Zum Inhalt der Seite

Meister-Rune

Magister Magicae 13
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Wiedersehen

Waleri sah gerade noch aus den Augenwinkeln etwas durch das geöffnete Fenster seines kleinen Häuschens hereinsegeln, dann sackten seine Kinder beide ohnmächtig zu Boden. Seine Frau brachte immerhin noch einen erschrockenen Aufschrei zustande und hechtete einige Schritte auf ihre Kinder zu, bevor auch sie die Umnachtung holte. Was immer es war, es brauchte wohl je nach Körpergröße seine Zeit um zu wirken.

Als nächstes fühlte Waleri sich von unsichtbaren Kräften an Händen und Füßen gepackt und vom Stuhl gerissen. Mangels Körperkoordination wischte er dabei seinen Teller mit vom Tisch. Essensreste verteilten sich auf den Holzdielen. Er wurde regelrecht bäuchlings auf dem Fußboden gekreuzigt und keuchte halb schockiert, halb schmerzhaft auf. Die ungebremste Bruchlandung auf dem Boden war nicht eben sanft gewesen.
 

Ein, zwei Sekunden war Ruhe, in denen Waleri sich wieder zu sortieren versuchte.

Dann gab sich der Angreifer endlich zu erkennen. Gemächlich und absolut gelassen schlenderte er ins Zimmer herein.

Waleri stöhnte bei diesem Anblick mürrisch auf und stellte seine reflexartige Gegenwehr gegen den Fesselzauber ein. "Victor ...", brummte er, als er den schwarzen Ledermantel und die langen, schwarzen Haare natürlich sofort einordnen konnte.

Victor antwortete nicht, sondern nahm erst in Ruhe die Frau und die Kinder in Augenschein. Eher aus Neugier als aus Sorge, wie man sehr wohl merkte. Er hatte noch nie eine Elasmotherium-Frau gesehen. Genau wie die männlichen Vertreter dieser Art zeichneten sie sich durch eine breitschultrige Bodybuilder-Statur aus.

"Du liebst große Auftritte, oder?", maulte Waleri beleidigt und zog an den unsichtbaren Fesseln, die ihn auf dem Boden festhielten wie auf einer Streckbank. Es war offenbar Bannmagie, aber wesentlich stärker und mächtiger als alles, was er je von Vladislav gewohnt gewesen war.

Victors humorloser, regelrecht kalter Blick richtete sich auf ihn.

"Meine e-mail ist also angekommen, ja?", plapperte Waleri weiter.

"Ja, ist sie."

Waleri wurde es etwas mulmig, als er die Pistole entdeckte, die Victor in der Hand hielt. Sie war nicht direkt auf ihn gerichtet, verbreitete aber dennoch eine unangenehme Macht und fehlende Kooperationsbereitschaft. Vielleicht war das Ziel ja gar nicht er selber, sondern seine Frau. Oder noch schlimmer, eines seiner Kinder. Dem ehemaligen Vize war inzwischen alles zuzutrauen. Victor ging vor ihm in die Hocke, die Unterarme samt Pistole über den Knien verschränkt, und schaute ihm direkt ins Gesicht.

"Du hättest einfach an der Tür klingeln können", beschwerte sich der Hühne.

"Sicher nicht! Wenn ich mich schon mit dir befassen muss, will ich dich in einer Lage sehen, in der dir deine Zeitpuffer-Fähigkeit nichts nützt." Er deutete auf die am Boden fixierten Hände seines Gegenübers. "Jetzt kannst du von mir aus die Zeit anhalten, bis du schwarz wirst. An mich kommst du trotzdem nicht ran."

Waleri seufzte unmerklich. Neben diesen eiskalten Augen nahm er insgeheim auch zur Kenntnis, dass Victor immer noch aussah wie 21. So viele Jahrzehnte waren seit damals vergangen, aber Victor schien seither nicht einen Tag gealtert zu sein.

"Ich habe dir gesagt, dass du tot bist, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Hab ich mich da irgendwie undeutlich ausgedrückt?", wollte Victor finster wissen. Er sah wirklich aus, als würde er Waleri jeden Moment eine Kugel in den Schädel pusten. Er war absolut nicht amüsiert darüber, hergerufen worden zu sein.

"Glaubst du denn, ich habe zum Spaß versucht, dich zu erreichen?"

"Spaß wohl kaum. Für gewöhnlich muss ich den Leuten, die nach mir suchen, dunklere Beweggründe unterstellen. ... Wie auch immer. Bevor ich dich abknalle, sollte ich mir wohl wenigstens noch anhören, was du wolltest. Der Höflichkeit halber. Also rede. Ich bin ganz Ohr." Entgegen dieser Behauptung stand Victor wieder auf und begann desinteressiert im Zimmer herum zu laufen. Er drehte eines der ohnmächtigen Kinder auf den Rücken, als wolle er sehen, welche Brut ein Typ wie Waleri wohl zeugen mochte. Selbst im Alter von drei, vier Jahren waren das schon ziemlich große, kräftige Rabauken, die zwischen anderen Kindergartenkindern wie Schlägertypen wirken mussten und sich ganz sicher nicht unterbuttern ließen.

Waleri musste sich hart am Riemen reißen, nicht zu protestieren, oder Victor zu sagen, dass er seine dreckigen Finger von den Kindern lassen sollte. Der machte jedenfalls nicht den Eindruck, als würde er das Kind süß finden. Ob Victor Kinder überhaupt mochte? Waleri hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, aber darauf vertrauen würde er lieber nicht. Victor hatte schließlich etliche davon auf dem Gewissen. "Du hättest einfach per e-mail antworten können, wenn du mich nicht sehen willst. Wie hast du mich überhaupt gefunden?"

"Das Wort 'gefunden' impliziert ja, dass ich dich vorher hätte suchen müssen. Ich darf dir versichern, dass das seit Vladislavs Tod nie mehr der Fall war. - Aber du solltest lieber aufhören, Zeit zu schinden. Ich werde dich umlegen, sobald ich den Eindruck habe, dass aus dir nichts Wichtiges mehr rauszuholen ist. Nur, dass wir uns da einig sind."

"Hast du wirklich so einen Hass auf mich?"

Genervt fuhr der Hänfling zu ihm herum, hob die Knarre und schoss. Die Kugel pfiff so dicht an Waleris Kopf vorbei, dass er den Streifschuss an der Schläfe spürte. Mit einem leisen, aber schmerzhaften Aufschrei zog der Muskelprotz den Kopf zwischen die Arme. Die Kugel heulte als Querschläger davon. Glücklicherweise in eine andere Richtung, statt direkt in Waleris Schulter. Der ließ ein leises Fluchen hören. "Die nächste trifft", versprach Victor kalt.

Ja. Und dass die erste NICHT getroffen hatte, sollte wohl Beweis genug sein, wie Victor zu ihm stand, dachte Waleri grummelig. Jemand wie Victor, der Leute über mehr als einhundert Meter Entfernung mit einer simplen Faustfeuerwaffe wegrußte, schoss auf einen halben Meter nicht daneben. Er korrigierte seine fatale Fehleinschätzung. Er hatte den ehemaligen Motus-Vize als fröhlichen, stets zum Herumalbern aufgelegten Mann kennengelernt, der nur in den kaltblütigen Modus überging, wenn die Situation nicht mehr anders zu regeln war. Daher hatte er Victors Auftritt hier für protzige Selbstdarstellung gehalten. Aber Victor zog hier nicht nur eine Show ab. Es war verdammt ernst. Der war wirklich missgestimmt. Langsam bereute er es, Victor nochmal kontaktiert zu haben.
 

"Hass habe ich auf dich nicht. Aber dein Haus wird überwacht, Kollege", stellte Victor so sauer klar, als wäre er in eine Falle gelockt worden. "Ich gedenke mich also nicht länger hier aufzuhalten. Wenn du jetzt nicht endlich zum Punkt kommst ..."

"Überwacht?", hakte Waleri überrascht nach und schaute wieder auf. Das warme Blutrinnsal, das über seine Wange lief, ignorierte er. Einmal mehr ärgerte er sich über den Fesselbann, der ihn auf den Boden nagelte und seine Bewegungsfreiheit unterband. "Du meinst, von der Polizei?"

Victor warf einen Blick in die Runde, als würde er etwas sehen, das anderen verborgen blieb. "Nein, Staatliche sind das nicht. Aber auch keine alten Motus-Mitglieder auf Vergeltungskurs." Er zog eine Augenbraue hoch und ging erneut vor Waleri in die Hocke, um mit ihm mehr Richtung Augenhöhe zu kommen. "Sag nicht, du hast das nicht gemerkt, dass du observiert wirst!?"

"Doch, gemerkt hab ich schon, dass hier irgendwas nicht stimmt. Was übrigens der Grund ist, warum ich nach dir gesucht habe."

Die bisher so düsteren Gesichtszüge des Gestaltwandlers hellten schlagartig auf, beinahe belustigt. "Du glaubst, ich war das." Es war eine Feststellung, keine Frage.

"Wäre das nicht naheliegend gewesen?" Waleri wand sich kurz unbehaglich in seinen Bannmagie-Fixierungen, die langsam schmerzhaft wurden. "Andere Feinde, von denen ich wüsste, habe ich jedenfalls nicht mehr. Und, ja, du hast dich damals deutlich ausgedrückt. Eben darum wollte ich, meinen Kindern zuliebe, die Probleme aus der Welt schaffen, die du vielleicht noch mit mir hast. Und zwar BEVOR du glaubst, mich abknallen zu müssen. Wir haben uns schließlich nie ausgesprochen. Unsere letzte Begegnung endete mit einem Toten und einer Morddrohung."

Victor seufzte nachgiebig. Die Pistole, die er unverändert locker in der Hand hielt, wirkte plötzlich nicht mehr ganz so bedrohlich. Wahrscheinlich, weil Victors gesamte Erscheinung jetzt nicht mehr so bedrohlich wirkte. "Keine Ahnung, wer dich überwacht. Ich jedenfalls nicht. Aber um dieses Problem wirst du dich selber kümmern müssen. Ich bin jetzt wieder weg, bevor ich deinen Aufpassern auch noch ins Netz gehe. Wenn du einfach bloß quatschen willst, dann nicht heute." Ein vielsagender Blick in die Runde. "Und schon gar nicht hier." Er erhob sich aus seiner hockenden Haltung und spazierte ohne übertriebene Eile zur Tür zurück, um zu verschwinden. Ein leichtes 'mit-sowas-muss-ich-meine-Zeit-verschwenden'-Kopfschütteln war das letzte, was er noch von sich gab.
 

"Äh ... Was´n jetzt!?", rief Waleri ihm irritiert nach. "Knallst du mich jetzt doch nicht ab, oder was? ... Victor!" Mit flauem Gefühl im Magen sah er den schwarzen Ledermantel im Flur verschwinden. Ohne Verabschiedung. "He! Könntest du mich wenigstens wieder freilassen? ... Victor! Komm gefälligst zurück!" Er hörte, wie die Haustür aufging und nicht wieder ins Schloss zurückfiel. Sie blieb offen. Und dann setzte Stille ein. Er war allen Ernstes allein, stellte er empört fest. Waleri war drauf und dran, die Sekunden zu zählen, mahnte sich aber, dass er gerade weiß Gott andere Sorgen hatte. Mit Kraft begann er an den Bannketten zu zerren, die ihn nach wie vor bäuchlings auf den Boden kreuzigten. Victor hatte bei diesen Bannfesseln verdammt dick aufgetragen. Der Kerl war sich der körperlichen Stärke eines Elasmotheriums offensichtlich bewusst. Diese Fesseln hier bekam selbst ein Elasmotherium nicht mehr mit purer Muskelkraft gesprengt. Was sollte er tun? Victor hatte Recht. Er konnte die Zeit anhalten, so lange er wollte, es würde ihm nichts nützen. Die Bannmagie würde sich davon nicht lösen, und Victor zurückholen würde er damit auch nicht. Für einen Moment überwog sein Ärger sogar die Angst. Wahrscheinlich musste er jetzt wirklich warten, bis seine Frau wieder aus der Ohnmacht erwachte und Hilfe holte. ... Jedenfalls hoffte Waleri, dass sie überhaupt wieder erwachte. ... Und vor allem hoffte er, dass bis dahin keine brennende Fackel durch das offene Fenster hereingeflogen kam, oder sowas.

Nach einer schier endlosen Minute fiel der Bann jedoch kraftlos in sich zusammen und gab ihn endlich wieder frei. Genug Zeit für Victor, in Ruhe das Weite zu suchen. Ihm jetzt noch folgen zu wollen, war vergebliche Mühe. Der war längst weg. Also raffte Waleri sich ächzend auf und ging stattdessen nach seinen Kindern und seiner Frau sehen.

Erkennen

Olha griff sich stöhnend an den Kopf und hatte ein paar Probleme damit, wieder ganz zu sich zu kommen. "Grundgütiger", ächzte sie.

"Alles okay, nichts passiert", meinte Waleri, während er ihr wieder aufs Sofa half.

"War ich etwa bewusstlos?"

"Ja."

"Was in aller Welt ...!?"

"Nur ein dummer Streich von einem Wichtel", log der Hühne sie aalglatt an. Er konnte ja schlecht von einem Eindringling mit geladener Pistole erzählen, und davon, dass ihn gerade seine Vergangenheit wieder einzuholen drohte. "Er hat dich und die Kinder schlafen gelegt. Ich hab den Witzbold wieder rausgeschmissen. Und morgen geh ich mal nachsehen, wo der herkam. Nicht, dass wir hier irgendwo ein ganzes Nest von diesen Viechern haben."

Damit gab Olha sich vorläufig zufrieden.

Waleri ging das Fenster schließen. Dabei schweifte sein Blick über die Landschaft draußen. Über die Berge in der Ferne, und den See davor, und die dichten, grünen Wälder links und rechts. Sein Haus wurde also überwacht. Schöner Mist. Aber wer, wenn nicht die Polizei, sollte denn bitte noch ein Interesse an ihm haben?
 

Waleri zuckte erschrocken zusammen, als er keine zwei Wochen später in die Küche kam und einen unerwarteten Gast am Tisch sitzen sah. Er hatte geglaubt, allein im Haus zu sein. Olha und die Kinder tobten draußen am Seeufer herum. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet. Schon gar nicht mit diesem hier. Victor hatte sich ungeniert ein Glas Cola eingegossen und vertrieb sich die Zeit damit, in der Tageszeitung zu blättern. Waleri wusste im ersten Moment gar nicht, ob er sich über diese Dreistigkeit ärgern sollte, oder ob er sich angesichts dieses unerwarteten Besuchs freuen oder ängstigen sollte. Wenn Victor ungebeten irgendwo auftauchte, war das meistens nicht gut. Waleri schluckte den Schreck herunter und trat endlich ganz in die Küche ein. "Meine Fresse, Mann, hättest du nicht sagen können, dass du kommst?", brummte er.

"Ich bin ja nicht blöd. Ich werde dich doch nicht vorwarnen, damit du Hilfe organisieren oder eine Falle vorbereiten kannst."

Kopfschüttelnd spazierte der Muskelprotz zum Kühlschrank hinüber. "Wann wirst du endlich einsehen, dass ich nie dein Feind war? Ich verspüre keine Lust, dir irgendwas anzutun. Ich bin nicht Vladislav."

"Ich kann nicht vorsichtig genug sein, das weißt du."

"Du sagtest, wenn du dich mit mir treffen wölltest, dann garantiert nicht hier!?"

"Ach naja ..." Victor schob die Tageszeitung von sich weg. "Deine Observateure bist du ja inzwischen losgeworden. Dein Haus ist wieder sicher. Komische Freaks, diese Para-Militärs, die arglose Nachbarhäuser stalken, nur um ihre Spionage-Fertigkeiten zu trainieren. Ich hab sie mir angesehen."

Waleri nahm die Colaflasche aus dem Kühlschrank, und ein Glas vom Abtropfgestell, und goss sich ebenfalls etwas zu trinken ein. Er erzählte nicht, dass die Typen aus dem Trainings-Camp versucht hatten, ihn zu rekrutieren, als er sie zur Rede gestellt hatte. Es hätte ihn sogar gereizt, wenn er noch in der körperlichen Kondition dafür gewesen wäre. Aber Waleri fühlte sich langsam zu alt für solchen Scheiß. "Also, was hat dich herverschlagen?", wechselte er mit betont freundlicher Stimmlage das Thema.

"Du wolltest reden."

"Stimmt wohl." Waleri stellte die Flasche beiseite, lehnte sich mit dem Hintern gegen das Spülbecken und nippte an seinem Glas. Irgendwas hielt ihn davon ab, sich zu Victor an den Tisch zu setzen. Vielleicht hatte er Angst, Victor direkt wieder zu verscheuchen, wenn er sich ihm näherte, so wie man ein verängstigtes Tier auf der Straße verscheuchte, dem man zu schnell zu nahe kam.

"Also? Ich höre."

"Ich weiß nicht so richtig", begann Waleri unschlüssig. "Eigentlich dachte ich, du hättest noch irgendwelche Rechnungen mit mir offen. Immerhin hast du mir gedroht, mich bei der nächsten Begegnung umzulegen. Aber letztes Mal, als wir uns tatsächlich wieder begegnet sind, hast du mir ja suggeriert, dass da nichts mehr wäre. Damit hat sich mein Gesprächsbedarf eigentlich schon wieder erübrigt."

"Ich hab mich noch nicht entschieden."

"Wofür?"

"Ob ich dich umlegen soll oder nicht", kommentierte Victor trocken.

Der Muskelprotz seufzte unwillig. Er war diese dummen Drohungen leid. Zumal er Victor gut genug kannte, um zu wissen, dass seine Drohungen fast IMMER leer waren. Wenn Victor wirklich jemanden über den Haufen schießen wollte, dann tat er es einfach, ohne vorher viel rumzuquatschen. "Komm schon, Mann. Ich habe inzwischen eine Frau und zwei Kinder. Vladislav ist tot. Ich habe mich von der ganzen Motus-Sache distanziert. Du weißt genau, dass ich schon lange nicht mehr so bin. Und du weißt, dass ich selber nur ein Gefangener war."

Der ehemalige Vize musterte ihn aufmerksam und fast etwas besorgt. "Du siehst echt scheiße aus, weißt du das?", wechselte er seinerseits spontan das Thema, als wolle er zu 'der ganzen Motus-Sache' nichts mehr sagen.

Waleri nickte. "Seit Vladislav tot ist, geht meine Gesundheit rapide in den Keller. Ich hab das Gefühl, mir geht's jeden Tag schlechter."

"Ich spüre immer noch Bann-Magie, die an dir haftet, und die trotz Vladislavs Tod nie verflogen ist. Vielleicht zehrt die an dir, mangels anderer Energiequellen." Der Hänfling erhob sich geruhsam von seinem Sitzplatz und kam näher, was Waleri sichtlich irritierte. Einen Moment lang schien es, als wäre Waleri jetzt derjenige, der Angst vor Victor haben musste, statt umgekehrt. "Mach dir nicht die Mühe, deinen Zeitpuffer einzusetzen. Inzwischen habe ich Vorkehrungen getroffen, damit der auf mich nicht mehr wirkt."

Waleri rollte angesichts dieser Unterstellung genervt mit den Augen, sagte aber nichts. Wenn Victor schon freiwillig auf Schlagreichweite herankam, war der Zeitpuffer sicher das letzte, worum er sich Sorgen machen sollte. Den brauchte Waleri auf so kurze Distanz beileibe nicht. Und ohnehin hielt Waleri das für einen Bluff. Es gab keine bekannte Magie, die einen Zeitpuffer wirksam übergangen hätte. Aber sollte der Winzling doch behaupten was er wollte. Langsam wurde es nur lästig, dass der mit seiner großen Klappe nie um eine blöde Bemerkung verlegen war. Waleri hatte das Gefühl, wirklich JEDE Aussage von Victor mit einem Augenrollen quittieren zu müssen.

Victor hob die Hand unvermittelt Richtung Waleris Schulter und ließ sie von dort aus langsam und suchend über den ganzen Oberkörper schweben, ohne ihn zu berühren. Er ließ stets ein paar Zentimeter Luft dazwischen. Ab und zu schüttelte er unterschwellig den Kopf, dann suchte er weiter. Was auch immer er zu erspüren versuchte, fündig wurde er nicht. Waleri ließ ihn machen, nippte zwischendurch an seinem Getränk und wartete kommentarlos ab. Irgendwann trat Victor ratlos einen Schritt zurück, legte sich den Zeigefinger über die Lippen und musterte sein Gegenüber nochmal von oben bis unten mit seinem Blick. Seine Augen waren grübelnd verengt. "Was IST das bloß?", überlegte er laut. Sein Ego war sichtlich unzufrieden damit, dass ihm ernsthaft etwas begegnete, was er noch nicht einordnen konnte. "Dreh dich mal um."

Waleri kam der Aufforderung gleichgültig nach. Er spürte, wie Victors Hand vom Genick aus die Wirbelsäule abwärts abwanderte, diesmal mit Körperkontakt, und an einer Stelle plötzlich stoppte, als wäre sie in dieser Position eingerastet. Dann zog Victor ihm das T-Shirt hoch, konnte ein erschrockenes "Scheiße!" nicht unterdrücken und ließ den T-Shirt-Saum reflexartig wieder los, als hätte er sich daran die Finger verbrannt. Der Stoff fiel auf Waleris Haut zurück. Der Hühne drehte sich fragend wieder halb zu ihm um. "Was ist los?"

Victor war förmlich einen halben Schritt zurückgesprungen, als wolle er sich in Sicherheit bringen. Er wirkte etwas verstört und brauchte erstmal ein paar Atemzüge, bis er passende Worte fand. "Verdammte Axt ...", keuchte er irgendwann, um sich wieder einzukriegen. "Ich wusste nicht, dass Vladislav sogar zu dir so grausam war. Zu seinem eigenen Genius. ... Er hat dir die Meister-Rune auf den Rücken gebannt."

Waleris Augenbrauen zuckten in einer runden Mischung aus Verstehen und Verwunderung. Er hatte von dieser Art Magie gehört. Sie erzwang totale Unterwerfung mit der Brechstangen-Methode. Sie setzte nicht den freien Willen außer Kraft, wie andere Gehorsams-Bannzauber, sondern bestrafte lediglich den Ungehorsam. Nicht permanent, aber immer dann wenn es gewünscht war. Sie konnte wie ein Lichtschalter aktiviert oder abgestellt werden. Aber sie war so brachial, dass sie nicht einmal bei den Sklaven auf dem Sklavenmarkt verwendet wurde, weil sie massive, bleibende Schäden anrichten konnte, wenn man nicht vorsichtig war. Vladislav hatte nie Gebrauch davon gemacht. Aber allein, sich diese Option gegenüber seinem eigenen Schutzgeist offen zu halten, war schon krass.

"Das erklärt deinen Gesundheitszustand", fuhr Victor düster fort. "Du musst dir die Meister-Rune wie Blutspenden vorstellen. Die Rune ist die Kanüle, mit der du angezapft wirst, so dass dir permanent Kraft und Lebensenergie entzogen wird. Vladislav hatte die Gewalt darüber, ob er dir Lebenskraft entzieht, und wie viel. Damit kann man jemanden umbringen, wenn man will. Seit Vladislav tot ist, strömt die Lebensenergie ungehindert aus dir heraus und versickert im Nichts. Du verlierst non stop Kraft." Victor legte sich erneut nachdenklich den Zeigefinger über die Lippen. "Ihr Elasmotherium seid pure Kraftpakete. Ich schätze, nur deshalb bist du überhaupt noch am Leben. Jeder andere wäre daran schon längst verreckt. Dir gebe ich auch maximal noch ein Jahr, wenn diese Rune nicht entfernt wird, zumal der Verfall immer schneller voranschreitet, je schwächer du sowieso schon bist."

Bei dieser Nachricht musste auch Waleri selbst erstmal schwer durchatmen und setzte überfordert sein Glas auf dem Spülenrand ab, als wäre es plötzlich zu schwer um es in der Luft zu halten. "Ich hätte mir ja viele Ursachen vorstellen können. Aber das ist noch übler als ich dachte."

Victor schwieg lange und haderte sichtlich mit sich. Dann kam er mit einem leichten Kopfschütteln zu einem negativen Entschluss. "Im Moment kann ich dir nicht helfen. Ich kenne die Meister-Rune nur aus der Theorie. Ich habe noch nie eine in der Realität gesehen. Ich weiß zu wenig darüber. Wenn ich versuche, die zu lösen, bringe ich dich dabei vielleicht um."

"Ich finde es ja schon erstaunlich, dass du überhaupt darüber nachdenkst, mir zu helfen, bei der Meinung die du offenbar über mich hast."

Ein trauriges Lächeln war die Antwort. "Bete, dass die Rune nicht nur vom Meister selbst wieder aufgehoben werden kann. Gib mir ein paar Tage, um mich zu belesen." Er deutete fast drohend mit dem Zeigefinger auf Waleris Nasenspitze. "Und stell in der Zwischenzeit nichts Blödes an", legte er dabei vielsagend nach.

Waleri wusste sofort, welchen Blödsinn er konkret meinte. Sowas Blödes wie Fallen zu bauen, oder jemanden auf Victors Spur zu bringen. Nun, Waleri würde sich hüten, solange sein Leben von diesem zu klein geratenen Gestaltwandler abhing - und wahrscheinlich auch danach.

Verstehen

Waleri saß in der Küche, hatte seinen Oberkörper vornüber auf der Tischplatte abgelegt und die Arme unter dem Kinn verschränkt. Er brütete dumpf vor sich hin und wusste nichts rechtes mit sich anzufangen. In den ersten Tagen war er unablässig draußen in der Natur rumgezogen oder hatte seine Frau mit den Kindern weggeschickt, um möglichst viel allein zu sein. Er wusste, dass Victor sich niemals zeigen würde, wenn es nicht unter vier Augen war. Olha war natürlich sehr schnell skeptisch geworden und hatte darauf bestanden, zu erfahren, was diese plötzliche Distanzierung sollte. Also hatte er ihr notgedrungen von der Meister-Rune auf seinem Rücken erzählt. Victor hatte er mit keiner Silbe erwähnt, so dass seine Frau glaubte, Waleri brauche nach so einer "tödlichen Diagnose" einfach nur Ruhe und Zeit für sich. Das war für sie okay gewesen. Im Moment war sie mit den Kindern für eine Weile zu ihrer Familie gefahren. Dummerweise tat Waleri das Alleinsein überhaupt nicht gut. Und von den "paar Tagen", von denen Victor gesprochen hatte, konnte auch längst keine Rede mehr sein.
 

Der Muskelprotz schoss in eine senkrechte Sitzhaltung hoch, als sich in der Tür plötzlich etwas bewegte. "Victor!" Kurz ploppte in seinem Kopf die Frage auf, wie der ins Haus gekommen war. Andererseits hatten Türen ihn ja noch nie aufgehalten.

Victor stand da, mit seinem typischen Ledermantel, den schulterlangen, offenen Haaren, ein großes, schweres Buch an seine Brust gedrückt, und lächelte schief. "Sieh mal an. Wer hätte gedacht, dass du dich über einen Besuch von mir mal freuen würdest?"

"Naja, es ist immerhin über einen Monat her ..."

Victors Lächeln schwächte etwas ab und machte einem leicht zerschlagenen Gesichtsausdruck Platz. Er war eindeutig übernächtigt und körperlich ermüdet. "Ja. Meine Suche nach Infos zu dieser Meister-Rune war schwerer als erhofft. Als ich in meiner privaten Bücherei nicht fündig geworden bin, habe ich angefangen, die großen Bibliotheken des Landes abzuklappern, und Leute zu suchen, die mir vielleicht helfen können. Es war furchtbar mühsam."

Waleri nickte nur und mahnte sich, jetzt bloß keinen ungeduldigen oder aufgekratzten Eindruck zu machen. Natürlich war er beeindruckt von der Mühe, die Victor sich gemacht hatte, aber ob er jetzt auch Ergebnisse liefern konnte, war ihm gerade entschieden wichtiger.

Victor kam näher und legte den fetten Wälzer, den er in den Armen trug, behutsam auf dem Tisch ab. Schon dem ledernen Einband sah man an, dass das ein uraltes und vermutlich verdammt wertvolles Buch war.

Als der ehemalige Vize es aufschlug und beim Blättern sorgsam Seite für Seite mit der Hand glattstrich, sah Waleri kryptische Symbole, Tabellen und eine Schrift, die er nicht lesen konnte. Es erinnerte zwar an Kyrillisch, war aber keins. Waleri hatte trotzdem keinen Zweifel daran, dass Victor das übersetzen konnte.

"Also!", begann Victor stoisch und setzte sich ermattet mit an den Tisch. Sicher wäre er lebhafter gewesen, wenn er ausgeruhter gewesen wäre. Waleri nahm es ihm nicht übel. "Die Meister-Rune ist eine harte Nuss. Sie ist so komplex, weil es mehrere davon gibt, die sich teilweise arg unterscheiden. Die finnische Meister-Rune verfolgt einen ganz anderen Ansatz als zum Beispiel die dänische, obwohl sie alle das gleiche Schriftzeichen verwenden. Noch dazu ist es ein Gemisch aus Bann und Fluch. Hybrid-Magie ist immer ein verdammt heikles Ding, selbst wenn man, wie ich, beides gut beherrscht. Aber, nichts desto trotz: diese Rune kann gebrochen werden." Victor legte eine kurze Sprechpause ein, die Waleri unterschwellig mahnte, sich nicht zu früh zu freuen. Er fühlte sich sichtlich nicht wohl mit dem was er sagte. "Ich bin mir zu 95% sicher, dass ich das kann."

Waleri sah ihm nur aufmerksam ins Gesicht und wartete auf mehr.

"Ich bin ehrlich: ich rechne mit Komplikationen", gab Victor also zu. "Es gibt fast keine dokumentierten Fälle. Und wer die Meister-Rune jemals angewendet hat, erzählt es für gewöhnlich niemandem. Aber was alle gemeinsam haben, und wo sich auch die Literatur einig ist, ist, dass die Meister-Rune grundsätzlich über dem Herzen angebracht wird. Vladislav muss sich etwas dabei gedacht haben, von den Vorgaben abzuweichen und sie dir auf den Rücken zu bannen, statt auf die Brust. Aber egal wie sehr ich recherchiere, ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Und wir können ihn ja dummerweise nicht mehr fragen." Er schaute nochmal wehleidig in das aufgeschlagene Buch, als würde er doch noch im letzten Moment auf den entscheidenden Hinweis hoffen. "Da ich nicht rausbekomme, was er damit bezweckt hat, bleibt also ein gewisses Restrisiko, wenn ich versuche, dich zu entketten."

Waleri nickte verstehend in sich hinein.

"Ich bin der Meinung, dass ich unerwartete Komplikationen auffangen kann. Ich bin auf alle Eventualitäten, die auftreten können, vorbereitet. Aber du musst selber entscheiden, ob du mir vertraust."

"Was hab ich schon groß zu verlieren? Im schlimmsten Fall sterbe ich dabei. Aber das blüht mir sowieso, wenn ich diese Rune nicht loswerde."

Victor zog eine unschlüssige Flunsch. "Glaub mir, es gibt schlimmeres als zu sterben. Die Meister-Rune sitzt genau auf deiner Wirbelsäule. Du könntest leben, aber für den Rest deiner Tage querschnittsgelähmt sein. Ich glaube nicht, dass ein Elasmotherium damit noch glücklich werden könnte. ... Die Wirbelsäule hat auch eine direkte Verbindung zum Gehirn. Die Magie könnte auf deinen Verstand ausstrahlen, wenn man an ihr rumpfuscht. Du könntest fortan ein Idiot sein. ... Das Rückenmark ist außerdem der Sitz der Blutregeneration und des Immunsystems. Vielleicht ist deine Gesundheit endgültig hinüber, wenn ich mit dir fertig bin."

"Ach hör auf, mir Horrormärchen einzureden!", brummte Waleri. "Ich kenn dich, Victor. Du hast dich über einen Monat lang darauf vorbereitet. Und du wärst nicht hergekommen, wenn du dir deiner Sache nicht sicher wärst."

"Na, ich wollte es dir nur gesagt haben. Nicht, dass du dich hinterher beschwerst. Ich BIN mir eigentlich sicher. Aber das ist halt eine sehr seltene und komplizierte Magie, die bei weitem noch nicht ausreichend getestet und erforscht wurde."

"Eine 95%.-ige Chance ist mir völlig ausreichend."

Victor atmete seufzend durch, als würde er Konzentration und Kraft sammeln, für das was vor ihm lag. "Schön. Dann auf in den Kampf."

"Jetzt mal langsam", entschied Waleri stoisch. "Du bist ja genau so am Ende wie ich. Willst du nicht erstmal was essen, oder so?"

Der Gestaltwandler grinste schelmisch. "Das täuscht. Unterschätze mich lieber nicht."

"Trotzdem!" Waleri holte zwei Tassen aus dem Schrank. "Wenigstens ein Kaffee muss drin sein, sonst lasse ich dich nicht an mir rumexperimentieren. Du siehst nicht aus, als wärst du noch munter genug dafür. Außerdem hatte ich dich ja ursprünglich eingeladen, um mit dir zu quatschen, nicht wahr?"

"Quatschen ...", echote Victor wenig begeistert. Dennoch lehnte er die Tasse nicht ab, die vor seiner Nase abgestellt wurde. "Meinethalben. Was willst du wissen?"

"Alles. Deine Sicht der Dinge."

"Du meinst meine Sicht auf die Motus?"

"Ja." Waleri goss ihm und sich selbst Kaffee ein. "Wie bist du zur Motus gekommen? Wie hast du die Zeit dort empfunden? Wie war Vladislav in deinen Augen? Hattest du Spaß an dieser Arbeit? Wieso hast du uns letztlich auffliegen lassen?"

Victor schaute einen Moment nachdenklich in das rabenschwarze Gebräu. "Hast du wenigstens Milch dazu?"

"Sicher." Waleri stellte die Kanne in den Kaffeeautomaten zurück und zog stattdessen den Kühlschrank auf.

„Wie ich zur Motus gekommen bin ... Die russischen Behörden haben mich dazu gemacht. An mich ist damals der Russische Geheimdienst herangetreten, und hat mich für seine Zwecke instrumentalisiert. Man hat mich gefragt, ob ich ihnen Informationen beschaffen will."

Waleri brummte leise, während er Victors Kaffee mit Milch aufgoss. "Ein V-Mann. Ich hätte es ahnen sollen."

"Sie dachten, als Gestaltwandler wäre ich ein geeigneter Kandidat dafür. Und ich war noch jung und blauäugig und habe ihnen vertraut. Aber natürlich kann man nicht in einer Organisation wie der Motus herumspazieren, ohne in ihren dreckigen Geschäften mitzumischen. Der Geheimdienst dachte wohl, ich würde als völlig unbescholtener Bürger, als unbeschriebenes Blättchen, Zutritt zu den höchsten Kreisen der Motus bekommen, und freien Zugang zu allen Dokumenten. Das war naiv. Wenn ich überhaupt in der Motus Fuß fassen wollte, musste ich ihre Spiele zwangsläufig mitspielen. Als ich natürlich ziemlich schnell straffällig geworden bin, hat der Geheimdienst mich einfach fallen lassen. Sie haben mir die Immunität entzogen, haben mich nicht mehr gedeckt, haben sämtliche Kommunikationskanäle zu mir gekappt und mich in der Motus mich selbst überlassen. Die kannten mich plötzlich nicht mehr. Vielleicht haben sie auch das Interesse an der Motus verloren, oder an mir, weil ich als Gestaltwandler doch nicht die Fähigkeiten drauf hatte, die ihnen vorschwebten. Keine Ahnung.“

Victor legte den Kopf etwas schief und heftete den Blick auf die Tischplatte, als Projektionsfläche für die Bilder vor seinem inneren Auge. Einen Moment überlegte er, wie er weitermachen sollte. „Nun konnte man aus der Motus natürlich auch nicht einfach wieder aussteigen“, fuhr er dann fort. „Wenn man da einmal drinsteckte, haben die einen nicht wieder gehen lassen. Zumindest nicht lebend. Also was sollte ich tun? Ich habe meinen ganzen Ehrgeiz darauf gerichtet, in die Führungsetage aufzusteigen, um den ganzen Laden aus eigener Kraft auffliegen zu lassen. Das war meine einzige Chance. Und die Motus-Typen betrachten einen nur als Chef, wenn man sich auch wie einer benimmt. Ich habe mir einen neuen Namen gegeben, und habe seit damals nie wieder mein wahres Aussehen angenommen, immer nur Tarngestalten, damit der Geheimdienst mich nicht wiederfindet. Der hatte zu diesem Zeitpunkt eh schon viel zu viel gegen mich in der Hand und hätte mich sofort aus dem Verkehr ziehen können. Von meiner Sorte gibt es nicht allzu viele, weißt du? Wäre irgendwo so ein Viech wie ich aufgetaucht, hätten die sofort spitz gekriegt, dass ich das bin.“

"Was bist du denn?", hakte Waleri interessiert nach und nippte an seiner Kaffeetasse. Vladislav hatte dieses Geheimnis nie gelöst.

Victors Gesicht wurde wieder verschmitzter. "Vielleicht erzähl ich´s dir irgendwann. Jetzt lass uns endlich deine dämliche Meister-Rune in Angriff nehmen." Im Gegensatz zu Waleri goss er sich den kompletten Pott Kaffee auf ex hinter die Binde, knallte ihn auf die Tischplatte zurück und sprang wieder vom Stuhl hoch.

Lösen

Victor begann die Schnallen seines Ledermantels aufzuzurren. "Wir werden uns notgedrungen gegenseitig vertrauen müssen. Ich muss genauso alle magischen Schilde und Schutzzauber ablegen wie du. Je mehr Störfelder es gibt, desto schwerer machen wir es uns. Du trägst auch Schutz-Amulette. Leg sie ab, ja?" Der schmächtige, zu klein geratene Gestaltwandler zog den Ledermantel aus, der mit all der eingewobenen Magie und den ins Futter eingenähten Talismanen eine einzige Rüstung war, und warf ihn achtlos über eine Stuhllehne. Waleri wusste nicht so richtig, was er erwartet hatte. Aber das schmucklose, schwarze, in die Jeanshose gestopfte Baumwoll-T-Shirt enttäuschte ihn insgeheim etwas. Victor fing an, seine Hosentaschen zu leeren. Es kamen mehrere Kristalle, münzenähnliche Amulette und ein Taschenmesser zum Vorschein. Dann zog er zwei Pistolen hinter dem Rücken aus dem Hosenbund und legte sie zu den restlichen Dingen auf den Tisch.

Waleri war erstaunt. Er hatte gewusste, dass Victor immer mit einer Knarre rumrannte. Aber gleich mit zweien? Er hatte nie mehr als eine gezeigt, wenn er in Aktion trat. Offenbar ein heimliches Ass im Ärmel, von dem er vorher keinem etwas erzählte. Waleri selbst streifte sich lediglich das Armband vom Handgelenk.

Victor fummelte in seinem Genick einen Kettenverschluss auf und zog mit spitzen Fingern die filigrane Kette samt Anhänger aus seinem T-Shirt-Ausschnitt. Ein Ring von seiner linken Hand folgte.

Waleri fragte sich insgeheim, was der Gestaltwandler mit dem ganzen Kram anstellte, wenn er akut in eine andere Gestalt wechseln musste. Schmuck und dergleichen machten Verwandlungen für gewöhnlich nicht mit.

Als nächstes gestikulierte Victor einige Zeichen in die Luft, die an Tai Chi erinnerten, woraufhin nacheinander auf seiner Stirn, seiner Brust und seinem Bauch rote Symbole aufglühten und wieder verblassten. Dann fiel so deutlich ein Schutzschild um ihn herum in sich zusammen, dass selbst Waleri es wahrnehmen konnte, obwohl der selbst keine Bannmagie beherrschte.

Mit wenigen, weiteren Bewegungen hob Victor auch noch einen weiteren Schutz auf, den Waleri weniger deutlich aber dennoch spürbar erkannte.

"Meine Fresse. Du bist gut geschützt", konnte Waleri sich nicht verkneifen. Es war sicher ganz schön knifflig, sich mit so viel Magie gleichzeitig zu umgeben. Das hatte Grenzen. Ähnlich wie bei Medikamenten konnte man sich nicht unbegrenzt damit zudröhnen. Man musste Wechselwirkungen und Überdosierungen im Auge behalten.

"Was meinst du, warum ich immer noch lebe und auf freiem Fuß bin?" Victor sagte bewusst nicht dazu, dass er gewisse Schutzzauber natürlich NICHT ablegte. Etwa den, der verhinderte, dass man von einem Hellseher gefunden werden konnte. Bestimmt waren immer noch genug Staatliche hinter ihm her. Hätte er sich hier sichtbar gemacht, wären die vielleicht nicht schnell genug hier gewesen, um Victor noch zu erwischen, aber zumindest Waleri hätten sie hier gefunden. Er wollte sie nicht auf Waleris Spur bringen. "Auf dir liegt auch ein Schutzzauber. Ich werde ihn später wieder erneuern, wenn du willst. Aber jetzt muss er erstmal weg. Jeder Störfaktor ist ein Störfaktor zu viel."

Noch ehe Waleri zustimmen oder ablehnen konnte, fühlte er sich auch schon wie mit kaltem Wasser übergossen. Die Magie verflüchtigte sich aus seiner Aura wie Nebel im Wind.

Victor musterte ihn nachdenklich von oben bis unten und wirkte zufrieden. "Gut. Du solltest dein Hemd noch ausziehen, damit ich ungehindert an die Rune auf deinem Rücken rankomme", bat er. Während der Hühne dem nachkam, zog Victor ein sehr ernstes Gesicht. Er verschränkte die Arme. "Hör zu, wir müssen uns über die Spielregeln einig sein, wenn das hier nicht schiefgehen soll. Ich bitte dich inständig, nicht zu quatschen, und nicht rumzuzappeln. Außer die körperlichen Nebenwirkungen werden wirklich zu massiv, dann darfst du mich das natürlich wissen lassen. Es ist nur so ... wenn ich sage, dass das sogar für mich verdammt komplexe Magie ist, dann meine ich das auch so. Ich will dir ganz bestimmt nicht schaden. Aber um dich vor Schaden zu bewahren, muss ich mich stark konzentrieren."

"Dann will ich mir mal Mühe geben", scherzte Waleri näckisch. "Mit welchen Nebenwirkungen hab ich denn zu rechnen?"

"Das ist bei dir schwer zu sagen, weil die Meister-Rune auf dem Rücken eigentlich nichts zu suchen hat. Es gibt keinen ähnlich gelagerten Fall wie deinen, den man als Vergleich heranziehen könnte. Aber durch die Verbindung zum Nervensystem würde ich sagen, dass alles in Frage kommt, was man gemeinhin als psychosomatisch einstufen würde. Deine Arme und Beine können schmerzen oder taub werden oder unbeweglich steif werden. Du kannst dein Mittagessen wieder ausspeien. Sprach-, Hör- oder Sehverlust würde mich auch nicht wundern. Du kannst Krämpfe oder spastische Zuckungen bekommen. Vielleicht schießt dir das Blut aus der Nase, wenn dein Kreislauf betroffen ist. Hitzewellen und Schweißausbrüche. Schwindelgefühl. Unruhe. ... Lass dich davon nicht aus der Ruhe bringen. Dir muss immer klar sein, dass es nichts gibt, was hinterher nicht wieder behoben werden kann. Aber wenn du das Gefühl hast, dass irgendwas lebensbedrohliches im Gange ist, dass zum Beispiel deine Atmung aussetzt, oder dein Kreislauf ganz zusammenbricht, dann gib mir um Himmels Willen Bescheid."

"Sind ja nette Aussichten ...", brummte Waleri wenig begeistert.

"Ich habe nie gesagt, dass es einfach wird. Natürlich wäre dir vieles davon erspart geblieben, wenn der, der dir die Rune verpasst hat und ihre Bauweise besser kennt als ich, sie auch wieder lösen würde. Aber es hilft nichts. Du bist ein Elasmotherium. Du wirst das schon wegstecken."

"Hast du mal versucht, das an einem Opfer zu testen? Irgendein ehemaliger Motus-Wichser, der dir zufällig in die Finger geraten ist?"

Victor kicherte erheitert auf. "Du wirst lachen, das habe ich tatsächlich erwogen", gab er unverblümt zu. "Aber mir fehlen leider die magischen Begabungen dazu. Ich kann zwar eine Meister-Rune brechen, aber ich kann selber keine erschaffen. Ich konnte also leider kein Opfer mit einer Meister-Rune belegen, um die Auflösung der Rune dann an dem üben zu können."

"Welche magische Begabung braucht man denn noch dafür? Vladislav hat doch selber nichts als Bannmagie beherrscht. Und das nichtmal besonders gut."

"Um jemandem eine Meister-Rune auf Körper und Verstand zu prägen, braucht man Bannmagie, Fluchmagie, Wahrsagerei und Telepathie. Um sie wieder zu lösen, sind aber Banne und Flüche ausreichend."

"So viele Disziplinen beherrscht doch keiner", hielt Waleri ungläubig dagegen.

"Nein. Eine Meister-Rune ist in der Regel eine Teamarbeit mehrerer Magier, die ihr Werk gemeinsam vollbringen."

"Ganz schön viel Aufwand."

"Ja. Kann sich aber sehr lohnen, wenn man damit die richtigen Ziele verfolgt."

Waleri grübelte einen Moment. "Ich weiß nicht recht. Mir fallen keine Magi ein, mit denen Vladislav Hand in Hand gearbeitet haben könnte, um mir diese Rune zu verpassen. Noch dazu ohne, dass ich etwas davon merke."

"Vielleicht hat er eine fertige Rune auf Papier gekauft und sie nur noch auf deinen Körper übertragen. Wahrscheinlich als du geschlafen hast. Da ist deine Gegenwehr am geringsten und dein Verstand am leichtesten zu manipulieren, weil er ausgeschalten ist. ... Na schön. Hoffen wir, dass uns keine Überraschungen erwarten", meinte Victor dann und stellte damit spürbar den Auftakt her.

"Du kannst ja nachlesen, wenn irgendwas ist", hielt Waleri optimistisch dagegen.

"Dazu ist nur begrenzt Zeit. Wenn das Siegel einmal aufgebrochen ist, war´s das. Entweder man kann mit der freigelassenen Magie umgehen, oder es geht katastrophal schief. So, dann schauen wir uns das mal an." Victor hob die Hände, wie bei einer Beschwörung, und holte den Bann-Zauber, der Waleri umgab, auf die optisch sichtbare Ebene. Die Magie zeigte sich als räumliche Konstruktion, die den Großteil der Küche füllte. Sie ähnelte mit den vielen, geraden Kanten dem Lageplan eines großen, mehrstöckigen Hauses.

Waleri konnte sich ein "Woah" nicht verkneifen. "Ich verstehe, was du mit 'komplex' gemeint hast. Die Zauber von Vladislav waren nie mehr als schallplattengroße Scheiben, und vor allem nie dreidimensional."

Der Gestaltwandler gestikulierte eine wischende Bewegung und das gewaltige Gebilde drehte sich, der Bewegung folgend, im gleichen Maße vor ihm, so dass man es von allen Seiten begutachten konnte. "Hm. Die slawische Variante", stellte Victor erkennend fest, konzentriert weiter den Aufbau studierend. "Da war Vladislav nicht sonderlich kreativ."

"Und? Kannst du es lösen?", wollte Waleri wissen. Obwohl er von der gewaltigen Blaupause nur Bahnhof verstand, beäugte er diese äußerst interessiert.

Victor drehte und wendete das magische Konstrukt noch eine Weile hin und her, ehe er etwas frustriert antwortete. "Dieses Ding ist echt grottenschlecht erstellt. Es ist total marode und fällt an mehreren Stellen schon fast von selber in sich zusammen. Das ist tödlich, wenn das unkontrolliert geschieht. Wie eine Lawine. Wenn da einmal was ins Rutschen kommt, stürzt kettenreaktionsartig alles andere hinterher."

"Und dann hab ich ein Problem ..."

"Nicht nur du, Kumpel. Nicht nur du." Seufzend analysierte Victor unablässig weiter den Zauber von allen Seiten. Zwischendurch wandte er sich seinem großen, schweren Buch auf dem Küchentisch zu und blätterte mühsam ein paar Seiten um, um etwas nachzuschlagen. Dabei kostete es ihn sichtliche Anstrengung, die Blaupause in der Zwischenzeit mit einer Hand stabil zu halten. Es war halb Kraft-, halb Balance-Akt.

Ein paar leuchtende Funken rieselten wie bröckeliger Putz aus dem Konstrukt heraus und ließen Waleri erschrocken Luft schnappen, als stünde zu befürchten, dass gleich alles in sich zusammenbrechen würde.

"Da siehst du, was ich meine", kommentierte Victor nüchtern. "Gut, ab jetzt bitte nicht mehr quatschen. Ich muss mich konzentrieren."
 

Waleri konnte schwerlich deuten, was sein Besucher in den nächsten 20 Minuten tat. Victor änderte mit Gesten und fremdsprachigen Worten an dem riesigen Magie-Modell herum, manchmal fluchte er ungeniert in sich hinein, mal sprach er sich selbst kurze Bestätigungen zu, oder dachte laut nach, hin und wieder schien er einfach nur zu beobachten was passierte. Alles in allem wirkte es wie eine Knobelaufgabe. An dem Konstrukt selbst änderte sich indes außer dem Muster wenig. Es wurde nicht kleiner oder schwächer. Trotzdem machten Waleri die körperlichen Nebenwirkungen deutlich zu schaffen. Mal wurde ein Arm taub, mal bekam er Herzrasen und Schnappatmung, mal schoss ihm ein messerscharfer Schmerz die ganze Wirbelsäule hinauf und ließ ihn aufschreien. Victor nahm es jedes Mal nur aus dem Augenwinkel zur Kenntnis und machte ungerührt weiter.

"Jetzt wird es spannend", sprach Victor sich selbst Mut zu. Er war bis zu dem entscheidenden Punkt vorgedrungen, der noch alles zusammenhielt. Nur noch ein Windhauch, und das Siegel würde brechen. Was dann geschah, würde zeigen, ob Victors ganze Vorarbeit umsonst gewesen war oder nicht. Er würde schnell reagieren müssen, denn er wusste nicht, welche Art von Magie ihm entgegengeschossen kommen würde. Oder wieviel davon. Er gab den letzten Anstoß und ... wurde gnadenlos überrollt.

Mit einem erschrockenen "Fuck!" warf Victor sich herum und schlang die Arme schützend um den Kopf. Die Energie tobte sekundenlang wie ein Wirbelsturm über ihn hinweg. Zu heftig, um irgendwelche Gegenschritte einleiten zu können. Der Gestaltwandler war hellauf damit beschäftigt, die Orientierung im Raum und die Kontrolle über seinen Körper nicht zu verlieren. Der entfesselten Magie konnte er nur noch unkontrolliert die Zügel schießen lassen. Um ihn herum ging lautstark die Kücheneinrichtung zu Bruch. Nicht nur Porzellan und Glas, sondern auch die massiveren Holzmöbel.

Doch genauso schlagartig, wie es losgebrochen war, war Victor auch wieder aus dem rasenden Strudel entlassen. Fragend sah er sich um und fand ein Schutzschild aus Bann-Magie zwischen sich und den reißenden Gewalten, das ihn abschirmte. Links und rechts davon tobten die Magiestürme ungehindert weiter und schlugen die Küche kurz und klein. Schnell überblickte er die Lage. Waleri sah er auf dem Fußboden liegen und sich winden. Der Hühne war vom Stuhl gekippt, beide Hände am Hals, gab röchelnde Geräusche von sich, und schien zu ersticken. Trotzdem ignorierte Victor ihn und widmete sich vorrangig wieder dem Schutzschild, das ihm wankelmütige Sicherheit bot. Mit einer Hand verstärkte und stützte er diese magische Barriere, mit der anderen blätterte er hektisch in seinem Buch. Irgendwas lief hier nicht nach Plan. Sein Zeigefinger wanderte suchend über die Zeilen einer Tabelle. Das war wohl doch nicht nur die standardisierte, slawische Variante der Meister-Rune, sondern es war offensichtlich noch etwas Gemeineres und Mächtigeres mit eingeflochten worden. Das kam jetzt grundsätzlich nicht unerwartet, aber wieso ausgerechnet Mond-Magie? Die passte thematisch ja nun gar nicht dazu. So ein Mist. Genau diese Konstellation war im Buch nicht aufgeführt. Also entschied sich Victor intuitiv für das naheliegendste. Durch seine eigene Mondsucht hatte er zum Glück etwas Ahnung von diesem Thema und wusste, wie man dem zur Not auch unabhängig von den Mondphasen beikommen konnte. Ideal war es nicht, würde aber hoffentlich reichen.

Der Gestaltwandler legte sich einen passenden Bann zurecht, trat aus dem Schutz des magischen Schutzschildes heraus, hinter dem er sich immer noch versteckte, und wollte sich zum Zentrum des Sturms vorkämpfen. Seine leichte, schmächtige Statur machte es ihm beinahe unmöglich. Er hatte den Gewalten nichts entgegenzusetzen, zumal er durch die Kräfte, die wild an ihm zerrten, so gut wie blind war. Bis er das Gefühl hatte, eine Hand auf seinem Rücken würde ihn mit Kraft vorwärts schieben. Mit Mühe und letzter Kraft platzierte er seinen Zauber, der diesen ganzen Spuk endlich neutralisieren und beenden sollte. Die reißende, außer Kontrolle geratene Energie entlud sich krachend wie ein Blitz und schleuderte Victor einen Meter weit durch die Küche und zu Boden. Das ersehnte Peitschengeräusch, auf das er gewartet hatte, ging im Tosen fast unter, entging Victor aber nicht. Irgendeine magische Verbindung war gerissen.
 

Victor lag noch einige Augenblicke auf dem Fußboden, lang hingestreckt auf dem Rücken, und rang schwer nach Atem. Als hätte er gerade einen Langstreckenlauf hinter sich. Die Stille war himmlisch. Es war vorbei. Ein ungeniertes, gedehntes "Scheeeeeeiiiiiße!", konnte er ebenfalls nicht unterlassen. Dann kämpfte er sich endlich wieder auf die Knie hoch, brauchte dort noch ein paar weitere Sekunden, und kroch schließlich auf allen Vieren zu Waleri hinüber. "So, Sportsfreund. Lebst du noch?", wollte er von dem reglosen Kraftprotz wissen.

Waleri blinzelte die Augen auf, die er fest zusammengekniffen hatte. "Halbwegs."

"Die Meister-Rune ist gebrochen. Glückwunsch." Victor griff nach Waleris Handgelenk und suchte nach dem Puls. Während er die Herzschläge unter seinen Fingern zählte, zog er mit der anderen Hand nebenbei noch eines von Waleris Augenlidern auf, um die Pupille zu kontrollieren. "Und? Was sagt die Status-Meldung?"

"Ich glaube, meine Beine sind gelähmt. Ich kann sie nicht mehr bewegen ...", presste Waleri in undeutbarem Tonfall hervor. Er klang nicht, als hätte er Schmerzen. Auch nicht, als würde er seinem Helfer Vorwürfe machen. Es war wohl eher Überforderung mit der ganzen Situation.

Victor zählte noch in Ruhe die Pulsfrequenz zu Ende, als würde ihn die Lähmung gar nicht überraschen. Mit dem Puls schien er jedenfalls zufrieden zu sein. Erst dann wandte er sich gelassen den Beinen zu. "Hast du noch Gefühl drin?", hakte er nach und griff derb mit einer Hand in Waleris Oberschenkel und mit einer in Waleris Schienbeinknochen.

"Ja, aua, Mann!", quietschte Waleri protestierend.

"Das andere auch?" Victor wiederholte die fiesen Griffe ungefragt auch am anderen Bein.

"Ja doch! Hör auf damit!"

"Gut", befand der Gestaltwandler. "Das ist nur eine Schockreaktion deines Körpers auf die peitschenartige Energieentladung in deiner Wirbelsäule. Ich hab ja gesagt, dass das passieren kann. In einer Stunde wirst du wieder fröhlich rumlaufen, als wäre nichts gewesen. Versprochen." Er atmete tief durch, wie jemand, der etwas fertiggebracht hatte und nun überlegte, was es noch zu tun gab. "Dein Allgemeinzustand wird allerdings etwas länger brauchen, bis er sich regeneriert hat. Den jahrelangen Energieverlust bis zur völligen Auszehrung wird dein Körper nicht in einer Stunde wettmachen. Nichtmal als Elasmotherium."

"Hätte ich jetzt auch nicht erwartet", ächzte der Muskelprotz und stemmte sich zumindest erstmal wieder in eine sitzende Haltung hoch. Seine Beine blieben dabei ausgestreckt wie Fremdkörper vor ihm liegen. "War das Mond-Magie, sag mal?"

Victor ließ sich müde wieder auf den Hosenboden fallen und bestätigte.

"Wozu das denn bitte?"

"Hm~ Das Konzept ist für jemanden wie dich eigentlich gar nicht so blöd, wenn ich drüber nachdenke. Der Mond ist derart mächtig, dass er einen ganzen Ozean bewegen kann, aber immer nur schön geruhsam im Rhythmus der Natur. Mond-Magie ist deshalb nicht schnell, aber sehr stark und beharrlich. Ihre Stärke macht sich erst auf lange Sicht bemerkbar. Genau das Richtige, wenn man so ein Power-House wie ein Elasmotherium sibiricum über längere Zeit unter Kontrolle halten will."

Waleri seufzte unglücklich und sah sich in der zertrümmerten Küche um. "Ich muss mir was einfallen lassen, wie ich das hier meiner Frau erkläre ..."
 

Als Victor das kleine Häuschen mitten im Nirgendwo wieder verließ, kehrte Urnue von der Astralebene auf die stoffliche Ebene zurück, wodurch er für das gewöhnliche Auge wieder sichtbar wurde, und schloss sich Victor an. Urnue hatte sich geweigert, sich Waleri zu zeigen, obwohl er geahnt hatte, dass er in die ganze Aktion helfend würde eingreifen müssen. Er wollte mit dieser Sache eigentlich nicht in Verbindung gebracht werden.

Der Gestaltwandler lächelte ihn an. "Du hast mir mit deinem Schutzschild echt den Hintern gerettet. Diese Flutwelle an Magie hätte mich plattgemacht, wenn du mir nicht diese paar Sekunden Luft verschafft hättest."

"Was hast du erwartet, bei einer Meister-Rune? Dachtest du, das würde ein Spaziergang werden?", hakte Urnue etwas humorlos nach. Er verstand bis heute nicht, wieso Victor Waleri unbedingt hatte retten wollen, auch auf die Gefahr hin, dabei selber zu Schaden zu kommen. Urnue hatte ihm seine Missbilligung auch im Vorfeld schon mehr als deutlich gemacht. Aber Victor hatte sich trotz aller vernünftigen Zureden nicht davon abbringen lassen. Victor behauptete, die Herausforderung habe ihn gereizt. Aber Urnue vermutete, dass mehr dahinter steckte. Damals in Vladislavs Villa musste irgendwas vorgefallen sein. Victor hatte seither eine unverkennbar andere Haltung zu dessen Schutzgeist.

"Nein, einen Spaziergang hatte ich nicht erwartet. Selbst für mich nicht. Aber das hier hat selbst meine kühnsten Befürchtungen noch bei weitem getoppt.", gestand Victor. "Danke."

"Nichts zu danken. Mach sowas in Zukunft einfach nicht mehr."



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück