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A thousand words or less

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Stories in dieser Sammlung entstehen aus einer kleinen Promp-Challenge, die ich zusammen mit darkyamimaru und rumwolf schreibe. Die Prompts und Charaktere werden für jede Runde ausgelost und die Story muss zwischen 950 und 1.050 Worten haben.

Runde 1
Charakter: Die
Prompt: verrückt
Wortzahl: 1.000
Surpise Saga: ja Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Der Titel ist schamlos von "Der letzte Sing (alles wird gut)" von Kummer geklaut, weil ich damit endlich die richtige Stimmung für das hier gefunden hatte.

Runde 2
Charakter: Sakito
Prompt: Katharsis
Wortzahl: 1.050
Surpise Saga: ja Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Runde 3
Charakter: Reita
Prompt: violett
Wortzahl: 1.045
Surpise Saga: ja Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Runde: 4
Charakter: Tsukasa
Prompt: Taschenlampe
Wortzahl: 1.034
Surpise Saga: nein Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Runde 5
Charakter: Ataru Nakamura
Prompt: (Edel)Stein(e)
Wortzahl: 1.018
Surpise Saga: nein Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Runde 6
Charakter: Tora
Prompt: Haruki Murakami
Wortzahl: 1.032
Surpise Saga: ja Komplett anzeigen

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01. Anything you want (Dir en grey)


 

Anything you want

 

 

Mit jedem Schritt, den er in Richtung Fahrstuhl tat, beschleunigte sich sein Puls noch etwas mehr. Die war sich sicher, dass er gerade allein in der Tiefgarage war und unendlich dankbar dafür, allein weil er das Gefühl hatte, dass sein Herzschlag von den Betonwänden wie ein zu lautes Echo zurückgeworfen wurde.

 

Ich habe gesehen, wie du uns manchmal beobachtest.“

 

Die Knoten in seinem Magen begannen sich zu winden wie Schlangen, als er sich einmal mehr an die Worte erinnerte, die er seit Tagen als Dauerschleife in seinen Gedanken hörte. Am liebsten hätte er vergessen, dass es dieses Gespräch überhaupt gegeben hatte. Etwas anderes zu tun, war einfach nur verrückt. Das, und dumm.

 

Schau nicht so erschrocken.“ Ein nachgiebiges Lächeln. „Ich sage nicht, dass das etwas Schlechtes ist.“

 

Er legte eine Hand auf den Knopf, der den Aufzug zu ihm nach unten bringen würde, froh, dass niemand hier war, der sehen konnte, wie sehr sie zitterten. Was hatte ihn bitte geritten, dass er sich hierauf eingelassen hatte? Wieso hatte er nicht einfach alles abgestritten?

 

Vermutlich weil er diesen warmen braunen Augen, aller Kabbeleien zum Trotz, eben doch nichts abschlagen konnte. Erst recht nicht, wenn sie ihm das anboten, was ein Teil von ihm wollte, egal ob er es sich bisher hatte eingestehen können, oder nicht. 

 

Mit einem leisen ‚Pling‘ öffneten sich die Türen des Fahrstuhls.

 

Der ewige Zweifler in ihm mahnte, dass sich etwas, worauf man sich freut, nicht so unfassbar nervenaufreibend anfühlen sollte – der Gedanke ließ ihn innehalten und noch einmal durchatmen.

 

Er musste nicht hier sein. Es war seine Entscheidung. 

 

Du bist neugierig, oder?“ Weniger eine Frage als eine amüsierte Feststellung. „Würdest du gern mehr sehen?“

 

Vor wenigen Tagen hatte er sich bei dieser Frage an seinem Cocktail verschluckt, jetzt atmete Die nur tief durch und betrat den Aufzug. Auch wenn seine Finger noch immer zitterten, sie fanden zielsicher die kleine goldene Nummer 8, die ihn in die richtige Etage bringen würde.

 

Für einen Moment schloss er die Augen, atmete durch, nahm dann seine Sonnenbrille ab, um sich in der verspiegelten Aufzugwand zu betrachten – es war nicht so, als ob er sie hier benötigen würde. Er wirkte blass, aber entschlossen und der Gedanke ließ ihn lächeln. Wenn das mal nicht eine gute Zusammenfassung seines Lebens war.

 

Eine zierliche Hand, die nach seinem Unterarm griff, ihn fest umschloss und damit seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Das warme Lächeln, das von einer unausgesprochenen Herausforderung abgelöst worden war. 

 

Sei ehrlich, Die.“

 

Selbst inmitten der Party hatte er sich gefühlt als wäre er in einen luftleeren Raum gezogen worden, als hätte er keinen Sauerstoff zum Atmen mehr finden können. Er hatte beinahe verzweifelt versucht, eine Ausrede zu finden, die ihm ersparen würde, eben genau das zu tun – Ehrlichkeit schien ihm in diesem Moment wie das Letzte, was er wollte. Aber es war ihm keine Silbe über die Lippen bekommen und als er den Blick des anderen nicht mehr hatte ertragen gekommen, war sein Blick automatisch zum ‘Geburtstagskind’ in ihrer Mitte gewandert.

 

Dass er damit auch ohne Worte alle Fragen beantworten hatte, die noch hätten folgen können, wurde ihm erst bewusst, als der Griff um sein Handgelenk für einen kurzen Moment fester wurde.

 

Er sieht heute fantastisch aus, oder?“

 

Alles außer Zustimmung wäre eine Lüge gewesen. Kaoru hatte fantastisch ausgesehen. Ausgelassen über eine von Sagas Anekdoten lachend, sich ständig den viel zu langen Pony aus dem Gesicht streichend, in seinem viel zu großen Cardigan, der an keinem Menschen der Welt hätte attraktiv wirken sollen und es an ihm dennoch tat.

 

Die fühlte, wie sich ein Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete und das unwohle Gefühl in seiner Magengrube zu etwas gänzlich anderem wurde. Für einen Atemzug war es, als könnte der Fahrstuhl sein Ziel gar nicht schnell genug erreichen – er sehnte sich danach, Kaoru zu sehen. Er würde ihn sehen, er war weniger als Minuten davon entfernt im selben Raum wie er zu sein.

 

Der Gedanke war genug, um Hitze in ihm aufsteigen zu lassen.

 

Was noch, Die?“

 

Die Worte waren zu nah an seinem Ohr gesprochen, hatten ihn unfreiwillig erschaudern lassen und er wusste nicht, was er mit diesem Gefühl hätte tun sollen. Shinyas warmer Atem hatte sein Ohr gekitzelt als er näher zu ihm lehnte.

 

Überleg dir, was du noch willst. Was du … haben könntest, wenn du danach fragst.“

 

Mit dem gleichen nervenaufreibend sanften ‘Pling’ öffneten sich die Fahrstuhltüren, während eine Computerstimme ihn darüber informierte, dass er das achte Stockwerk erreicht hatte.

 

Der weiche Teppich, der von der Schwelle des Aufzugs den Gang hinunterführte, schien sein kurzes Zögern geradezu zu verhöhnen.

 

Es war purer Wahnsinn, das hier zu tun, sich auf das einzulassen, was Shinya ihm angeboten hatte. Und dennoch – er atmete noch einmal entschlossen durch, ehe er sich in Bewegung setzte – er war nicht gut genug darin, sich selbst zu belügen, um zu behaupten, dass er nicht genau das wollte. Mehr als die meisten anderen Dinge, die ihm gerade in den Sinn kamen.

 

Er hatte zu viel Zeit damit verbracht, sich vorzustellen, wie die beiden zusammen aussehen mochten. Hatte zu oft versucht, seine verstohlenen Blicke zu verbergen, wenn er sah, wie sie sich näherkamen. Hatte sich zu oft Fantasien verbieten müssen, die weit über das hinausgingen, was für Bandkollegen und Freunde angemessen gewesen wäre, selbst wenn er nie auf die Idee gekommen wäre, dass sie mehr als das sein könnten.

 

Mit klopfendem Herzen blieb er vor der hellen Wohnungstür stehen, dachte daran, wie Kaoru auf der Party ausgesehen hatte und an Shinyas Lächeln als er ihn auf diese Misere, die anscheinend keine war, angesprochen hatte, als wäre es das Natürlichste der Welt.

 

Als er die Hand hob, um zu klopfen, war sie ruhig.

 

Als Shinya die Tür öffnete, um ihn mit einem Lächeln zu begrüßen, erwiderte er es, wie er es immer tat.

 

Die fühlte den Blick seines Freundes auf sich ruhen, hörte wie die Tür hinter ihm wieder geschlossen wurde, spürte Shinyas warme Lippen an seinem Ohr.

 

„Kaoru wartet schon auf dich. Wir sollten seine Geduld nicht überstrapazieren, oder?“

02. (fühlt sich nicht danach an, aber) Alles wird gut (Nightmare)

(fühlt sich nicht danach an, aber)

Alles wird gut
 

 

Das Problem an und für sich, das wurde Sakito immer deutlicher bewusst, war, dass das Leben einfacher war, wenn man nicht alles wusste. Wenn man den Luxus hatte, vor manchen Dingen die Augen verschließen zu können, um Tatsachen, die einem förmlich ins Gesicht sprangen, noch etwas länger zu ignorieren.

 

Er war sich nicht sicher, ob das eine allgemeingültige Regel war, aber er war damit in den letzten Jahrzehnten seines Lebens wirklich gut gefahren. Er war gut darin, nur das wahrzunehmen, was er sehen wollte. Er hatte diesen Luxus genossen, hatte einfach nur getan, wonach ihm gerade der Sinn stand, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen daraus für irgendwen sonst entstehen konnten.

 

War das egoistisch? Definitiv. Und damit konnte er gut leben.

 

Hatte er damit andere Menschen verletzt? Vermutlich, aber auch das hatte er getrost ignorieren und den Deckmantel, der „jeder ist für sich selbst verantwortlich“ hieß, über etwaige Schuldgefühle breiten können.

 

Und hätte er die Wahl gehabt, hätte er auch gut und gerne so weitermachen können. Man sollte ja schließlich nichts an Dingen ändern, die gut funktionierten, so wie sie waren. Nur schien der Rest der Welt das anders zu sehen, und nun musste er das leider ausbaden.

 

Sakito stellte sein Glas ab, hoffe darauf, dass der Alkohol in seinem Blut früher oder später alles andere betäuben würde. Er löste sich vom Tresen und ließ sich im Strom anonymer Körper auf die Tanzfläche schwemmen. Er wollte nichts mehr, als sich in diesem Moment zu verlieren, zu vergessen, warum er überhaupt hier war. Er wollte diese verdammten Stimmen aus dem Kopf bekommen.

 

Sagas Stimme, die ihm wohlmeinend aber eindringlich sagte, dass er langsam mal aufhören sollte, sich wie ein gefühlskaltes Arschloch zu verhalten.

 

Uruhas Stimme, die ihm klarmachte, dass dessen Leben mittlerweile andere Prioritäten hatte, als jedes Wochenende um die Häuser zu ziehen.

 

Ni~yas Stimme– Sakito kniff die Augen zusammen, versuchte sich auf den warmen Körper zu konzentrieren, der sich gerade tanzend von hinten an ihn schmiegte.

 

Er wollte nicht an Ni~ya denken. 

 

Schon aus Prinzip nicht, und hier und jetzt erst recht nicht. Er wollte sich nicht damit auseinandersetzen müssen, warum allein der Gedanke an den Blick, mit dem Ni~ya ihr letztes Gespräch abgebrochen hatte, ihm einen Stich ins Herz gab.

 

Es war Ni~yas eigene Schuld, wenn er mehr in ihm sah, als Sakito geben konnte. Oder können wollte.
 

 

Es war Ni~yas Schuld, dass Sakito das Gefühl hatte, dass sein perfektes Leben in den letzten Wochen Risse bekommen hatte und langsam aber sicher, wie in Zeitlupe, in sich zusammenbrach.

 

Sakito wünschte, dass er ihn dafür hassen könnte. Er war gut darin, wegen der kleinsten Dinge nachtragend zu sein, wenn er es nur darauf anlegte. Es sollte kein Problem sein, Ni~ya aus seinen Gedanken zu verbannen und nur die für ihre Arbeit nötigsten Interaktionen zuzulassen.

 

Und dennoch.

 

Mit einer unwirschen Geste wischte er sich den Schweiß, der über seine Wangen perlte, aus dem Gesicht und drehte sich zu seinem unbekannten Tanzpartner um, um in der nächsten Bewegung die Arme in dessen Nacken zu verschränken, sich noch enger an ihn zu pressen.

 

Er würde sich von niemandem seine Nacht verderben lassen, nicht mal von Ni~ya. 

 

Insbesondere nicht von Ni~ya, selbst wenn der vermutlich nicht einmal wusste, was er eigentlich angerichtet hatte, aber das war ja nichts Neues.

 

Der Kuss, in den Sakito seinen Tanzpartner zog, war frei von Emotion, war ein reines Nehmen dessen, was er gerade brauchte – nicht dass es den anderen Mann zu stören schien. Fremde Hände suchten sich den Weg über seinen Körper, legten sich besitzergreifend an seine Hüften und Sakito wünschte sich nichts mehr, als in diesen Berührungen versinken zu können.

 

Er wünschte sich, er könnte einfach alles hinter sich lassen, sich auflösen im Gefühl einfach nur begehrt zu werden, ohne die Verantwortung dafür tragen zu müssen, was gerade passierte. Er wollte nichts mehr als Leere in seinem Kopf, die für nichts Platz ließ, als das Gefühl von jemandem gewollt zu werden. Unkompliziert, unverbindlich.

 

Aber statt Leere war sein Kopf voll von ihm. 

 

Statt einer kleinen Schippe Glückseligkeit, gab sein Hirn ihm nichts als Bilder von Ni~ya. Von Ni~yas lächelnden Lippen, mit einem silbernen Ring verziert, die ihn zu sich zu rufen schien. Von Ni~yas Händen an Bass-Saiten oder in ein weiches Handtuch vergraben. Von Ni~ya, wie er einfach nur neben ihm saß, ihre Schultern aneinander gelehnt, und ihm zuhörte, wenn er sich wieder einmal über die Ungerechtigkeiten seines privilegierten Lebens echauffierte.

 

Er wusste nicht, woran es lag, wollte es gar nicht erst wissen, aber von einem Atemzug auf den anderen, wurde ihm klar, dass er hier wegmusste.

 

Ohne ein Wort befreite er sich von den Händen, die ihn bisher so sicher gehalten hatten und bahnte sich rücksichtslos den Weg durch die Menschenmassen, die ihn umgaben. Warum sollte er auch gerade jetzt damit anfangen, an das Wohl anderer zu denken? 

Jetzt, wo seine Gedanken rasten und wie von einem Fixstern angezogen immer wieder bei Ni~ya landeten, ob er das wollte oder nicht.
 

 

Er hätte nicht einmal sagen können, wie er den Weg von der Tanzfläche zu Ni~yas Wohnungstür zurücklegte. Er erinnerte sich nur schwach an eine nasskalte Nacht und beheizte Taxi-Ledersitze, ehe er sich mit zittrigen Händen sturmklingelnd vor einer bekannten Wohnungstür wiederfand und sich zwang genau dort stehenzubleiben, bis sie sich öffnete.

 

Selbst wenn er gewusst hätte, was er sagen wollte, wären ihm die Worte bei Ni~yas Anblick im Hals stecken geblieben, während sein Herz wie wild zu schlagen begann. Der andere war unrasiert, verschlafen und in Jogginghosen und ein Sweatshirt gekleidet, das er seit mindestens zehn Jahren besaß. Und dennoch–

 

„Warum fühlst du dich an, wie nach Hause kommen?“ Die Worte verließen Sakitos Mund ohne seine Zustimmung. Sie waren zu wahr, zu geladen, als dass er sie je hätte sagen wollen.

 

Ni~ya zuckte nur mit den Schultern.

 

„Weil ich dich kenne?“

 

„Ich will mich nicht ändern müssen.“

 

„Ist okay.“

 

„Kann ich trotzdem reinkommen?“

 

„Sicher.“

 

Sakito blieb stumm, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hatte das Gefühl, dass er nichts anderes tun konnte, als Ni~ya anzusehen, bis dieser schließlich seufzte und die Arme ausbreitete.

 

Ihm war klar, dass dies nur eine weitere Flucht war, aber in Ni~yas Arme zu flüchten, erschien ihm wie die beste Idee seit Langem.

03. Bruises on your thighs (The Gazette)


 

Bruises on your thighs

 

 

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte für einige Sekunden an die Decke. So schwer es ihm auch fiel, er musste zumindest versuchen, den Anschein einer Nonchalance zu wahren, die ihm irgendwann in den letzten Wochen abhandengekommen war.

 

„Alles gut bei dir?“

 

Mit einiger Anstrengung richtete Aoi sich so weit auf, dass er sein Gegenüber ansehen konnte. Uruhas Augen fixierten ihn auf diese ihm so eigene Art und Weise, die ihm automatisch ein kleines Lächeln entlockte.

 

„Natürlich.“ Er nahm das Handtuch, das Uruha ihm reichte, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, hieß die kurzzeitige Ablenkung willkommen, die ihm dadurch angeboten wurde.

 

„Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen um ihn machen musst.“ All die Coolness, um die er bis eben erfolglos gekämpft hatte, war in Uruhas Stimme vorhanden, als wäre die Sicherheit hinter seinen Worten das Natürlichste der Welt.

 

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Aoi zu ihm auf, versuchte sich nicht von dem Lächeln auf Uruhas vollen Lippen ablenken zu lassen. Stattdessen folgte sein Blick der unauffälligen Geste seines Partners, schweifte für einen Moment durch die Garderobe, bis er schließlich auf Reita landete, der mit dem Rücken zu ihnen stand und sich gerade umständlich aus seinem Kostüm schälte.

 

Wie so oft fühlte Aoi sich von dessen Körper beinahe hypnotisiert. Er hatte das Gefühl sich an dem weichen Handtuch festhalten zu müssen, um zu verhindern, dass seine Finger den Weg auf die andere Seite des Raumes fanden und die Haut zu berührten, die unter schwarzem Leder zum Vorschein kam.

 

Das fast schon schummrige Licht der Garderobe versuchte das Violett zu verbergen, aber Aoi konnte ohne Mühe die Stellen ausmachen, an denen es das makellose Bild trübte, das Reitas Rücken sonst bot.

 

„Hey.“ Feingliedrige Finger griffen nach seinem Haar, zogen ihn näher zu Uruha, der noch immer neben ihm auf der Sofalehne saß. „Er hat gesagt, dass er okay ist.“

 

„Er kennt seine Limits nicht.“

 

Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten und es würde vermutlich auch nicht das letzte sein. Dennoch konnte Aoi nichts gegen das Gefühl tun, dass er eine Grenze überschritten hatte, deren Einhalten in seiner Verantwortung hätte liegen sollen.

 

„Er weiß, was er will und er kennt die Regeln. Hör auf, dich selbst so zu martern. Das ist meine Aufgabe.“ Aoi musste widerwillig lachen als Uruha sich zu ihm hinunterbeugte und ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn drückte, und sah ihm nach, als er sich ohne ein weiteres Wort zu verlieren erhob. Uruha durchquerte die Garderobe in Richtung ihres gemeinsamen Freundes, um Reita mit dem Reißverschluss seines Kostüms zu helfen. Aoi hörte nur halb, wie die beiden sich unterhielten, ein Herz und eine Seele, wie sie es schon immer gewesen waren. Auch die nebensächlich-zärtlichen Berührungen, die sie teilten, waren nichts, was er nicht schon tausendmal gesehen hatte. Und dennoch war ihm mehr als deutlich bewusst, dass dies Uruhas Weg war, ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war.

 

Und er musste ihm recht geben: Obwohl auch unter Reitas schwarzen Hosen weitere blaue Flecke zum Vorschein kamen, waren seine Bewegungen nicht müder oder schwerfälliger als nach jedem anderen Konzert auch.

 

Es dauerte einige Minuten, bis er sich endgültig vom Anblick der beiden losreißen und damit beginnen konnte, sich selbst von seinem verschwitzten Bühnenoutfit zu befreien. Es tat ihm für ihre Fans Leid, dass er das Konzert so an sich hatte vorbeiziehen lassen, weil seine Gedanken immer wieder zu Reita abgeschweift waren, aber ändern konnte er es nun auch nicht mehr. Und auch wenn Kai und Ruki dem Rest der Band immer mal wieder argwöhnische Blicke zugeworfen hatten, seine Performance schien zumindest nicht so sehr gelitten zu haben, dass es einem der beiden einen Kommentar wert war.

 

Vielleicht hatte Uruha in seiner fast untrüglichen Intuition also einmal mal mehr Recht: Er machte sich einfach zu viele Sorgen. Reita war erwachsen und wusste, worauf er sich einließ, wenn er zu Aoi kam und ihn um seine Zeit bat.

 

Allein der Gedanke ließ ihn die Augen schließen und darum kämpfen, einen Schauder zu unterdrücken.

 

Er würde nie den Ausdruck in Reitas Gesicht vergessen, als er sich das erste Mal in seinem und Uruhas Schlafzimmer wiedergefunden hatte. Als hätten sich ihm gerade gänzlich neue Sphären des Seins erschlossen.

 

Aoi dachte an den Kontrast zwischen Reitas sonnengebräunten Armen und dem dunklen Violett der Seile, die Uruha ausgesucht hatte.

 

Er dachte an rotes Wachs, das sich über Reitas Brustkorb ergoss und ihm mit jedem Tropfen ein dunkles Seufzen entlockte.

 

Er sah aus den Augenwinkeln zu Reita, der gerade über etwas lachte, das Kai im Gehen gesagt haben musste, und dachte an das Geräusch, das das Schlagseil bei jedem Auftreffen auf seinen Oberschenkeln gemacht hatte. An die Spuren davon, die er jetzt noch sehen konnte.

 

Es hatte Reita die Tränen in die Augen getrieben, ihn auf die schönste Art und Weise betteln lassen – und doch hatten die wenigen Silben seines Safewords Reitas Lippen nie verlassen.

 

Mit einem Seufzen wandte Aoi sich ab, ehe die anderen bemerken konnten, wie abgelenkt er wirklich war. Mit mehr Akribie als nötig, begann er seine Habseligkeiten zurück in seine Tasche zu packen, ehe er einen Blick auf sein Handy warf, auf dem eine Nachricht von Saga wartete. Er beschloss, sie vorerst zu ignorieren.

 

Denn, soviel konnte er zumindest vor sich selbst zugeben, letztlich lag das Problem an anderer Stelle: Es gab einen kleinen, aber hartnäckigen Teil von ihm, der befürchtete, dass er irgendwann zu weit gehen und Reita damit abschrecken würde. Das Schlimmste war, dass dies nicht nur deswegen ein Problem wäre, weil er seinem langjährigen Freund eben nicht mehr Schmerz zufügen wollte, als dieser bereit war auf sich zu nehmen. Nein, viel mehr befürchtete er Reita zu verlieren, indem er zu weit ging. 

 

Und das war, zu seinem eigenen Erstaunen, ein Risiko, das er nicht bereit war einzugehen. 

 

Aoi schreckte auf, als sich ein Arm um seine Schultern schlang und der mittlerweile vertraut-herbe Geruch von Reitas Parfüm in seine Nase stieg.

 

„Willst du hier noch weiter ‘rumstehen?“

 

„Nicht unbedingt?“

 

„Okay, dann lass uns gehen, Uruha meinte, dass es kein Problem ist, wenn ich mich heute bei euch einquartiere.“

 

Und da war die zweite Erkenntnis des Abends: Uruha war unwiederbringlich auf der Mission, sie alle zu ihrem Glück zu zwingen.
 

 

04. The Boys Time Can't Capture (D'espairsRay)


 

The Boys Time Can't Capture
 

„Hey! Psssst! Tsukasa!“
 

Eine Hand packt dich unsanft an der Schulter und schüttelt dich kräftig durch.
 

Dein erster Instinkt ist, dich einfach in deiner Schlafkoje umzudrehen, um der nächtlichen Störung zu entkommen, aber wie so oft in deinem Leben hast du deine Rechnung offensichtlich ohne Hizumi gemacht.
 

„Tsukasa, komm schon! Ich will dir was zeigen!“
 

Deiner Kehle entkommt lediglich ein gequälter, tierähnlicher Laut, als du dich geschlagen gibst und blinzelnd die Augen öffnest – im selben Moment, in dem er beschließt, seine Taschenlampe anzuschalten.
 

„Oh Gott, nimm das Ding aus meinem Gesicht oder ich tu dir was.“
 

„That’s what she said.“ Du kannst das Feixen in seiner Stimme hören, noch während du das Gesicht wieder in deinem Kopfkissen vergräbst.
 

„Ich weiß nicht, ob der Witz so funktioniert“. Ganz abgesehen davon, dass bei seiner Aussprache eh kein Amerikaner verstehen würde, worauf er hinaus will.
 

„Auch egal.“ Die beinahe kindliche Ungeduld in seiner Stimme lässt dich widerwillig lächeln, weil sich manches eben nie ändert. „Kommst du jetzt endlich?“
 

Du seufzt, beginnst umständlich damit, dich aufzusetzen. Zum einen bist du jetzt sowieso wach und zum anderen würde er dir ohnehin keine Ruhe lassen, selbst wenn du versuchen würdest, ihn zu ignorieren. Allerdings musst du durch die plötzliche Bewegung feststellen, dass du noch ein gutes Stück mehr Restalkohol im Körper hast, als erhofft.
 

„Was ist eigentlich los?“, willst du deswegen wissen, um noch etwas Zeit zu schinden, bevor du dich ganz in die Senkrechte hieven musst.
 

„Komm einfach mit.“
 

Hizumis warme Finger verschränken sich mit deinen und wäre es dafür nicht schon ein paar Jahrzehnte zu spät, würde dich der bittende Ausdruck in seinen tiefbraunen Teddybäraugen spätestens jetzt zum Schmelzen bringen.
 

Als ob du ihm jemals etwas abschlagen könntest.
 

Also stehst du schwerfällig auf und stolperst hinter ihm her durch den Tourbus. Wie so oft in deinem Leben folgst du einfach dem Weg, den er dir vorgibt und fühlst dich dadurch unwillkürlich in eure Kindheit zurückversetzt.
 

Du weißt nicht einmal, ob er sich noch an diesen einen Sommer erinnert, in dem ihr zusammen im Ferienlager wart, aber für dich war er ein einschneidendes Erlebnis. Ihr wart gerade zwölf und auch damals hatte er dich mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt, weil er der Meinung war, dass ein Sommercamp ohne Nachtwanderung kein richtiges Sommercamp ist.
 

Und schon damals fandest du es nicht wirklich schlimm, der Leidtragende seiner Ideen zu sein. Im Nachhinein betrachtet, hättest du wohl eher erkennen können, dass sich dieser Trend für den Rest deines Lebens fortsetzen würde.
 

Während du jetzt nur den Parcours bis ans hintere Ende des Busses schaffen musst, seid ihr damals im Licht einer mickrigen Taschenlampe querbeet durch den Wald gestolpert, ohne zu wissen, wo ihr eigentlich genau wart oder wie wir wieder zurück ins Camp kommen würdet. Wie genau ihr es geschafft habt, pünktlich kurz vor der Weckzeit wieder in euren Doppelstockbetten zu liegen, hast du vorsichtshalber verdrängt.
 

Es kostet dich erhebliche Mühe, diesen Gedanken beiseitezuschieben und dich stattdessen darauf zu konzentrieren, was dir sein neuster Plan abverlangen wird. Und was du siehst, stimmt dich nicht wirklich positiv, was deine körperliche Unversehrtheit betrifft. Du siehst ihm stumm dabei zu, wie er die Leiter hinauf klettert, die auf das Dach des Busses führt und dein Magen meldet vorsichtshalber deutliche Bedenken an, als du danach greifst, um ihm zu folgen.
 

Eigentlich kann das nur schiefgehen. Aber du bist wach und hast ganz offensichtlich nichts Besseres zu tun als mitten in der Nacht irgendwo in den schier unendlichen Weiten der USA auf ein Busdach zu krackseln, weil er sagt, dass du genau das machen solltest.
 

Immerhin hält er dir von oben eine Hand entgegen, um dir den Aufstieg zu erleichtern und wenn du sie danach einfach in deiner behältst, muss das sonst niemand erfahren.
 

Du versuchst – und scheiterst kläglich – ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken, während du dich umsiehst. Euer Bus steht in der wortwörtlich menschenleeren Einöde auf einem Parkplatz, der dich an das letzte dutzend Horrorfilme denken lässt, die anzusehen er dich gezwungen hat. Am anderen Ende der Reihen von asphaltierten Stellplätzen befindet sich ein Diner, dessen flackernde Neonbeleuchtung die einzige Lichtquelle weit und breit ist. Davon abgesehen gibt es die nur kahle Weite des verbrannten Graslandes, das sich bis zum Horizont hinzieht.
 

„Also wenn du mir zeigen wolltest, dass wir hier definitiv ermordet werden könnten, ohne dass es jemand merkt, darauf hätte ich gern verzichtet“, stellst du schließlich fest und wünschst dich in das warme Bett zurück, das nur wenige Meter entfernt auf dich wartet.
 

„Nein, du Blödmann“, Es ist fast lustig, dass das Wort aus seinem Mund wie ein Kosename klingt. Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln und dein Herzschlag stolpert kurz, als er seine Hand aus deiner befreit und dann beide an deine Wangen legt. „Ich wollte dir das hier zeigen.“
 

Wenig sanft bringt er dich dazu, den Kopf in den Nacken zu legen und nach oben zu sehen.
 

„Oh. Okay.“ Mehr kannst du gerade tatsächlich nicht sagen und kann es nicht mal auf den Restalkohol schieben, weil sich über euch der unfassbarste Sternenhimmel spannt, den du je gesehen hast.
 

Der Mond hängt nur als schmale Sichel in der Nachtluft, aber je länger du nach oben siehst, desto unwirklicher wirken die Sterne, die dir entgegenfunkeln und mit jeder Sekunde nur mehr zu werden scheinen. Es ist schwindelerregend, als würdest du den Boden unter den Füßen verlieren und Hizumis warme Hände sind alles, was dich daran hindert, einfach ins Universum davonzuschweben.
 

„Ich wusste nicht, dass man die Milchstraße irgendwo ohne Teleskop so deutlich sehen kann.“
 

„Wahnsinn, oder?“
 

Für einen Moment ignorierst du die Sterne und siehst nur ihn an, umgeben vom seltsamen Leuchten der Nacht. Und du hattest nicht Unrecht mit deinen Gedanken. Es war schon immer so, dass er es war, der dich im Hier und Jetzt gehalten hat, der das Funkeln der Sterne für dich eingefangen hat. Seine Lippen verziehen sich zu einem sorgenfreien Grinsen und vielleicht liegt es nur am Restalkohol, aber für einen Moment siehst du euch, wie in einer Rückblende, mit zwölf im Wald stehen, umgeben von einem ganzen Schwarm Glühwürmchen, den ihr versehentlich aufgescheucht habt.
 

„Ziemlich.“ Deine Antwort kommt so verspätet, dass er seinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen einfängt und dann noch breiter grinst.
 

„Spinner.“

05. ring without a gem (Decays)


 

ring without a gem

 

Ataru würde sich selbst nicht als übermäßig rührseligen Menschen bezeichnen. Sicher, auch sie hatte ihre sentimentalen Momente. Solche, in denen man mit rosaroter Brille auf die Vergangenheit sah und sich fragte, ob früher nicht doch alles besser war. Im Gegensatz zu vielen anderen konnte sie diese Frage allerdings mit einem eindeutigen und durchaus positiv gemeinten „Nein.“ beantworten. 

 

Es mochte Momente geben, die sie vermisste, wie jeder andere Mensch auch, aber genauso hatte sie die Gewissheit, dass in ihrem Leben heute alles so war, wie es sein sollte. Vielleicht nicht so, wie sie es sich mit vierzehn oder fünfzehn gewünscht hätte, aber das lag daran, dass sie sich nicht hatte vorstellen können, ein Leben zu führen, dass sie so erfüllte, wie es heute der Fall war.

 

Und genauso wenig, wie sie Zeit damit verbrachte, unnötig in Erinnerungen zu schwelgen, mochte sie es, an Traditionen festzuhalten, nur um diejenigen zufriedenzustellen, die sie irgendwann einmal erfunden hatten. Denn welchen Wert hatten Bräuche, wenn sie zur reinen Pflicht verkamen und keinerlei Erfüllung gewährten? Stattdessen hatte sie schon als Kind beschlossen, dass es weitaus sinnvoller war, einfach eigene Traditionen zu schaffen. Solche, an denen man ehrliche Freude haben konnte.

 

Man mochte also über sie sagen, was man wollte – übermäßige Gefühlsduselei konnte man Ataru nicht vorwerfen. Und vielleicht war genau das der Grund dafür, dass sie diejenigen Dinge, die sie mit aufrichtig empfundener Wärme an besondere Momente erinnerten, umso mehr wertschätze, so klein und unbedeutend sie auch wirken mochten. 

 

Und diese Tatsache wiederum führe auf direktem Wege dazu, dass sie in an Tradition grenzender Regelmäßigkeit einmal im Monat einen Nachmittag damit verbrachte, ihre sorgsam zusammengetragene Sammlung an Edelsteinen und Mineralien zu pflegen, um den Kleinoden die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdienten.

Jeder der Steine hatte seinen festen Platz in ihrer Wohnung, jeden nahm Ataru einzeln in die Hand, um ihn zu entstauben oder zu reinigen, so es nötig war. Ihre Reihenfolge änderte sich nur, wenn sie nach einem wichtigen Ereignis in ihrem Leben eine weitere Kostbarkeit hinzufügte.

 

Den Anfang aber machte immer ein ungeschliffener Zitrin, der heute gut in ihre Handfläche passte, aber so groß wie ihre Faust gewesen war, als ihre Großmutter ihr den Stein zur Einschulung geschenkt hatte. Atarus Finger zeichneten die kleinen Ecken und glatten Kanten nach, folgten den Farbverläufen von fast weißen Zitronenfaltergelb hin zu einem kräftigen Ton, der beinahe an Löwenzahn erinnerte. Sie hatte diesen Stein so oft in ihrem Leben einfach gehalten, dass sie nicht mehr hätte sagen können, wie oft es gewesen sein mochte.

 

Auf ihn folgte ein kleines, unscheinbares Stück Hämatit, das mit seiner metallisch grauen Oberfläche und überraschenden Schwere fast wie das Gegenteil seines Vorgängers erschien. Für Ataru war es ein bittersüßes Monument, das sie auch heute noch mit harter Deutlichkeit an das erste Mal erinnerte, dass ein Mädchen ihr das Herz gebrochen hatte. Gekauft hatte sie ihn von ihrem Taschengeld auf einem Schulausflug, nur wenige Stunden, bevor sie ihrer Klassenkameradin ihre Gefühle gestanden hatte. Auch jetzt noch lag ein melancholisches Lächeln auf ihren Lippen, als die den dunklen Stein akkurat wieder an seinen Platz legte.

 

Und so aufwühlend die Erinnerungen auch sein mochten, sie wurden nicht ganz zufällig vom nächsten Stück ihrer Sammlung wieder besänftigt: ein oval geschliffenes Stück Aventurin, das in Aussehen und Größe nicht unähnlich der Eier war, die die Zwerghühner ihrer Großmutter legten. Der tiefgrüne Ton hatte für sie seit jeher etwas Beruhigendes ausgestrahlt, was vielleicht der Grund war, warum sie ihn vor ihren Universitätsprüfungen einfach hatte kaufen müssen, nachdem sie ihn in einem Schmuckladen gesehen hatte. Seitdem war der Stein ein ständiger Begleiter zu Gelegenheiten, die einen Neubeginn bedeuten konnten. Für den Moment jedoch fand er wieder seinen festen Platz auf dem hellen Holz des Regals.

 

Atarus Fingerspitzen wanderten langsam weiter, strichen fast schon ehrfürchtig über die warm glänzenden Perlen der Bernsteinkette, ehe sie sie vorsichtig an sich nahm und wieder und wieder durch ihre Hände gleiten ließ. Der Farbverlauf der kleinen, rund geschliffenen Steine würde sie wohl immer faszinieren, egal, wie oft sie die Kette ansah oder zu seltenen Gelegenheiten trug. Wann immer der Bernstein auf ihrer Haut zu liegen kam, erinnerte sie sich an die Reise nach Myanmar, die sie nach ihrem Studium mit einigen Freunden unternommen hatte. Das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Zeit außerhalb Japans verbracht hatte. Damals war es ihr wie das größte Abenteuer erschienen, auf das sie hätte gehen können.

 

Die nächste Erinnerung erschien erneut wie ein Gegenteil ihres Vorgängers: rau, ungeschliffen, tiefblau und damit so ganz anders als der Anlass, zu dem sie ihn als Geschenk an sich selbst gekauft hatte. Als Erinnerung daran, dass es sich manchmal lohnte, mutig zu sein. Das klare Indigo der Oberfläche wurde von kleinen golden glimmenden Pyrit-Flocken durchzogen, ließ sie an einen endlosen Nachthimmel im Hochsommer denken. Der Himmel, unter dem Toshiya sie nach einem viel zu langen Abend zum ersten Mal geküsst hatte. Selbst jetzt noch konnte sie die Wärme in ihren Wangen fühlen, wenn sie daran dachte.

 

Der Amethyst, dem sie sich nach längerem Verharren zuwandte, war merklich größer, als alle seine Vorgänger und wirkte doch beinahe unscheinbar. Mit seinen unbearbeiteten, fliederfarbenen Kristallen erweckte er beinahe den Eindruck, als hätte man ihn gerade erst aus der Erde geborgen. Für Ataru jedoch war er ein Stück zu Hause, im wahrsten Sinne des Wortes: Solang sie sich erinnern konnte, hatte er eine Kommode im Haus ihrer Eltern geschmückt. Als sie schließlich ausgezogen war, hatten sie ihn ihr als Einzugsgeschenk für ihre erste eigene Bleibe überlassen.

 

Vor dem letzten und neuesten Stück auf diesem Regal verharrte sie länger, um den nur halb geschliffenen Granat eingehend zu betrachten. Sie mochte sein ‘unfertiges’ Aussehen, es fühlte sich an, als stünden ihm und ihr noch alle Möglichkeiten offen, die Zukunft so zu gestalten, wie sie es wollte. Und es hätte kaum ein besseres Valentins-Geschenk geben können als dieses, das Die ihr am Anfang ihrer Beziehung überreicht hatte. Damals, als sie noch nicht wussten, wohin all das führen würde, was heute ein fester Bestandteil ihres Lebens war.

 

Und, das stellte sie wieder einmal fest, bei Dingen, die solche Erinnerungen festhielten, konnte ein bisschen Sentimentalität so falsch nicht sein.

 

06. Sputnik Sweetheart (Alice Nine/The Gazette)


 

Sputnik Sweetheart

 

Mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck blätterte Tora die letzte Seite um und ließ das Buch in seinen Schoß sinken. Für einen Moment war nichts außer dem warmen Wind und dem entfernten Rauschen der Wellen, die sich an der Küste Mauis brachen, zu hören.

 

„Also ich weiß ja nicht“, begann er. Uruha konnte nicht anders als ihm am Strohhalm seines Cocktails vorbei ein Grinsen zuzuwerfen und ihm über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg fragend anzusehen.

 

„Was weißt du nicht?“

 

„Na das hier.“ Wie um zu unterstreichen, was er meinte, hob Tora das Buch noch einmal hoch, streckte ihm das helle Cover mit dem Bild eines kleinen Satelliten entgegen. „Das ist doch kein Ende.“ Toras Stirnrunzeln war in jedem seiner Worte förmlich zu hören.

 

„Findest du?“

 

„Finde ich.“ Das Taschenbuch landete wenig liebevoll auf dem kleinen Tisch, der am Kopfende des Strandbetts stand, auf dem sie es sich für den Nachmittag bequem gemacht hatten.

 

„Ich mag es.“

 

„Du bist ja auch komisch.“

 

Uruha konnte nicht anders, als lachend den Kopf zu schütteln. Das Cocktailglas in seiner Hand gesellte sich zu dem Buch, als er sich aufsetzte, um Tora besser ansehen zu können.

 

„Immerhin nicht so komisch, dass es dich abschrecken würde, oder?“

 

Er rückte näher, bis er sich schließlich rittlings auf Toras Schoß niederlassen konnte, und dessen Hände gewohnt sicher und warm an seinen Hüften lagen.

 

„Nope.“ Das altbekannte schiefe Grinsen, das Uruha schon um den Verstand gebracht hatte, seit sie sich das erste Mal über den Weg gelaufen waren, schlich sich auf seine Lippen. „Dazu würde es schon einiges mehr brauchen, als einen schlechten Büchergeschmack.“

 

„Über den müsste eher ich mich beschweren. Das ist Murakami! Wie kann man Murakami bitte schlecht finden?“ Er hielt in seinen ausschweifenden Gesten inne, beugte sich nach unten, um Toras Lippen für einen kurzen Kuss einzufangen. „Kunstbanause.“

 

„Du hättest es schlechter treffen können.“ Toras Worte strotzten vor Selbstbewusstsein und Uruha konnte ihn dafür noch nicht einmal rügen, weil er schlicht und einfach recht damit hatte.

 

Die tätowierten Hände seines Freundes strichen langsam, aber bestimmt an Uruhas Seiten auf und ab, hinterließen unwissend eine wohlige Gänsehaut, während er ihn einige Momente nachdenklich ansah.

 

„Ich finde es nur schade, dass weder die Charaktere noch der Leser so wirklich mit der Geschichte abschließen können“, erklärte er dann.

 

„Aber das ist vielleicht der Sinn des Ganzen, meinst du nicht?“ Auf Toras fragenden Blick hin, zuckte Uruha mit den Schultern. Statt weiterzusprechen, streckte er sich und griff in die Obstschale, die ebenfalls auf dem kleinen Beistelltisch stand. Zielsicher fischte er einige Weintrauben daraus hervor und schob sich eine in den Mund, während er versuchte, die Worte in seinem Kopf zu ordnen.

 

„Wenn du darüber nachdenkst, ist das Ende eigentlich das Realistischste am ganzen Buch. Im echten Leben bekommen wir schließlich auch selten die Möglichkeit, befriedigend mit einem Thema abzuschließen oder alle Antworten zu finden, die wir uns vielleicht wünschen.“

 

„Aber zumindest irgendeine Antwort wäre doch nicht zu viel verlangt.“

 

Die übertriebene Verzweiflung in Toras Stimme ließ ihn erneut auflachen.

 

„Nun. Sie sehen denselben Mond. Das ist doch ein Anfang, oder?“

 

„Vielleicht.“ Ein weiteres unzufriedenes Seufzen verließ Toras Mund, während er blicklos nach oben in die Palmenblätter starrte, die sie vor der Sonne schützten. „… Aber es ist doch schade, quasi schwarz auf weiß zu haben, dass manche Dinge oder Menschen für immer unerreichbar bleiben, oder?“

 

„Wer weiß.“ Uruha ließ zu, dass Tora ihm die letzte Weintraube stibitzte, ehe er sich trotz der herrschenden Wärme an ihn schmiegte. Mit geschlossenen Augen atmete er den Geruch von Meer, Sonne und Toras Parfüm ein, um sie sich so gut wie möglich einzuprägen, ehe er begann kleine Küsse entlang des Tattoos zu verteilen, das die Seite von Toras Hals zierte.

 

Die eingetretene Stille dauerte nicht lang an, ehe sie von Toras Handy unterbrochen wurde, das mit einem kurzen Vibrieren eine neue Nachricht anzeigte und Tora dazu brachte blind danach zu tasten.

 

„Viele Grüße von Saga“, gab er schließlich weiter, schickte sich an, eine Antwort zu tippen. „Er sagt, wir sollen es mit dem Faulenzen nicht übertreiben.“

 

„Er soll sich mal nicht so anstellen.“ Uruha schnappte spielerisch nach Toras Ohrläppchen. „Passiert schließlich selten genug, dass wir gleichzeitig freihaben.“

 

„Und außerdem haben wir das Faulenzen verdient.“

 

„Eben.“

 
 

~*~

 

Als Tora in der Nacht aufwachte, schien fahles Mondlicht durch die offenen Fenster ins Schlafzimmer und die andere Hälfte des Bettes war kalt und leer. Er hätte es nie offen zugegeben, aber das Erste, woran sein noch halb schlafendes Hirn in diesem Moment dachte, waren die letzten Seiten des Buches, das er in den letzten Tagen ihres Urlaubs gelesen hatte.

 

Er setzte sich mit klopfendem Herzen auf, um sich umsehen zu können, aber im Schlafzimmer war keine Spur von Uruha zu finden. Auch hinter der halb offenstehenden Tür zum Badezimmer lag nur Dunkelheit. Die kühle Brise, die vom Meer zu ihrem Hotel getragen wurde, ließ eine Gänsehaut über seinen Körper rieseln, als er sich aufrappelte.

 

Der Marmorboden war mit jedem Schritt unangenehm kalt unter seinen Fußsohlen, als er den Raum durchquerte und durch den schmalen Flur weiter in den Wohnbereich ihrer Suite ging. Ohne zu wissen warum, scheute er sich davor, das Licht einzuschalten, war froh darüber, dass der Mond beinahe voll war und sein milchiges Licht ausreichend, um seine Umgebung zumindest schemenhaft zu erkennen.

 

Auf der anderen Seite des Wohnzimmers trieb die Nachtluft geisterhaft den dünnen Vorhang vor sich her, der den Raum vor direktem Sonnenlicht schützen sollte. Es dauerte einen Moment bis Tora verstand, dass dies bedeutete, dass die Tür zur Terrasse offenstehen musste. Vorsichtig, um die nächtliche Stille nicht zu durchbrechen, überwand Tora die Distanz zur Fensterfront, erschauderte unangenehm, als seine Zehen plötzlich in weichem Teppich versanken. Er konnte seinen eigenen Herzschlag laut und deutlich hören, als er mit einer Hand den Stoff beiseite schob, der die offene Tür verdeckte.

 

Der sternenklare Himmel über Maui wurde nur sporadisch von vorbeiziehenden Federwolken verborgen. Dennoch dauerte es einen Moment, bis er zu seiner Erleichterung Uruha erkennen konnte, der nur wenige Schritte von ihm entfernt am Geländer lehnte und die nächtliche Landschaft zu betrachten schien.

 

Als hätte er gehört, wie Tora sich ihm näherte, drehte er sich mit einem fast geisterhaften Lächeln zu ihm um.

 

„Siehst du, es ist immer derselbe Mond.“



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