biss sich auf die Unterlippe. In ihr machte sich das langsam schleichende Gefühl breit, dass Joe die Leitung nicht nur temporär an sie abgegeben hatte. Er war nicht zu erreichen, nirgends aufzufinden – und die Bande führerlos. Sie selbst war für diesen Posten nicht gemacht. Es sah schlecht aus. Sie hatte gehofft, ein paar Fragen beantwortet zu kriegen wenn sie hierher kam. Doch genau das Gegenteil war eingetroffen. Sich zähneknirschend langsam von dem Haus abwendend verließ Lucifer diesen Ort wieder.
 

Inoran war schon eine ganze Weile am Ufer entlang gegangen, hatte seinen Blick die meiste Zeit davon auf das Wasser oder in die Ferne schweifen lassen. Doch wenn er sich umdrehte, hatte er noch immer den Hügel im Blickfeld. Der Hügel, den man schon vom Bahnhof aus deutlich erkennen konnte. Eine kleine, grüne Oase, die aus dieser Betonlandschaft heraus ragte. Fast wie ein Überbleibsel aus alten Tagen. Auf dem Hügel standen, abgesehen von der starken Vegetation, nur ein paar vereinzelte Häuser; ein Gebäude sah fast so aus wie ein kleiner Tempel. Doch Inoran wusste nicht, ob es wirklich Einer war. Er wollte zwar, seit er das erste Mal hier gewesen war, auf diesen Berg rauf, hatte es bisher aber nie getan. Obwohl sein Blick an jedem Tag, den er hier verbrachte, mehrmals zu diesem Berg schweifte. Irgendwann würde er da hochklettern und sich alles genau vom Nahen ansehen. Dann wüsste er auch, ob in den Häusern jemand wohnte und ob der vermeintliche Tempel wirklich ein Tempel war. Irgendwann.

Inoran wand sich vom Holzgeländer ab und beschloss, in den umliegenden Straßen herum zu streunern. Oftmals, wenn er längere Zeit einen eher einsamen Weg entlang geschlendert und nicht vielen Passanten begegnet war, verspürte er anschließend den Drang, sich in das Menschengetümmel zu werfen um zu spüren, dass er nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten war. Sooft er die Einsamkeit auch immer wieder aufsuchte, so stark war auch sein entgegengesetztes Verlangen nach Menschenmassen. Und seit er hier in Japan gelandet war, war dieses Verlangen noch größer geworden.

Er hatte nun kaum den gegenüberliegenden Gehweg in seinem üblichen Schlendrian betreten, da vernahm er auch schon peitschende Schüsse aus der nächstliegenden Seitenstraße. Kurz darauf antworteten Schüsse einer anderen Waffe auf das eröffnete Kampfgefecht. Aus der selben Straße.

Inoran blieb wie erstarrt stehen. Es war hellichter Tag und die Gegend hier war eigentlich nicht bekannt für ihre hohe Kriminalitätsrate. Zumindest hatte er noch niemanden darüber reden hören. Und obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es keine gute Entscheidung sei, trieb ihn seine Neugier doch zu dieser Seitenstraße, die nur wenige Meter von seinem Standort entfernt war. Kaum dort angelangt, schielte er vorsichtig um die Ecke.

Es war eine der vernachlässigteren Straßen in diesem Stadtteil. Eng und dreckig. Von einem ehemaligen Ladengeschäft aus gingen Schüsse auf ein gegenüberliegendes, parkendes Auto. Hinter Diesem konnte Inoran drei oder vier dunkle Schattengestalten erkennen, die im Schutz ihrer Deckung eifrig zurück feuerten. Alles keine zehn Meter von ihm entfernt. Und dann sah er noch jemanden. Dort hinten, in der Ferne, stand ein Junge am Horizont und winkte ihm zu. Seine roten, langen Haare wehten wie Flammen im Wind. Sugizo! Es musste Sugizo sein...! Wer sonst, mit solch einer Mähne, sollte ihm zuwinken? Sein Blick haftete nur noch auf diesen Jungen und wollte ihn auch gar nicht mehr aus den Augen verlieren, sodass er sich nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde die Frage stellte, was Sugizo denn hier in Japan zu suchen hätte. Nein, er war davon überzeugt, dass der rote Punkt da hinten am Ende der Straße sein Freund war, der ihn hier aus der tristen Einsamkeit rettete. So vergaß er auch schlagartig das Szenario, das sich unmittelbar vor seiner Nase abspielte: Die wilde und gefährliche Schießerei existierte für ihn mit einem Mal gar nicht mehr. Jedoch war sie nur in seiner Welt verschwunden. In der Welt aller Anderen jagten die Schüsse weiterhin durch die Luft.

Inoran's Füße betraten den unebenen Weg der dreckigen Gasse. Sein Blick war geradewegs nach vorne gerichtet. In die Ferne. Auf den winkenden Jungen mit den roten Haaren. Die roten Haare....sie waren sein Ziel. Er wollte sie wieder an seinem Gesicht spüren, wenn er ihn umarmte. Gleich hätte er wieder die Gelegenheit dazu, gleich würde er seine Arme wieder um ihn schließen können. Er trat näher, immer näher auf den Punkt am Horizont zu. Bis sein Weg von zwei Bleikugeln gekreuzt wurde, die sich in Kopf und Hals bohrten. Abrupt nahm Inoran's Tempo ab, seine Beine strauchelten, gehorchten ihm nicht mehr. Sein Blick wurde unscharf, schief. Verlor den roten Punkt in der Ferne aus den Augen. Verlor den Halt, die Balance, fiel. Fiel und wollte nicht aufhören... Das schummrige Licht um ihn herum, das durch die hohen Hauswände entstand, verwandelte sich in eine andere Dunkelheit und in dieser Dunkelheit bildeten sich Formen, Figuren... Er sah Gesichter, traurige Gesichter. Einen schief gelegten, kahlen Kopf, an dessen Seite eine Uhr hinab floss. Augen und Mund waren nur düstere, leere Höhlen. Aus dem Kopf und dem Hals tropften aus aufgerissenen Stellen weiße, runde Perlen. Doch im nächsten Moment erkannte er, dass das Gesicht ein Flugzeug war und davon flog; nur eine leere Fläche zurück lies. Schräg über diesem Kopf schwebte ein anderes Gesicht, himmelblau. Auch Dieses sah traurig aus, betrübt. Weiße Linien formten die emotionalen Züge. Aber auch Diese verflüchtigten sich mit einem Mal und Inoran musste erkennen, dass Augen, Nase, Lippen, Augenbrauen und Falten nur die ausgestreckten Schwingen der Möwen waren, die nun weiter flogen und das Bild verließen. Ein weiteres Gesicht, fast einer Fratze gleich, weinte. Die deformierte Träne schien das Augenlid nur schwerfällig verlassen zu wollen, ehe sie zu ihren Artgenossen in den Tränenteich fiel. Die rausgestreckte Zunge, die kleinen, spitzen Zähne und die lange, verdrehte Nase wirkten im Gegenzug zu dieser Emotion schon regelrecht absurd.

Und immer wieder konnte er überall im Bild weiße Perlen entdecken, die aus bauchigen Vasen oder anderen Gegenständen ebenso heraus fielen wie aus dem gesichtslosen Kopf.

Durch den offenen Teil einer Decke sah er gewaltige, hellhäutige Elefanten, die auf ihren unendlich langen Spinnenbeinen dahin staksten.
 

Sugizo, der gerade kaugummikauend auf einer Mauer in Seoul saß, bekam plötzlich schlagartig das Gefühl, er würde Inoran nie wieder sehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Luinaldawen
2010-12-27T16:56:19+00:00 27.12.2010 17:56
Inoran tot? @_@ Der arme kleine... und armer Sugizo, das wird ihn bestimmt tierisch runterziehen - falls er es erfährt. ;_;
Ich hoffe, dass Joe noch entkommen ist... zum Ende hin machst du es nochmal richtig spannend! >_<
Von: abgemeldet
2010-12-27T11:43:58+00:00 27.12.2010 12:43
wow, schon das vorletzte kapitel? "nur" 28 also? ... jetzt werd ich (passend zum kapitel) noch ganz melancholisch... )-:
na dann bin ich mal gespannt wie das ausgeht... hoffe ja für die truppe dass da nicht mehr all zu viele dalis auf sie zu kommen im anschluss ;P


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