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Der Fund

von

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I


 

Schon nach wenigen Metern umschloss die Kasaltmine sie wie der Schlund eines Drachen; eng, warm und unangenehm feucht. Und still.

So verdammt still

Weil die Arbeiten schon seit Tagen ruhten, befand sich niemand außer ihnen im Stollen. Stumm waren die Spitzhacken, mit denen die Bergarbeiter das Kasalt aus dem Stein schlugen, genauso wie die Karren, die sonst über krumme Schienen Richtung Tageslicht polterten. Niemand blaffte Anweisungen und niemand stöhnte unter der strapaziösen Arbeit. Allein ihre Schritte hallten von den Wänden wider, ein jeder ein klammes Platschen auf dem feuchten Stollenboden.

Das Kasalt machte es schlimmer. Am Anfang waren es nur einsame Sprenkel purpurfarbener Magie, die sich vom dunklen Gestein abhoben, wie Sterne vom endlosen Nichts des Firmaments. Für viele Schritte glomm das Erz gerade hell genug, um die Dunkelheit, die sie umfing, zu betonen. Doch desto weiter sie in den Stollen vordrangen, desto eindringlicher wurde das Leuchten. Wie auf unsichtbaren Schnüren gefädelt reihten sich die Kasaltsprenkel bald aneinander, formten erst Schwärme und Bänder, dann ganze Galaxien aus purpurnem, lumineszierenden Erz.

In diesem Licht wurden selbst die sanftesten Vorsprünge zu scharfen Klauen, jeder noch so kleine Nebenstollen zu einem gähnenden Maul mit leuchtenden Zähnen. Wasser, das in der Ferne von der Höhlendecke tropfte, klang wie in freudiger Erwartung laufender Geifer. Zu einfach war es, sich vorzustellen, wie die Schatten sich lösten und-

Pax schüttelte den Kopf.

Nein.

Sein Verstand wusste, dass die Fantasie mit ihm durchging. Verdammt, selbst seine Fantasie wusste, dass sie mit ihm durchging. Wie ein bleiches Ross mit leuchtenden Augen und brennenden Hufen lauerte sie am Rande seiner Wahrnehmung darauf, beim nächstbesten Flackern loszupreschen.

Er presste die Augen zusammen und schlang den Umhang fester um seine Arme. Zu gern hätte Pax seine Begleiter gefragt, warum sie den Auftrag überhaupt angenommen hatten, doch er kannte die Antworten. Sie waren flach, rund und glänzten. Als der Vorarbeiter sie auf dem Marktplatz angesprochen hatte, hatte sich das alles auch in seinen Ohren noch nach einer guten Idee angehört. Geht in die Mine, hatte er gesagt. Beseitigt die Monster, die unsere Bergarbeiter bedrohen. Werdet bezahlt. Einfach. Nichts, was sie so oder so ähnlich nicht schon ein halbes Dutzend Mal getan hätten.

Im purpurnen Licht des Stollens sah die Sache schon ganz anders aus. Zumindest für Pax. 

Im Wortschatz seiner Begleiter existierten Wörter wie „Bedenken“ und „Zweifel“ schlicht nicht. Selbst jetzt wirkten die beiden souverän. Das unwirkliche, purpurfarbene Licht ließ Sairas Rüstung bedrohlich glitzern und ihre Hörner in einem noch blutigeren Rot als üblich leuchten. Die Entschlossenheit, mit der sie voranschritt, konnte einen fast glauben machen, dass der Stein selbst vor ihr zurückwich. 

Und Tavell … war ein Barde. Ein Halbelf, noch dazu. 

Er sah immer souverän aus, selbst dann, wenn er gerade durch die Latrine eines Trolls kroch. Seine Selbstsicherheit wirkte beinahe schon unverschämt lässig. Ein silbriger Schimmer ließ seine kühle, braune Haut und seine kurzen Dreads von Natur aus strahlen und hob seinen Mut und sein Charisma hervor. Wie von selbst verschwanden all die Dinge, die er niemanden sehen lassen wollte, im Hintergrund. Selbst sein Sinn für Mode – etwas auffällig vielleicht, aber immer hochwertig, immer perfekt geschnitten und selbst im größten Schlammloch so sauber wie am ersten Tag – unterstrich das.

Pax dagegen hatte abgesehen von einem schmächtigen Halblinghintern, der ihm viel zu oft auf Grundeis ging, nicht viel zu bieten. Viel zu viele Sommersprossen, vielleicht, und Haare auf den Füßen. Eine Abenteurerausrüstung, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Eine finstere Ahnung, die ihm seit diesem einen verdammten Abend in der Taverne zur Verschollenen Ziege im Nacken saß und ihm düstere Wahrheiten ins Ohr raunte.

Missmutig starrte er auf seine Finger, die im Licht des Kasalts noch käsiger wirkten als sonst. Fast war es, als würde seine Haut selbst leuchten, kalt und unwirklich. Krank. Der Drang, umzudrehen, wurde stärker. Der Drang, tiefer in die Mine vorzudringen, auch. Gehören tat Pax davon nur einer. Der andere war ihm so fremd, wie der Einhänder, den Saira ihm aufgenötigt hatte, und doch pulsierte er durch seine Adern, wie ein viel zu nahes Echo.

Ein paar Schritte später übertönte Tavells Rückfront das Echo. 

Erst traf ihn das satte Grün seines Umhangs, der Pax augenblicklich einhüllte, wie ein Teppich. Dann folgte die Erkenntnis, dass der Barde seine Laute noch immer unter dem Stoff trug – und dass diese immer noch genauso hart war wie beim letzten Mal.

„Ouw“, verkündete Pax. Unglücklich spuckte er Stoff.

Vor ihm drehte Tavell sich um und erwischte ihn mit der Laute fast noch einmal. Das Grinsen schlich sich nicht nur auf seine Lippen, sondern auch in seine Worte. „Na? Ist dir der Kasalt immer noch nicht hell genug?“

„Sehr witzig. Aber nein. Dein Ego hat mich geblendet.“ Das und die verdammte Laute. Pax rieb sich die Nase. „Warum bleiben wir stehen?“

Im Licht des Kasalts sah Pax, wie Tavells Mund sich in Vorfreude auf die Antwort, die ihm sicher bereits auf der Zunge lag, verzog, doch Sairas schnitt ihm mit einem Schnauben das Wort ab.

„Erinnert ihr euch an den Schlüssel, von dem der Vormann gesprochen hat?“, fragte sie, ohne sich zu ihnen umzudrehen. „Bitte sagt mir, dass einer von euch ihn mitgenommen hat.“

„Pax hat ihn“, erklärte Tavell im Brustton der Überzeugung, stockte dann aber. „Du hast ihn doch, oder?“

Pax zog die Augenbrauen hoch. „Was für einen Schlüssel?“

„Den, den dir dieser Bergarbeiter gegeben hat?“

„Der Bergarbeiter hat mir ein paar Knochenlichter gegeben.“ Er zog eines der Röhrchen aus seiner Tasche und schüttelte es, bis es seine Hand in kühles, grünes Licht tauchte. „Keine Dunkelsicht. Du erinnerst dich?“

Schweigen legte sich über sie. Irgendwo in der Ferne ächzte ein Holzbalken unter dem Gewicht des Stollens. 

Es war Pax, der sich schließlich räusperte. „Nun, dafür haben wir unseren Dieb, oder?“ 

Noch während er sprach, warf er einen Blick über seine Schulter. Einen Moment erwartete er tatsächlich, dass das fehlende Mitglied ihrer Truppe aus den Schatten treten würde, doch das schummrige Licht des Kasalts flackerte nicht einmal. 

„Uhm, Leute?“, sagte Pax. „Wo ist unser Dieb?“
 

II


 

„Als ich heute Nachmittag mit ihm gesprochen habe, wollte er einen seiner Zwischenhändler in der Baderstraat über irgendeinen Kanal halten“, antwortete Jesper und streckte sich genüsslich. Das grüne Hemd, das er passend zu ihrer Spielsession angezogen hatte, leuchtete im Licht der Kerzen, die den Salon von Wylans Vater – Wylans Salon, so ungewohnt das auch immer noch klang – erhellten. „Und um ehrlich zu sein, möchte ich es gar nicht genauer wissen.“

Wylan verdrehte die Augen. 

Sie saßen zusammen mit Colm Fahey und Inej um den großen Tisch, an dem noch vor ein paar Monaten wichtige – und in der Regel illegale – Beratungen stattgefunden hatten. Zwischen ihnen lag die Karte eines ausgedehnten Höhlensystems, die Wylan nach Colms Vorstellungen skizziert hatte. Auf einem der Gänge standen drei kleine Figuren. Ein blasser Halbling, ein leuchtend grüner Halbelf und eine Tiefling mit riesigem Hammer. Und Würfel. So viele Würfel.

„Ich auch nicht“, gab Wylan zu. Desto weniger er von Kaz Brekkers Geschäftsplänen wusste, desto besser. „Aber ich meine im Spiel. Selbst wenn Kaz nicht da ist, sollten wir Harwood nicht trotzdem mitnehmen?“

Inej hatte Kerker und Katastrophen vor einer Weile gefunden, zwischen dem üblichen Tand, den irgendwelche Marktstände in der Weerhuisstraat feilboten. Es hatte ein paar Lagebesprechungen – und viel Überzeugungsarbeit – gekostet, doch mittlerweile trafen sie sich regelmäßig. 

Heute ohne Kaz.

Wylan konnte nicht behaupten, dass er das ausgesprochen schade fand.

„Damit wir uns schneidende Seitenhiebe für ihn überlegen müssen?“, fragte Jesper spitz.

„Damit wir kein Lösegeld bezahlen müssen, damit ihn die Stadtwache gehen lässt?“, schlug Inej vor.

„Damit wir diese Tür aufbekommen?“

Er warf einen Blick auf Pax’ Charakterbogen. Sein Halbling hatte weder Punkte in Fingerfertigkeit, noch besaß er Diebeswerkzeuge. Wenn er Tavells und Sairas Steckbriefe richtig im Kopf hatte, sah es bei den beiden nicht viel besser aus.

Ihm gegenüber zuckte Inej mit den Achseln.

„Im echten Leben brauchen wir ihn doch auch nicht, um Türen zu öffnen.“

„Schon.“ 

Obwohl Wylan nicht viel von derlei Dingen hielt, wusste selbst er mittlerweile mit ein paar Drähten und einem Schloss umzugehen. Insbesondere, wenn etwas Sprengstoff an den Drähten befestigt war. Und das war nur Wylan. Jespers Fabrikatorenfähigkeiten und Inejs Geschicklichkeit waren da noch gar nicht einkalkuliert.

Nur galt das Gleiche halt noch lange nicht für ihre Charaktere.

Noch während Wylan die kleinen Skizzen musterte, die er als Gedächtnisstützen neben Pax’ Fähigkeiten gekritzelt hatte, angelte Jesper nach einem seiner Würfel. Mit der Selbstsicherheit eines Glücksritters verkündete er: „Lasst mich mal.“

Hinter dem Pappschirm, den Colm um seine Notizen herum aufgestellt hatte, zog selbiger die Augenbrauen hoch. „Hat Tavell Diebeswerkzeug?“

Jesper erstarrte. Den Würfel zwischen Mittel– und Zeigefinger seiner dominanten Hand geklemmt, griff er mit der anderen nach seinem Charakterbogen.

„Ich–“ Seine Augen huschten über das Papier. Hoch, runter, nochmal hoch. Während Jesper las, ließ er den Würfel zwischen seinen Fingern rotieren. Unglücklich presste er die Lippen aufeinander, bevor er schließlich fragte: „Zählen fünf Räucherstäbchen und ein Dolch?“

Vater und Sohn tauschten einen langen Blick. Der Würfel flitzte mit zunehmender Geschwindigkeit zwischen Jespers Fingern, ohne dabei auf den Tisch zu fallen. Wylan konnte den Schweißperlen dabei zusehen, wie sie sich auf seiner Schläfe bildeten. Colm zog die Augenbrauen zusammen. Die Spannung zwischen ihnen war so greifbar, dass man sie mit einem von Inejs Messern hätte schneiden können.

„Versuch es. Mit Nachteil.“ 

Auf Jespers Lippen bildete sich ein dünnes Lächeln. Zufrieden. Ein Hauch von Nervenkitzel in den Augen.

Leise klackernd landete der Würfel auf dem Tisch. Einmal, zweimal. Wylan konnte die Zahlen nicht lesen, doch er hörte Jesper zwischen zusammengebissenen Zähnen rechnen.

„Reichen dreizehn?“, fragte er schließlich, ein zaghaftes Grinsen auf den Lippen, halb hoffnungsvoll, halb dazu bereit zu fluchen.

Colm seufzte schwer und lehnte sich zurück. Das flackernde Licht der Kerzen ließ seine Augen im Schatten versinken. Wylan spürte seinen Blick dennoch, abschätzend und durchdringend.

„Einen Moment lang besiehst du dir das Schloss“, sagte er bedächtig. „Es ist groß und klobig, eindeutig eines dieser Schlösser, die sie neuerdings in Masse herstellen. Es sieht neu aus und gut geölt, so, als erführe es regelmäßige Nutzung. Auf deinen Abenteuern hast du schon schwierigere Schlösser klein gekriegt, doch heute fehlt dir das passende Werkzeug. Du weißt, dass Harwood dir auf diesem Gebiet meilenweit voraus ist, doch du hast den Dieb das letzte Mal auf dem Markt gesehen, als er sich an den Schatten eines besonders wohlhabenden Händlers geklebt hat. Eine Weile wühlst du dich durch deinen Rucksack, bis du schließlich das Päckchen mit Räucherstäbchen von ganz unten hervorziehst. Es ist keine gute Idee. Und es ist eine ziemliche Friemelei, bei der dir ein Räucherstäbchen nach dem anderen zerbricht. Erst, als du den Dolch zur Hilfe nimmst, hörst du schließlich doch noch das verheißungsvolle Knacken, mit dem der Mechanismus nachgibt.“

„Tada!“, verkündete Jesper freudestrahlend. „Ich sagte doch, ich kann das!“

Doch statt geknickt zu wirken oder seinen Sohn zu beglückwünschen, nahm Colm lediglich einen tiefen Schluck aus seiner Teetasse. Die Erleichterung, die sich in Jespers Miene widerspiegelte, verschwand schlagartig. Er warf Wylan einen skeptischen Blick zu. Der jedoch wusste außer einem schwachen Achselzucken auch keine Antwort.

„Du löst das Schloss und ziehst die schwere Eisentür auf“, fuhr Colm fort, die Stimme dunkel und unheilverkündend. „Wirf auf Wahrnehmung.“

Jetzt sah Wylan Jesper schlucken. Trotz der dunklen Vorahnung, die sich über den Tisch legte, griff er nach dem Würfel. Klackern folgte. Dann verbissenes Rechnen. Drei Blicke auf Tavells Charakterbogen. Ein nur halb geschlucktes Fluchen. „Nochmal dreizehn?“

„Deine Hände riechen nach Patchouli.“

Jesper warf einen Blick auf seine langen, dünnen Finger. „Den hab ich verpatzt, oder?“

Sein Vater antwortete mit einem dünnen Lächeln. „Zumindest bist du dir sicher, dass dich der Geruch eine ganze Weile begleiten wird.“

„Oh ja.“ Seufzend vergrub Jesper das Gesicht in den Händen. „Den habe ich verpatzt.“

Wylan blickte zwischen den beiden Männern hin und her. Er hoffte, dass der Geruch nur eine kleiner Seitenhieb für den Missbrauch von Räucherstäbchen war, doch auch ihm schwante übles. „Können wir es auch riechen?“

„Weiß nicht.“ Jesper hielt ihm seine Finger unter die Nase. „Kannst du es riechen?“

Wylan warf ihm einen kritischen Blick zu, griff dann aber doch nach der ihm dargebotenen Hand. Vertraute Schwielen zogen sich über Jespers Haut, semipermanente Erinnerungen an die Fabrikator-Übungen, mit denen er sich seit ein paar Monaten beschäftigte. Einen Moment lang schnüffelte Wylan an seinen Fingerkuppen, wie ein reicher Kaufmann an einem edlen Wein. Schließlich schüttelte er bedauernd den Kopf. 

„Nichts, fürchte ich“, gestand er. „Nur Zedernholzseife und Zockerschweiß.“

Sie tauschten einen Blick. Wylan gönnte sich ein herausforderndes Lächeln. 

Zur Antwort warf sich Jesper theatralisch in seinem Stuhl zurück und hielt sich die freie Hand vor die Stirn. „Oh! Oh verdammt!“, klagte er wehleidig. „Du verbringst zu viel Zeit mit mir! Ich färbe ab!“

„Wie kannst du nur! Furchtbar! Schrecklich!“, stimmte Wylan zu und grinste. „Aber ich nehme an, Pax kann. Aber er wird nicht schnüffeln.“

„Mist.“

Auf der anderen Seite des Tisches beugte Inej sich über die Karte. Bedächtig griff sie nach der Tieflingfigur.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr das gerne weiter erörtern“, verkündete sie und schob ihre Figur den Gang entlang. „Saira geht jedenfalls an Tavell vorbei in den Stollen. Wie tödlich ist er?“
 

III


 

Dafür, dass Tavell ewig an dem Schloss hatte herumfriemeln müssen, war der Stollen dahinter nahezu enttäuschend. Da war nur noch mehr dunkles Gestein, noch mehr glimmendes Kasalt. Immer wieder formten sich aus den purpurnen Flecken lange, scharfe Zähne und Augen, die ihnen den Stollen hinab folgten. Wasser, das an den Wänden herablief, glänzte wie Geifer. Doch all das änderte nichts daran, dass sie noch immer die einzigen Lebewesen weit und breit waren.

Nachdenklich fuhr Pax mit dem Finger über eines der leuchtenden Bänder. Ein Hauch von Purpur blieb an seiner Haut haften. „Haben sie euch im Unterricht auch beigebracht, dass sich in Minen giftige Gase bilden können?“

„Unterricht?“, fragte Tavell trocken.

Pax verdrehte die Augen. „Ja, Unterricht. Du weißt schon. Das, wo du dich mit einem Dutzend anderer Kinder in einen Raum begibst und den furchtbar langweiligen Vorträgen deiner Lehrer zuhörst.“ Er rieb mit dem Daumen über seinen Zeigefinger, doch der purpurne Schein verteilte sich dadurch nur weiter. Er zog die Augenbrauen zusammen. „Wir haben uns ein Semester lang mit dem Bergbau beschäftigt, weil sie uns für die Kasaltforschung gewinnen wollten.“

„Oh. Ich glaube, da hatte ich ein Rendezvous.“

Das Bedürfnis, Tavell seinen Umhang um den Hals zu schlingen und sich an den Saum des Stoffs zu hängen, damit Schwerkraft und sein Gewicht den Rest der Arbeit übernahmen, wallte in Pax auf. Dem Tonfall nach zu urteilen, der in Sairas Stimme mitschwang, als sie sprach, verspürte sie es auch.

„Keine Details, Tavell.“ Es war keine Bitte. „Pax – was meinst du mit Gasen? Der Vorarbeiter sprach von einem massigen Wesen mit messerscharfen Klauen. Er klang sehr … entschieden.“

„Wenn man Gestein abbaut, kann es vorkommen, dass dabei Gase freigesetzt werden.“ Er spähte zur Stollendecke, während er sich die Worte seiner Lehrerin in Erinnerung rief. Statt dem Gesicht von Miss Goldblossom blickten nur tausende kleine Kasaltaugen zurück, reglos und kalt. „Die können in Schächten wie diesem hier nicht entweichen und sammeln sich an. Manche können dir die Luft abschnüren, andere benebeln deine Sinne.“

„Sowas hast du im Unterricht gelernt?“, warf Tavell dazwischen.

„Ein bisschen bleibt halt hängen, wenn man dich ewig damit gängelt.“

Mit einem Seufzen wandte Saira sich von ihnen ab und warf dem Kasalt einen skeptischen Blick zu. „Du glaubst also, sie bilden es sich nur ein?“

Pax zuckte mit den Achseln. „Nun, die Klauen sehe ich hier, sobald ich an die Wände schaue.“

„Weil du den Finsteren Gott an die Wand malst, sobald sich nur eine halbe Möglichkeit dafür ergibt.“

Pax warf Tavell einen finsteren Blick zu. „Weil er nicht mehr als eine halbe Möglichkeit braucht.“ Die oder einen feuchtfröhlichen Abend in der Verschollenen Ziege. „Aber das ist nicht der Punkt. Was ich sagen wollte … Bergleute sind abergläubisch. Und natürlich erklären uns all die Industriellen, die Kasalt abbauen lassen, dass das Erz vollkommen harmlos ist. Und die Forscher auf ihrer Gehaltsliste plappern das natürlich nach. Aber … wie lange verwenden wir Kasalt jetzt? Fünfzig Jahre? Nicht ganz?“

„Genug Zeit, um Nebenwirkungen festzustellen, oder?“

„Wenn sich jemand dafür interessiert, ja.“

Während Tavell und Saira auf der Implikation seiner Worte kauten, besah Pax sich seine Finger. Seine Haut schimmerte noch immer violett. Er rieb mit seinem Finger über seinen Ärmel, doch auch das verteilte die Partikel nur weiter. Irgendwo in der Ferne tropfte Wasser von der Stollendecke und übertönte ihr Schweigen mit seinem monotonen Platsch-Platsch-Platsch.

„Leute?“, sagte Tavell leise. „Was machen wir, wenn Pax recht hat?“

Saira fasste nach dem Griff ihres Hammers. „Dann finden wir es heraus und erstatten Bericht.“

Ein Scheppern unterstrich ihre Worte. Es klang schwer und anklagend und hinter ihnen.

Pax wirbelte herum. „Was war das?“

„Ich würde sagen Metall?“, schlug Tavell vor.

Saira nickte, die Hand noch immer auf dem Griff ihres Hammers. „Klang nach der Eisentür.“

„Die –“ Pax spürte, wie seine Fantasie am Rande seiner Wahrnehmung den Kopf hob und unruhig mit den Hufen scharrte. Zumindest hoffte er, dass es nur seine Fantasie war. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. „Das heißt, wir hängen hier fest?“

Hinter sich hörte Pax es rascheln. Einen Moment später spürte er Tavells Atem eindeutig viel zu nah an seinem Ohr. „Angst?“

Ein Schauer lief über Pax’ Rücken. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur eine gesunde Portion Vorsicht.“

„Wie viele finstere Götter sind das mittlerweile an der Wand?“

„Haha.“ Er drehte sich um, um seinen Kameraden anfunkeln zu können. „Riechst du nur noch nach Räucherstäbchen oder hast du noch welche?“

„Wir haben noch Sairas Hammer.“

„Sankta Nadezhda ist kein Türöffner“, sagte Saira in einem Tonfall, der keinen weiteren, noch so pfiffigen Spruch dudelte. Bevor Tavell, der trotzdem den Mund öffnete, etwas antworten konnte, fuhr sie fort. „Aber solang es nur die Tür ist, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wir sind schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden.“

„Ja, aber wäre die Tür nicht, könnten wir jederzeit gehen. Ohne erst einen Türöffner suchen zu müssen.“

Sie tauschten einen Blick.

„Notfalls haben wir immer noch Sankta Nadezhda“, sagte sie schließlich und schenkte ihm ein Lächeln.

Dieses Mal war es Tavell, der die Arme vor der Brust verschränkte. „Ach, aber wenn ich den Hammer vorschlage, ist er tabu?“

Saira tätschelte Tavells Schulter. „Ja.“

Mit diesen Worten ließ Saira sie stehen. Pax warf Tavell einen knappen Blick zu, dann folgte er ihr.

 
 

Der Stollen wurde enger. Während Pax weiterhin bequem aufrecht gehen konnte, drohte Saira bald, mit den Hörnern gegen die Decke zu stoßen. Das dunkle Grau des Stollens wich streckenweise vollständig dem unwirklichen, purpurnen Leuchten des Kasalts. Bald war alles purpur. Die Wände des Stollens genauso wie das Wasser, das vom Gestein herablief. Längst plätscherte es in einem flachen, doch steten Strom über den Boden Richtung Ausgang. Alles, das es berührte, färbte sich erst rosa, dann violett, bis es schließlich in einem tiefen, purpurnen Farbton leuchtete. Pax’ Lederstiefel färbten sich genauso, wie die mit Stahl beschlagenen Kappen von Sairas Schuhen. Selbst Tavells sonst so unverwüstlicher Umhang glomm vom Kasalt.

Pax, der seinen Platz hinter Tavell wieder eingenommen hatte, beobachtete, wie sich mit jedem Spritzer weitere Muster über den Stoff zogen, das sonst so farbenfrohe Grün schluckten und übertünchten. Sein Blick glitt zu seinen Fingerkuppen. Mittlerweile hatten sich die Kasaltpartikel über alle Finger verteilt, genauso wie über den Ärmel, den er mit ihnen berührt hatte. Der Schimmer schien selbst durch all das Wischen nicht nachlassen zu wollen. Wenn überhaupt, wirkte das Leuchten dadurch noch stärker. Längst war es nicht mehr nur seine lebhafte Fantasie, die all das Erz kritisch beäugte. Die dunkle Ahnung, die sonst nur am Rande seines Bewusstseins lauerte, erschien ihm mittlerweile beinahe greifbar. Nah. Aufmerksam.

Eine Bewegung vor ihm riss Pax aus den Gedanken. Tavell strauchelte, stürzte, erst Sairas Rüstung hielt ihn laut scheppernd auf. Einen Moment lang taumelten sie beide.

„Eigentlich“, japste Saira, die Hände gegen die Stollenwände zu beiden Seiten gestemmt, „ging ich davon aus, dass ich nicht die Person bin, in deren Arme du dich werfen willst.“

Tavell lachte, peinlich berührt. 

„Zugegeben. Trotzdem … Danke. Saira.“ Behutsam löste er sich von ihrer Rüstung und drehte sich um. „Was war– was ist das?“

Stirnrunzelnd beugte er sich vor. Pax tat es ihm nach. Dann sah er es auch: In dem Gerinnsel zu ihren Füßen lag ein Gegenstand. Er hatte einen langen Schaft, vermutlich aus Holz, und einen klobigen Kopf aus Metall, der zu beiden Enden spitz zulief. Der Gegenstand leuchtete wie das Wasser, das um ihn herum plätscherte, in unwirklichem Purpur.

„Eine Spitzhacke?“, fragte Pax.

„Offensichtlich. Hrmpf.“ Tavell stemmte die Arme in die Hüften. „Ich wusste nicht, dass die Dinger Tarnfarbe haben können. Oder dass Magenta als Tarnfarbe taugt.“

„Überraschung?“

Saira gesellte sich zu ihnen. Mit spitzen Fingern fischte sie die Spitzhacke vom Boden und hielt sie auf Augenhöhe. In trägen, purpurnen Tropfen floss das Wasser den Griff hinab und färbte das Leder ihrer Handschuhe rosa. Während die Struktur des Holzes zum Vorschein kam, ließ sich die ursprüngliche Farbe nicht einmal mehr erahnen. „Das ist das erste Werkzeug, das ich hier unten sehe.“

„Und es lag mitten im Weg“, sagte Pax. „So als hätte es jemand … fallen lassen?“ 

Den Blick noch immer auf die Spitzhacke gerichtet, nickte Saira. „Wer auch immer es war, hatte es eilig.“

„Also doch keine Gase?“, fragte Tavell und klang dabei halb hoffnungsvoll, halb besorgt.

„Oder sehr, sehr eindringliche.“ Pax nickte den Stollen hinunter. „Ich glaube, da hinten liegt noch eine.“

 
 

Und dabei blieb es nicht. Auf ihrem Weg tiefer in die Mine fanden sie ein Sammelsurium an Werkzeug. Nicht nur Spitzhacken, sondern auch Hämmer und Pickel, Nägel, Knochenlichter und eine ganze Reihe noch unverbauter Holzbohlen lagen kreuz und quer im Stollen verstreut. Sogar ein halbvoller Karren wartete auf den Schienen auf einen Abtransport, der nicht geschehen war.

Am Ende des Schienennetzes, ein paar Dutzend Meter hinter dem Karren, endete der Stollen. Gestein, das die Arbeiter dem Berg abgerungen hatten, lag noch immer dort, wo es aufgeschlagen war, obwohl auch in diesen Brocken Kasalt glomm. Die Decke fiel schräg nach vorne ab und die Streben, die anderswo die Stollendecke an Ort und Stelle hielten, fehlten.

Am äußersten Ende hatten die Arbeiter ein Loch in die Wand geschlagen, kaum einen Meter im Durchmesser. Hinter den grob behauenen Kanten öffnete sich der Raum zu einer tiefen Höhle, deren Ende zumindest Pax nicht erkennen konnte.

Behutsam und streng darauf bedacht, das Kasalt nicht zu berühren, spähte Pax durch die Öffnung. Sein erster Blick fiel auf unzählige Stalaktiten, die lang und spitz von der Höhlendecke hingen. Unter den spitzen Zacken erstreckte sich ein purpurfarbener See, der die Höhle in unwirkliches Licht tauchte. Ein dünner Nebel hing über dem Wasser. Dazwischen trieben Seerosen mit dicken, dunklen Blättern auf der Wasseroberfläche, deren orangefarbene Blüten strahlten wie Laternen.

Pax hatte dergleichen noch nie gesehen, doch es war nicht der Anblick, der ihm den Atem raubte. Es war der überwältigende Gestank nach Verwesung, der ihm entgegenschlug.
 

IV


 

„Der Gestank nach faulendem Fleisch ist überwältigend“, sagte Colm mit Grabesstimme, „dennoch zwängt ihr euch einer nach dem anderen durch das Loch. Ihr findet euch am Ufer des unterirdischen Sees wieder. Das Wasser liegt beinahe unnatürlich still da. Nicht einmal die Tropfen, die dann und wann von einem der Stalaktiten fallen, vermögen es, die Ruhe zu stören. So leise wie möglich watet ihr durch das blaublättrige Schilf, das am Ufer wächst und euch bis zu den Hüften reicht. Die einzigen Geräusche, die ihr hört, sind das Rascheln des Schilfes unter euren Füßen und das unvermeidliche Scheppern von Sairas Rüstung, doch dann … werft mir doch alle einmal einen W6.“

Vor Wylans innerem Auge zeichnete seine Fantasie noch immer das Bild nach, das Colm mit seinen Worten gemalt hatte. Einerseits, weil er sich die Details einprägen wollte, um die Szene später auf der Leinwand festzuhalten, und andererseits, weil er überlegte, ob Pax sich gerade erbrach. Blinzelnd riss er sich von der Vorstellung los, um zwischen seinen Würfeln nach dem W6 zu kramen. Jesper und Inej taten es ihm gleich.

Kurz darauf klapperte Metall verheißungsvoll über den Holztisch.

„Fünf“, verkündete Inej.

Neben ihm starrte Jesper seinen Würfel an, als wolle er ihn allein dadurch dazu bringen, noch einmal auf eine andere Seite zu kippen. Als er sich der fragenden Blicke bewusst wurde, die auf ihm ruhten, zog er den Kopf ein. 

„Drei“, sagte er leise.

Wylan spähte von Jesper zurück auf den Tisch vor sich. Die Seiten seiner Würfel zeigten keine Ziffern, sondern ein Sammelsurium kunstvoll gesetzter Punkte in Silber und Rot. Sie waren eine Sonderanfertigung, die Jesper ihm geschenkt hatte, damit er sich nicht mit dem Lesen von Ziffern herumschlagen musste. Viel zu zählen gab es diesmal jedoch nicht.

Ein einzelner, roter Punkt leuchtete ihm entgegen. Er schluckte.

„Eins?“ 

Stöhnend vergrub Jesper den Kopf in seinen Händen. Inej warf ihm einen knappen Blick zu. Obwohl sie Jespers Geste sicher nicht billigte, sah sie kaum glücklicher drein als er.

Kein Wunder. Colm hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ihre Begegnungen auszuwürfeln. Und obwohl sie seinen Code bislang nicht geknackt hatten, wussten sie eines mittlerweile ganz genau: Eine Eins war schlecht.

Richtig schlecht.

„Schließlich erreicht ihr das Ende des Schilfs“, sagte Colm unbeeindruckt und zog eine neue Karte aus seinen Unterlagen. Behutsam breitete er das Papier auf dem Tisch aus und strich es glatt. Einen Moment lang bewunderte er Wylans Arbeit, dann positionierte er ihre Spielfiguren. Mit dem Zeigefinger deutete er auf ein von dicken Strichen und geometrischen Figuren umgebenes Kreuz. „In einiger Entfernung könnt ihr zwischen ein paar Kisten eine Feuerstelle ausmachen. Ringsherum liegen abgeschlagene Stalagmiten, die offenbar als Sitzbänke gedacht sind, doch niemand sitzt darauf. Neben einem der Stalagmiten“, Colm deutete auf einen Kreis, „liegt lediglich ein großer Klumpen. Für feuchten Stein glänzt er nicht genug, doch auf die Entfernung könnt ihr nicht erkennen, worum es sich dabei handelt. Ihr seht nur einen Hauch von Kasalt, der seine Oberfläche bedeckt und ihn glimmen lässt.“

Inej stand auf und stützte ihre Hände auf dem Tisch ab, um die Karte besser sehen zu können. Ihrem Beispiel folgend musterte auch Wylan die Karte eingehend. Als er sie nach Colms Vorgaben entworfen hatte, hatte selbst er nicht genau gewusst, was er dort zeichnete. Jetzt jedoch erkannte er den See, der sich über den nördlichen Kartenrand erstreckte, und das Schilf, durch das ihre Charaktere gewatet waren. Die Striche und Symbole hatte Colm selbst hinzugefügt, doch es war nicht schwer, das provisorische Lager darin zu erkennen.

Neben ihm streckte Jesper sich. „Wir hätten Harwood doch mitnehmen sollen.“

Wylan warf ihm einen skeptischen Blick zu, doch es war Inej, die zuerst das Wort ergriff: „Als Köder?“

Jesper lachte. „Um sich in dieses Lager zu schleichen“, sagte er grinsend. „Als Schurke kann er das doch besser, als wir drei zusammen. Ich meine, wir haben eine Paladin, die genauso viel scheppert, wie sie glitzert, einen Hexenmeister, der schon auf der letzten Karte umdrehen wollte, und Tavell. Und der ist zwar ausgesprochen modisch, aber leuchtend grün. Deine Idee gefällt mir aber auch.“

Colm warf ihnen unter hochgezogenen Augenbrauen einen langen Blick zu. „An eurer Stelle würde ich das Kaz nicht hören lassen.“

Zur Antwort zuckte sein Sohn mit den Achseln und flötete: „Würde mir im Traum nicht einfallen.“

„Es war seine Entscheidung, nicht zu kommen. Schon wieder.“ Der Tonfall, der in Inejs Stimme mitschwang, ließ Wylan ahnen, dass sie noch mit Kaz reden würde – und dass Wylan bei diesem Gespräch sicher nicht dabei sein wollte. Statt weiter auf das Thema einzugehen, wandte sie sich wieder der Karte zu. „Können wir von unserer Position aus noch mehr erkennen?“

„Auf die Entfernung und bei dem Licht?“ Colm schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, dazu müsst ihr euch die Feuerstelle aus der Nähe ansehen. Wie wollt ihr weiter vorgehen?“

„Wir sollten für den Moment davon ausgehen, dass der Klumpen dort eine Leiche ist.“ Mit der einen Hand stützte Inej sich auf dem Tisch ab, mit der anderen deutete sie auf den Kreis, den Colm eingezeichnet hatte. „Stellt sich die Frage, was diese Person angegriffen hat und ob es uns auch angreifen will.“

„Oder ob uns die Leiche angreifen will“, warf Jesper ein.

„Der Vorarbeiter sprach von einer Bestie mit scharfen Klauen, nicht von seinen Kollegen.“

„Die Höhle hier hat er doch auch nicht erwähnt.“

Inej zog die Augenbrauen zusammen. „Wollen wir das immer noch auf diese Gase schieben?“

„Das hier ist Kerker und Katastrophen“, unterbrach Wylan sie. „Ich bin mir sicher, dass es in diesem Spiel lebendige – und mörderische – Gase gibt. Aber … nein. Nein, ich glaube nicht.“ Er blickte auf die Würfel vor ihm. Nachdenklich gab er einem von ihnen, dem mit den zwanzig Seiten, einen Stoß. Das Metall klackerte träge über den Tisch. „Aber Jesper hat recht. Das mit dem Schleichen können wir vergessen. Wir sind sicher schon im Schilf weithin sichtbar. Also … ihr. Pax kitzeln die Halme vermutlich in der Nase.“

Einen Moment lang verfielen sie in Schweigen. In seinem Augenwinkel konnte er Jesper sehen, wie er einen seiner Würfel durch seine Finger gleiten ließ. Die Geste wirkte beinahe schon beiläufig, so, als sei er sich gar nicht bewusst, dass er etwas in der Hand hatte. Jesper so zu sehen, gedankenverloren, ganz in seinem Element, hatte etwas Meditatives, beinahe schon Hypnotisierendes – und das nicht nur wegen Jespers langer, dunkler Finger.

Unvermittelt hielt Jesper inne.

„Vielleicht können wir Pax’ Größe zu unserem Vorteil nutzen.“ Den Würfel noch immer zwischen seinen Fingern, deutete er auf das Schilf, das das gesamte Ufer des Sees umgab. „Pax könnte in Deckung bleiben und unsere Nachhut bilden, während Saira und ich uns dieses Lager genauer ansehen. Sollten wir angegriffen werden, muss er dann nicht erst Distanz zwischen sich und den Gegner bringen und kann aus der Deckung feuern.“ 

Wylan nickte versonnen. „Ich könnte mich außerdem im Schilf umsehen“, schlug er vor. „Vielleicht solltet ihr euch ebenfalls trennen. Wenn das Monster seine Aufmerksamkeit auf euch aufteilen muss, bemerkt es mich mit Glück nicht.“

Inej und Jesper tauschten einen Blick und nickten ihm zur Antwort zu. 

Nach kurzem Überlegen griff Inej nach ihrer Tiefling-Figur. „Einverstanden“, sagte sie und stellte sie bei dem Klumpen ab. „Dann schaue ich mir die Leiche an.“

Neben ihr umfasste Jesper den Würfel. Vermutlich brannte er schon darauf, ihn zu werfen. „Okay, dann untersuche ich das Lager auf Spuren. Und Wertgegenstände. Und alles, was sonst noch auffällig ist. Werfe ich dafür auf Wahrnehmung?“

Colm, der während ihres Gesprächs in seinen Unterlagen geblättert hatte, sah hinter seiner Trennwand auf. „Nein, auf Nachforschen, da du das Lager genauer untersuchen willst, Jes. Inej? Du wirf mir bitte auf Heilkunde.“

Kaum hatte Colm den Wurf spezifiziert, klackerte Jespers Würfel über das Holz. Das Kerzenlicht ließ die goldenen Ziffern schimmern und flackern, während das Metall sich überschlug. Als der Würfel liegen blieb, zeigte die oberste Seite schließlich zwei Ziffern. Dennoch stöhnte Jesper auf. „Zehn? Plus drei? Das ist jetzt meine wievielte Dreizehn? An diesem Würfel ist doch was faul. Ich will einen Neuen!“

Hinter seiner Spielleiterwand zeigte sich Colm unbeeindruckt. In aller Seelenruhe stellte er ein Kistchen vor sich ab, das Wylan nur an dem hölzernen Geräusch erkannte, mit dem es auf den Tisch traf. Vermutlich enthielt es Spielfiguren, detaillierte Miniaturen von Räubern und Monstern, mit denen Jesper sich in den letzten Wochen die Abende vertrieben hatte. Statt das Kistchen zu öffnen, antwortete Colm seinem Sohn. „So viele, wie du willst, Jes. Aber richte dich darauf ein, jeden davon überprüfen zu lassen, bevor du sie zur nächsten Sitzung mitbringst.“ Ohne auf Jespers Murren einzugehen, blickte er zurück auf die Karte. „Entschlossen tretet ihr aus dem Schilf. Bedächtig nähert ihr euch dem Lager, doch alles bleibt still. Das Erste, das euch auffällt, sind die Fußspuren. Der Boden ist zu hart und zu glatt, um Abdrücke zu hinterlassen, doch offenbar ist an den schweren Stiefeln der Arbeiter Kasalt hängen geblieben, das diese dann mit jedem Schritt weiter verteilt haben. Auf dem beinahe schwarzen Untergrund zeichnen sich ihre Fußspuren nun als purpurne, fade leuchtende Schlieren ab. Tavell, als du dir das Lager genauer ansiehst, bemerkst du, dass die Kasaltspuren an manchen Stellen stark verwischt sind. Ob diese Verwischungen durch die Schritte eines deutlich größeren Lebewesens verursacht wurden, oder ob etwas durch die Spuren geschliffen wurde, kannst du jedoch nicht sicher sagen. Wertgegenstände findest du keine. Offenbar haben die Arbeiter nur Dinge mitgebracht, die sie für ihre Arbeiten in der Mine brauchen. An einem der umgehauenen Stalagmiten lehnen mehrere Spitzhacken. Die Kisten sind großteils leer. Nur in einer von ihnen findest du ein paar leere Konservendosen.“

„Nicht einmal Essen haben sie uns übrig gelassen?“, fragte Jesper dazwischen. Er hatte einen Arm auf den Tisch gelegt und seinen Kopf darauf gebettet. Mit der anderen Hand balancierte er seinen W20 auf seiner Fingerspitze. „Das ist echt unterirdisch.“ 

„Das ganze Höhlensystem ist das. Was erwartest du?“ Colm schenkte ihm ein dünnes Lächeln. „Aber Tavell fällt tatsächlich noch etwas auf. Im gesamten Lager befindet sich überraschend viel Wasser. Obwohl die Arbeiter sich eine möglichst trockene Stelle für ihr Lager gesucht haben und hier kaum Wasser von der Decke tropft, haben sich überall Pfützen gesammelt. Auch dieses Wasser ist von Kasaltpartikeln durchzogen und leuchtet in einem tiefen Purpur.“

Jesper drehte den Kopf, um einen Blick zur Karte werfen zu können. „Stärker als der See?“

Einen Moment lang musterte Colm den See, den Wylan skizziert hatte, dann nickte er. „Ja. Du glaubst fast, dass es das Purpurnste ist, das du seit langem gesehen hast. Und du hast heute wirklich viel Purpur gesehen.“

„Das gefällt mir nicht, oder?“

„Kein bisschen, nein.“ Colm schüttelte den Kopf. „Inej? Wie sieht es bei Saira aus?“

„Neunzehn.“ 

Colm nickte bedächtig. „Als du dich zu dem Klumpen begibt, bestätigt sich deine Vermutung. Es ist tatsächlich die Leiche eines Arbeiters. Sie liegt auf der Seite und ist von einer dünnen Kasaltschicht überzogen. Auf dem Rücken ist es nur ein dünnes Leuchten, doch dort, wo kasalthaltiges Wasser den Mann getroffen hat, leuchtet es hell genug, um Schatten zu werfen. Bei näherer Untersuchung erkennst du eine ganze Reihe tiefer Wunden, die offenbar von messerscharfen Klauen gerissen wurden. Es sieht aus, als habe eine riesige Kreatur Fleisch aus dem Körper gerissen und sich an den Eingeweiden gelabt. In deiner Paladinausbildung hast du gelernt, dass Tiere ihre Beute in der Regel mit einem Biss in den Nacken oder die Kehle töten, bevor sie sie fressen. Seltsamerweise suchst du an dieser Leiche jedoch vergebens nach einer solchen Verletzung.“

Inej setzte sich und griff nach ihrem Graphitstift. Schweigend machte sie sich erst Notizen und überflog das Geschriebene dann noch einmal. Nach kurzem Überlegen sagte sie: „Ich nehme eines meiner Messer und schneide die Kleidung auf, damit ich mir den Körper selbst ansehen kann. Fällt mir dadurch noch mehr auf?“

„In der Tat, ja. Zunächst einmal wirkt der Körper des Arbeiters ungewöhnlich ausgemergelt, fast so, als sei er schon länger nicht mehr bei Gesundheit gewesen. Und dann sind da noch dunkle Striemen, die sich über die Haut seines Oberkörpers ziehen.“

„Striemen? So, als hätte ihn etwas – jemand – geschlagen?“

Colm musterte die Tiefling-Figur und den Kreis, neben dem sie stand. „Ja. Es handelt sich eindeutig um Anzeichen von stumpfer Gewalt, vermutlich stark genug, um auch die Organe darunter in Mitleidenschaft zu ziehen.“

Inej nickte zufrieden und schrieb auch das nieder. Derweil wandte Colm sich an Wylan. „Pax? Du streifst durch das Schilf?“

„Ja, tue ich.“ Er griff nach seiner Spielfigur, um sie mitten ins Schilf zu bewegen. „Wenn irgendetwas durch das Schilf gegangen ist, sollte ich das erkennen können. Gibt es irgendwelche zertretenen Pflanzen oder Abdrücke im Boden?“ 

„Oh, oh ja, die gibt es. Du findest eine ganze Reihe von Pfaden, die sich durch das Schilf schlängeln. Sie stammen vermutlich von den Arbeitern, die wie ihr durch das Schilf gewatet sind. Doch da ist noch eine weitere Spur aus zertrampeltem Schilf, die deutlich breiter ist als die der Arbeiter. Folgst du ihr?“

Wylan warf einen Blick zu Jesper und Inej. Er ahnte, dass ein „Ja“ Folgen haben würde. Er machte sich nichts vor: Wenn seine Kameraden bei der Feuerstelle keine Monster fanden und sich auch nichts auf sie stürzte, lauerte die Gefahr vermutlich im Schilf. Gleichzeitig wusste er aber auch, dass sich sein kleiner, feiger Halbling nicht immer hinter seinen Kameraden verstecken konnte. Also nickte er. „Ja, warum nicht. Die anderen beiden scheinen bei der Feuerstelle ja sicher zu sein.“ 

„Gut“, antwortete Colm und klang eine Spur zu zufrieden. „Neugierig folgst du der Spur. Du bist dir sicher, dass sie von einem massigen Körper verursacht wurde und die Chancen, dass du diesen Körper siehst, bevor er dich sieht, stehen relativ gut. Tief im Schilf findest du schließlich eine plattgetrampelte Lichtung. Von dort führen weitere Pfade ins Schilf, doch etwas anderes zieht deine Aufmerksamkeit auf sich. Aus der Sicherheit des Gestrüpps beobachtet dich ein paar runder, schwarzer Augen.“

„Oh oh“, verkündete Jesper. „Er hat es gefunden.“

„Hat er“, stimmte Colm zu. „Doch bei genauerem Hinsehen wirkt das Augenpaar gar nicht so gefährlich. Der Körper, der sich hinter dem Schilf abzeichnet, ist vielleicht so groß wie ein dicker, mittelgroßer Hund. Anders als ein Hund hat das Tier jedoch keine Schnauze, sondern einen Schnabel und ein rundes, gefiedertes Gesicht. Wirf doch mal auf Naturkunde, Pax.“

„Naturkunde?“ Wylan warf einen Blick auf seinen Charakterbogen. Es dauerte einen Augenblick, bis er das gekritzelte Pflänzchen fand, das die Fähigkeit symbolisierte. Er schluckte. Obwohl ihn eine dunkle Vorahnung beschlich, griff er nach seinem Würfel.

Einen Augenblick später leuchtete ihm das Ergebnis entgegen. Wie bereits bei seinem letzten Wurf war es ein einzelner, roter Punkt. Er seufzte. „Eins … minus eins …“

Jesper schreckte hoch. Sein Würfel glitt ihm aus der Hand und polterte über den Tisch. „Minus eins? Wie, eins minus eins?!“

„Eins minus eins“, wiederholte Wylan. Zähneknirschend hob er seinen Würfel auf, um Jesper das Ergebnis zu zeigen. „Siehst du? Eins. Und auf einen meiner Statuswerte musste ich acht Punkte geben und das ist bei mir Intelligenz. Naturkunde verwendet Intelligenz, also minus eins.“

„Oh.“

Wylan nickte unglücklich.

„Eigentlich habe ich Pax bislang für überraschend clever gehalten.“

„Pax?“ Wylan zog die Augenbrauen hoch. „Pax hat einen Pakt mit dem Finsteren Gott geschlossen, während er betrunken war. Was glaubst du?“

„Hey, dafür kann er jetzt Todesstrahlen aus seinen Händen schießen. Klingt eigentlich nach einem guten Tausch.“

„Er hat auch das Bewusstsein dieses Gottes in seinem Hinterkopf. Und der ist auf Blut aus.“

Jesper zuckte mit den Achseln. „Solang es nicht Tavells Blut ist.“

Wylan öffnete den Mund, schüttelte dann aber doch nur den Kopf.

„Nun, clever oder nicht“, übernahm Colm das Wort. Hinter der Spielleiterwand hörte Wylan die Verschlüsse des Holzkistchens aufschnappen. „Selbst Pax hat schon einmal von Eulenbären gehört. Also, in dem Sinne, dass er weiß, dass es Wesen mit dem Kopf einer Eule und dem Körper eines Bären gibt. Auf Jahrmärkten kann man manchmal Plüschtiere gewinnen, die diesen Tieren nachempfunden sind. Die meisten Leute wissen, dass der Fokus bei einem echten Eulenbären weniger auf seinem seidigen Fell und mehr auf dem ausgesprochen scharfen Schnabel und den noch schärferen Klauen liegt, aber …“

„Aber Pax findet ihn niedlich, oder?“, fragte Wylan mit einem schweren Seufzen.

„Ja.“ Mit einem breiten Lächeln stellte Colm eine neue Spielfigur auf den Tisch. Es war die Miniatur eines Bären mit einem sehr euligen Gesicht. „Oh ja, das tut er.“

„Nicht nur Pax, oder?“, unterbrach Jesper sie beide und griff nach der Eulenbär-Miniatur, um sie seinen Mitspielern unter die Nase zu halten. „Oder?

Ergeben griff Wylan nach der Miniatur und musterte sie eingehend. Aus der Nähe betrachtet, konnte er überraschend viele Details sehen. Jesper hatte das eulenartige Gesicht herausgearbeitet, bis man die einzelnen Federn erkennen konnte, die die Augen umrahmten. Auch an den Armen zeichneten sich die Konturen einzelner Federn ab. Der Rest war in Fell gehüllt. Und obwohl die gesamte Figur aus kühlem Metall bestand, fühlte sie sich flauschig an.

 „Sehr“, sagte er und nickte anerkennend. „Und so detailliert. Du wirst immer besser!“

Jesper fuhr sich über den Hinterkopf und lachte dabei. „Es ist überraschend, wie leicht sowas geht, wenn du Spaß dran hast.“ 

„Jesper war wirklich sehr hilfreich“, stimmte Colm zu. Seine Worte ließen Jesper förmlich glühen. „Und ihr habt längst noch nicht alle seine Meisterwerke gesehen. Aber bevor ihr euch die ansehen könnt, hat eure Gruppe ein kleines Problem. Pax findet den Kleinen nicht nur niedlich. Er glaubt auch, sie werden nicht größer.“
 

V


 

„Leute? Ich habe was gefunden.“ 

Mit diesen Worten platzte Pax ins Lager. Dabei drückte er den Eulenbären an seine Brust, wie früher seinen Owlbert.

Tavell sah von der Kiste auf, in die er eben noch gespäht hatte. Er öffnete den Mund, doch es kam kein Wort über seine Lippen. Stumm warf er eine Konservendose, von der Pax nicht wusste, woher sie kam, über seine Schulter und blickte ans andere Ende des Lagers. Dort war Saira gerade damit beschäftigt, den Klumpen zu untersuchen. Doch als sie seine Worte hörte, hielt auch sie inne.

Pax’ Blick fiel auf den Klumpen. Was vorhin noch nach einem Stein ausgesehen hatte, war jetzt vage hautfarben. Und blutig. So. Blutig. Und war das–

Er spürte, wie ihm der Magen in die Kniekehlen rutschte. Warmer, dünner Speichel sammelte sich in seinem Mund und ließ sich doch nicht richtig schlucken.

„Was zur Mimik-“, sagten sie alle drei gleichzeitig. Sie verstummten genauso simultan. Nur der Eulenbär in seinen Armen krächzte beim Anblick des toten Körpers laut auf.

Ächzend stützte Tavell sich auf die Holzkiste vor ihm. Pax sah es nur in seinem Augenwinkel. 

„Pax?“ Tavells Stimme klang ungewohnt hoch in seinen Ohren. „Woher hast du das?“

„Ähm.“ Er blinzelte. Nur mit Mühe riss er seinen Blick von der Leiche los, neben der Saira kniete. Ohne den Eulenbären loszulassen, deutete er mit dem Daumen auf das raschelnde Schilf hinter ihm. „Der Kleine saß ganz alleine und verlassen im Schilf. Ich hatte Sorge, dass ihn das Monster erwischt.“

„Pax“, sagte Saira mit Grabesstimme. „Ich glaube, der Kleine ist das Monster.“

„Was? Das kann gar nicht sein.“

Das Schilf stimmte ihm grollend zu.

Pax erstarrte.

„Habt ihr“, stotterte er, „habt ihr das auch gehört?“

Das Letzte, was Pax sah, war Saira, die nach ihrem heiligen Hammer, Sankta Nadezhda, griff. Dann legte sich ein grollender Schatten über ihn. Schmerz folgte. Alles drehte sich.

Als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde, lag er auf dem Boden. Der kleine Eulenbär war aus seinen Armen verschwunden. Während er noch über den Boden tastete, zog ein tiefes Grollen Pax’ Aufmerksamkeit auf sich. Desorientiert folgte er dem Geräusch mit seinen Augen. Erst tauchte die verwaiste Feuerstelle in seinem Blickfeld auf, dann ein riesiger, dunkler Schemen. Erst erkannte Pax Fell, dann Federn. Nur langsam dämmerte es ihm, dass das da auch ein Eulenbär war – nur zwanzigmal so groß wie sein neuer, pelziger Freund. Er stöhnte. Das erklärte, warum seine Freunde so entsetzt gewesen waren.

Irgendwo hinter ihm ertönten die Klänge von Tavells Laute. Magie ergriff von der Feuerstelle vor ihm Besitz und tauchte jeden Gegenstand in grelles, grünes Licht. Das gleiche Licht erfasste auch den Eulenbären, tauchte jede Feder, jedes Haar, und sogar den Schnabel und die Krallen in harschen Kontrast zu der Umgebung.

„Ich würde sagen, du hast unser Monster gefunden“, murrte Saira zu seiner Rechten. Noch während sie sprach, hob sie Sankta Nadezhda. Mit dem gerechten Zorn einer Paladin stürzte sie sich auf den Eulenbären. Ihr Hammer traf. Hart.

Pax nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln. Er blickte von Saira und dem Eulenbären zu Tavell, der hinter einem Stalagmiten Stellung bezogen hatte, die Laute in der Hand.

Kurzentschlossen tat Pax es ihm gleich und suchte hinter einer der anderen Steinsäulen Deckung. Im Schutz des kühlen Steins streckte er den rechten Arm aus und richtete ihn auf den Eulenbären. Uralte Magie pulsierte durch seine Adern, sammelte sich. Die Frage, ob es wirklich richtig war, die Kreatur anzugreifen, wo sie doch offensichtlich ein Baby hatte, streifte ihn, doch da war es längst zu spät. Die Magie entlud sich. Wie von selbst fand sie ihr Ziel. Einmal. Zweimal. 

Der Eulenbär brüllte, schlug nach Saira und pickte, verfehlte sie einmal, traf beim zweiten Mal nur ihren Schild. Jetzt, wo sie alle Stellung bezogen hatten, funktionieren konnten, wie das eingespielte Team, das sie mittlerweile waren, war es beinahe schon erschreckend einfach. Was folgte, war ein Schauer von Hammerschlägen, fliegenden Dolchen und Magie.

 
 

Der Kampf endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Der Eulenbär bäumte sich ein letztes Mal auf, versuchte nach Saira zu schnappen und verfehlte sie doch. Kraftlos brach er in sich zusammen. Dann rührte er sich nicht mehr.

Japsend ließ Pax den Kopf gegen den Stalagmiten in seinem Rücken sinken. Für einen Moment schloss er die Augen und lauschte seinem Herzschlag. 

Das hätte schiefgehen können.

Eigentlich war es schiefgegangen.

Seine Schultern pochte noch immer, dort, wo ihn die Pranke getroffen hatte. Jetzt, wo er und seine Gefährten sich nicht mehr darauf konzentrieren mussten, zu überleben, konnte er die Standpauke, die sich gerade sicher über ihm zusammenbraute, bereits spüren wie schwüle Gewitterluft. Einen Moment noch ignorierte er sie, ignorierte alles, alles, bis auf den kühlen, rauen Stein in seinem Rücken und die Wasserspritzer, die über ihn nieder rieselten, wann immer ein Tropfen die Spitze des Stalagmiten traf.

Erst, als Saira die Stimme erhob und nach seinem Befinden fragte, riss er sich los. Mühsam rappelte er sich auf. Saira kniete da längst neben dem Eulenbären. Sankta Nadezhda lag in Griffweite hinter ihr, während sie mit beiden Händen über das Fell der Kreatur tastete. Mit eingezogenem Kopf gesellte er sich zu ihr.

„Das war ganz schön knapp“, sagte er.

Hinter sich hörte er Tavell lachen. Das war die einzige Warnung, die er hatte – dann schlug selbiger ihm auf die Schulter. Es war eine freundschaftliche Geste, das wusste Pax, aber das ließ sie kaum weniger Schmerzen. Er zuckte zusammen.

„Knapp sagt er“, sagte Tavell, immer noch lachend. „Knapp würde ich das nicht nennen. Eher … antiklimaktisch.“

„Antiklimaktisch?“, wiederholte Pax. „Was war daran bitte antiklimaktisch?“

„Die einzige, die ein paar Treffer einstecken musste, war Saira und– oh. War das eben die Schulter, wo dich der Eulenbär erwischt hat?“

Zur Antwort starrte Pax ihn finster an. „Was glaubst du?“

„Ähm, ‘tschuldige?“

Pax starrte noch ein wenig weiter, nickte aber schließlich. 

„Schon gut.“ Ein Klaps war vermutlich besser als die Standpauke. Auch wenn es seltsam war, dass keine Standpauke kam. Er blickte zu Saira, die noch immer mit dem Eulenbären beschäftigt war. „Saira? Was ist los?“

Saira blickte auf. Sie runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Tavell hat recht.“

„Habe ich?“

„Der Kampf war leichter, als er hätte sein sollen“, sagte sie. „Und … es ist seltsam. Dieser Bär ist bis auf die Knochen abgemagert.“

„Moment. Das heißt, das war nur eine halbe Portion?“, fragte Pax. Unglücklich rieb er sich die Schulter. Dafür, dass der Eulenbär nicht mit voller Kraft zugelangt hatte, hatte der Hieb trotzdem erstaunlich weh getan.

„Korrekt.“ Sie ließ die Hände sinken und wandte sich ihnen zu. „Und da ist noch etwas.“

Pax warf Tavell einen Blick zu, doch der zuckte nur mit den Achseln.

„Schau mich nicht so an“, sagte er. „Ich mag diesen Tonfall genauso wenig wie du.“

Saira hob ihren Arm und deutete auf die Leiche, die noch immer neben dem Stalagmiten lag. „Ich denke nicht, dass es der Bär war, der diesen Arbeiter getötet hat.“

„Nicht?“ Pax folgte ihrem Fingerzeig, bereute es jedoch augenblicklich. Sofort wurde ihm wieder flau im Magen. Er schlug sich die Hand vor den Mund. „Was dann?“

„Ich … weiß es nicht. Aber die Bissspuren wurden ihm erst nach dem Tod zugefügt. Ich glaube, dass er an inneren Verletzungen gestorben ist. Irgendwas hat ihn geschlagen. Mit Wucht.“

„Also doch Killergase?“, fragte Tavell trocken. Während er sprach, verschränkte er die Arme vor seiner Brust. Fast so, als wolle er die Antwort gar nicht wirklich hören.

Pax zog die Augenbrauen zusammen. „Aber ich male den Finsteren Gott an die Wand, ja?“

„Du hast mich halt überzeugt, okay?“ Tavell stockte. Einen Moment lang legte er den Kopf schief, dann drehte er sich um, langsam, fast so, als würde er nach etwas Ausschau halten. „Da fällt mir ein“, murmelte er. „Ich wollte dich darum bitten, dir etwas anzusehen.“

„Mich?“

„Hey, du bist hier der Experte für gruselige Magie. Ich schreibe hier normalerweise nur Lieder!“ Tavell warf die Arme in die Luft. Kurz verharrte er so, doch weder Pax noch Saira ließen sich auf seine Theatralik ein. Er seufzte. „Bitte?“

„Ich habe nur einen Pakt mit einem gruseligen Gott geschlossen. Das bedeutet nicht, dass ich ein Experte–“ Pax seufzte ergeben. „Fein. Schlimmer, als von einem riesigen Eulenbären überrannt zu werden, kann es schon nicht werden.“

 
 

Tavell führte ihn nicht weit weg – nur bis zum anderen Ende der Feuerstelle. Dort zeigte er auf eine der zahlreichen Pfützen, die sich im Lager gesammelt hatten. 

Mit einem skeptischen Blick hockte Pax sich daneben. „Eine Pfütze?“

„Pfützen“, korrigierte Tavell ihn. „Sie sind hier überall, obwohl das vermutlich die einzige Stelle in dieser gottverdammten Höhle ist, an der es nicht von der Decke tropft. Und siehst du die Farbe? Und sag jetzt bitte nicht ‘Purpur’!“

„Nun, es ist purpur“, sagte Pax, doch er verkniff sich das herausfordernde Grinsen. Auch, weil er spüren konnte, was Tavell meinte. Oder besser: Weil die dunkle Ahnung, die am Rande seines Bewusstseins lauerte, es spüren konnte. Sie pochte in seinem Hinterkopf und pulsierte in seinem Blut. Gierig. Herausfordernd. Drohend.

„Pax“, murrte Tavell, der davon freilich nichts mitbekam.

„Schon gut, schon gut!“ Zur Beschwichtigung hob er die Hände. „Ich denke … wir sollten gehen.“

„Also spürst du es auch?“

„Nicht ich“, sagte Pax vorsichtig. „Aber du erinnerst dich an die dunkle Ahnung, von der ich dir erzählt habe? Die, die mir seit diesem feuchtfröhlichen Abend in der Verschollenen Ziege im Nacken sitzt?“

„Die, die mich seit diesem Schmählied auf der Abschussliste hat?“

„Die, die jeden auf der Abschussliste hat.“ Pax verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber ja, genau die. Ich sage doch, wir sollten–“

Die Pfütze erzitterte. Es war nicht mehr als ein kleines Beben, ein leichtes Kräuseln der Oberfläche, das es in einer seichten Pfütze nicht hätte geben sollen. Erst glaubte Pax, dass er sich die seichten Wellen nur einbildet hatte, doch dann geschah es noch einmal. Und nochmal. 

Und es war nicht die einzige. Auch die nächste Pfütze bebte, genauso wie die dahinter. Die Wellen wurden stärker, platschten, brodelten, schäumten. Einzelne Wassertropfen begannen, der Physik zu trotzen und erhoben sich in die Luft, sammelten sich dort, verbanden sich miteinander. Rhythmische Bewegungen pulsierten durch die Flüssigkeit, wie ein Herzschlag. Das Kasalt, das sich mit dem Wasser erhob, ließ es glitzern wie Blut.

„-gehen.“

Pax drehte sich um. Gerade noch rechtzeitig hastete er davon, dann schlug eine geballte, purpurne Faust hinter ihm ein, stark genug, um das Gestein darunter splittern zu lassen. Hinter sich hörte er Tavell schreien. Er blickte nicht zurück. Noch nicht. So eilig wie seine Halblingbeine und die schiere Panik, die von ihm Besitz ergriffen hatte, es zuließen, hastete er hinter den nächsten Stalagmiten. Erst, als er den kühlen Stein in seinem Rücken spürte, wagte er es, sich umzudrehen. Erleichtert stellte er fest, dass Tavell noch stand. Zwar wirkte er etwas benommen, doch er friemelte bereits am Gurt seiner Laute. Hinter ihm griff Saira den Hammer. 

Pax atmete durch. Dann hob er die Hände. Er rief und die Magie antwortete. Kalt und kalkulierend pulsierte sie durch sein Blut und schoss in zwei mächtigen Strahlen auf sein Ziel zu. Das Wasser erbebte. Für einen Moment leuchtete es nicht purpur, sondern erst lila, dann blau – die Farbe seines Zaubers. Doch genauso plötzlich, wie es die Farbe gewechselt hatte, erzitterte es. Fast so, als würde es sich schütteln. Das Purpur kehrte zurück, greller als zuvor. 

Die Erkenntnis, dass das Ding Pax gesehen hatte, erfasste ihn. Eilig duckte er sich wieder hinter den Stalagmiten. Es war zu spät. Das wusste er. Er spürte es. Er hörte es. Es klang wie Wellen, die gegen einen Steinstrand schlugen. Ein tiefes Grollen unterbrach das Rauschen und ließ den Boden beben. Sankta Nadezhdas heiliger Zorn. Die ersten Klänge von Tavells Laute erklangen in der Stille. Dann war es wieder da. Erst zaghaft, dann laut und lauter und immer lauter. Dann war es über ihm. Eine Welle purpurfarbenes Wasser schwappte über ihn hinweg, riss den Stalagmiten fort, riss ihn mit–

Gerade noch rechtzeitig presste Pax die Lippen aufeinander. Seine Welt färbte sich purpur. Er konnte Tavell und Saira sehen, die Waffen in der Hand, doch er konnte sie nicht hören. Da war nur das Geräusch von Wasser in seinen Ohren. Ein dumpfes Rauschen, das er sonst nur in der Badewanne hörte. Verzweifelt schlug Pax um sich, doch seine Arme glitten durch die Flüssigkeit wie durch sein liebstes Wildbeergelee. Er rief die Magie und für einen furchtbar langen Augenblick glaubte er, der Finstere Gott sei seiner endgültig überdrüssig. Dann antwortete er doch. Blaue Lichtstrahlen fuhren durch das Wasser, rissen die Flüssigkeit mit sich, bis da ein Loch war.

Es schloss sich, bevor Pax dem Loch entgegen paddeln konnte.

Er versuchte es nochmal. Und nochmal. Nur vage war er sich Sairas Hammer bewusst, der wieder und wieder durch den Feind fuhr wie ein Buttermesser. Schwärze sammelte sich in seinem Augenwinkel und wurde mit jedem Moment dunkler, kräftiger, genauso, wie das Bedürfnis zu atmen. Seine Bewegungen wurden träger. Die Magie schwächer.

Vielleicht, dachte Pax, als sich die Dunkelheit auch um seinen Hals schloss, forderte der Finstere Gott jetzt seinen Teil des Paktes ein.

Ein Ruck ging durch ihn, dann traf ein Schlag seinen Rücken.

Trotz seines festen Entschlusses, den Mund nicht zu öffnen, schrie Pax auf.

Das Wasser blieb aus. Vorsichtig nahm er einen Atemzug, dann noch einen. Bevor er sich versah, japste er, hustete, lachte.

Eine Stimme erklang neben ihm, doch Pax verstand sie nicht. Er blinzelte.

Über ihm hingen Stalaktiten, grau und feucht, und etwas, das wie dunkles Haar aussah. Er blinzelte erneut.

Zu dem Haar gesellten sich zwei blutrote Hörner, dann eine Rüstung mit grausig rotem Schimmer.

„Pax!“, knurrte Saira. „Das ist nicht der richtige Augenblick für– für was auch immer du hier tust!“

„Ich lebe noch!“, japste er zurück. „Ich– Ich finde, das ist– Grund genug!“

Statt zu antworten, griff Saira nach seiner Schulter – der gesunden – und zog an ihm. Einen Augenblick später donnerte Wasser dorthin, wo er eben noch gelegen hatte.

Pax schluckte. „Vergiss, was ich gerade gesagt habe.“

Saira antwortete ihm mit einem finsteren Blick. Bevor sie etwas hätte erwidern können, hallte Tavells Stimme durch die Höhle.

„Ich sagte!“, brüllte er. „Aus! Dem! Weg!“

Pax und Saira tauschten einen Blick. Es war, als würden sie sich zeitgleich an einen von Tavells Lieblingszaubern erinnern. Saira wurde so blass, wie Pax sich fühlte. Schlagartig setzten sie sich beide in Bewegung, robbten, taumelten, schlitterten. Keinen Augenblick zu früh.

Knisternde Statik erfüllte die Luft, dann krachte der Donner. Laut genug, um Pax’ Ohren klingeln zu lassen. 

Erst, als Pax das Schilf erreichte, hielt er inne. Zögerlich warf er einen Blick über die Schulter. Gerade noch rechtzeitig, um das Wasser beben zu sehen. Es war das letzte Mal. Als sei nie etwas geschehen, fiel es zu Boden und landete mit einem lauten Platschen.

Dann war es still.

Pax blinzelte.

Lachen brodelte in ihm auf, wieder. Er lachte und lachte, bis ihm schlecht wurde und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Antiklimaktisch, hatte Tavell gesagt. Antiklimaktisch!

Das nächste Mal würde er ihm sagen, dass er seine verdammte, antiklimaktische Klappe halten sollte! Das nächste Mal–

Schmerz riss ihn aus den Gedanken. Scharf, aber nicht stark. Eher … probend. Vorsichtig. 

Er hob den Kopf – und fand sich vor einem scharfen Schnabel wieder.

„Du.“

Zur Antwort öffnete das Eulenbärjunge den Schnabel.

„Nein.“

Es krächzte empört und öffnete den Schnabel erneut. Sie tauschten einen langen Blick. Es war schließlich Pax, der einknickte. Missmutig griff er in seine Tasche und zog einen durchgeweichten Streifen Trockenfleisch hervor. 

„Hier.“

Mit dem Schnabel voran stürzte sich das Eulenbärjunge auf den Streifen und schlang ihn hinunter. Kaum hatte es geschluckt, richtete es seine Augen erneut auf ihn. Neugierig. Und hungrig.

„Du hattest genug davon, weißt du?“

Dem Krächzen zu urteilen, das folgte, lautete die Antwort „Nein.“
 

VI


 

„Wir sollten ihn Beule nennen“, sagte Jesper später, während er seinen W20 ein letztes Mal ins Kerzenlicht hielt und die glitzernden Ziffern betrachtete. „B für Bär und eule für, ach, du weißt schon.“

Wylan seufzte. Da hatte er ja etwas angestellt. Und das nur, weil er sich darauf eingelassen hatte, die Nat1 auszuspielen. „Wir wissen noch nicht einmal, ob wir ihn adoptieren werden, Jes.“

„Er hat dich angepickt.“ Über seinen Würfel hinweg zwinkerte Jesper ihm zu. „Du gehörst dem Kleinen quasi!“

Eigentlich mochte Wylan die Ruhe nach einer Session, die auf den Abschied der anderen folgte. Nur er, Jesper, und der Salon, der für den nächsten Tag wieder - ja, salonfähig gemacht wurde. Heute jedoch?

Er rieb sich über die Schläfen und murrte: „Ich dachte, wir wollen ihn adoptieren, nicht umgekehrt.“

Heute jedoch wünschte er sich, dass zumindest Colm sich noch nicht zur Nachtruhe verabschiedet hätte. Oder Inej zufällig etwas vergessen hatte und just in diesem Moment wieder lautlos zur Tür hereinkam, um Jespers Enthusiasmus über Beule zu unterbrechen. Aber nein.

„Also wollen wir ihn adoptieren.“ Grinsend ließ Jesper seinen Würfel zu den anderen in ein Ledersäckchen fallen.

„Das habe ich nicht–“ Wylan stützte die Arme auf den Tisch und starrte seinen Freund finster an. „Jes!“

Zur Antwort lachte Jesper nur. Ergeben hob er die Hände. „Schon gut. Schon gut! Ich weiß sowieso noch nicht, welche Vorstellung mir mehr Angst macht. Dass Kaz nein zu Beule sagt oder dass er ja sagt.“

Sie tauschten einen Blick und seufzten schließlich zusammen auf. 

„Dass er ja sagt“, sagte Jesper.

„Dass er ja sagt“, stimmte Wylan zu.

Einen Moment lang schwiegen sie beide. Wylan nutzte die Gelegenheit, um sich wieder dem Aufräumen zuzuwenden. Behutsam griff er nach der Höhlenkarte und rollte sie zusammen. 

„Vielleicht sollten wir einfach abwarten“, sagte er, während er nach einem Band fischte, um die Karte zu verschließen. „So, wie Inej vorhin klang, stehen die Chancen gut, dass er noch vor der nächsten Sitzung selbst in diesem Kanal landet, über den er seine Zwischenhändler so gerne hält.“

Jesper prustete. „Ich glaube, als Inej von Teamstärkungsmaßnahmen sprach, meinte sie das anders.“

„Ja, aber da hat er sich auch noch blicken lassen“, hielt Wylan dagegen.

„Vielleicht sollten wir einfach Nina rekrutieren.“

„Nina.“

Auf der anderen Seite des Tisches zuckte Jesper mit den Achseln. „Zumindest wäre unsere Abenteurertruppe wieder vollständig. Außerdem könnten Kaz und Inej sich dann offiziell nach den Sessions treffen. Ohne, dass er sich davor von seiner sozialen Seite zeigen muss.“

„Schon.“ Wylan legte die Karte beiseite. Er blickte auf. „Aber wie stellst du dir das vor? Sollen wir einen Brief nach Ravka schicken? Euer Majestät, bitte sendet Nina Zenik zurück nach Ketterdam. Wir benötigen unsere Hexe, um Kerker und Katastrophen zu spielen. Grüße und Küsse?“

Jesper zuckte mit den Achseln. „Warum nicht? Ich meine, was ist das Schlimmste, das passieren könnte? Dass Nikolai Blut leckt und sie für seinen eigenen Tisch anwirbt?“ Er stockte. Statt nach dem Regelwerk zu greifen, das Colm hatte liegen lassen, ließ er die Hand sinken und starrte Wylan an. „Urgh, nein. Du hast recht. Besser nicht.“

Wylan nickte klamm. So wenig er Nikolai auch kannte, eines war ihm doch klar: Wenn irgendein Zar von Ravka etwas von Teamstärkungsmaßnahmen hielt, dann er. Und wenn nicht er, dann einer seiner Generäle.

„Ich meine, wir können ihr trotzdem schreiben“, schlug er vor. „Ich bin mir sicher, die Idee wird ihr gefallen.“

„Natürlich wird sie das“, sagte Jesper im Brustton der Überzeugung. „Verdammt, die Idee gefällt ja sogar mir. Ich bin immer noch überrascht, wie gut euer Plan aufgegangen ist.“

Wylan erstarrte. „Unser was?“

„Jetzt tu nicht so.“ Jesper schnaubte, aber er klang nicht verärgert dabei. „Wir wissen alle, dass ihr mich in erster Linie deshalb zu Kerker und Katastrophen eingeladen habt, um mich von den Spielhallen fernzuhalten.“

„Wir spielen Kerker und Katastrophen nicht nur, um dich von irgendwelchen Spielhallen fernzuhalten.“

„Bingo. Nicht nur.“ Jesper schenkte ihm ein Grinsen, während er die Würfelsäckchen zusammensammelte. „Weißt du, was das Gruselige daran ist? Es funktioniert. Und zwar erschreckend gut. Es macht mir Spaß. Und damit meine ich nicht nur die Sessions selbst.“

„Heißt das, dass du dich spätestens morgen Abend wieder in deinem Arbeitszimmer verkriechen wirst, um die nächsten Miniaturen zu machen?“, fragte Wylan und warf Jesper unter hochgezogenen Augenbrauen einen herausfordernden Blick zu.

„Ja.“ Jesper strahlte förmlich. „Vater hat mir vorhin das Monsterhandbuch in die Hand gedrückt. Ich soll mich austoben, hat er gesagt.“

Wylan riss gespielt-schockiert die Augen auf. „Muss ich Angst haben?“

„Du? Nein“, flötete Jesper und tätschelte ihm aufmunternd die Schulter. „Pax? Oh ja.“

„Jes!“

Sie tauschten einen Blick, dann lachten sie beide.

„Hey“, sagte Jesper schließlich, „willst du mitkommen? Wir könnten uns gemeinsam verkriechen.“

„Wirst du dann überhaupt noch dazu kommen, an irgendwelchen Miniaturen zu arbeiten?“

„Vielleicht.“
 



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  _Risa_
2023-07-09T21:49:10+00:00 09.07.2023 23:49
>„Wir sollten ihn Beule nennen“, sagte Jesper später, während er seinen W20 ein letztes Mal ins Kerzenlicht hielt und die glitzernden Ziffern betrachtete. „B für Bär und eule für, ach, du weißt schon.“<
Haha. :D
Vielleicht aber nicht der beste Name.
Und natürlich will man zu Ende noch ein Pet adoptieren. Haben auch schon Kinder und alles adoptiert, Pets sind da natürlich der Klassiker und ein Muss.
Ich weiß nicht, ob die noch dazu kommen Miniaturen zu machen, bin mir nicht sicher, ob die anderes im Sinne haben. :D

Vielen Dank für die Wichtelgeschichte und sorry, dass die letzten drei Kommentare etwas verspätet kamen.
Antwort von: Arcturus
16.07.2023 21:13
Vielleicht fällt ihnen ja noch was Besseres ein. Aber ich fürchte ja, wenn Beule groß ist, wird er viele Beulen verursachen. :D

Und natürlich muss man Pets adoptieren. Ich hatte schon Spieler, die haben so ein paar Mini-Displacer-Beasts mit grooooßen Augen angeguckt.

Sie werden nicht alles adoptieren, das ihnen über den Weg läuft. Glaube ich.

Gern geschehen. Hat Spaß gemacht~ :D
Danke auch für deine Kommentare!
Von:  _Risa_
2023-07-09T21:40:47+00:00 09.07.2023 23:40
Ich freue mich, dass du einen Owlbear miteinbringst, schade dass der Kampf dann so schnell endet. Aber dadurch, dass sie ein eingespieltes Team sind, auch verständlich. Mag es hier, wie es die Charaktere dahinter abbildet, die ebenfalls eingespielt aufeinander sind und gut miteinander als Team funktionieren.
Der Owlbear hier war ja auch nicht der Hauptgegner und ich finde es gut, wie du die Spannung für das letzte Kapitel hier aufbaust. Mag deine Beschreibungen dazu, lässt sich definitiv sehr gut und flüssig lesen.




Antwort von: Arcturus
16.07.2023 21:10
Ja, der Owlbear war ja nur die, öhm, Vorspeise. Der Kampf sollte leicht und spielend wirken. Für mehr Wumms bei Kampf 2. :D
Von:  _Risa_
2023-07-09T21:29:36+00:00 09.07.2023 23:29
Ich sollte mal bei dir fertigkommentieren.

Da hat Jesper eine eins gewürfelt, oh no. xD
Ich mag diese Diskussionen zwischen den Spielenden wie man weiterhin vorgeht und sich strategische Überlegungen zusammenmacht. Metagaming much, hu. Aber auch interessante Gespräche darüber wie sie sich die Leiche ansehen etc..., das wirkt auf mich sehr echt.

Find's auch noch immer gewöhnungsbedürftig deutsche Begriffe wie Spielleiterwand zu lesen, aber andererseits wäre das auch fehl am Platz im Six of Crows-Universum neumodische, englische Begriffe zu lesen.

>„So viele, wie du willst, Jes. Aber richte dich darauf ein, jeden davon überprüfen zu lassen, bevor du sie zur nächsten Sitzung mitbringst.“<
Ich würde auch sofort vermuten, dass Jesper die zinkt. xD
Antwort von: Arcturus
16.07.2023 21:09
Alles gut. Ich hab mir mit den Antworten ja auch Zeit gelassen. ^^;

Ja. Jesper hängt doch so an einen Erfolgen. Wo er doch sonst immer verliert. (Ich fürchte, das ist bei ihm tatsächlich was, das im DnD-Kontext gut funktionieren kann, aber bei dem man n Auge drauf haben muss.)
(Und ja. Er würde zinken, wenn man ihn lässt. Kaz auch.)

Das war für mich auch ungewohnt. Aber englische Begriffe hätten echt nicht gepasst. Ich meine, eigentlich dürften sie ohnehin Kerch sprechen. Und da dann manche begriffe deutsch zu übersetzen und andere englisch zu lassen ... das hätte vermutlich nicht gepasst. Am seltsamsten finde ich W20 und so. @_@
Von:  _Risa_
2023-06-21T00:28:43+00:00 21.06.2023 02:28
Ahja, die DnD-Gruppe, die ewig vor einer Tür steht. Ja, wer kennt das nicht. Liebe es, wie sich das DnD-Feeling hier in vielen Szenen durchschlägt. xD

Finde es auch sehr interessant, dass sie darüber diskutieren, ob sie sich die Leute im Bergwerk nicht bloß aufgrund der Gase einbilden.

Und Sairas Persönlichkeit gibt Inej gut wieder und sie fügt sich gut in die Gruppe und Dialoge ein.

Zu Ende mag ich das Bild sehr, das du mit dieser Gegensätzlichkeit erzeugst, zum einen der purpurfarbene Untergrundsee mit Seerosen und zum anderen der Gestank nach Verwesung.
Antwort von: Arcturus
16.07.2023 21:04
Diskussionen, Vermutungen und wirre Verschwörungstheorien sind doch das wichtigste, oder etwa nicht? 😂

Bei Inej wollte ich mit dem PC relativ nah am Charakter bleiben, aber dringend eine andere Nische als Assassin. Und ich finde, Paladin passt zu ihr. Da kann sie ihren Beschützerdrang und so prima ausleben.
Von:  _Risa_
2023-06-18T20:56:32+00:00 18.06.2023 22:56
Ich mag den Alias-Namen Kerker und Katastrophen. xD Nehm mal an, das ist Inej ins Auge gesprungen.

Und natürlich, das Metagame und die Besprechungen außerhalb des eigentlichen Spiels haha eigentlich hatte meine Gruppe(n) sich auch ausgemacht das sein zu lassen, aber wer hält sich schon so richtig daran.

Find ich auch nett, dass der Vater der DM ist. Die Gespräche am Tisch fühlen sich halt wirklich sehr nach DnD an, also nehm ich an du weißt wovon du schreibst und selbst schonmal gespielt.

Auch die Charaktere handeln sehr IC und daher macht mir das besonders Spaß und Jesper und Wylan zusammen sind cute. <3
Antwort von: Arcturus
16.07.2023 21:02
Jep. Vermutlich "Kerker und Katastrophen? ... Ja. Ja, das passt. Nehm ich."

Ich habe nichts gegen Metagaming, solang es im Rahmen bleibt. Man spielt ja doch ein Spiel, komplett ausklammern kann man das nie.

Es freut mich, dass die Charaktere IC sind. Ich hab das Pairing tatsächlich noch nie geschrieben und war daher n kleines bisschen in Sorge, ob ich die Chaoten treffe.

Und ja, DnD hatte ich auch schon ne Runde. Ansonsten bin ich in der Regel der Gamemaster. (FATE haben wir schon probiert, aber das mochte ich nicht. Open Legends fand ich besser. Und ich würde gerne mal Blades in the Dark probieren.)
Von:  _Risa_
2023-06-18T20:38:54+00:00 18.06.2023 22:38
Als ich das Dokument nach der Verteilung geöffnet habe, dachte ich schon "cool, liest sich nach dnd, gibt es auch Spielende?" Und ja, die gibt es offensichtlich wie ich dann gesehen habe und ich konnte es mir schon etwas denken, tbh. Liebe diese Kombi. xD

Den Anfang der Geschichte finde ich sehr gelungen beschrieben. Also, ich hab Hyperfantasie I guess und ich hab den Eindruck, als wäre ich selbst vor Ort. Also ist dir Beschreibung wirklich gelungen.

Die Einführung der Charaktere gefällt mir ebenfalls sehr und man kann sich vor allem mit dem Kontext dazu welches Crossover man vor sich hat, schon denken wer wen spielt. Der Dialog wirkt auch sehr lebendig und macht Spaß zum Lesen. :D
Antwort von: Arcturus
16.07.2023 20:59
Dann habe ich mir ja das richtige aus der Liste gefischt. Ich hatte auch viel Spaß am Schreiben. Auch, weil ich schon immer ne DnD-Runde schreiben wollte. :D

Und perfekt, wenn man die Spieler schon an ihren PCs erkennt. Das auszugrübeln hat doch n bissl gedauert.


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