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Der erfundene Freund

von

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Familientreffen

Aoko eilte zwischen den Leuten hindurch. Verdammt, warum waren hier so viele? Sie würde ihren Flug noch verpassen. Sie war eh schon viel zu spät dran! Ihr Rucksack auf dem Rücken schwang hin und her und schlug ihr immer wieder schmerzhaft in die Wirbelsäule. Ihr Flug wurde zum letzten Mal aufgerufen und sie hatte noch 4 Gates vor sich. Leichte Panik stieg in ihr an. Wenn sie diesen Flug verpassen würde, dann würden ihre Eltern ihr die Hölle heiß machen. Und ihr Bruder erst recht. In letzter Sekunde sah sie das kleine Kind, das eben ihren Weg kreuzte. Aoko konnte sich aber nicht mehr rechtzeitig fangen, bremsen ging erst recht nicht mehr. Somit blieb ihr nichts anderes übrig als auszuweichen. Ein Ausfallschritt zur Seite, das Kind umschiffen und … rumps. Sie stieß gegen etwas hartes. Der Aufprall erzeugte einen Rückstoß und schwungvoll fiel sie unsanft auf den Po. „Aua“, stieß sie aus.

„Kannst du nicht aufpassen?!“, fauchte da schon eine Person.

Überrascht öffnete sie die Augen, sah auf und erstarrte. Ein junger Mann funkelte sie wütend aus tiefblauen Augen an: „Kaito?“

Auch ihr Gegenüber hielt plötzlich inne. Sein finsterer Gesichtsausdruck wich einem erstaunten. „Aoko?“ Er reichte ihr die Hand und half ihr aufzustehen. „Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen. Wie geht’s dir?“

Auch sie starrte ihn ungläubig an. „Gut und wie geht’s dir?“ Sie musterte den attraktiven jungen Mann vor sich. Er überragte sie um einen Kopf, seine Haare waren immer noch verstrubbelt und unzähmbar. Die tiefblauen Augen musterten sie ebenso. „Du bist ganz schön gewachsen“, stellte sie lachend fest.

„Du nicht“, grinste er plötzlich und ließ ihre Hand los. „Was machst du hier?“

„Ich fliege nach Hause.“ In diesem Moment fiel es ihr schlagartig ein. „Oh nein, mein Flug. Ich muss los.“ Sie rannte wieder los, blieb stehen und drehte sich nochmals kurz zu ihm um. „War schön dich wieder zu sehen.“ Sie winkte ihm noch kurz zu und rannte weiter zu ihrem Gate. Allerdings war dieses leer, der Schalter verlassen und ein Blick durch die Scheibe zeigte ihr die leere Parkbucht. Das Flugzeug wurde soeben ausgeparkt. „Oh nein“, stöhnte sie auf und lehnte ihre Stirn gegen das Fenster. Sie hob ihre Hand, ballte sie zur Faust und ließ sie dann doch sinken. Auch das noch. Sie hatte ihren Flug verpasst. Shinichi wird ihr den Kopf abreißen. Wenn ihre Ma ihm nicht sogar zuvorkommt. Sie musste ihn anrufen. Nicht dass er noch umsonst zum Flughafen fuhr. Sie zog ihr Handy hervor, wählte seine Nummer und lauschte dem Freizeichen.

„Kudo“, erklang die Stimme ihres Bruders an ihrem Ohr. „Hier auch“, sprach Aoko leise ins Telefon.

„Warum rufst du mich an? Du solltest jetzt im Flieger sitzen“, kombinierte er sofort.

„Ich hab den Flug verpasst.“

„Du hast was?! Aoko“, er stöhnte ihre Namen auf. Sie konnte sich bildlich vorstellen, dass er mit seiner linken Hand über sein Gesicht fuhr. „Du bist immer zu spät dran. Ich wusste, dass du es nicht schaffst.“ Sie stutzte. „Deswegen habe ich dich auf den nächsten Flug eingebucht und dir die frühere Abflugzeit genannt.“

„Du hast was?!“

„Ich kenn doch meine kleine Schwester“, lachte er plötzlich am Telefon. „Such dein Gate und warte dort. Dann kommst du pünktlich in Osaka an.“

„Shinichi, wenn ich dich sehe, bringe ich dich um!“ Sie knurrte wütend.

„Wirst du nicht“, lachte er amüsiert. „Guten Flug und bis später.“ Schon legte er auf.

Aoko starrte ihr Telefon an, steckte es weg und brodelte innerlich. Sie hatte sich vollkommen umsonst so ab gestresst. Sie suchte die nächste Fluganzeige und fand den richtigen Flug nach Osaka. Langsam ging sie zu ihrem Gate und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Ihr Rucksack plumpste unsanft auf dem Boden. Sie lehnte erschöpft ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Tief ein- und ausatmend versuchte sie ihr rasendes Herz zu beruhigen.

„Lass mich raten“, sprach sie jemand an. „Shinichi hat dir eine falsche Uhrzeit genannt?“

Aoko öffnete ihre Augen. Kaito stand vor ihr und hielt ihr einen Kaffeebecher entgegen. Sie richtete sich auf, nahm den Becher an und beobachtete wie Kaito sich neben sie setzte. Er schmunzelte. „Typisch Shin.“ Schon nippte er an seinem Kaffee.

Immer noch wütend über die Aktion ihres Bruders, beugte sich Aoko vor und musterte Kaito. „Du findest das also lustig.“

Kaito grinste. „Natürlich. Seit ich dich kenne bist du immer zu spät. Es war ein geschickter Schachzug. Die Idee hätte von mir sein können.“

Sie boxte ihm in den Oberarm. „Hör auf dich über mich lustig zu machen. Schlimm genug, dass ich jetzt hier sitze.“

„Bin ich eine so unangenehme Gesellschaft?“

Aoko musterte ihn überrascht. Sie verfing sich in seinen Augen und schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, natürlich bist du das nicht.“ Sie senkte ihren Blick und nippte an ihrem Kaffee. Dennoch war es seltsam mit ihm hier zu sitzen. Sich von ihren Gedanken abzulenken, sah sie zu ihm: „Aber jetzt erzähl mal. Du bist doch sicherlich schon in festen Händen.“

Kaito sah sie lange an, ehe er antwortete. „Nein, das bin ich nicht.“

„Das glaub ich dir nicht. Seit ich dich kenne warst du immer von Mädchen umschwärmt.“

„Tja, aber die Richtige war bisher nicht dabei“, erklärte er ihr belehrend. „Was ist mit dir?“

„Bist du wahnsinnig?“ Sie grinste breit. „Shinichi vergrault mir doch jeden Typen, der sich mir nur auf einen Kilometer nähert.“ Sie kicherte und auch Kaito schmunzelte. Ihre Augen trafen sich wieder.

„Ja, er hatte schon immer einen großen Beschützerinstinkt.“ Kaito nippte an seinem Kaffee. „Aber den hat er nicht nur bei seiner kleinen Schwester, sondern bei so ziemlich jedem weiblichen Wesen.“

„Bist du sicher, dass du ihn jetzt nicht mit dir verwechselst?“, stichelte Aoko. „Soweit ich weiß, gibt’s für ihn nur eine Frau und die wird er übermorgen zum Altar führen.“

Kaito schmunzelte. In diesem Moment ging eine schöne rothaarige Frau in einem engen Business Kostüm an ihnen vorbei und seine Augen folgten der wohlgeformten Figur.

Aoko entging das nicht. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Kaffee zu. „Ich sehe schon, du hast dich nicht verändert.“

„Ach ja?“ Kaito musterte sie. „Du dich auch nicht.“

Sie grinsten sich an, tranken ihren Kaffee und bemerkten mehr und mehr Menschen, die sich an ihrem Gate versammelten.

Während dem Boarding zogen sie ihre Handys hervor und Kaito linste auf ihre Sitzplatznummer. „Das nenn ich mal Zufall“, grinste er. „Wir sitzen nebeneinander.“

„Welch ein Zufall“, griente Aoko und ahnte schon wer dafür verantwortlich war. Zumindest würde der Flug in Kaitos Anwesenheit angenehm werden. Sie musterte den besten Freund ihres Bruders und als sie seinen Augen begegnete lachte sie ihn an.

Sie unterhielten sich die gesamte Zeit. Dabei brachten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Sie kannten sich schon ewig. Seit dem Kindergarten war Kaito Shinichis bester Freund. Und Aoko war immer die kleine nervige Schwester. Sie kannte ihn quasi schon ihr gesamtes Leben. Allerdings hatte sie ihn seit seinem Abschluss der Oberstufe nicht mehr gesehen. Und wie sie erfuhr, lebte er seitdem in Amerika. Er hatte eine längere Reise als sie zurückgelegt. Sie lebte immerhin in Tokio.

Schon bald erreichten sie den Flughafen von Osaka.

Kaito und Aoko warteten noch auf ihre Koffer und traten eine weitere Stunde später aus dem Flughafengebäude hinaus und trafen auf einen gutaussehenden jungen Mann in Jeans und Hemd.

„Ein Wunder ist geschehen. Meine Schwester ist pünktlich“, grinste dieser auch schon breit und auch etwas gehässig.

Da stürmte Aoko schon auf ihn zu und boxte ihn.

Er wehrte ihren Angriff jedoch geschickt ab und schloss sie lachend in die Arme. Ehe er Kaito begrüßte. „Danke, dass du Aoko hergebracht hast.“

Kaito lachte: „Na hör mal. Du weißt doch, wie gerne ich den Babysitter für deine kleine Schwester spiele.“

Die Jungs lachten, während Aoko schmollte. „Macht euch nur lustig.“

Shinichi legte seinen Arm um Aokos Schulter und führte sie zum Parkplatz. Kaito trug die beiden Koffer und folgte den Geschwistern. Wenig später war ein kleines rotes Auto erreicht und die Koffer verstaut. Sicher lenkte Aokos älterer Bruder den Wagen durch den Stadtverkehr. Eine weitere Stunde später erreichten sie die Villa. Shinichi parkte seinen Kleinwagen vor einer großen Garage.

Kaito, der auf dem Beifahrersitz saß, stieg aus und öffnete für Aoko die hintere Autotür. Er half ihr aussteigen indem er ihr seine Hand reichte. „Willkommen zuhause“, murmelte er und folgte ihrem Blick. Das Anwesen war wie immer beeindruckend.

Aoko spürte seine Finger um ihre Hand und sah verwirrt zu ihm auf.

In diesem Moment öffnete sich die Türe und eine Frau trat heraus. „Schätzchen“, rief sie schon und stürmte auf Aoko zu. „Ach mein Schatz, wie hab ich dich vermisst.“

„Hallo, Mama“, erwiderte das Mädchen die Umarmung.

„Kommt rein, Kinder. Es sind schon alle versammelt und warten auf euch.“

Die jungen Erwachsenen folgten Frau Kudo ins Innere und trafen auf die versammelte Verwandtschaft. Eine junge Servicekraft, balancierte auf einem Tablett mehrere Sektgläser und überreichte diese an die Gäste.

Shinichi verschwand in der Masse um seine Verlobte zu suchen.

Aoko und Kaito blieben etwas überrumpelt stehen. Dass sie wirklich die letzten Gäste waren, hatten sie nicht erwartet. Eben trat die junge Frau mit dem Sekt auf sie zu und hielt ihnen das Tablett entgegen. Aoko nahm sich ein Glas, dabei entging ihr aber nicht der kokette Augenaufschlag, den die junge Frau Kaito zu warf. Dieser grinste sie unverschämt attraktiv an und zwinkerte.

Ein älterer Herr zog die Aufmerksamkeit auf sich. „Haben Sie auch noch ein Gläschen für mich?“

Die junge Bedienung drehte sich dem Herrn zu, warf nochmals einen Blick zu Kaito und verschwand in der Menge.

„Du bist wohl immer am Flirten, was?“, schmunzelte Aoko und konnte sich gerade noch so ein Augenrollen unterdrücken. Sie begann am Sekt zu nippen.

„Ich bin Single“, grinste Kaito und hielt ihr sein Sektglas entgegen. „Man sollte das Leben genießen.“

„Cheers“, stieß Aoko mit ihm an.

Da trat eine ältere Dame auf die beiden zu und schloss Aoko in ihre Arme. „Mein Kind, wie erwachsen du geworden bist.“

„Oma“, begrüßte Aoko die alte Frau ebenso und drückte sie fest an sich.

„Erzähl mir, Mädchen. Wie geht es dir? Fühlst du dich wohl in Tokio? Mein Kind, sieh dich an, wie hübsch du geworden bist. Ich bin mir sicher, die Männer stehen Schlange bei dir. Na, hab ich vielleicht recht? Welchem jungen Mann hast du schon den Kopf verdreht? Es würde mich so glücklich machen dich in festen Händen zu sehen.“

„Oma…“, lachte Aoko verlegen. Sie kam überhaupt nicht dazu überhaupt eine der Fragen zu beantworten.

„Ich weiss nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Gerne würde ich den Mann noch kennenlernen. Gibt es denn schon jemanden?“ Oma grinste vielsagend. „Weißt du, ich würde mir wünschen deine Hochzeit auch noch zu erleben. Und Urenkel wären auch was feines.“

„Oma! Ich bin doch noch viel zu jung“, wich Aoko erneut verlegen aus.

„Papperlapapp, als ich in deinem Alter war, war ich längst mit deinem Großvater verlobt.“

Kaito räusperte sich plötzlich, schob sich näher an Aoko und legte vorsichtig seinen Arm um sie. Überrascht versteifte sie sich und sah zu ihm auf. Er beugte sich zu ihr und flüsterte: „Bist du nicht auch der Meinung es langsam offiziell zu machen?“

Aoko starrte ihn vollkommen überrumpelt an, schielte kurz zu ihrer Oma, die ein Strahlen im Gesicht bekam. Offensichtlich schlussfolgerte sie von ganz allein. Und die Erkenntnis schien sie wirklich glücklich zu machen. Sie sah zu Kaito auf. Meinte er das wirklich ernst und wollte ihrer Oma eine Beziehung vorspielen? Aber das war nicht richtig.

Kaito nahm ihr die Entscheidung ab und küsste sie an die Schläfe, während er sie fester an sich drückte. Aoko legte vorsichtig ihre Arme um seinen Rumpf und ließ ihn gewähren.

„Ist das wahr? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Oh, Aoko. Du hast einen guten Geschmack“, freute sich Oma Kudo und drückte beiden einen dicken Kuss auf. Ihr schien der Gedanke wirklich zu gefallen.

Kaito grinste breit, während Aoko sich ein Lächeln abrang. Das war so was von falsch. Er war der beste Freund ihres Bruders. Shinichi wird ihnen den Kopf abreißen. Und ihre Oma würde todunglücklich werden, sollte sie jemals erfahren, dass das hier gelogen war.

Die Lüge nimmt Form an

Shinichi näherte sich und zog seine Augenbrauen finster zusammen. Das was er sah schien ihm nicht zu gefallen. Und Aoko spürte sofort ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen. Sie wollte sich von Kaito lösen, jedoch hielt er sie fest. „Wenn du die Lüge nicht auffliegen lassen willst“, raunte er.

Ein Blick zu ihrer Oma, die immer noch ganz glücklich strahlte und das Bild vor sich sichtlich genoss. Aoko gab nach, kuschelte sich enger an Kaito und setzte ein Lächeln auf.

Sofort entdeckte Oma Kudo ihren Enkel und drückte sich an seinen Brustkorb. „Sieh nur Shinichi. Sind die beiden nicht ein schönes Paar?“

„Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt ein Paar sind“, brummte Shinichi und musterte die beiden argwöhnisch. „Wann wolltet ihr mir das sagen?“

„Es war noch kein günstiger Augenblick“, bemerkte Aoko unsicher.

Kaito verstärkte den Griff um ihre Schulter. „Sorry, Mann, ich wollte es dir in einer ruhigen Minute erzählen.“

Eine junge braunhaarige Frau näherte sich der Gruppe. Ein erstaunter Blick traf das Pärchen. „Aoko“, begrüßte sie freudig.

Shinichis Schwester nutzte diesen Moment, um sich aus dieser unbehaglichen Situation zu lösen und fiel erleichtert ihrer künftigen Schwägerin um den Hals. „Ran, wie schön dich zu sehen!“

„Du musst mir alles erzählen“, forderte da aber auch schon die Verlobte leise und musterte Kaito aufmerksam.

Aoko wurde nur noch mulmiger zumute. Was sollte sie überhaupt erzählen?

„Als Liebespaar sollte es kein Problem für euch sein ein Zimmer zu teilen“, bestimmte Oma Kudo so plötzlich und erntete schockierte Blicke von allen. „Es dürfte euch ja sicherlich nicht ungelegen zu kommen“, grinste sie ihre Enkelin verschwörerisch an, die absolut überfordert und mit rasendem Herzschlag den Worten lauschte.

Ran überlegte: „Stimmt, dann wäre zumindest das Gästezimmer wieder frei und wir könnten Akako aus dem Hotel holen.“

„Akako?“ wiederholte Kaito überrascht und suchte Shinichis Blick, der ihn die gesamte Zeit über misstrauisch beäugte.

„Du hast richtig gehört. Wir hatten kein Zimmer mehr frei und haben ihr ein Hotelzimmer gebucht.“

Kaitos Gesichtsausdruck hingegen wurde zu einer undurchdringlichen Maske.

Nach dem Sektempfang gab es Abendessen im Garten. Der Sommerabend war warm, aber nicht so heiß wie es tagsüber wurde. Eine große Tafel war aufgebaut mit einem Buffet. Die Servicekraft vom Sektempfang verteilte nun das Essen auf die Teller der Gäste. Aoko suchte derweil einen Sitzplatz am Tisch.

Selbstverständlich achtete Oma Kudo darauf, dass Aoko neben ihrem Angebeteten Platz fand und ließ es sich nicht nehmen, die beiden unaufhörlich glücklich zu betrachten.

Aoko spürte, wie sehr sich die alte Frau freute und schwor sich sie niemals unglücklich machen zu wollen. Aber wie sollte sie nur aus dieser Nummer wieder herauskommen? Und noch mehr, wie sollte sie mit Kaito zusammen in ihrem Zimmer übernachten? Sie konnten doch nicht in einem Bett schlafen? Der Gedanke daran ließ sie erröten. Verlegen lugte sie zu ihm. Seit einiger Zeit war er in Gedanken versunken. Dennoch schien er ihren Blick zu bemerken, denn er sah ebenfalls zu ihr und begann aufmunternd zu lächeln.
 

Zu später Stunde löste sich die Gesellschaft. Nervös führte Aoko Kaito in ihr Kinderzimmer. Sie hatte ganz vergessen wie klein ihr Bett eigentlich war. Sollten sie zu zweit darin schlafen, würde es ohne Körperkontakt überhaupt nicht gehen.

Shinichi, der ihnen folgte, runzelte die Stirn und verschränkte die Arme, während er in der Türe stehen blieb und beide argwöhnisch musterte. „Und wie lange geht das mit euch schon?“

Aoko erstarrte, wusste nicht was sie sagen sollte und stellte ihren Koffer ab. Geschäftig tat sie so, als wäre sie mit der Erkundung ihres alten Zimmers beschäftigt.

Kaito hingegen blieb entspannt und drehte sich seinem Sandkastenfreund zu. „Das war ein witziger Zufall“, begann er zu erzählen. „Ich bin schon vor drei Monaten nach Tokio gekommen. Ich hatte ein Seminar. Und in einem Klub traf ich zufällig Aoko.“ Er suchte ihren Blick.

Sie selbst war zu überrascht von dieser Lüge, die ihm so leicht über die Lippen kam, dass sie zu keinem Wort fähig war.

„Was soll ich dir sagen, Shin. Ich hab mich sofort verliebt und meinen Kurzaufenthalt verlängert.“

„Seit drei Monaten“, wiederholte Shinichi grüblerisch.

Sie hörte seine Skepsis zu deutlich heraus und schämte sich ihren Bruder dermaßen anzulügen. In welche Situation hatte Kaito sie nur gebracht? Sie mussten aufpassen, dass sie sich in ihrer Lügengeschichte nicht zu sehr verstrickten. Je weniger sie sagten, desto besser wäre das vermutlich. Sie atmete tief durch, trat zu Kaito und verschränkte ihre Hände. Reuevoll suchte sie Shinichis Augen. „Es tut mir leid, dass ich dir das nicht am Telefon erzählt habe. Doch schien es immer … unpassend.“

Erneut musterte Shinichi das Pärchen und nickte letztendlich. „Ich wünschte, ihr hättet mich ein wenig darauf vorbereitet“, knurrte er missmutig. „Na, dann, schlaft gut.“ Auch wenn es ihm nicht zu passen schien, ließ er die beiden allein in Aokos Zimmer zurück.

Kaum fiel die Türe ins Schloss, fiel die Anspannung ab. Aoko löste sich von Kaito. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Lange ließ sie ihren Blick durch den Garten schweifen und hing ihren Gedanken nach.

Auch Kaito blieb etwas unschlüssig in ihrem Zimmer stehen. „Ich werde auf dem Boden schlafen“, bemerkte er leise.

Sie drehte sich überrascht um und nickte. „Ich organisiere einen Futon. Den können wir sicherlich unter meinem Bett verstauen“, stimmte sie zu. Es klang zumindest nach einer vernünftigen Lösung und sie hoffte, dass ihre Familienmitglieder den Anstand hatten und vor Eintritt in ihr Zimmer anklopften.

„Wir sollten uns eine Geschichte überlegen, damit wir das gleiche erzählen“, schlug er vor.

Sie setzten sich auf Aokos Bett und besprachen die Eckdetails. „In welchem Klub trafen wir uns?“

„Sag du es mir, ich habe in Amerika gelebt und war noch nicht in Tokio.“

„Vor drei Monaten haben wir uns im Magic wiedergesehen“, antwortete Aoko. „Und ich wohne in Shibuya, der Klub ist nur eine Straße von meiner Wohnung entfernt.“

Kaito nickte und begann zu grinsen: „Wir hatten drei Dates ehe wir im Bett gelandet sind.“

Aoko bekam große Augen. „Bist du irre?! Shinichi kastriert dich“, widersprach sie sofort verlegen. „Wir lassen es langsam angehen.“

„Ich hab es noch nie langsam angehen lassen“, merkte Kaito sofort an.

„Tja, bei mir wirst du das wohl müssen“, beharrte Aoko.

„Hast du es denn schon mal getan?“, hakte er plötzlich neugierig nach.

„Ich denke, das trägt aktuell nicht zur Sache bei. Wir…“, dabei deutete sie auf sich und ihn: „…haben es definitiv noch nicht getan.“ Sie überlegte: „Meine beste Freundin heißt Keiko Momoi“, fügte dann noch hinzu: „Und ich studiere Psychologie.“

„Okay, ich bin Magier in einer beliebten Show in Las Vegas. Dort ist auch meine Heimat.“ Er korrigierte sich: „Sie war es bis vor drei Monaten.“ Er musterte sie: „Ich bin bei dir eingezogen?“

Lange überlegte sie. „Noch nicht, aber wir wollen bald zusammen ziehen.“

„Wo wohne ich denn grad?“

Sie überlegte. Ein Hotel würde auf Dauer zu teuer werden. Eine Wohnung in Tokio zu bekommen, besonders in Shibuya war nicht möglich. „Du bist wohl doch schon bei mir eingezogen“, gab sie letztendlich nach.

Kaito nickte. Das klang doch schon mal glaubwürdig. „Dann lass uns doch mal ins Bett gehen.“ Dabei grinste er anzüglich. Ihr entsetzter Gesichtsausdruck war den Spaß wert. Im nächsten Moment lachte er los und verschwand ins angrenzende Badezimmer.

Aoko hingegen war bei weitem nicht nach Lachen zumute. Sie organisierte unauffällig einen Futon und bereitete alles vor. Unter ihrem Bett war noch Platz. Notfalls konnten sie das Notbett wegschieben. Sicherheitshalber könnten sie sich aber auch darauf rausreden, dass ihr Bett nicht genug Platz bot.

Sie hörte Kaito noch duschen und würde den Moment nutzen sich schnell umzuziehen. Sie zog aus ihrem Koffer einen Schlafanzug hervor. Dann öffnete sie ihre Hose und tauschte diese schnell gegen die kurze Hose. Als sie ihren Shirt-Saum umfasste, lauschte sie ein weiteres Mal und hörte das Wasser plätschern. Sie zog sich das Oberteil über den Kopf, löste den Verschluss ihrer Unterwäsche und griff nach ihrem Schlafanzug Oberteil, als die Türe auf ging und Kaito ins Zimmer trat.

Erschrocken über die plötzliche Begegnung drückte sie ihr Shirt an ihre Vorderseite, starrte ihn an und erkannte, dass er selbst nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet war. Seine nackte Haut war noch feucht vom Wasser und eine Wasserperle zog ihren Weg über seinen athletischen Brustkorb hinab zu seinem Bauchnabel. Sie wollte nicht starren, konnte aber ihre Augen einfach nicht abwenden.

Kaito musterte sie ebenso überrascht, ehe sich ein Grinsen auf seine Lippen legte. Süffisant sprach er: „Gefällt dir was du siehst?“

„Wie?“ Erschrocken riss sie ihre Augen auf und suchte sein Gesicht.

„Überlegst du dir gerade ob du nicht doch schon über mich hergefallen bist?“ Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Schon brach er wieder in schallendes Gelächter aus.

„Vergiss es, Bakaito“, knurrte sie und fühlte sich veräppelt. „Dreh dich um!“, fauchte sie ihn nun ungehalten an.

Kaito folgte ihrer Aufforderung ohne Widerworte, aber immer noch lachend.

Diesen Moment nutze Aoko und schlüpfte schnell in ihren Schlafanzug auf dessen Vorderseite ein großer Bärenkopf mit Schlafmütze prangte. „Ich bin fertig.“ Und sie bereute es ausgerechnet diesen, ihren Lieblingsschlafanzug mit genommen zu haben.

Er drehte sich wieder zu ihr und musterte sie immer noch kichernd. „So was trägst du nachts?“ Er schmunzelte. „Männerbesuch hast du wohl nicht oft.“

Verlegen sah Aoko an sich herunter. „Bis heute war ich noch Single und nicht auf Männerbesuch eingestellt.“ Sie suchte erneut seinen Blick. Wie magisch angezogen wanderten ihre Augen erneut über den attraktiven Männerkörper. „Musst du nochmal ins Bad, oder bist du fertig?“

„Du kannst rein.“

Sie nickte unsicher und verschwand, spürte seinen amüsierten Blick aber zu deutlich im Rücken.

Der erste Tag als Pärchen

Die Sonne schien und kitzelte Aoko wach. Sie schlug ihre Augen auf und sah sich verwirrt um. Dann fiel ihr alles ein.

Es klopfte zaghaft an ihrer Tür. „Aoko, Liebes, seid ihr schon wach?“

Ihre Oma stand vor der Tür. Aoko schreckte auf. Oh nein, IHRE OMA wartete vor der Türe. Hektisch warf sie einen Blick auf den Boden. Kaito schlummerte noch selig. Sie versuchte ihn wach zu bekommen, indem sie ihn anstupste, aber er schlief tief und fest. Sobald sie nur einen Mucks von sich gab, würde ihre Großmutter eintreten. Wie bekam sie ihn bloß wach? Aoko schnappte sich ihr Kissen und schlug es ihm ins Gesicht. Irritiert öffnete er seine Augen, setzte zur Beschwerde an, sah aber Aoko wild fuchteln.

Er blickte sie komplett verschlafen an, da meldete sich Oma wieder. „Aoko? Darf ich reinkommen?“

Und jetzt realisierte auch der junge Mann die Situation. Sofort sprang er auf, kickte das Futon unters Bett und schlüpfte zu Aoko ins Bett. Es war eng für zwei Personen. Um es ihnen bequemer zu machen, legte er seinen Arm unter ihren Oberkörper und zog sie fest an sich heran. „Oma?“

Es war wie ein Startzeichen. Schon öffnete sich die Türe und Großmutter Kudo trat ins Zimmer. Sie runzelte kurz die Stirn, dann allerdings lächelte sie liebevoll. „Guten Morgen, ich hoffe ihr habt gut geschlafen.“

Aoko nickte, sah zu Kaito auf und spürte sofort dessen Atem in ihrem Gesicht. Sie waren sich sehr nah. Viel zu nah. Sie unterdrückte den Impuls panisch aufzuspringen.

Sie waren ein Paar. Zumindest vorübergehend. Sie kuschelte sich in seine Halsbeuge. Sofort spürte Aoko die warme Haut unter ihrer Wange und ein wohliges Gefühl kam auf. Sie fühlte seine Finger an ihrem Arm und blickte zu ihm auf. „Hast du auch gut geschlafen?“ Auch er nickte.

„Wenn man so frisch verliebt ist, schläft es sich überall gut“, zwinkerte Oma Kudo auch schon. „Aber nun steht auf. Es gibt Frühstück. Danach ist die Anprobe der Brautjungfern. Auch die Männer ziehen traditionell heute los.“

Aoko richtete sich auf und präsentierte ihrer Großmutter den Schlafanzug. Omas Blick schwankte zwischen Entsetzen und Unglauben. Sie fasste sich jedoch schnell wieder. „Nun zieht euch an. Wir warten im Garten.“

Kaum fiel die Tür ins Schloss stichelte Kaito. „Deine Oma findet deinen Schlafanzug sexy.“ Auch er war dabei sich aufzurichten, da gab Aoko ihm einen Schubs. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste aus dem Bett. Kichernd beugte sie sich zu ihm. „Ups.“

Kaito guckte sie nur verdattert an. Im nächsten Moment lachten sie beide. „Na warte, du wirfst mich nicht mehr so einfach aus dem Bett“, drohte er spielerisch.

Aoko grinste. „Wie willst du denn das verhindern?“

Kaito feixte. „Da wird mir schon was einfallen.“

Nacheinander verschwanden sie ins Bad und machten sich fertig.
 

Im Garten war ein großer Tisch eingedeckt und die Familie saß bereits darum. Kaum näherten sie sich, richteten sich alle Augen auf die beiden. „Kinder, ihr habt mich wirklich überrascht“, begrüßte Aokos Vater, Yusaku Kudo, und musterte die beiden aufmerksam. Er stand auf und deutete Aoko und Kaito sich zu ihm zu setzen. Sichtlich unwohl folgten sie der Aufforderung. Sie bedienten sich an der reich gedeckten Tafel. „Wir kennen dich, Kaito, seit du in die Windeln gemacht hast, aber dass du und Aoko ein Paar würdet…“

Yukiko saß Aoko gegenüber und strahlte übers ganze Gesicht. „Welch schöne Überraschung. Immerhin ist Kaito wie ein zweiter Sohn für uns. Und nun erzählt. Ich möchte alles wissen!“

Unsicher suchte Aoko die blauen Augen ihres „Freundes“. Dieser lächelte zurück und übernahm das Wort: „Ich hatte ein Seminar in Tokio. Ein paar Jungs sind abends noch losgezogen und ich bin mit.“ Er sah zu Aoko. „Im Klub…“, ihm schien der Name nicht mehr einzufallen, daher übernahm Aoko. „Es war im Magic. Ich war mit Kommilitonen dort. Keiko und ich wollten gerade zur Bar und uns Getränke holen als ich ihn traf.“

„Sie ist mir wortwörtlich in die Arme gelaufen“, grinste Kaito und legte zur Bestätigung seinen Arm um Aokos Schulter.

„Führt ihr jetzt eine Fernbeziehung?“, hakte Shinichi skeptisch nach, der neben seiner Großmutter saß und somit seinem besten Freund schräg gegenüber. „Du hast doch in Las Vegas deine Show.“

Kaito erwiderte den Blick seines Sandkastenfreundes. „Das ist richtig. Ich versuche so oft es geht nach Tokio zu kommen.“ Er umfasste Aokos Hand, die auf dem Tisch lag.

Aoko sah zu ihm. „Ich hab auch Uni. Wir sehen uns leider nicht sehr oft.“

„Aber dafür sind unsere kurzen Momente umso intensiver“, grinste Kaito und blickte Aoko tief in die Augen.

Nun war er doch von ihrer Absprache abgewichen war. Aber das konnte sie auch. „Es kann auf jeden Fall so nicht mehr weitergehen. Wir müssen eine dauerhafte Lösung finden.“

Shinichi ließ die beiden nicht aus den Augen.

Da mischte sich Onkel Ginzo plötzlich ein. „Heutzutage spielt die weite Entfernung keine Rolle mehr. Man tätigt mal schnell einen Videoanruf oder schreibt sich schnell eine Nachricht. Früher war das anders. Damals haben wir noch seitenweise Briefe per Hand geschrieben und diese mit der Post verschickt. Bis der Brief in Amerika ankam, vergingen allerdings Wochen. Durch die moderne Technik ist man innerhalb weniger Sekunden auf dem neuesten Stand.“

„Auch wenn der Stand der Technik weit fortgeschritten ist, ersetzt kein Anruf die Nähe“, mischte sich Aokos Großmutter ein. „Mir wäre es lieber, die beiden würden zusammenwohnen.“

„Mutter“, erwiderte Ginzo.

„Widersprich mir nicht“, beharrte die Oma. „Die Sehnsucht übermannt einen zu oft und zu schnell. Man stillt das Bedürfnis nach Nähe und dennoch entfremdet man sich. Eine Beziehung braucht so viel mehr als körperliche Begierde.“ Sie deutete mit ihrer faltigen Hand auf ihre Brust, genau an die Stelle wo ihr Herz schlug, um ihre Worte zu verdeutlichen.

„Wie stellt ihr euch denn euer Leben vor?“, mischte sich Yukiko ein. „Wo wollt ihr leben? Wann wollt ihr heiraten?“

Aoko, die an ihrem Kaffee nippte, verschluckte sich prompt. „Wir sind gerade mal drei Monate zusammen, Ma!“

„Wenn man den richtigen Partner gefunden hat, weiß man es“, widersprach Yukiko. Sie zwinkerte Kaito zu, während sie ihre Tochter ansprach. „Und du hättest es nicht besser treffen können, Schätzchen.“

Kaito grinste Aoko überheblich an und sie konnte gerade noch ein Augenrollen unterdrücken.

Eine junge Frau mit kinnlangen Haaren mischte sich in den Familienplausch ein. „Leider muss ich ungemütlich werden.“

Yukiko blickte auf. „Natürlich, Sonoko, du hast recht. Mädchen, wir haben noch etwas vor.“ Sie stand auf und deutete Aoko und Ran ihr zu folgen. Dann ging sie zu ihrem Mann und küsste seine Wange. Ran und Shinichi küssten sich etwas länger auf die Lippen. Sonoko verabschiedete sich ebenso mit einem kurzen Kuss von einem jungen Mann, der mit ihnen am Tisch saß und schweigsam im Hintergrund blieb.

Erwartungsvoll ruhten Omas Augen auf Aoko und Kaito. Unsicher beugte sie sich zu Kaito und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange. Dies reichte der Großmutter allerdings nicht. „Nun seid nicht schüchtern, Kinder.“

Dieses Mal entglitten sogar Kaito die Gesichtszüge. Er suchte Aokos Augen, die ihn verschreckt ansah. Ihre Blicke verfingen sich. Kurz schielte er auf ihre Lippen, beugte sich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund.

Die alte Frau schüttelte den Kopf und forderte erneut: „Gebt euch einen richtigen Kuss.“ Und mit diesen Worten zog sie nun endgültig die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf das vermeintliche Pärchen.

Aoko wollte sich eben aus der Affäre ziehen, da spürte sie schon Kaitos Hände an ihren Wangen. Er näherte sich wieder ihrem Gesicht. Zuerst stupste seine Nase ihre an, bevor er seine Lippen auf ihre legte und sie in einen sanften Kuss einfing. Ihr Herz begann schlagartig zu rasen. Das Kribbeln auf ihren Lippen überzog in wenigen Sekunden ihren gesamten Körper. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf den jungen Mann, der sie in ein sanftes Lippenspiel zog.

Ran unterdrückte einen Quietscher, während Shinichi missmutig seine Arme vor der Brust verschränkte und sich laut räusperte.

Sofort schlug Aoko ihre Augen auf, gleichzeitig löste Kaito sich von ihr. Sie verlor sich in seinen tiefblauen Augen. Immer noch klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Absolut verwirrt über ihre körperliche Reaktion, stand sie auf und folgte den anderen ins Innere des Hauses.

In Yukikos Schlafzimmer erhielten sie die Brautjungfernkleider. Ran half Aoko ins Kleid und schloss dieses am Rücken. „Sieh nur, Sonoko. Aoko passt das Kleid wie angegossen.“ Dann zwinkerte sie ihrer zukünftigen Schwägerin zu: „Kaito wird Augen machen.“

„Der größte Frauenaufreißer aus unserer Schulzeit ist ausgerechnet in den festen Händen von Shinichi Kudos kleiner Schwester.“ Sonoko kicherte und beobachtete Aoko über den Spiegel. „Wer hätte das jemals gedacht.“

In diesem Moment klopfte es an der Türe. Schon steckte eine junge Frau ihren Kopf ins Zimmer. „Guten Morgen“, flötete sie und trat ein.

„Guten Morgen, Kazuha“, begrüßte Ran ihre Freundin und überreichte sofort eines der Kleider. „Probier das Kleid gleich an. Wenn es nicht passt, rufen wir die Schneiderin an. Sie kommt dann heute noch vorbei, um es anzupassen.“

Aoko kannte Kazuha von früher. Sie war die beste Freundin von Heiji, der ebenso ein guter Freund ihres Bruders ist. „Hallo Kazuha, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.“

„Ja, das stimmt, Aoko. Damals warst du noch viel kleiner“, zwinkerte Kazuha fröhlich zurück und begann nun auch sich umzuziehen und in ihr Kleid zu schlüpfen.

Yukiko saß interessiert auf ihrem Bett und unterhielt sich mit den Freundinnen. Aoko erfuhr nebenbei, dass die kurzhaarige Sonoko Rans beste Freundin und Trauzeugin war. Kazuha, das Mädchen mit dem Pferdeschwanz und der Schleife im Haar sich inzwischen Heijis feste Freundin nannte. Ein Bild von den beiden Streithähnen tat sich vor ihrem Auge auf. Die beiden waren damals wie Hund und Katze – nur am Streiten. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie das als Paar nun überstanden. Heiji war zwar nicht so oft bei ihnen zu Besuch, wie Kaito es immer war. Shinichis Sandkastenfreund hatte bei den Kudos sein zweites zuhause. Ihre Augen wanderten durch das Schlafzimmer ihrer Eltern. Auf dem Bett lag noch ein Kleid unberührt. Aoko fragte sich wem das wohl gehörte.

Als könnte Sonoko Gedanken lesen, fragte sie die Braut: „Wann kommt Akako überhaupt?“

Ran schloss soeben Kazuhas Kleid am Rücken: „Sie hat heute noch einen Termin vor Gericht. Ihr Mandant ist kurz vor der Freisprechung. Deshalb kommt sie erst nach der Verhandlung.“

„Dann hat sie ja ihren Traum verwirklicht“, stellte Sonoko fest. Die Kurzhaarige grinste plötzlich: „Auf jeden Fall wird das erste aufeinander treffen interessant.“

„Wie meinst du das?“; hakte Kazuha neugierig nach und folgte Sonokos Blick. Plötzlich sahen alle Frauen zu Aoko.

(Ex) - Freundinnen

Sonoko kicherte und grinste herausfordernd Rans künftige Schwägerin an. „Wenn die Ex auf die Aktuelle trifft, wird das doch immer eine spannende erste Begegnung.“

Aoko sah unsicher auf und überlegte, wie das gemeint war.

Die Kurzhaarige schien einen siebten Sinn für Gedankengänge zu haben, denn sie fügte erklärend hinzu: „Immerhin waren Kaito und Akako fast die gesamte Oberstufe zusammen. Wenn er nicht nach Amerika gegangen wäre, hätten sie sicherlich geheiratet.“

Aoko verfiel ins Grübeln. Sollte Sonoko recht behalten und Kaito immer noch Akako lieben, dann hätte sie einen Grund diese „Beziehung“ vorzeitig zu beenden. Und diese Lügengeschichte hätte endlich ein Ende gefunden. Automatisch drifteten ihre Gedanken zu ihrem Kuss. Sofort spürte sie das Prickeln auf ihren Lippen und ihr Herz klopfte einen Takt schneller. Sie schüttelte ihren Kopf, um sich selbst zu besinnen. Das war doch schwachsinnig. Sie sollte lieber schnell herausfinden, wie Kaitos Gefühle zu Akako standen, um sich offiziell trennen zu können.

Den Vormittag verbrachten sie mit Ran. Zum Mittagessen fanden sich alle wieder zusammen am Tisch im Garten ein.

Mit Heiji und Kazuha war die Runde wieder gewachsen. Erst jetzt fiel ihr auch der junge fremde Mann am Tisch auf, der schon heute Morgen mit dabei war sich aber schweigsam zurückhielt. Makoto hieß der Freund von Sonoko. Aokos Vater und ihr Onkel saßen am jeweiligen Tischende. Und neben Kaito saßen nun Heiji und Kazuha. Während dem Essen stichelte Heiji die ganze Zeit in Kazuhas Richtung, die sich kurzerhand zur Wehr setzte. Aoko schmunzelte. Die Beiden hatten sich nicht verändert.

Shinichi versuchte zu vermitteln und auch Kaito mischte sich in den anbahnenden Streit. Amüsiert beobachtete Aoko die Situation. Schnell entwickelte sich aber eine große Diskussionsrunde, in der sich auch ihre Eltern enthusiastisch einmischten.

Am Nachmittag bereitete sich Aoko für den Abend vor. Die Mädchen würden sich in einer halben Stunde in Sonokos Zimmer treffen und gemeinsam den Junggesellinnenabschied traditionell beginnen. Sie schlüpfte in ein hübsches Kleid, versuchte es sich selbst am Rücken zu schließen, allerdings verhakte sich der Reißverschluss und sie bekam es nicht zu. Verzweifelt mühte sie sich ab, aber der Verschluss bewegte sich keinen Millimeter mehr.

Kaito trat ins Zimmer, erkannte sofort die Situation und näherte sich mit langen Schritten. „Kann ich dir helfen?“

Aoko nickte. „Da klemmt etwas.“ Sie griff in ihr Haar und schob es sich den Hinterkopf hinauf, um ihm freie Sicht auf ihren Rücken zu geben.

Der junge Mann nahm sich dem Problem an. Es dauerte etwas, bis er den Reißverschluss vom eingeklemmten Stoff befreit hatte und schloss das Kleid ganz. Er verharrte.

„Danke“, murmelte sie. Unsicher drehte Aoko sich zu ihm. Ihre Augen wurden magisch angezogen und verloren sich wieder in dem tiefen Blau. Ihr wurde ganz komisch und allein seine Nähe brachte sie vollkommen durcheinander. Er beugte sich etwas, hielt sie in seinem Blick gefangen. Wie paralysiert starrte sie ihn an. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten, vielleicht sollte sie ihn jetzt fragen. Wer wusste schon ob sie später Zeit hatten darüber zu sprechen. Sie räusperte sich. „Sag mal, Kaito, warst du jemals so richtig verliebt?“

Er stutzte und blickte sie verwirrt an. „Verliebt? Ist das nicht etwas für Kinder?“ Nun steckte er seine Hände in die Hosentaschen. Seine Augen hingegen blieben an ihr haften.

„Nein, du Baka! Ich meine richtig verliebt. Hast du schon mal das Gefühl gehabt diese Frau ist es? Hast du jemals tief in dir drinnen gespürt, dass du nur mit ihr glücklich sein kannst und sie für immer bei dir haben willst?“

Kaito musterte sie lange und schweigsam.

Aoko trat einen Schritt zurück und suchte nach den richtigen Worten: „Ich meine, hattest du schon mal ein Bild von dir mit ihr im Kopf, im hohen Alter zusammen und Händchen haltend, bei Sonnenuntergang auf einer Parkbank sitzend?“

Er sah sie immer noch stumm an, dann zuckten seine Mundwinkel verdächtig. „Du träumst auch davon, dass dein Märchenprinz auf einem schneeweißen Pferd zu dir reitet und an deiner Haustür klingelt, was?“

„Mach dich nicht lustig“, drohte sie ihm enttäuscht. Nun hielt er sie für ein kleines Mädchen. Dabei wollte sie doch nur von ihm hören, wie tief seine Gefühle damals wirklich für Akako gingen und vielleicht heute immer noch sind.

Lange sah er sie nun nachdenklich an. „Hast du schon mal so gefühlt?“

Überrascht blickte sie zu ihm auf, verfing sich in seinen Augen und ihr Herz stolperte. „Nein.“

Er schien nun eigenen Gedanken nachzuhängen.

Aoko wurde unwohl und ärgerte sich dieses Thema überhaupt angesprochen zu haben. Ihr Blick streifte die Uhr. „Wir sollten uns fertig machen. Der Junggesellen-Abend fängt gleich an.“

Kaito nickte und schon verschwand er ins angrenzende Badezimmer.

Aoko hingegen blieb wie bestellt und nicht abgeholt im Zimmer zurück. Sie war komplett durcheinander und eine Antwort hatte sie auch nicht erhalten. Dann richtete sie sich ihre Haare.

Wenig später trat auch Kaito umgezogen wieder ins Zimmer und sie verließen Aokos kleines Reich.

„Viel Spaß“, verabschiedete sich sie sich von ihrem Scheinfreund. „Und lasst mir meinen Bruder heil. Keinen Alkohol für den Bräutigam! Immerhin muss er morgen meine Schwägerin zum Altar führen.“

Kaito grinste plötzlich, beugte sich zu ihr und flüsterte: „Du solltest heute lieber auf Ran aufpassen!“

„Wie meinst du das?“

„Sonoko ist dabei und sie hat den heutigen Abend organisiert.“ Als wäre damit alles gesagt ging er zu Shinichi und ließ eine verwirrte Aoko zurück.
 

In Sonokos Zimmer, die eines der Gästezimmer im Haus ihr Eigen nannte, ging es bereits turbulent zu. Die Kurzhaarige hielt eine Champagner Flasche in ihrer Hand und trank einen kräftigen Schluck. Dann reichte sie diese an die Braut weiter. Die Flasche wanderte zu Kazuha und letztendlich auch weiter zu Aoko. Gerade als die jüngste in der Runde einen Schluck zu sich nahm, betrat eine hübsche Frau mit langem dunklem Haar das Zimmer. „Entschuldigt bitte meine Verspätung“, grüßte sie.

„Akako!“ Ran sprang auf und fiel ihrer Freundin um den Hals.

Die Schönheit begrüßte auch ihre anderen Schulfreundinnen mit einer kräftigen Umarmung, ehe sie Aoko musterte. „Ich bin Akako“, kam es von der Schönheit: „Und wer bist du?“

„Ich bin Aoko.“

„Sie ist Shinichis Schwester“, ergänzte Ran.

„Nun, da Akako hier ist, können wir loslegen“, mischte sich Sonoko ein. Im nächsten Moment zog sie ein Körbchen hervor mit einigen kleinen gefalteten Briefchen. „Es wird Zeit für unsere Brautspiele.“

Ran zog einen Zettel und las den Inhalt laut vor. „Zeige uns den Ort, an dem ihr euch zum ersten Mal geküsst habt.“ Überrascht sah sie zu Sonoko. „Das weißt du doch.“

Sonoko grinste: „Ich schon, aber die anderen nicht.“

Ran guckte in die Runde und erntete neugierige Blicke. Sie stand auf. „Bitte folgt mir.“ Schon führte sie die Mädchengruppe durch die Villa.

Aoko ahnte, wo Ran sie hinführen wollte, als sie der Treppe in den Keller folgten. Wenig später traten sie durch eine schwere Türe hindurch und standen in einem kleinen Schwimmbad. Lange war sie nicht mehr hier.

Im Wasser schwamm jemand und zog ziemlich flott Bahnen. Als die Mädchen eintraten, hielt sich auch die Person am Beckenrand fest. Sie grinste. „Guten Abend, die Damen.“

„Oma“, rief Aoko erstaunt.

„Hast wohl nicht erwartet, dass deine alte Großmutter noch so eine Ausdauer hat, was Kindchen?“, schmunzelte die ältere Frau und ließ ihren Blick wandern. „Was führt euch denn hierher?“

„Shinichis erster Kuss“, grinste Akako und begann zu kichern. Auch Kazuha nickte begeistert. „Ehrlich, Ran? Hier?“

Ran tiefrot, dieses Geheimnis nun nicht nur mit ihren Freundinnen, sondern auch noch mit Shinichis Großmutter teilen zu müssen, nickte. „Wir waren schwimmen und dann ist es hier passiert.“

„Ja, hier hat schon so manch einer aus dieser Familie etwas Besonderes erlebt“, grinste plötzlich die ältere Frau.

„Wie meinst du das?“, hakte Aoko sofort nach.

Doch auf Oma Kudos Gesicht trat nur ein seliges Lächeln und sie wandte sich ab. „Ich wünsche euch einen schönen Abend.“ Nun schwamm sie wieder weiter und zog flink und elegant durch das Wasser.

„Deine Oma scheint hier auch glückliche Erinnerungen gesammelt zu haben“, bemerkte Kazuha.

„Offensichtlich“, stimmte Sonoko zu und hielt Ran das Körbchen entgegen. Ran las laut vor. „Zeige uns deinen Lieblingsort in der Villa Kudo.“

Sie sah wieder in die neugierigen Gesichter. „Dann folgt mir, bitte.“ Sie verließen die Schwimmhalle und traten wenig später in den Garten. Die Dämmerung setzte bereits ein. Eine Weile folgten sie keinem bestimmten Weg.

„Bist du sicher, dass das hier noch zur Villa gehört?“, hakte Akako skeptisch nach.

Ran nickte und zeigte in eine Richtung. „Wir sind gleich da!“

Aoko wusste, wo Ran sie hinführen würde. Im hintersten Teil war ein alter Pavillon. Als ihr Großvater noch lebte, gehörte dieses Fleckchen zu einem beliebten Treffpunkt bei Familienfesten. Jedoch nach seinem Ableben, hatte diesen Ort keiner mehr zum Feiern genutzt. Nun wurden alle Feste im vorderen Garten abgehalten.

Der Pavillon war hübsch geschmückt und Windlichter sorgten für eine gemütliche Stimmung. Überrascht sahen sie sich um und Aoko ging andächtig näher. Nun kamen Kindheitserinnerungen in ihr auf. Musik, viele Gäste, ein freudiges Miteinander und ein großes Buffet mit viel Auswahl an Speisen und Getränken. Ihr über alles geliebter Opa stand inmitten der Gesellschaft und genoss jede Sekunde.

Sie traten die drei Stufen hinauf und standen in dem geräumigen und überdachten Freisitz. An einer Säule hingen mehrere Luftballons.

Die Mädchen setzten sich auf eine Bank und lauschten Sonokos Erklärung. „In diesem Spiel geht es um Geld oder Liebe. Du hast 3 Versuche. Findest du deine große Liebe? Oder nimmst du lieber das Geld?“ Sie deutete auf 5 Luftballons. „In welchem könnte dein Schatz sich verbergen?“

Ran stand auf und warf einen Dartpfeil auf einen der Ballons. Dieser platzte und brachte einen Münzregen mit Konfetti hervor.

„Ouh, Ran, Geld kann man immer brauchen“, bemerkte Kauzuha erheitert.

Die Braut startete den zweiten Versuch und auch hier rieselte ein Geldregen heraus.

„Ran, du machst das richtig. Nur das Geld zählt,“ stichelte Akako diese Mal belustigt.

„Wer braucht schon Männer?“, giggelte Kazuha mit.

Sonoko gab Ran den Pfeil. „Okay, letzter Versuch. Rette die Ehre der Liebe!“

Die Braut konzentrierte sich, entschied sich für einen der letzten drei Ballons und warf. Er platzte. Konfetti rieselte zu Boden und dann erschien ein Foto von Shinichi. Sie jubelte und auch die Mädels sprangen jubelnd auf. „Ein Hoch auf die Liebe“, quietschten sie begeistert.

Schon drehte sich Sonoko einer kleinen Musikanlage zu und schaltete diese ein. Die ersten Klänge reizten zum Mittanzen. Die Party begann. Ran musste hin und wieder noch eine Aufgabe erfüllen, eine mehr oder weniger unangenehme Frage beantworten und der Rest der Zeit bestand aus tanzen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und der Pavillon wurde nur von den flackernden Kerzen in ihren windgeschützten Glasbehausungen beleuchtet. Gerade gab sich die Mädchengruppe begeistert der Musik hin, als sich mehrere Personen näherten.

Es war bereits dunkel und Aoko konnte noch nicht erkennen wer da kam. Erst im Schein des Lichtes erkannte sie Makoto und Heiji, die beide einige Pizzakartons trugen. Während die Jungs einen Tisch an der Seite anstrebten und Sonoko sich sofort näherte, um ihnen einige der Kartons abzunehmen, trat Shinichi in den Pavillon. Er sah sich kurz um, dann tanzte er seine Verlobte an und zog sie in einen tiefen Kuss.

Aoko musterte Kaito, der neben einem großgewachsenen blonden Mann ging, und ebenso alles beäugte. Der Blonde drehte sich gleich zu Kazuha und Akako, während Kaito auf Aoko zukam. „Na, seid ihr alle noch nüchtern?“

„Was ist mit meinem Bruder?“, erwiderte Aoko skeptisch.

„Das bleibt wohl mein Geheimnis“, grinste Kaito verschlagen. Dann wanderten seine Augen zu dem Brautpaar. „Da geht heut noch was“, grinste Kaito plötzlich, während Aoko entsetzt ihre Augen aufriss und ebenso die leidenschaftlichen Blicke ihres Bruders und dessen Verlobten entdeckte. „Oh, nein, igitt… Das will ich mir gar nicht vorstellen“; verzog sie plötzlich angewidert das Gesicht.

Kaito grinste breit. „Wir reden hier über die natürlichste Sache der Welt.“

„Iiiiiieh“, quieckte Aoko und versuchte das Bild von ihrem Bruder und Ran, das sich in ihrem Kopf bildete, sofort zu verdrängen.

„Oder wie glaubst du, entstehen wohl Kinder?“

„Kinder?!“ Entsetzt sah sie zu ihm auf. Warum nur musste er sie auch um einen Kopf überragen? „Ich bin noch viel zu jung, um Tante zu werden“, widersprach Aoko sofort.

Kaito grinste spottend: „Manchmal glaube ich, dass du in diesem Thema noch sehr unerfahren bist.“

Aoko riss entsetzt ihre Augen auf, setzte zu Widerworten an, als Sonoko die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und damit auch zu dem Tisch hinter sich zog. „Die Pizza ist angerichtet. Bitte bedient euch!“

Der letzte Abend in Freiheit

Aoko stand etwas abseits und beobachtete das Geschehen. Seit die Jungs hier waren, herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die Pärchen fanden sich zusammen. Die Party nahm ihren Lauf. Es wurde getanzt, gegessen, gelacht und getrunken. Ihre Augen wanderten von einem zum anderen.

Heiji und Kazuha standen am Buffet und diskutierten mal wieder. Ob es um den Geschmack der Pizza ging oder um ganz was anderes, konnte Aoko allerdings nur erahnen.

Sonoko und Makoto standen etwas abseits und stießen gerade mit einem Glas Champagner an. Offensichtlich feierte Sonoko mit ihrem Liebsten den Erfolg dieser, eigenhändig von ihr organisierten, Party.

Ran und Shinichi tanzten, sahen sich dabei die ganze Zeit an, flüsterten miteinander und lachten wieder.

Etwas regte sich in Aoko. Bewunderung für diese gigantische und offensichtliche Zuneigung, die ihr Bruder und Ran teilten, aber auch etwas Neid, da sie so etwas selbst noch nie erlebt hatte und auch nicht wusste, ob sie jemals einen Mann finden würde, der sie ebenso sehr lieben könnte.

Wie magisch angezogen wanderten Aokos Augen zu Kaito. Ihr Scheinfreund befand sich schon seit einiger Zeit in einem Gespräch mit Akako. Es war an sich nichts Dramatisches. Immerhin waren sie kein richtiges Paar und auch die Tatsache, dass Akako ihm immer wieder kokette Blicke zu warf, über seine Witze kicherte und ihm doch etwas näherstand, als es unbedingt sein müsste, so war es doch in Ordnung, oder? Immerhin war Kaito Single und spielte nur ihren Freund, weil… Ja, warum eigentlich? Wieso tat er ihnen diese Farce an? Nur wegen ihrer Oma? Oder steckte da mehr dahinter?

Akako lachte laut auf, dann hob sie ihre Hand, richtete Kaitos Hemdkragen und ließ ihre Hand auf seinem Brustkorb ruhen.

Innerlich spürte Aoko dieses fiese kleine Stechen, schüttelte aber über sich selbst den Kopf. Erneut rief sie sich in Erinnerung, dass Kaito Single war. Er konnte tun und lassen was er wollte. Schnell schnappte sie sich ihr Glas und trank einen Schluck. Der Alkohol floss ihre Kehle hinab, brannte in ihrem Hals und auch wenn das, was auch immer es war, ihr nicht schmeckte, so lenkte es sie doch wenigstens von ihren Gedanken ab.

„Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.“

Überrascht sah sie auf und musterte den blonden Fremden mit großen Augen an, der sich unbemerkt genähert hatte. Es war der junge Mann, der mit Kaito den Pavillon betreten hatte.

„Ich bin Saguru Hakuba und ein Studienfreund von Shinichi.“ Er hielt ihr die Hand entgegen.

Sie reichte ihm die ihrige. „Ich bin Aoko, Shinichis Schwester.“

„Es freut mich dich kennen zu lernen“, lächelte Saguru und musterte sie neugierig. „Warum stehst du hier so abseits?“

„Ich bin nicht gern im Mittelpunkt“; gestand sie und schwenkte ihr Glas in ihrer Hand. Unbewusst wanderten ihre Augen wieder zu Kaito und Akako. Es sollte sie doch überhaupt nicht stören, dass die beiden so vertraut miteinander umgingen. Immerhin liebte Aoko Kaito nicht und er war ihr auch keinerlei Rechenschaft schuldig. Täuschte sie sich oder standen die beiden nun enger beieinander?

„Okay, dennoch ist das hier eine Party, oder irre ich mich?“ Saguru grinste sie an. „Möchtest du tanzen?“

„Weißt du, ich bin nicht so der Tänzer“, wich sie aus.

„Okay, ich verstehe schon“, lachte Hakuba und lehnte sich an hüfthohe steinerne Mauer des Pavillons. „Dann erzähl mal von dir. Bis jetzt weiß ich nur, dass du Shinichis Schwester bist, nicht gerne im Mittelpunkt stehst und ungerne tanzt.“

Aoko tat es ihm gleich und lehnte sich ebenfalls ans Geländer. Schon spürte sie eine der Säulen in ihrem Rücken, was ihr nun doch ein wenig das Gefühl von einem sicheren Halt vermittelte. „Ich studiere in Tokio Psychologie“, begann sie. „Ich lebe in Shibuya in einer kleinen Wohnung und bin gerne mit meiner besten Freundin unterwegs. Ich lese und schwimme gern. Und du?“

„Ich lese auch gerne“, begann Saguru. „Am liebsten Detektivgeschichten.“

Aoko begann laut zu lachen. „Du bist wie mein Bruder.“

„Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir den gleichen Studiengang gewählt haben. Ich studiere mit Shinichi zusammen Kriminalistik. Wir haben uns an der Uni kennen gelernt.“ Seine Augen wanderten durch die feiernde Gruppe und blieben letztendlich wieder an Aoko hängen. „Ich muss zugeben, dass ich hier überhaupt keinen kenne“, gestand er.

„Einen Großteil habe ich selbst erst heute kennen gelernt, daher kann ich dir gar nicht viel Auskunft geben, aber siehst du das Pärchen dort am Buffet?“ Sie nahm sein Nicken zur Kenntnis. „Das sind Sonoko und Makoto. Sonoko ist Rans beste Freundin und hat hier alles organisiert.“ Sie ließ ihren Blick weiter schweifen und entdeckte Kazuha und Heiji, immer noch diskutierend, dieses Mal aber auf der Tanzfläche. „Heiji ist ein Schulfreund meines Bruders. Ihn kenn ich hier mit am längsten und Kazuha ist seine Kindheitsfreundin.“

Ihre Augen wanderten weiter zu Kaito und Akako, die sich selbst inzwischen auf der Tanzfläche eingefunden hatten. Sie standen sehr nah zusammen und schunkelten zu dem gerade langsamen Song. Sie spürte diesen kleinen fiesen Stich in ihrer Brust und musste zugeben, dass die beiden optisch ein perfektes Paar abgaben. Ob die Beziehung nur deswegen scheiterte, weil Kaito das Land verlassen hat? Hätte er sich für Osaka entschieden, wären sie dann vielleicht schon verheiratet? Liebte er sie noch? Sie räusperte sich und besann sich auf ihr Vorhaben. „Kaito kenne ich schon ewig. Er war fast jeden Tag bei uns zuhause. Shinichi und er haben zusammen in die Windeln gemacht und es gibt eigentlich keinen einzigen Moment meiner Kindheit ohne den besten Freund meines Bruders.“

Shinichi trat heran, stieß mit Hakuba an und musterte Aoko. „Amüsiert ihr euch?“

Seine Schwester nickte. „Ich habe deinen Kumpel kennen gelernt“, antwortete sie sofort und stieß auch mit Hakuba an. Schon trank sie einen Schluck und spürte das erneute Brennen im Hals. Sie bemühte sich keine Miene zu verziehen.

„Ehm, Saguru, könnte ich kurz einen Augenblick mit meiner Schwester reden?“

Der Blonde nickte überrascht und verschwand. „Wir sehen uns später.“

Shinichi nahm Hakubas Platz ein. Im nächsten Moment wanderte sein Blick zur Tanzfläche. „Findest du es nicht auch seltsam, dass Kaito und Akako die ganze Zeit miteinander abhängen?“

„Sie ist doch eine alte Schulfreundin und sie haben sich ewig nicht mehr gesehen“, widersprach Aoko und setzte schon wieder zum Trinken an. Sie hoffte, dass sie dann um weitere Erklärungen herumkam.

„Sie sind nicht nur alte Schulfreunde, Aoko.“ Seine blauen Augen richteten sich auf sie. „Solltest du nicht langsam klarstellen, dass Kaito jetzt DEIN Freund ist? Wie kannst du das so locker sehen? Ich meine jeder sieht die Spannung zwischen ihnen.“

Aoko zögerte. Wenn er sie immer noch liebte? Durfte sie Kaito die Tour vermasseln? Sie spielten doch nur eine Beziehung. Das schlechte Gewissen drückte sie nun unheimlich. Sie wollte wenigstens zu ihrem Bruder ehrlich sein, wenn es sie es schon nicht ihrer Oma gegenüber sein konnte. „Es gibt da etwas, dass du wissen solltest.“

„Du bist schwanger.“

„Was?!“

„Ich bringe ihn um“, knurrte Shinichi und wollte schon auf seinen besten Freund losstürmen, jedoch konnte Aoko ihn noch zurückzuhalten. „Nein, was redest du denn da?! Ich bin nicht schwanger! Man, Shinichi“, stöhnte sie auf. Dann rückte sie mit der Sprache raus. Er lauschte aufmerksam ihren folgenden Worten. Mit jedem weiteren Stück der Wahrheit, wandelte sich sein Blick in absolutes Entsetzen. „Bist du irre?!“

„Es tut mir leid, Shin!“

“Wie kommt ihr auf so eine schwachsinnige Idee?! Glaubst du nicht, dass unsere Großmutter nicht selbst schon das Theater durchschaut hat?“ Plötzlich trat ein Funkeln in seine Augen, als ihm noch etwas viel Brisanteres in seine Gedanken kam: „Ihr nächtigt zusammen in deinem Zimmer, in deinem kleinen Bett, und seid nicht mal ein richtiges Paar?!“

„Nein, so ist das nicht“; wich Aoko sofort zurück. „Kaito hat ein Futon. Das ist unter meinem Bett versteckt.“

Erleichtert atmete Shinichi auf. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor dem Brustkorb und runzelte die Stirn. „Und wie soll das jetzt weiter gehen? Wie lange willst du dieses Theater noch weiterspielen?“

Aoko linste zu ihrem Scheinfreund. „Kaito geht nach Amerika zurück. Ich werde Oma einfach sagen, dass das ganze keine Zukunft hat.“ Sie blickte in Shinichis ungläubige Mimik und fügte hinzu: „Du hast sie doch selbst gehört. Eine Beziehung funktioniert nur, wenn man zusammen ist. Kaito und mich trennen nicht nur ein paar Kilometer, sondern ein paar tausende Kilometer. Sie wird verstehen, dass das auf Dauer nicht gut geht.“

„Und wenn sie eine Lösung parat hat?“

„Dann sag ich ihr, dass er mich mit Akako betrogen hat.“

„Aoko!“

„Ist doch wahr“, schmollte sie. „Sieh sie dir an und Zeugen gibt es wahrlich genug.“

Shinichi war sprachlos. Er schüttelte entsetzt seinen Kopf. „Kaito ist mein bester Freund und mein Bruder! Sag unserer Familie die Wahrheit. Sie alle haben es verdient zu erfahren, was wirklich Sache ist. Und schieb nicht allein Kaito die Schuld zu. Du hängst da genauso mit drin.“

Aoko musterte lange Kaito, der sich vollkommen auf die schöne junge Frau in seinen Armen konzentrierte. Sie kippte den Rest des Glases leer und stellte es auf das steinerne Geländer ab. „Aber erst nach deinem großen Tag“, sie sah zu ihrem Bruder auf und drückte sich fest an ihn.

Unbehaglich erwiderte Shinichi die Umarmung. „Aber gleich beim Frühstück legst du die Fakten auf den Tisch“, forderte er.

Sie nickte leicht und genoss noch einen Moment die starke Umarmung. Er hasste sie nicht und das gab ihr doch Hoffnung, dass der Rest der Familie sich milde stimmen ließ. „Ich verschwinde jetzt“, flüsterte sie.

„Wo willst du hin?“

„Ich geh noch ein bisschen in den Pool. Muss den Kopf frei bekommen.“

Shinichi nickte, streichelte ihr liebevoll übers Haar und flüsterte. „Pass auf dich auf. Ich will meine kleine Schwester morgen früh nicht tot aus dem Wasser fischen müssen.“

„Ich kann schwimmen und habe fast nichts getrunken“; lachte Aoko. Schon boxte sie ihm gegen den Brustkorb. „Feiere noch schön und genieße deinen letzten Abend in Freiheit.“

Mit diesen Worten verschwand sie in die Dunkelheit. Sie stapfte durch die absolute Finsternis durch den Garten und ärgerte sich ihr Handy nicht dabei zu haben. Sonst könnte sie die Taschenlampenfunktion verwenden. Zum Glück war der Weg nicht kompliziert und irgendwelche Stolperfallen waren auch nicht eingebaut.

Hinter ihr näherte sich ein Lichtpegel und eine Person holte sie ein. „Aoko! Warte!“

Überrascht drehte sie sich um. Sie blickte direkt in das grelle Licht eines Handys und kniff sofort die Augen zu.

Verwirrende Gefühle

„Entschuldige“, sprach Saguru und senkte sofort sein Handy zu Boden. „Wo gehst du denn hin?“

„Ich wollte ein bisschen in den Pool“, antwortete Aoko.

„Ihr habt einen Pool?“, kam es verwirrt von dem Blonden.

Sie lächelte und nickte. „Ja, magst du mitkommen?“

Saguru blickte unsicher in die Dunkelheit zurück, dann aber lächelte er. „Gerne, ich würde nämlich mit Freuden unser Gespräch von vorhin wieder aufnehmen.“

Und sein Lächeln war atemberaubend, offen und ehrlich. Aoko konnte gar nicht anders, als zurückzulächeln und deutete an ihren Weg fortzusetzen.

Saguru ließ es sich nicht nehmen ihnen den Weg zu leuchten.

„Darf ich dich etwas fragen?“, durchbrach Aoko die Stille. „Du bist kein Japaner, oder?“

Der Blonde betrachtete sie aufmerksam. „Nur zur Hälfte. Die andere Hälfte ist Engländer“, grinste er.

„Naturblonde Haare habe ich nämlich in Japan noch nie gesehen“, erklärte sie ihre Gedanken. „Wo bist du denn aufgewachsen?“

„In London“, antwortete er. „Und du bist hier aufgewachsen“, stellte er fest. „Ein traumhaftes Anwesen.“

Aoko sah sich in der Finsternis um. Sie näherten sich dem vorderen Garten, der besser beleuchtet wurde als der hintere Gartenbereich. „Ja, das ist es wirklich.“ Etwas unwohl verschränkte sie ihre Arme vor der Brust, was dem jungen Mann keineswegs entging.

„Ist dir kalt?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sich seine Jacke aus und legte diese um Aokos Schulter. Die Wärme ging sofort auf ihren Körper über und ihr Herz schlug Purzelbäume. Überwältigt, dass jemand so nett zu ihr war, kuschelte sie sich enger in die Jacke. Sie linste zu ihm, lächelte ihn dankbar an. Gemeinsam traten sie auf die Terrasse. Aoko strebte die Türe zum Wohnzimmer an, als eine Stimme sprach: „Ist die Party schon vorbei?“

Erschrocken, dass noch jemand wach war, fuhr Aoko zusammen, klammerte sich an die Jacke und suchte nach der Person, die sich scheinbar in einem abgedunkelten Bereich aufhielt.

Da trat ihre Großmutter in den Schein des Lichtes und musterte Aoko und ihren Begleiter aufmerksam.

„Oma, du bist noch wach?“

„Ja, natürlich, Kindchen. Der Abend ist doch noch jung.“ Die weisen Augen musterten den blonden jungen Mann aufmerksam. „Guten Abend, ich bin Aokos Großmutter.“

„Saguru Hakuba“, stellte sich dieser auch sofort vor. „Es freut mich Sie kennen zu lernen.“

Die Großmutter lächelte, musterte Aoko und ihren Begleiter allerdings neugierig und doch auch etwas verwirrt. „Wo wollt ihr denn hin? Ich dachte, die Party ist im alten Pavillon.“

„Ja, das stimmt“, antwortete Aoko in Erklärungsnot. Sicherlich fragte sich ihre Oma, was sie hier mit einem fremden Mann tat, während Kaito noch auf der Party war. Sollte jetzt der Zeitpunkt gekommen sein, dass diese ganze Lügengeschichte aufflog? „Ich wollte Saguru den Pool zeigen.“

„Erinnerungen schaffen…“

„Was?!“ Aoko starrte entsetzt ihre Oma an. Diese hatte den Satz eher zu sich selbst gemurmelt und war gar nicht für die Enkelin bestimmt, aber Aoko hatte die Worte klar und deutlich vernommen. „Was denkst du denn?! Ich bin mit Kaito zusammen.“ Sie wollte ihrer Oma kein falsches Bild mehr vermitteln, dennoch kamen die Worte schneller über ihre Lippen, als sie nachdenken konnte. Wollte sie ernsthaft diese Lüge weiterhin aufrechterhalten? War es nicht an der Zeit reinen Tisch zu machen? Sie deutete auf Saguru und dann auf sich selbst. „Wir wollen uns nur unterhalten.“ Unsicher deutete sie nun auch in das Haus hinein. „Und den Pool ansehen. Mehr ist da nicht, Oma.“

„Ach, Kindchen, du wirst schon wissen was du tust“, winkte die ältere Frau ab und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Aoko führte ihre Begleitung durch das Haus in den Keller hinab. Barfuß tapsten sie in die warme Schwimmhalle und rochen die chlorgetränkte Luft. Wie lange war Aoko nicht mehr hier gewesen? Früher hatte sie sich immer hierher zurückgezogen. Zum Nachdenken, zum Lernen, zum Alleinsein oder einfach nur um zu schwimmen. Aoko reichte Saguru seine Jacke, setzte sich an den Beckenrand und tauchte ihre Beine ins Wasser.

Der junge Mann zog sich eine der Liegen heran und setzte sich neben sie. Er ließ seine Finger ins Wasser gleiten, um die Wassertemperatur zu prüfen, ehe er seine Arme auf den Knien ablegte und die Hände verschränkte. „Ihr habt es wirklich schön hier.“

„Ja, wie wahr. Soll ich dir etwas verraten? Das hier ist mein Lieblingsplatz im ganzen Haus. Diese Stille, das sanfte Plätschern des Wassers, der Geruch. Hier kann ich abschalten.“

Saguru beobachtete sie. „Deine Oma wirkte vorhin etwas überrascht uns zusammen zu sehen.“

„Weißt du“, suchte Aoko nach einer Erklärung, fand jedoch nicht die richtigen Worte.

„Du bist mit Kaito zusammen“, wiederholte er ihren Satz von vorhin.

Überrascht sah sie auf, haderte damit den nächsten Menschen, den sie sympathisch fand anzulügen, dennoch nickte sie. „Ja“, murmelte Aoko.

„Aber Kaito und Akako“, setzte Saguru an und raufte sich die Haare. „So wie die flirten, hätte ich niemals angenommen, dass du seine Freundin bist. Stört dich das gar nicht?“

Natürlich tat es das. Aber es durfte sie nicht stören. Sie hatte keinen Anspruch auf ihn. Er ist Shinichis bester Freund und warum auch immer er sie in diese kleine Lügengeschichte involvierte, war er auch nie mehr als der Sandkastenfreund ihres älteren Bruders gewesen. Auch wenn sie sich damals durchaus heimlich mehr gewünscht hätte. „Es ist ein kleines bisschen kompliziert“, versuchte Aoko zu erklären, wusste aber sofort, dass es keine Logik dafür gab. Hatte sie sich als sechzehn jähriges Mädchen doch immer ausgemalt, wie es wäre sich Kaitos feste Freundin nennen zu dürfen. Nun war sie es offiziell, aber doch nicht wirklich. Damals hegte sie die Hoffnung, dass sie der Grund für seine fast täglichen Besuche war. Sie malte sich aus, dass er eigentlich sie sehen wollte, nicht ihren Bruder. Aber nun wusste sie, dass er die gesamte Zeit mit Akako zusammen war. Damals wusste sie davon nichts. Unglaublich. Während sie in ihrem Zimmer mit aufgeregtem Herzklopfen saß, darauf wartend dass er in ihr Zimmer kam um ihr seine Gefühle zu gestehen, war er bereits längst vergeben. Und niemals hatte sie erwartet, dass diese kindliche Schwärmerei sie nun wieder einholte.

„Zu schade“, murmelte Saguru plötzlich.

Vollkommen aus den Gedanken gerissen, blickte sie auf und musterte den jungen Mann neben sich, der inzwischen sein Hemd leicht geöffnet hatte. Immerhin herrschte hier eine Raumtemperatur von über 30 Grad und die hohe Luftfeuchtigkeit tat ihr übriges. Sie erhaschte einen Blick auf den leicht beharrten Oberkörper und drehte ihren Kopf verlegen wieder weg. „Wie meinst du das?“

„Zu schade, dass du schon in festen Händen bist“, gestand er und lächelte etwas wehmütig. „Aber was habe ich auch erwartet. Eine hübsche Frau wie du, muss natürlich schon in festen Händen sein.“

Die Überraschung stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Ihr Herz klopfte aufgeregt. So ein schönes Kompliment hatte ihr bisher noch nie jemand gemacht. Sie freute sich darüber, dennoch konnte sie ihn nur stumm anstarren. Aoko wusste einfach nichts darauf zu sagen, suchte die braunen Augen und hielt unbewusst die Luft an. Konnte es sein, dass er wirklich an ihr Interesse hatte? Sie kannten sich doch gar nicht. Wollte er deswegen mit ihr Zeit verbringen? Um sie kennenzulernen? Zu sehen, ob sich da etwas entwickeln könnte? Ihr fehlten die Worte. War er vielleicht der Richtige? War er der Mann fürs Leben, den sie schon so lange suchte? Nicht dass sie hier womöglich ihre einzige Chance vergeudete und sich dann nie wieder eine weitere ergab?

Saguru hielt sie in seinem Blick gefangen und näherte sich etwas.

Auch Aoko kam ihm entgegen.

„Ich hintergehe niemanden“, flüsterte er, dennoch beugte er sich noch ein Stück zu ihr.

Er würde nichts überstürzen, er würde ihr die Entscheidung überlassen. Wenn sie es wollte, würde er alles für sie machen. Wollte sie es? Wollte sie einen Versuch wagen? „Was wäre, wenn die Situation ganz anders ist, als es aktuell den Anschein macht?“, hauchte Aoko verwirrt von ihren Gefühlen. Innerlich zerrissen spürte sie aber schon den Atem des jungen blonden Mannes an ihren Lippen. Sie schloss ihre Augen. Würde sie es wagen, den entscheidenden Schritt zu gehen? Würde sie es über das Herz bringen diesen jungen Mann zu küssen, um zu sehen ob er ihr Prinz war? Sie war so aufgeregt und durcheinander. In ihr kribbelte alles. Sie war frei und ungebunden und dennoch fühlte es sich an wie Betrug. Sie war dabei Kaito zu betrügen, obwohl das doch vollkommen schwachsinnig war. Sie verdrängte dieses bittere Gefühl in sich, haderte noch mit diesem entscheidenden Schritt auf Saguru zuzugehen. Seine Lippen schwebten vor ihren, es war nur eine kurze Überbrückung, nur ein wenig vorbeugen, dann würde sie wissen, ob er in ihr ein Feuerwerk auslösen konnte. Sie durfte nicht an Kaito denken, nicht in diesem Moment. Sie musste ihn verdrängen, zur Seite schieben. Es war kein Betrug. Immerhin flirtete er schon den gesamten Abend mit seiner Ex und ließ sie, Aoko, unbeachtet links liegen. Sie bewegte sich auf ihr Gegenüber zu und spürte das warme weiche Lippenpaar an ihren.

Wie von Sinnen

„Was soll das hier werden?!“

Erschrocken über die schneidende, ja schon beinahe knurrende Stimme, die sich in dieser Halle mit einem schallenden Echo ausbreitete, wich Aoko sofort zurück. Im nächsten Moment drehte sie sich zur Türe.

Kaito stand mit finsterem Gesichtsausdruck in der Schwimmhalle, mit zu Fäusten geballten Händen und musterte die beiden wütend, als wären sie die größten Verräter dieser Welt.

Saguru stand auf und hob abwehrend die Hände. „Es ist nichts passiert.“

„Ich hab Augen im Kopf, Hakuba. Und das was ich gesehen habe, gefällt mir gar nicht.“

Aoko lauschte den Worten überrascht. Spielte er sich hier gerade allen Ernstes als ihr Freund auf und formulierte seine Besitzansprüche? Er, der die gesamte Zeit schamlos mit seiner Ex-Freundin flirtet? Sie konnte es nicht glauben, dass ausgerechnet Kaito sich erdreistete und ihr diesen Moment mit diesem überaus netten und charmanten jungen Mann vermasselte. Wütend sprang sie auf, lief auf ihn zu, um ihm mal gehörig ihre Meinung zu sagen. Doch durch ihre nassen Füße rutschte sie sofort aus, verlor ihr Gleichgewicht und ruderte dabei wild mit ihren Armen. Sie konnte sich nicht mehr fangen und plumpste rückwärts ins Wasser. Im nächsten Moment spürte sie zwei kräftige Arme um ihren Bauch. Sie tauchte auf und rang nach Luft. Schon wischte Aoko sich die nassen Haare aus dem Gesicht und versuchte sich zu orientieren. Da begegnete sie Kaitos Gesicht, das nah vor ihrem schwebte.

Auch seine Haare hingen in nassen Strähnen herab. Die blauen Augen musterten sie sorgenvoll. „Alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?“

Sie wusste nicht einzuordnen was eben geschehen war. Dennoch fühlte sie in sich hinein und schüttelte den Kopf. „Mir geht’s gut. Es ist nichts passiert.“

Erleichterung spiegelte sich in seinem Gesicht und auch er wischte sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn.

Langsam realisierte sie aber die Situation. War er ihr hinterher gesprungen? Hatte er Angst sie würde ertrinken? Der Pool lag maximal bei einer Wassertiefe von einem Meter vierzig. Neugierig und überrascht suchte sie seine tiefblauen Augen, die sie unentwegt ansahen.

Saguru meldet sich leise: „Ich bin dann mal weg. Ihr habt sicherlich einiges zu besprechen.“ Schon verschwand er aus der Schwimmhalle.

Hinter ihm schlug die Türe zu.

Sie waren allein. Ganz allein. Plötzlich gab es für Kaito kein Halten mehr. Stürmisch drückte er sie an seinen Körper, legte seine Lippen auf ihre und begann sie in einen Kuss zu ziehen, der Aoko die Beine weich werden ließ. Sie spürte, wie die Kraft schwand, legte schnell ihre Arme um seine Schultern und klammerte sich an ihn. Seine Lippen waren so weich und warm. Aoko fühlte nur noch das Prickeln in sich. Er bescherte ihrem Körper eine Gänsehaut, obwohl ihr zeitgleich heiße Schauer über den Rücken fuhren. Sie spürte ihr Herz, das so schnell und stark klopfte. Sanft strich er mit seiner Zunge über ihren verschlossenen Mund, bat um Einlass, während er ihren Körper noch näher an seinen zog. Vorsichtig öffnete sie ihren Mund und sofort schob sich seine Zunge in sie. Sie wurde von seiner Leidenschaft regelrecht mitgerissen, fühlte ihn, schmeckte ihn und ihre gesamten Sinne waren nur auf diesen Mann gepolt. Sie umschloss seine Hüfte mit ihren Beinen, klammerte sich nun komplett an ihn. Langsam watete er mit ihr zum Beckenrand, bis sie diesen in ihrem Rücken spürte. Er drückte seinen Körper noch näher an sie und presste sie regelrecht gegen das steinerne Becken. Seine Hände wanderten hinab zu ihrem Po. Aber auch ihre blieben nicht untätig. Während eine ihrer Hände sich in seinem nassen Haar verfing, glitt die andere zu seinem Brustkorb, der sich straff unter seinem klitschnassen Hemd abzeichnete. Sie schaltete so langsam ihren Verstand aus und wollte nur noch fühlen. So öffnete sie Knopf für Knopf von seinem Hemd, das an seinem Oberkörper klebte. Das erregende Kribbeln in ihrem Körper, welches sie noch nie zuvor so intensiv erlebt hatte, breitete sich rasant aus. Kaito löste den intensiven Kuss und widmete sich nun ihrem Ohrläppchen, dann ihrem Hals und zog eine elektrisierende Spur hinab zu ihrem Schlüsselbein. Aoko schmolz zu Butter in seinen Armen, dachte nicht mehr nach, sondern gab sich vollkommen ihren Gefühlen hin.

Die Türe fiel zu.

Überrascht hielten beide inne. Kaito löste sich und hielt sie in seinem Blick gefangen. Täuschte es oder waren seine Augen dunkler als sonst? Aoko fuhr ein Schauer über den Rücken, dann aber besann sie sich. War jemand hier? Schnell scannte sie die Schwimmhalle, aber sie waren ganz allein. Könnte ein Windstoß die Türe geschlossen haben? Oder war Saguru die gesamte Zeit doch noch in der Halle anwesend, als sie beide die Kontrolle verloren? Aber die Türe war doch vorhin schon lautstark zu gefallen.

„Ich“, setzte Kaito an.

Und erst jetzt wurde Aoko bewusst, wo sie sich befand und was sie eben getan hatten. Sie hatte sich komplett vergessen. Ihre Augen fuhren an seinem Körper hinab. Sie hatte seinen Brustkorb freigelegt, das Hemd klebte an seinen Schultern und Armen. Der Teil des Stoffes im Wasser schwebte regelrecht mit der Wasserbewegung. Ihre Finger spürten die erhitzte Haut und vorsichtig löste sie ihre Hände von seinem Oberkörper. Unsicher folgten ihre Augen seinem Hals hinauf zu seinem Gesicht. Die Haare nass und strähnig hingen ihm teilweise im Gesicht. Seine Augen musterten sie nachdenklich. Seine Lippen, die sie eben noch heiß und innig geküsst hatte, leicht geöffnet. Erst jetzt spürte sie bewusst den Beckenrand in ihrem Rücken und noch etwas anderes an ihrer Mitte. Sie hielt ihn immer noch umklammert und wurde sich nun der Tatsache bewusst, was sich da so an sie drückte und wie sehr sie sich hatte gehen lassen. Sofort öffnete sie ihre Umklammerung und stellte sich selbst wieder auf ihre Füße. Verlegen räuspernd versuchte sie Abstand aufzubauen. Sie hievte sich am Beckenrand hoch und stand wenig später auf. Ihre Beine fühlte sich wie Wackelpudding an. Unsicher und seinen Blick im Rücken tapste sie zu einem unscheinbaren Regal und zog ein großes Badetuch hervor. Diese hatten sie hier immer vorsorglich gelagert, falls jemand vergaß eines mitzunehmen. Sie warf es sich über die Schulter und zog ein zweites hervor. Sie drehte sich zu Kaito und beobachtete, wie er sich ebenso aus dem Wasser hob. Durch das enganliegende und vollkommen durchsichtig gewordene weiße Hemd erkannte sie das Muskelspiel seiner Oberarme. Kaum richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, stockte ihr der Atem. Die Haare hingen ihm nass in die Stirn, das weiße Hemd klebte an seiner Haut, seine Brust glänzte feucht, ebenso wie letzten Abend, als er aus der Dusche kam. Seine Jeans klebte ebenso eng und vollkommen nass an seinen Beinen. Es sollte verboten werden, so gut auszusehen. Sie starrte und ihr war das vollkommen bewusst, dennoch konnte sie ihre Augen einfach nicht abwenden. Ihr Körper stand unter Strom und in ihrem Inneren stellte sich ein Dauerprickeln ein.

Er trat auf sie zu, hielt sie in seinem Blick fest. Ähnlich einer Raubkatze, die sich ihre Beute ausgesucht hatte, näherte er sich ihr. Vorsichtig nahm er das Badetuch an sich, ließ sie aber nicht aus den Augen. „Vielleicht sollte ich heute woanders schlafen“, murmelte er.

„Bei Akako?“, schoss es unkontrolliert aus ihr heraus.

Er sah sie nur an. Verharrte stumm. Es vergingen Sekunden, ehe er antwortete: „Ich dachte an die Couch im Wohnzimmer.“

„Und wie willst du das morgen erklären?“

„Wir haben uns gestritten?“, konterte er. „Es tut mir leid, Aoko. Ich habe dich in diese Situation gebracht und ich werde selbstverständlich dafür geradestehen.“

„Ist schon gut. Ich habe Shinichi alles erzählt. Und übermorgen lege ich die Karten auf den Tisch.“

„Shin weiß Bescheid?“

„Natürlich. Blind ist er nicht und auffälliger hättest du dich auch nicht benehmen können.“ Aoko zog das Badetuch vor ihrer Brust zusammen. Sie verließ das Schwimmbad und schlich durch das Haus. Kaito folgte ihr.

Plötzlich trafen sie auf Akako, die die beiden aufmerksam musterte. „Hier bist du, Kaito. Warum seid ihr nass?“

„Ich…“; stotterte Aoko. „Ich bin in den Pool gefallen und Kaito wollte mir helfen, doch dann ist er auch reingefallen.“

Akakos Blick wich zu Kaito und musterte ihn ebenso. Mit ausdrucksloser Mimik nahm sie das zustimmende Kopfnicken wahr.

Aoko musste plötzlich niesen.

Sofort schob der junge Mann sie zur Treppe. „Wir sollten dringend aus den nassen Sachen raus. Gute Nacht, Akako. Wir sehen uns morgen beim Frühstück.“

Kaito begleitete Aoko in ihr Zimmer, dann schaltete er die Dusche auf heiß und ließ Aoko den Vortritt. Bevor sie aber ins Bad verschwand, drehte sie sich nochmal zu ihm um: „Hör mal. Mich geht das gar nichts an, aber ich wollte dir nur sagen, dass du tun und lassen kannst was und mit wem du möchtest. Wir sind nicht zusammen und du bist mir keine Rechenschaft schuldig. Also wenn du zu Akako möchtest, dann solltest du das tun.“

„Und wenn ich etwas anderes möchte?“

Aoko verstand nicht so recht. „Naja, dann solltest du das tun. Was ich sagen will, lass dich nicht von dieser kleinen Lüge davon abhalten.“

Kaito trat auf sie zu. „Ich glaube, du hast mich nicht verstanden.“ Im nächsten Moment umfasste er ihr Gesicht und küsste sie wieder. Sofort entzündete sich die kleine Flamme wieder in ein loderndes Feuer.

Aufregung

Ihr Herz klopfte so stark und schnell. Es kribbelte in ihrem Bauch. Wie schaffte er es nur immer wieder ihren Körper so unter Strom zu setzen? Sie genoss seine Küsse und konnte gar nicht mehr genug davon bekommen. Dennoch überzog sie ein kalter Schauer. Eine Gänsehaut breitete sich aus und sie begann zu zittern. Ihr Kleid klebte regelrecht an ihr und war ganz klamm.

Kaito löste sich von ihr und musterte sie intensiv. „Schnell unter die Dusche, bevor du krank wirst.“ Und schon schob er sie ins Badezimmer, das bereits durch das laufende heiße Wasser einen wohligen warmen Dampf verteilte.

Aoko verschwand im Bad, zog sich aus und stieg unter das heiße Wasser. Für ein paar Minuten konnte sie ihre wirren Gefühle abschalten. Dann aber dachte sie sofort wieder an den attraktiven und ebenso nassen Mann in ihrem Zimmer, der auch schnell unter die Dusche müsste. Sie beeilte sich fertig zu werden, ließ aber das Wasser laufen. Schnell wickelte sie sich in ein Handtuch, trat ins Zimmer zurück und gab Kaito den Weg frei. Sofort hingen seine Augen auf ihrer Erscheinung, verschwand aber er ohne ein weiteres Wort im Badezimmer.

Sie trocknete sich ab und suchte ihren Schlafanzug, aber sie fand ihn nicht. Stattdessen entdeckte sie ein kleines gefaltetes Bündel mit einem Zettel drauf. „Aoko.“ Überrascht nahm sie den Zettel, wusste nicht von wem dieser war. Sie hob das Bündel an und kaum hielt sie es in die Luft fiel der Stoff auseinander und entpuppte sich als ein hauchzartes Negligé. Sofort errötete Aoko und starrte diesen Hauch von Nichts an. Sie sollte so etwas schlüpfriges anziehen und mit Kaito in einem Zimmer schlafen? Das ging nicht. Niemals. Sie legte es zur Seite und suchte erneut nach ihrem Schlafanzug, aber fand ihn nicht. Auch nahm sie nochmal den Zettel zur Hand und entdeckte auf der Rückseite eine kleine Notiz. „Dein Schlafanzug ist in der Wäsche.“ Und in diesem Moment wusste sie, von wem dieses Nachthemd war. Nicht so recht wissend ob sie lachen oder wütend sein sollte, nahm sie das Nachtkleid und betrachtete es nochmals genauer. Es war dunkelblau, wunderschön, bestickt und dennoch fast durchsichtig. Sie wurde erneut rot. Sie konnte das doch nicht anziehen. Das Wasser in der Dusche wurde abgestellt. Erschrocken starrte sie die Türe an. Kaito würde jeden Moment aus dem Bad herauskommen. Mangels Alternativen löste sie ihr Handtuch und schlüpfte in das Negligé. Schnell hob sie das Handtuch auf, legte es zum Trocknen über ihren Schreibtischstuhl und wollte ins Bett huschen, als in diesem Moment die Türe geöffnet wurde und der Sandkastenfreund ihres Bruders mit nur einem Handtuch um die Hüfte das Zimmer betrat. Sofort hafteten seine Augen auf ihrem Körper, musterten sie langsam und konzentriert.

Allein unter diesem Blick reagierte ihr Körper sofort. Es war ihr so peinlich und sie verfluchte ihre Oma in Gedanken, die sie in solch eine peinliche Situation gebracht hatte. „Wir sollten…“, begann sie verlegen, doch Kaito schüttelte seinen Kopf. „Was machst du nur mit mir?“ Im nächsten Moment stand er vor ihr, umfasste ihr Gesicht und zog sie in einen intensiven und stürmischen Kuss. Langsam leitete er sie zu ihrem Bett und folgte ihr, ohne sich von ihren Lippen zu lösen.
 

Aoko erwachte und dieses Mal war es anders. Sie spürte den schweren Arm auf sich, den ruhigen Atem an ihrem Ohr und den warmen Körper direkt neben sich. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Und in ihrem Bauch kribbelte es wieder. Sie musterte das vertraute Gesicht, welches in all den Jahren markantere Züge angenommen hatte. Vorsichtig strich sie ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und rief sich die letzte Nacht in Erinnerung. Auch wenn sie nur wenig Schlaf hatte, so fühlte sie sich dennoch ausgeschlafen, gut und innerlich ausgeglichen.

Es klopfte an ihrer Türe. Überrascht blickte sie zur Uhr. Es war doch erst sieben. Wer wollte denn so früh schon etwas von ihr? Vorsichtig schälte sie sich aus der Umarmung, schlüpfte schnell in einen Slip und ein längeres Shirt und schlich zur Türe. Sie lugte durch einen Spalt und erkannte Ran vor ihrem Zimmer stehen. „Was ist denn los?“, flüsterte sie besorgt und öffnete die Türe etwas weiter.

„Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber hast du Zeit?“, kam es ebenso leise zurück.

Aoko nickte. Sie schlüpfte schnell in eine kurze Hose. Derweil warf Ran einen Blick ins Zimmer. Gedankenverloren musterte sie den schlafenden Kaito, der sich in Aokos Bett inzwischen breit gemacht hatte. Schnell huschte Aoko zu ihrer Schwägerin und schob sie aus ihrem Zimmer. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinab und verließen das Haus. Sie spazierten ein wenig durch den Garten. „Was beschäftigt dich?“

„Ich bin so nervös, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte“, gestand Ran und betrachtete die Jüngere nachdenklich. „Ehrlich gesagt, wollte ich auch mit dir sprechen.“ Aoko blickte auf und wartete gespannt. „Es tut mir leid, wie Kaito und Akako sich gestern dir gegenüber verhalten haben. Ich habe nicht bedacht, dass ein Wiedersehen der beiden solche Komplikationen mit sich bringen könnte.“

„Akako ist deine Freundin und Kaito ist Shins Freund. Wie hättest du eine Begegnung verhindern wollen?“ Aoko nahm Ran in den Arm. „Nun zerbrich dir mal nicht den Kopf. Konzentrier dich auf deinen großen Tag.“

Ran zuckte mit den Schultern. „Als du gestern so zeitig abgehauen bist, dachte ich wirklich, dass du uns heute verkündest, dass es zwischen euch aus. Und dann verschwand Kaito auch noch so plötzlich. Ich hegte die Hoffnung das ihm bewusst wurde, was er eigentlich getan hatte.“ Sie musterte Aoko. „Doch dann erzählte mir Shinichi, dass Kaito und du gar nicht wirklich zusammen seid.“ Sie grübelte, schien mehr als verwirrt von den ganzen Eindrücken. „Aber was war das denn vorhin?“

Die Jüngere von ihnen wandte verlegen ihren Blick ab und löste sich von Ran. „Naja, also …“, druckste sie herum. „Er und ich… das ist nicht so einfach zu erklären. Der Abend gestern war ziemlich aufreibend“, stimmte Aoko zu. Das es sogar damit geendet hat mit Kaito im Bett zu landen, kam selbst für sie überraschend. „Wir haben es getan.“ Sie war selbst viel zu verwirrt von ihren Gefühlen. „Er war so stürmisch und leidenschaftlich. Als ich ihm sagte, dass ich es noch nie … wurde er plötzlich ganz vorsichtig und rücksichtsvoll.“ Bisher hatte es sich bei keinem richtig angefühlt, zumal die Auswahl an geeigneten Partnern auch eher minimal war. Wer sonst hätte diesen Platz einnehmen sollen? Sie mochte ihn seit jeher und bereute nun keine Sekunde. Aber wie sah er das Ganze und noch viel wichtiger, wie sollte es nun weitergehen? Er lebte in Las Vegas, sie lebte in Tokio. Sie waren nicht mal offiziell zusammen und ihre Familie wusste immer noch nicht, dass sie einer riesengroßen Lüge aufgelaufen waren, ausgenommen Ran und Shinichi. Und die Reaktion ihres Bruders auf letzte Nacht wollte sie sich gar nicht erst ausmalen.

Die Braut verstand sofort und musterte sie erstaunt. „Du liebst ihn.“

Aoko sah auf den Boden. Ihr Herz bestätigte Rans simple Feststellung. „Ich habe schon früher für ihn geschwärmt und mir gewünscht, dass er mehr in mir sieht. Weißt du, er war damals fast jeden Tag bei uns.“ Sie überlegte. „Aber jedes Mal verhielt er sich mir gegenüber blöde. Er ärgerte mich, machte sich über mich lustig oder er probierte einen neu erlernten Zaubertrick an mir aus, was meist damit endete, dass ich von Konfetti berieselt wurde und er mich auslachte. An diesem einen Tag war es ganz anders. Ich trug meine Badesachen, hielt mein Handtuch fest und war gerade auf dem Weg zum Pool, da stand er plötzlich vor mir und sah durch mich hindurch. Er war so in Gedanken. Doch dann sagte er etwas, was ich bis heute nicht verstanden habe. ‚Ich ziehe nach Las Vegas. Dies hier soll für ein Wiedersehen stehen und nicht für ein Lebewohl.‘“ Aoko spürte wieder ihren Herzschlag. „Damals zauberte er aus dem Nichts eine rote Rose hervor und überreichte sie mir, bevor er verschwand.“

Ran hingegen kombinierte: „Vielleicht bist du ihm wirklich wichtig gewesen.“

Aoko schüttelte den Kopf. „Ich war immer die nervige kleine Schwester. Zumindest scheuchten mich die beiden ständig mit diesem Satz davon.“

„Kaito hatte wahrscheinlich nicht einmal die Chance dir in irgendeiner Art und Weise näher zu kommen. Shinichi hätte es sicherlich nicht gut gefunden, wenn sein bester Freund sich seiner kleinen Schwester nähert. Ich meine, wir kennen ihn schließlich. Er war auch jetzt nicht begeistert, als er davon hörte. Und du kannst dir sicherlich vorstellen, wie erleichtert er war, dass ihr kein Paar seid.“

„Was hat er denn bloß dagegen?“

„In seinen Augen ist doch kein Junge gut genug für dich“, lächelte Ran aufmunternd. „Er möchte dich einfach nur in den besten Händen wissen.“

Aoko grübelte, während sie den Rückweg zum Haus antraten. „Wir sehen uns später“, flüsterte Ran und kehrte in Shinichis Zimmer zurück. Aoko schlich immer noch in Gedanken in ihr eigenes zurück und fand Kaito unverändert schlafend vor. Sie musterte ihn eine Weile. Dann kuschelte sie sich nochmal zu ihm ins Bett. Sofort umarmte er sie. Aoko schloss ihre Augen und genoss die wohlige Geborgenheit.

Seine Finger wurden tätig und er murmelte. „Du hast viel zu viel an.“ Sofort klopfte ihr Herz schneller und sie spürte, wie er sich unter ihr Shirt vortastete. Im nächsten Moment beugte er sich über sie und vereinnahmte Aokos Mund. Der Kuss ließ wieder einmal ihren ganzen Körper prickeln. Langsam löste er sich und öffnete verschlafen seine Augen. „Wo bist du gewesen?“

„Ran ist leicht nervös.“

Er nickte. „Verständlich.“

Aoko musterte ihn, spürte diese angenehme und sichere Wärme. Dennoch war sie unendlich verwirrt. „Was ist das hier… zwischen uns?“

Und die Sekunden fühlten sich wie endlose Minuten an, während sie eine Antwort in seinen müden tiefblauen Augen suchte. Dann endlich öffnete er seinen Mund.

Es klopfte an der Türe und ohne eine Antwort abzuwarten betrat Aokos Großmutter ungefragt das Zimmer. Ihre Augen musterten das Paar aufmerksam. Kaito lag immer noch über Aoko gebeugt. Die Decke bedeckte ihn ab der Hüfte abwärts, ließ aber durchaus auf mehr schließen. „Guten Morgen“, flötete die ältere Frau und grinste wissend. „Ich sehe schon, der gemütliche Abend im Pool hat euch gutgetan.“

„Oma!“ Schlagartig schoss Aoko die Röte ins Gesicht.

Kaito begann plötzlich breit zu Grinsen und zwinkerte der älteren Frau frech zu. „Und die verheißungsvolle Nacht erst recht.“

Aokos Gesichtsfarbe nahm noch einen dunkleren Farbton an.

„Ich sehe, dass ich auch jetzt ungelegen komme. Offenbar habe ich bei euch ein Talent dafür“, lachte Aokos Großmutter plötzlich. „Es ist nur leider so, dass es jetzt Frühstück gibt. In einer Stunde kommen die Haarstylistinnen, die Schneiderin, die Kosmetikerin. Die Zeit drängt leider etwas. Aber ihr habt ja heute Nacht wieder Zeit für euch.“

„Oma!“ Aokos Kopf wurde dunkelrot.

Lachend verließ die ältere Frau Aokos Zimmer und schloss die Türe.

Kaito suchte Aokos Augen und fixierte sie. „Zu schade, dass ich bis heute Nacht auf dich verzichten muss.“

Aoko verharrte erstaunt. Da klopfte es erneut an der Türe und Ran steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Oh, guten Morgen! Ihr seid schon wach. Es gibt Frühstück.“

Im Hintergrund erklang Shinichis Stimme. „Sind sie wach? Kann ich kurz mit ihnen reden?“

Aoko wusste was ihnen blühte, wenn ihr Bruder sie so vorfand.

Ran zog sich zurück. „Aoko zieht sich gerade an und Kaito ist im Badezimmer.“ Schon schloss sie die Türe. „Du kannst später mit ihnen reden.“

Innerlich dankte Aoko ihr. Sie suchte Kaitos Augen. „Wir müssen wohl aufstehen.“

„Das müssen wir wohl“, stimmte er zu. Dennoch rührte er sich nicht, sah sie einfach nur an. Plötzlich kam Bewegung in ihn und er beugte sich zu ihr hinab.

Kurz bevor er sie küssen konnte, klopfte es erneut und die Türe ging auf.

Yukiko Kudo trat ins Zimmer. „Kinder, beeilt euch. Der Tag ist heute minutiös durch getaktet.“ Erst jetzt starrte sie auf das Pärchen und erkannte den unpassenden Moment, in den sie so rücksichtslos geplatzt war. „Ach, wie süß. Leider müsst ihr das auf heute Nacht verschieben. Los, aufstehen!“

„Mama!“

Kaito ließ seufzend seinen Kopf sinken und versteckte sein Gesicht in Aokos Halsbeuge. Sein Atem kitzelte sie, während er versuchte sein Körpergewicht auf seine Arme zu verlagern.

„Ich warte“, sprach Yukiko und verharrte tatsächlich in Aokos Zimmer.

„Könntest du bitte draußen warten?“ Aoko richtete sich etwas auf und Kaito folgte ihren Bewegungen zwangsläufig. „Wir sind alt genug uns selbst anzuziehen. Du musst uns dabei nicht zu sehen.“

Erst jetzt schien Frau Kudo die Situation zu erfassen. Verlegen wand sie sich ab. „Natürlich“, lachte sie peinlich berührt auf und verließ das Zimmer.

Aoko stöhnte auf und ließ sich zurück ins Bett fallen. „Diese Familie ist so peinlich! Willkommen bei den Kudos.“ Sie wusste es doch, dass hier keiner den Anstand hatte, höflich im Flur zu warten. Natürlich platzte jeder ungefragt in ihr Zimmer. So war es früher doch auch schon gewesen.

Kaito grinste, küsste ihre Nasenspitze und erhob sich ganz. „Ich liebe diese Familie mit all ihren Macken.“ Nackt und ohne Scham stand er vor ihrem Bett und betrachtete Aoko. „Ihr habt das Familienleben, das ich mir immer gewünscht habe. Bei euch habe ich mich immer wohl gefühlt.“

Überrascht begegnete sie seinem Blick. „Ich habe es immer gehasst. Keine Privatsphäre, kein Respekt, Chaos und …“

„… und ganz viel Liebe“, unterbrach er sie. „Ich habe euch immer beneidet. Für mich habt ihr genau das was eine glückliche Familie ausmacht.“

Es klopfte an der Türe. Yukiko.

Kaito lächelte milde. „Sei nicht zu streng mit ihnen. Sie wollen alle nur das Beste für diese Familie.“ Schon verschwand er ins Badezimmer.

Aoko starrte ihm grübelnd nach.

Hochzeit

Der Morgen wurde stressig, auch wenn jeder sich Mühe gab, entspannt zu wirken. Kazuha und Sonoko waren bereits fertig gestylt und blickten in den Garten hinaus. Alles war festlich geschmückt. Die Männer gut gekleidet. Die Gäste fanden sich auch schon ein. Die Trauung würde bald beginnen.

Aoko wurde ebenso von der Stylistin entlassen und Akako nahm ihren Platz ein.

„Sieh nur Aoko! Kaito und deine Oma scheinen sich ja prächtig zu verstehen“, grinste Kazuha.

     Aoko trat zu ihnen ans Fenster und blickte hinaus. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus. „Ich denke, ich sollte mal zu ihnen gehen.“

     Während sie sich zur Türe drehte, wandten sich Kazuha und Sonoko dem Champagner zu. Die jüngste Kudo verließ das Zimmer und folgte der Treppe hinab in das Erdgeschoss. Wenig später trat sie in den herrlich warmen und sonnigen Vormittag. Auf dem Weg zu ihrer Oma und ihrem Scheinfreund wurde sie immer wieder angesprochen, begrüßt, umarmt und aufgehalten. Jedoch mit jedem weiteren Gast näherte sie sich ihrem Ziel. Gerade wurde sie von einer entfernten Tante begrüßt, als Aoko bemerkte, wie der Zauberer auf die Knie ging und etwas suchte. Irritiert wandte sie sich ihrer Verwandten zu, lächelte, vertröste ihr Gespräch auf später und beeilte sich zu Kaito zu kommen. Ihre Oma grinste plötzlich zu Aoko, nickte Kaito zu und verabschiedete sich: „Kinder, ich habe eine alte Freundin von früher entdeckt. Ich muss sie begrüßen. Wir sehen uns später.“ Schon ging sie davon und ließ ein überraschtes junges Paar zurück. Er, immer noch knieend, runzelte die Stirn, während Aoko irritiert nähertrat und zu ihm runter sah. „Was machst du da?“

     „Deine Oma wollte dir eigentlich etwas geben, aber dann ist es ihr runtergefallen“, erklärte er und sah zu ihr auf. Während sie ihre Gedanken sortierte, hielt er ihr plötzlich etwas entgegen. Es war klein und rund und ein kleiner Diamant glitzerte in der Sonne. Aokos Augen wurden größer. „Das ist Omas Verlobungsring.“

     Kaito betrachtete den kleinen Ring intensiv. „Warum sollte sie dir ihren Verlobungsring geben?“

     „Kannst du dir das nicht denken?“

     „Du meinst sie hat ihn absichtlich fallen gelassen, damit wir …“

     Aoko wollte antworten, als jemand neben ihr aufschrie. „Du hast dich verlobt?!“ Erschrocken wandte das vermeintliche Pärchen ihren Blick zu der Stimme und begegneten Yukiko Kudos aufgeregtem Blick. „Yusaku, siehst du das? Unser kleiner Spätzünder hat es endlich geschafft einen Mann fürs Leben zu finden“, quietschte Aokos Mutter begeistert. Im nächsten Moment fuchtelte sie wie wild mit den Händen. „Nun bring es aber ordentlich zu Ende, Junge!“

     Erschrocken starrte Aoko zu Kaito hinab, der ebenso überrumpelt zu ihr aufsah. Unschlüssig, und unter den Argusaugen seiner künftigen Schwiegereltern stehend, griff er nach Aokos linker Hand und steckte ihr den Ring an den Finger. Begleitet von einem quietschig-freudigen Laut von Aokos Mutter und begeistertem Klatschen seitens des Vaters. Kaito stand auf, dann fand er sich schon in den Armen ihrer Eltern. „Du bist schon immer wie ein Sohn für uns gewesen. Dich nun einen richtigen Sohn nennen zu dürfen macht uns sehr stolz“, verkündete Yukiko und auch Yusaku stimmte dem zu.

     Aoko hingegen wurde immer unwohler. Diese kleine Lüge wurde immer komplexer. Vor allem, wie sollte sie nun beim Frühstück die Karten auf den Tisch legen?

     „Wir müssen noch einige Gäste begrüßen“, bemerkte Aokos Vater. „Wir sehen uns später“, flötete ihre Mutter. Schon gingen die beiden davon, um von der Verlobung ihres zweiten Sprösslings zu berichten.

     Zurück blieb ein überrumpeltes und zutiefst verwirrte Paar. Er starrte diesen kleinen verhängnisvollen Ring an, dann aber grinste er: „Gut, das kam nun ungeplant, aber dann wollen wir ihnen diesen kleinen Gefallen auch noch erfüllen.“

     „Bist du verrückt? Ich wollte morgen die Wahrheit verkünden!“

     Jedoch schüttelte er seinen Kopf. „Du solltest damit noch ein paar Wochen warten.“ Er umfasste ihre linke Hand und betrachtete den Ring an ihrem Finger. „Wie fühlt es sich an?“

     Aoko antwortete zutiefst verwirrt: „Ich hab mir das alles immer romantischer vorgestellt.“ Ihre Augen starrten auf den Ring an ihrem Finger.

Auch Kaito betrachtete den funkelnden Diamanten. „Ich bin kein Romantiker, aber vielleicht mildert das hier die unangenehme Situation etwas.“ Er ballte seine Hand vor ihrem Gesicht, drehte sie schnell und öffnete seine Finger. In seiner Handfläche lag eine rote Rose. Im nächsten Moment steckte er diese in ihre hochgesteckten Haare. Dabei kam sein Gesicht ihrem so nah, dass sie seinen Atem regelrecht spüren konnte. Unbewusst hielt sie die Luft an und fühlte sich sofort an seine Nähe in der letzten Nacht erinnert. Er senkte seinen Blick und suchte ihre Augen. „Du bist wunderschön“, raunte er. Im nächsten Moment hauchte er ihr einen zarten Kuss auf die Lippen und löste sich wieder von ihr.

„Ich muss zurück.“ Auch wenn dies ein einfacher Satz war, so fühlte es sich für Aoko in diesem Moment unsagbar schwer an überhaupt ein klares Wort zu finden. „Wir sehen uns später.“ Und absolut verwirrt trat sie den Rückweg ins Haus an. Kaum kam sie ins Zimmer zurück, wurde sie von Kazuha und Ran aufgeregt begrüßt. „Woah, haben wir das richtig gesehen?!“

Sonoko trat ebenso näher und schnappte sich die Hand. „Wow, was für ein Klunker.“

Einzig Akako blieb im Hintergrund. Mit verschränkten Armen vor der Brust und einem finsteren Gesichtsausdruck.

„Das ist Großmutter Kudos Verlobungsring“, staunte Ran atemlos. „Zwei Karat. Princess-Schliff.“

„Du Glückliche“, seufzte Kazuha neidisch.

„Aber du und Kaito…“ Ran wusste überhaupt nicht mehr was sie noch denken sollte.

„Kommt ziemlich überraschend, was“, antwortete Aoko und rang sich ein Lächeln ab.

„Ich störe euch ja nur ungern, aber die Trauungszeremonie beginnt gleich“, mischte Sonoko sich wieder ein und scheuchte die Brautjungfern aus dem Zimmer. Schon drehte sie sich ihrer besten Freundin zu und richtete die letzten Feinheiten des Brautkleids.

Kazuha, Akako und Aoko traten die Treppe ins Erdgeschoss hinab als Onkel Ginzo auf sie zu torkelte und Aoko freudig in die Arme schloss. „Lieblingsnichte“, lallte er. „Dass ich deine Hochzeit noch erleben darf!“ Der von Alkohol durchtränkte Atem war so widerlich, das Aoko ganz schlecht wurde. Sie versuchte sich von dem Klammergriff ihres Onkels zu lösen, jedoch vergeblich. „Und wo wollt ihr wohnen? Zieht er nach Tokio? Oder du nach Las Vegas? Oder zieht ihr beide wieder in eure Heimat zurück? Kaitos Elternhaus steht doch leer, oder?“ Aoko hielt die Luft an, versuchte sich erneut zu lösen und antwortete: „Wir lassen es dich wissen, Onkel Ginzo.“ Sie schaffte es sich aus seinem Griff zu lösen und eilte an die frische Luft hinaus.

„Du bist ganz blass, Aoko. Geht es dir nicht gut?“, stellte Kazuha besorgt fest.

„Mir ist nur etwas schlecht von der Alkoholfahne meines Onkels“; antwortete Aoko abwinkend.

„Du bist schwanger“, stellte Akako stumpf fest. Dann aber fügte sie hinzu. „Natürlich bist du schwanger. Kaito würde niemals heiraten und schon gar nicht jemanden wie dich.“

Aoko spürte diesen verletzten Stich in ihrem Brustkorb. Bissig fragte sie: „Was ist denn an mir so falsch?“

„Du bist überhaupt nicht sein Typ. Kaito steht auf Frauen, reife und erfahrene Frauen. Er weiß ganz genau, was er will und wie er es bekommt. Kleine Mädchen haben ihn noch nie interessiert.“

„Wie kann es dann sein das ich schwanger bin, wenn er kleine Mädchen nicht anrührt?“

Akako funkelte sie finster an. „Du wirst dich von irgendwem schwängern haben lassen und willst es Kaito nur unterschieben.“

Wütend ballte Aoko ihre Fäuste. Sie war kurz davor Akako an die Gurgel zu springen, als besagter junger Mann nähertrat. „Es geht los“, unterbrach er den Streit und deutete auf den nervösen Bräutigam, der umringt von seinen Freunden stand. Heiji trat auch auf die Damen zu und reichte Kazuha die Hand. „Wir sind die ersten.“ Schon blickte der braungebrannte junge Mann zu Akako. „Du begleitest Saguru. Ihr seid nach uns dran.“

     Die Schönheit warf einen finsteren Blick zu Aoko und ging zu ihrem zugewiesenen Begleiter.

     Kaito nahm Heiji das Wort aus dem Mund: „Ich weiß, wir sind nach Akako dran. Dann kommen Makoto und Sonoko, ehe Ran von ihrem Vater begleitet wird.“

     „Korrekt“, stimmte Heiji zu und trat mit Kazuha wieder zu Shinichi.

„Alles okay?“, hakte der junge Mann nach.

„Akako glaubt, dass ich schwanger bin“, prustete Aoko wütend.

„Und was wäre daran so schlimm?“

„Das ist es ja gerade. Es ist unvorstellbar, dass jemand wie du Interesse an mir haben könnte.“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Übrigens schiebe ich dir ein Kuckuckskind unter.“

Kaito funkelte sie belustigt an. „Das behauptet Akako?“

Er glaubte ihr nicht und das ärgerte Aoko noch mehr als Akakos Worte. „Wir sollten dem Theater ein schnelles Ende setzen.“ Und dann getrennte Wege gehen, fügte sie in Gedanken hinzu.

Kaito musterte sie, da setzte die Musik ein und Shinichi ging allein durch die Sitzreihen vor zum Pfarrer. Dann folgten wie besprochen Heiji und Kazuha und Saguru mit Akako. Kaito hielt Aoko seinen Arm hin und führte sie galant ebenfalls zwischen den Sitzreihen hindurch. Erst beim Altar trennten sich die beiden und stellten sich in die jeweilige Reihe. Neben Shinichi standen seinen Kumpels, während die Brautjungfern sich auf der anderen Seite aufreihten. Soeben trat Sonoko begleitet von Makoto den Gang entlang, bevor Ran und ihr Vater von der Hochzeitsmusik begleitet wurden.

Die Trauung war von schönen Reden durchzogen, bezeugt durch ein persönliches Trauversprechen und gekrönt von einem Kuss.

Zum Auszug fanden sich die Paare wieder zusammen und folgten dem Brautpaar in einen anderen Teil des Gartens, in dem ein Sektempfang vorbereitet war, ehe die Hochzeitsfeierlichkeiten begannen.

Aussprache?

Ein geselliger Tag brach an. Erst gab es Mittagessen in Form eines Buffets. Dann folgten Fotoshooting, Hochzeitsspiele und viel Tanz. Der Tag war durchtränkt von guter Stimmung, Alkohol, fröhlichen Gesprächen.

Aoko wurde von den männlichen Verwandten von einem Tanz in den nächsten gezogen, die weiblichen Verwandten hingegen versuchten sie in ihren Tanzpausen über ihren Verlobten auszuquetschen. Jedoch wusste sie nicht was genau sie erzählen sollte und wich deswegen den Fragen mehr oder weniger geschickt aus.

Der Abend schritt voran und sie traf Kaito eigentlich nur während dem Essen am Tisch. Er unterhielt sich den Tag über prächtig mit alten Freunden, schwelgte in Erinnerungen und wurde von den weiblichen Gästen abwechselnd auf die Tanzfläche gezogen.

Aoko saß gerade am Tisch, trank einen großen Schluck Saftschorle und gönnte ihren Füssen eine kleine Tanzpause. Ihre Augen wanderten automatisch zu Kaito. Er tanzte mit einer braunhaarigen Frau, die ihm unentwegt schöne Augen machte. Es versetzte Aoko einen Stich. Ihr passte das ganz und gar nicht. Aber wer war sie schon, dass sie ihm eine Szene machen durfte. Ein Räuspern erklang neben ihr. Sie blickte auf und Saguru setzte sich zu ihr. „Ich gratulier dir. Dass es so ernst zwischen euch ist, wusste ich nicht.“

Aoko schluckte beschämt. „Saguru.“ Auch ihr war das alles nicht bewusst und sie verstand immer noch nicht, wieso ihre Oma sie in diese Situation gebracht hatte. Was bezweckte ihre Großmutter damit? Ihre Augen wichen von dem Blonden zu Kaito, der sich geschickt und taktvoll auf der Tanzfläche amüsierte.

„Ich wollte dir wirklich nicht zu nahetreten“, sprach der junge Mann unbeirrt weiter, obwohl seine Augen zu Kaito wanderten. „Ich hoffe, er weiss was er an dir hat.“

Aokos Blick ging zu Saguru zurück. Er wirkte bedrückt. Und es tat ihr leid, dass sie ihm offenbar falsche Hoffnungen gemacht hatte. Obwohl hatte sie das überhaupt? Wenn die Umstände anders wären, hätte sie sich durchaus auf ein Date mit ihm eingelassen, sicherlich hätte sie ihn dann besser kennengelernt und wer weiß was aus ihnen geworden wäre…

„Ich wünsche dir alles Gute für deine Zukunft.“

Er sah sie lange an und Aoko versank in den braunen Augen ihres Gegenübers. Sie erinnerte sich an den Abend am Pool und wie er für einen klitzekleinen Moment ihre Lippen berührte. Was wäre nur gewesen, wenn Kaito nicht in diesen Moment geplatzt wäre? Auch er wandte seinen Blick nicht ab. Wie von Zauberhand näherten sich ihre Gesichter einander. Sie spürte seinen Atem, schloss ihre Augen, ließ es wieder einmal geschehen. Jedoch war es Saguru der räuspernd seinen Kopf zur Seite drehte. „Wir sehen uns sicherlich wieder.“ Beide öffneten die Augen, fanden sich und er rang sich ein Lächeln ab. „Mach es gut.“ Schon stand er auf und ging davon.

Aoko blieb reglos sitzen. Wusste nicht mehr was sie denken oder fühlen sollte. Ihr Blick wich zu ihrem Scheinfreund. Er hatte die Tanzpartnerin gewechselt und tanzte jetzt ausgerechnet mit Akako. Sie sah, wie diese Frau sich eng an ihn schmiegte und ihre Hand auf seinen Hintern legte. Warum verstand seine Ex nicht, wann sie verloren hatte? Warum kämpfte sie weiterhin, um ihn zurückzubekommen? Die beiden zusammen zu sehen, ließen Unsicherheiten aufsteigen.

Kaito hatte sie geküsst, sie hatten miteinander geschlafen. Warum und wieso flirtete er nun mit Akako?! Am liebsten wäre Aoko gegangen, doch dann fiel ihr Blick auf den Ring. Sie war die Verlobte von diesem Dummkopf. Er hatte dieses Theater begonnen, er hatte sich nun auch noch zum Schein mit ihr verlobt. Nun war sie an der Reihe und würde ihn mit seinen Entscheidungen konfrontieren und ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Entschlossen stand sie auf, ging zu dem tanzenden Paar, legte Kaito ihre Hand auf die Schulter und sprach laut und betont freundlich: „Entschuldigt bitte, aber jetzt möchte ich gern mit meinem Verlobten tanzen.“ Akako musterte sie wütend, während Kaito ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. „Du tanzt doch mit mir, oder Schatz?“ Dabei suchte sie seine Augen. Er antwortete nicht, sah sie einfach nur überrascht an. Wie würde er reagieren? Immerhin war sie gar nicht berechtigt sich hier einfach dazwischen zu drängen. Wenn ihm das jetzt nicht passte? Sie würde sich in Grund und Boden schämen. Ihr anfänglicher Mut und ihre Entschlossenheit schlugen wieder in Unsicherheit um, je länger er sie mit seiner Antwort warten ließ.

„Ja, klar doch… Schatz?“ Er löste sich von Akako mit einem entschuldigenden Blick und wandte sich Aoko zu.

Pure Erleichterung durchströmte sie. Er spielte nach wie vor mit. Immerhin war es auch auf seinen Mist gewachsen. Ein kurzer Blick zu Akako, die bereits entrüstet ihren Mund öffnete, um sicherlich gleich wieder einen giftigen Kommentar abzugeben. Aber dazu würde Aoko es nicht kommen lassen. Sie drehte sich ihrem „Verlobten“ zu, umschlang seinen Nacken und stellte sich auf die Zehenspitzen. Im nächsten Moment zog sie ihn zu sich und verschloss seine Lippen. Kaum spürte sie seinen Mund auf ihrem, stellte sich das wohlige Prickeln wieder ein. Sie kam nicht umhin es zu genießen und vielleicht nutzte sie es auch ein klein wenig aus.

Akako zumindest schwieg und Kaito begann sich auf ihren Kuss einzulassen.

Ihr Herz klopfte ganz aufgeregt, als er sie in ein zartes Lippenspiel verwickelte. Nun kam der Moment alles um sich herum auszublenden und sich nur auf diesen attraktiven Mann zu konzentrieren. Zu ihrem Bedauern beendete Kaito das süße Spiel und lehnte seine Stirn an ihre. Aoko fühlte nur noch und wollte noch nicht ihre Augen öffnen, wünschte sich mit ihm weit weg zu sein.

„Wir sollten tanzen, ansonsten garantiere ich für nichts mehr“, raunte er leise.

Überrascht öffnete sie ihre Augen und verlor sich in diesem Tiefblau. Im nächsten Moment schob er sie in Tanzposition und setzte mit dem nächsten Takt in den Tanz ein. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie Akako wütend zu ihnen sah. Ehe sie sich dazu weitere Gedanken machen konnte, zog Kaito wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Womit hab ich diesen Kuss verdient?“

Aufgeregt schlug ihr Herz in ihrem Brustkorb. „Wir sind verlobt. Alle löchern mich deswegen. Ich denke mal, nun ist das einfach offensichtlich durch uns bekannt gegeben.“

„Und das hat nichts mit Akako im Speziellen zu tun?“

Aoko riss entsetzt ihre Augen auf. „Nein, wie kommst du bloß darauf?“

Kaito versank in Gedanken. „Nur so...“

Klang er enttäuscht? Sie musterte ihn. Er spielte hier ein Spiel. Warum auch immer, aber alles war hier nicht ernst gemeint. Eigentlich wollte sie morgen beim Frühstück die Karten auf den Tisch legen, das war nun Dank ihrer Oma unmöglich geworden. Nun da sich auch noch ihre Eltern mit einmischten und munter von der bevorstehenden Hochzeit berichteten, wusste sie überhaupt nicht mehr, wie sie diese Theater noch beenden sollte.

„Amüsierst du dich denn gut?“

Aoko ließ sich von Kaito über die Tanzfläche führen. „Ja, ausgesprochen gut. Den größten Teil meiner Verwandtschaft habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen und das Einzige was sie zu meiner Person wissen wollen ist, ob es stimmt dass wir verlobt sind und wann wir heiraten. Als gäbe es kein anderes Thema mehr.“

„Sie interessieren sich für dich. Das ist doch schön“, stimmte Kaito zu.

„Nein Interesse an mir hat hier keiner. Sie verstehen nicht, was jemand wie du an mir findet. Wie Akako eben auch.“ Sie suchte Kaitos Augen. „Sieh dich doch mal an. Du könntest an jedem Finger zehn Frauen haben. Du bist mit Abstand hier der attraktivste Mann und keineswegs zu verachten und ich bin … eben nur ich …“

Kaito hielt inne und musterte sie aufmerksam. „Warum nur hast du so ein schlechtes Selbstbild von dir?“

„Die ewige Jungfrau, die noch nie einen Freund hatte und noch nicht mal einen heimlichen Verehrer?“

„Die Sache mit den heimlichen Verehrern ist folgende: wüsstest du von ihnen, wäre es nicht mehr heimlich.“ Er beugte sich zu ihr. „Zudem kann ich bezeugen, dass du definitiv keine Jungfrau bist.“ Er lauschte auf den Takt der Musik und führte sie wieder in den Tanz. „Du hast einen Bruder, der dich vor allem beschützen möchte, besonders vor männlichen Wesen. Dich kennen zu lernen wird dadurch nicht einfacher.“

„Du hast mich kennen gelernt“, stellte sie gedankenverloren fest. „Außerdem lebe ich in Tokio, weit weg von Shinichi und nicht mal dort scheint sich jemand für mich zu interessieren.“

„Hakuba hat Interesse an dir.“ Überrascht blickte sie auf. „Ihr habt euch doch auch schon geküsst.“ Aoko musterte ihn aufmerksam. „Es tut mir leid, dass ich einfach so reingeplatzt bin“, fügte er hinzu, ohne sie zu Wort kommen zu lassen. „Du bist mir noch nie unwichtig gewesen und seit wir uns am Flughafen wieder getroffen haben, habe ich das Gefühl es dieses Mal richtig machen zu müssen.“ Ihre Augen wurden größer, konnte kaum glauben, was sie hörte. „Du bist gestern Abend so plötzlich verschwunden und ich habe dich gesucht. Als deine Großmutter sagte, dass du mit Hakuba zum Pool bist, kam es über mich. Und als ich euch zusammen gesehen habe… da ist mir eine Sicherung durchgebrannt.“ Er stockte. „Lass uns verschwinden und reden. Ich hab dir so einiges zu erzählen.“ Aoko sah ihm in die Augen, immer noch unfähig zu antworten. Schon spürte sie seine Hand an ihrer und wie sich ihre Finger verknoteten. Dann folgte sie ihm in den hinteren Teil des Gartens.

„Mein Vater war ein großer Magier.“

Aoko nickte. Natürlich wusste sie das bereits, immerhin kannte sie Kaito und seine Eltern. Sie selbst war oft mit Shinichi und Kaito auf seinen Shows und auch ihre Eltern waren seit ihrer eigenen Schulzeit miteinander befreundet.

„Seit seinem Tod hat sich meine Mutter komplett in sich zurückgezogen. Und deine Familie, Shinichi, ist immer für mich da gewesen. Ich konnte bei euch ein- und ausgehen, ich war immer willkommen und hatte das Gefühl ein Teil eurer Familie zu sein.“

Zum ersten Mal seit langem reagierte Aoko auf ihn. Sie legte mitfühlend ihre Hand auf seinen Unterarm. „Du bist ein Teil unserer Familie. Ich kann mich an keinen Tag ohne dich erinnern.“ Sie lächelte ihm entgegen, als er seine blauen Augen auf sie richtete. „Meine Freundinnen waren immer neidisch auf mich, weil ich zwei große Brüder hatte.“

Sein Blick wurde ernst. Er drehte sich ihr ganz zu und umfasste sie sanft an ihrer Hüfte. „War ich denn ein Bruder für dich?“

Aoko verfing sich in seinen Augen. „Ich hätte mir mehr gewünscht.“

„Ich mir auch“, gestand er ihr.

Ihre Augen wurden größer. Aber er war mit Akako in der Oberstufe zusammen. Er hätte sich mehr gewünscht? War das sein Ernst? Ihr blieben die Worte im Hals stecken, unfähig einen klaren Satz zu formen.

Unsicher umfasste er ihre Hände, streichelte ihre Finger und setzte sich rückwärts in Bewegung, dabei zog er sie mit sich mit. „Das muss äußerst verwirrend für dich sein. Shin ist mein bester Freund und du warst immer seine kleine Schwester. Als ich dann in die Pubertät kam wurde mir schnell klar, dass du mir sehr wichtig bist.“ Er atmete tief durch, löste seine linke Hand von ihrer rechten und schlenderte mit ihr weiter durch die Dunkelheit. Die andere Hand verknotete sich fester mit ihrer. „Ich kam nun noch öfter nur um dich zu sehen, doch Shin gab mir schnell zu verstehen, dass ich die Finger von dir lassen soll. Natürlich wusste er, dass ich dir nicht näherkommen werde und mir wurde auch klar, dass es mit uns keine Zukunft hatte. Dennoch übermannten mich meine Gefühle dir gegenüber und jedes Mal wenn es zu gefährlich wurde verwickelte ich dich in einen unverfänglichen Zaubertrick oder trieb meine Scherze mit dir. In der Oberstufe lernte ich dann Akako kennen und verliebte mich in sie.“

Es tat weh zu hören, dass er sich in Akako verliebte. Sie sah ihn fast täglich bei sich zuhause. Sie verzehrte sich nach ihm und seiner Nähe, wünschte sich, dass er nur Augen für sie hatte, sehnte sich danach, dass ihre Liebe erwidert wurde.

„Sicherlich hat Akako sich das mit uns und unserer Zukunft anders vorgestellt, aber für mich war sehr früh schon klar, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters treten werde. Für mich bot sich dann die einmalige Chance nach Las Vegas zu gehen. Akako hat es nie verstanden. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass die Oberstufe und die Zeit mit ihr nicht das war, was ich wollte. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt, dass ich zu euch bin um dir endlich zu sagen, was ich für dich fühle. Du bist in diesem Moment in deinen Badesachen die Treppe heruntergekommen, wolltest in euren Pool und … warst so schön. Ich wollte es dir sagen, aber tat es nicht. Ich wusste nicht, für wie lange ich fort sein würde. Es wäre dir gegenüber unfair gewesen.“

Es war der Tag des Abschieds, als er die Rose hervorzauberte. Aoko erinnerte sich an ihr letztes Treffen vor seiner Abreise.

Kaito führte sie zum Pavillon, der wieder verlassen und dunkel im hinteren Garten verweilte. Nichts erinnerte mehr daran, dass hier am Vorabend eine Party stattfand.

Aoko löste ihre Hand aus seiner und trat andächtig zum Pavillon und die Treppenstufen hinauf. Die Erinnerungen an ihren verstorbenen Grandpa kamen erneut in ihr auf. Wie er es liebte, hier Feste zu feiern, Freunde einlud und im geselligen Beisammensein die Aufmerksamkeit seiner Gäste beanspruchte. Kaito war auch oft mit dabei. Hätte er nur früher den Mund aufgemacht, dann hätten sie so viel Zeit miteinander gehabt. Warum nur hat er sich von ihrem Bruder so einschüchtern lassen? Zaghaft strich Aoko über das steinerne Geländer, während sie Stufe für Stufe hinauf ging und sich wenig später inmitten des geräumigen überdachten Freisitzes einfand. Sie spürte, wie ihr Begleiter hinter sie trat und sich ihrem Rücken näherte. Wenig später fühlte sie seine warmen Hände auf ihrer Schulter.

„Als ich dich am Flughafen traf und du ohne Begleitung warst, es war wie ein Wink des Schicksals. Alles in meinem Kopf rief mir zu, es dieses Mal richtig anzustellen. Wir haben uns gesehen und es war, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren. Als deine Großmutter dich nach einem Freund fragte, ergriff ich die Chance. Natürlich war es nicht der geschickteste Schachzug, aber so überrumpelten wir auch Shin und er hat es doch ganz gefasst aufgenommen.“ Er stockte kurz. „Ich genieße jede Minute mit dir, jede Berührung, jeden Moment“, gestand er ihr. Sie drehte sich überrascht um und verlor sich wieder in seinen Augen. Schon umfing er ihre Wangen mit seinen Händen und zog sie in einen zarten Kuss. Sie fühlte nur noch. Seine Wärme, seine Leidenschaft. Es wurde ihr mit einem Mal klar. Alles. Aber konnten sie eine Beziehung basierend auf einer Lüge weiter ausbauen?

Gefühlschaos

Sie fühlte wie er sie in einen Strudel sog. All ihre Sinne waren auf diesen jungen Mann gerichtet. Nur er brachte ihren Körper dermaßen zum Lodern, dass sie jegliche Vernunft über Bord warf und alles mit sich machen ließ. Ihre Beine zitterten. Sie trat etwas zurück, spürte den Tisch hinter sich und wie Kaito ihr folgte, um den Kuss nicht zu unterbrechen. Das Prickeln in ihrem Körper ließ alles in ihr in freudiger Erwartung zucken. Seine Hände strichen ihr über ihre Beine, hinterließen eine Gänsehaut und schoben das Kleid mit hinauf. Immer höher, bis er ihren Po zu fassen bekam, hineinkniff und sie ruckartig an seine Hüfte presste. Er hob sie auf den Tisch und drückte sich näher an sie, während sie ihre Beine für ihn öffnete. Ein erregender Schauer durchlief ihren Körper.

Ruhig war es in diesem Gartenbereich. Der Vollmond in dieser wolkenlosen Nacht blieb die einzige Lichtquelle und auch der einzige Zeuge, was sich im alten Pavillon abspielte.

Aoko spürte das Feuer in sich, wie er sie dem Gipfel näherbrachte und kurz danach beide in die absolute Erlösung fanden.

Er keuchte an ihrer Schulter, hauchte ihr einen Kuss auf die Schulter und vergrub seine Stirn in ihrer Halsbeuge. „Was machst du nur mit mir?“

Aoko spürte, wie er sich aus ihr zurückzog. Es war passiert, ganz plötzlich und ungeplant. Und dennoch fühlte es sich richtig an. Die Leidenschaft zwischen ihnen und das Feuer, welches nur er entflammen konnte. Sie fühlte sich noch nicht fähig aufzustehen. Darum blieb sie noch liegen und beobachtete, wie er sich die Hose hochzog und verschloss. Auch das Hemd, welches sie ihm scheinbar im Rausch aufgeknöpft hatte, knöpfte er wieder zu. Sie musterte ihn. Seine Augen lagen auf ihr, dunkel und hungrig, aber man sah ihm nicht an, dass er gerade unanständige Sachen mit ihr angestellt hatte. Sie hingegen wirkte wie ein zerrupftes Huhn, ihre Haare verstrubbelt, das Kleid verrutscht und absolut verwirrt und durcheinander.

Kaito beugte sich wieder zu ihr, stützte seine Hände dabei rechts und links neben ihr auf der Tischplatte ab und näherte sich wie eine Raubkatze. „Du machst mich schon wieder heiß“, raunte er.

Ein erneuter Schauer zog ihr über den Rücken. Sie sammelte ihre Kraft und stützte sich in eine aufrechte Position. Dabei schob sie ihren Kopf dicht an seinen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Ich kann auch nicht genug von dir bekommen.“ Und nun küsste sie ihn wieder. Schnell sprang er auf sie an, erwiderte ihr Lippenspiel. Womit sie aber nicht gerechnet hatte, dass er nun seine Finger zum Einsatz brachte und sie erneut stimulierte, bis sie kam.
 

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie beide den Rückweg antraten. Dennoch kamen sie gerade rechtzeitig zum Anschnitt der Hochzeitstorte zurück. Wenig später saßen sie am Tisch und aßen Kuchen.

Aokos Großmutter saß ihnen gegenüber und lächelte selig. „Ihr seht glücklich aus.“ Überrascht hielt das junge vermeintliche Paar inne. Schon runzelte die ältere Frau ihre Stirn. „Ich bin mir nicht sicher, ob ihr euren Urlaub wirklich in Aokos Kinderzimmer verbringen wollt. Und bei Kaito zuhause hättet ihr sicherlich auch mehr Privatsphäre als bei uns.“

Überrascht sah sie zu ihrem Verlobten und suchte seinen Blick. Dieser schien sich auch noch keine weiteren Gedanken gemacht zu haben. Aoko betrachtete wieder ihre Oma. „Ich dachte, da die Gäste morgen abreisen, wäre wieder eines der Gästezimmer frei.“ Kaito könnte dann aus ihrem Zimmer ausziehen und sie würde wieder allein wohnen. Auch wenn sie es gar nicht wollte – allein zu sein.

Oma nickte begeistert. „Natürlich, das ist eine hervorragende Idee. Wir werden euch eines der Gästezimmer herrichten. Dann habt ihr auch ein größeres Bett und wieder mehr Platz. Zumal ich dich noch ein bisschen in meiner Nähe habe, Kind.“ Erneut überrumpelt nickten beide zu und konzentrierten sich auf ihren Kuchen.

Akako stand plötzlich neben Kaito am Tisch. „Möchtest du mit mir tanzen?“ Dabei warf sie ihm einen koketten Augenaufschlag zu.

Entsetzt über diese dreiste Frage riss Aoko ihren Blick hoch. Oma war es aber die das Wort ergriff. „Tut mir leid, Liebes. Den nächsten Tanz hat er mir versprochen.“

Kaito, der diese Aufforderung sofort verstand, stand auf und trat um den Tisch. „Aber natürlich.“ Im nächsten Moment half er der Großmutter aufstehen und führte sie zur Tanzfläche. Ein langsamer Walzer lief gerade, somit fanden die beiden schnell in den Takt und bewegten sich zur Musik.

Aoko starrte wie gebannt auf die Tanzfläche. Ihre Augen folgten den langsamen Bewegungen ihres Scheinverlobten und ihrer Großmutter.

Ein Räuspern erklang, dann eine Stimme. „Jeder weiß, dass eure Verlobung nicht echt ist. Was sollte Kaito auch schon an dir finden.“ Ihre dunklen Augen verfinsterten sich. „Er hat etwas Besseres als dich verdient.“

Sie schluckte. Es tat weh, so feindselig behandelt zu werden. „Wir lieben uns“, behauptete Aoko, klang aber selbst nicht so sicher, wie sie es gerne gehabt hätte.

„Das kannst du dir noch so sehr einreden, stimmt aber nicht. Du spielst hier ein falsches Spiel, Aoko. Dein Kartenhaus wird schon sehr bald in sich zusammenfallen und Kaito wird zu mir zurückkehren.“ Ein letzter Blick, dann ging sie davon.

Tieftraurig hingen ihre Augen auf Kaito. Was war das nur zwischen ihnen? Und wie sollte es weiter gehen? Sie hatte ein paar Tage frei, wollte diese mit ihrer Familie verbringen, ehe sie wieder nach Tokio zurückkehrte. Die Uni wartete schließlich nicht auf sie und sie müsste so einiges nacharbeiten. Keiko schrieb mit und würde ihr dann berichten, was sie an Stoff verpasste. Ihr Leben ging in Tokio weiter. Unsicher wanderten ihre Augen zu Kaito. Und sein Leben ging in Las Vegas weiter. Er war dort berühmt und beliebt und ein wichtiger Teil einer Zaubershow. Natürlich hatte er Urlaub und würde seine Freizeit mit seinen Freunden in Osaka verbringen, aber auch er hatte ein Leben, das irgendwann weiter gehen musste.

Shinichi trat auf sie zu. Er lächelte sie an. „Meine Schwester schuldet mir noch einen Tanz.“

Sie musterte ihn überrascht und stand auf. Lächelnd folgte sie ihrem Bruder auf die Tanzfläche und ließ sich von ihm führen. „Na, großer Bruder, hast du dir deinen Tag so vorgestellt?“

Der junge Mann musterte sie aufmerksam. „Ich weiß es nicht. Aber er ist perfekt für Ran und mich.“ Er suchte ihre Augen. „Und du amüsierst dich auch?“

„Ja.“ Aoko lächelte, verdrängte aber die Gedanken an die intimen Momente mit Kaito im alten Pavillon. „Ich weiß nicht, ob ich jemals heirate, aber wenn doch, dann stelle ich mir den Tag so vor.“

Shinichi runzelte die Stirn. „Das versteh ich nicht. Immerhin redet Mama nur noch von deiner Hochzeit.“

Verzweifelt suchte Aoko Shinichis Augen. „Das hat Oma eingefädelt. Sie hat Kaito und mich in diese Situation gebracht.“

„Das war ein schlechter Versuch. Probier es noch einmal“, forderte ihr älterer Bruder leicht verärgert.

Empört zogen sich ihre Augenbrauen zusammen. „Das war kein Versuch, das war die Wahrheit. Oma hat ihren Verlobungsring fallen lassen und Kaito gebeten ihn zu suchen. Und als er ihn fand, war Oma weg und Mama stand neben uns.“ Sie sah ihn verärgert an. „Ich wollte die Wahrheit beim Frühstück verkünden, oder hast du das schon vergessen?“

„Kommt dir ja wahnsinnig gelegen, diese „Fügung““, behauptete Shinichi.

„Wie meinst du das?“, hakte sie alarmiert nach.

„Aoko, du warst damals schon in Kaito verknallt. Dass er sich nun als dein Freund ausgibt…“, erklärte Shinichi. „Es hatte einen Grund, warum ich Kaito damals gesagt habe, dass er seine Finger von dir lassen soll“, schmollte er plötzlich.

Ihr Herz begann zu rasen und sie riss entsetzt ihre Augen auf. „Wie meinst du das?“ Shinichi sah sie an, schwieg aber. Das machte sie rasend. „Shin, sag mir sofort, wie du das gerade gemeint hast!“

„Kannst du dir das wirklich nicht denken?“ Er musterte sie ernst. Dann wichen seine Augen auf die Tanzfläche und er führte sie sicher zwischen zwei anderen tanzenden Paaren hindurch. „Kaito ist mein bester Freund und für mich mein Bruder. Wenn er dir weh tut, dann muss ich ihn vermöbeln und das wäre das Ende unserer Freundschaft. Verdammt, Aoko! Ich will ihn nicht verlieren. Nicht wegen meiner kleinen Schwester, die nur das Beste verdient hat. Und Kaito ist ein Frauenaufreißer, er hätte dir früher oder später weh getan, spätestens mit seinem Umzug nach Amerika.“

Aoko erstarrte. Mit einem Schlag hatte sie ein furchtbar schlechtes Gewissen ihrem Bruder gegenüber. Dass sie ihn in so eine verzwickte Gefühlslage brachte, hätte sie nie bedacht. Tränen schossen in ihre Augen. „Ich liebe ihn.“

Shinichi sah ihr in die Augen. „Ich weiß.“ Er seufzte. „Aber er geht in 2 Wochen zurück. Er verlässt Japan für eine sehr lange Zeit. Ist dir das bewusst?“

Ja, natürlich. Und die letzten Stunden beschäftigten sich ihre Gedanken ausschließlich mit Kaito. Noch nie zuvor hatte sie sich so intensiv Gedanken über ihre Gefühle und die Zukunft gemacht.

„Was auch immer du machst, Aoko. Halte dich so gut es geht von ihm fern und komme ihm nicht zu nahe. Ich kenne ihn. Er weiß, wie er die Mädchen behandeln muss, um sie ins Bett zu bekommen.“

Seine Stimme klang von weiter fern, aber seine Worte waren so laut und deutlich, dass sich alles in ihr zusammenzog. „Dafür ist es schon zu spät“, flüsterte sie. Sie spürte, wie Tränen drückten, aber sie wollte nicht weinen.

Geständnis

Die Party ging bis weit in die Morgenstunden. Die Nacht war viel zu kurz und die Sonnenstrahlen kitzelten Aoko im Gesicht. Nur schwer ließen sich ihre Augen öffnen, aber wenig später blinzelte sie in das grelle Licht. Wieder lag Kaitos Arm über ihren Bauch, sein Atem streichelte ihre Wange. Regelmäßig und ruhig ging seine Atmung. Sie fühlte sich wohl und geborgen. Ihre Augen musterten das attraktive Gesicht und blieben an seinen Lippen hängen. Ehe sie dem innerlichen Drang nachgeben konnte, löste sie ihren Blick und schälte sich vorsichtig aus seiner Umarmung. Sie schnappte sich ihren Bikini und schlich sich aus ihrem Zimmer. Ein paar Bahnen im Pool würden sie sicherlich wach werden lassen.

Das Haus lag in absoluter Stille. Viele der Gäste sind erst vor wenigen Stunden gegangen. Sie tanzten die ganze Nacht durch, denn die Stimmung wandelte sich dann in eine Disco-Party Nacht. Während die Verwandten sich an einen Tisch zurückzogen um sich angeregt zu unterhalten, fanden sich die jüngeren Gäste auf der Tanzfläche ein.

Sie schlich die Treppe in den Keller hinab.

Die gesamte Nacht spürte sie Shinichis Blick auf sich. Sie konnte ihn aber überhaupt nicht deuten. Das Gespräch zwischen ihnen war mehr als unangenehm und dass sie ihm mehr oder weniger gestanden hatte mit Kaito bereits intim geworden zu sein, verbesserte seine Laune nicht unbedingt. Er war ihr großer Bruder und er wollte sie vor Jungs und möglichen Fehlern, die sich auf Jungs bezogen, einfach nur beschützen. Schon immer war er auf ihr Wohl aus. Seit sie denken konnte, versuchte er sie vor Enttäuschungen zu bewahren. Das sie ihm nun so in den Rücken gefallen war, traf ihren Bruder schwer.

Sie trat auf die große Türe zu und betrat wenig später die Schwimmhalle. Sie war allein. Schnell zog sie sich ihre Shorts aus und ihr Top übern Kopf und schlüpfte in ihren Bikini. Im nächsten Moment sprang sie kopfüber in den Pool und begann zu schwimmen. Sie schaltete ihr Gehirn ab, ließ sich vom Wasser treiben und konzentrierte sich auf ihre Schwimmzüge. Das Wasser half ihr zum einen wach zu werden und zum anderen abzuschalten. Für einen Moment konnte sie ihre wirren Gedanken abstellen. Sie schwamm Bahn für Bahn und bekam nicht mit wie sich jemand zu ihr ins Wasser gesellte. Erst als jemand neben ihr schwamm, kehrte sie in die Realität zurück und hielt am Beckenrand an. Ihr Herz klopfte stark von dem hohen Tempo. Ihr Blick glitt zur Uhr, die an der Wand hing. Sie war nun fast eine halbe Stunde geschwommen. Die Person neben ihr im Becken hielt auch an. „Guten Morgen, Oma“, staunte Aoko.

„Guten Morgen, Liebes“, begrüßte ihre Oma sie. „Dich habe ich so früh gar nicht hier erwartet.“

„Ich konnte nicht mehr schlafen.“ Und schon hatte ihr Gedankenkarussell sie wieder eingeholt.

„Lass uns ein bisschen schwimmen. Und wenn du möchtest, erzähl mir was genau dich bedrückt.“

Aoko und ihre Großmutter schwammen wesentlich langsamer nebeneinander. Geduldig wartete ihre Oma bis sie zu sprechen begann. „Ich habe dich angelogen“, platzte es aus Aoko auch schon heraus.

Überrascht zog ihre Oma die Augenbrauen hoch, sagte aber weiterhin nichts, drängte nicht und gab ihr Zeit. „Kaito und ich sind nicht zusammen, nie gewesen. Er hatte nur Mitleid mit mir und sich als meinen Freund ausgegeben, um dir eine Freude zu machen.“ Sie hielten am Beckenrand an und pausierten. Aoko wagte aber nicht ihre Oma anzusehen. Zu groß wog das schlechte Gewissen. „Es war nicht richtig, dich anzulügen und dir dieses Theater vorzuspielen. Es tut mir sehr leid und ich hoffe du kannst mir verzeihen.“ Unsicher suchte sie nun doch den Blick. Aokos Großmutter sagte nichts. Lange musterte sie Aoko, aber was sie dachte oder ob sie sauer war, konnte sie nicht in ihrem Gesicht erkennen. Ihre Oma hasste sie jetzt sicherlich. „Lass uns noch ein bisschen schwimmen.“ Schweigend schwammen sie wieder nebeneinander.

Nach weiteren drei Bahnen, brach die ältere Dame das Schweigen. „Ich frage mich, ob das der einzige Grund ist.“ Überrascht horchte Aoko auf. „Er hat das doch nicht nur gesagt, um mir auf meine alten Tage einen Gefallen zu erfüllen.“

Sofort dachte Aoko an seine Worte zurück. Er mochte sie schon lange und es bot sich ihm eine Chance. Aber wenn Shinichi die Wahrheit sprach und Kaito sie nur ins Bett bekommen wollten, wie alle anderen Mädchen vor ihr? Sie war so unsicher. „Ich weiß nicht was ich machen soll“, verzweifelt pustete sie in Wasser. „Ich habe mich verliebt, aber er lebt in Las Vegas und Shinichi hat mir auch klar zu verstehen gegeben, dass es keine Zukunft haben kann.“

Oma nickte und schwamm weiter. Allerdings hielt sie erneut auf der anderen Seite am Beckenrand an und suchte Aokos Blick. „Hab ich dir jemals erzählt, wie ich deinen Großvater kennen gelernt habe?“

Die Braunhaarige überlegte: „Ihr habt euch in der Schule kennen gelernt und nach eurem Schulabschluss habt ihr euch verlobt, jung geheiratet und schon bald kamen Onkel Ginzo und Papa.“

„Oh ja, dein Großvater und ich haben uns in der Mittelstufe kennen gelernt und uns verliebt. Viel zu jung damals. In der Oberstufe waren wir uns sicher, dass wir unser Leben gemeinsam verbringen wollen, allerdings gab es jemanden, der etwas dagegen hatte. Mein Vater…“

Aoko staunte.

„Mein Vater hasste Yoshiro. Er war der Ansicht, dass kein Junge auf der Welt passend für mich wäre, oder gut genug.“ Oma lächelte plötzlich selig. „Aber das hat deinen Großvater und mich nicht davon abgehalten. Wir trafen uns heimlich und nach unserem Abschluss und dem Erlangen unserer Volljährigkeit fiel er vor mir auf die Knie und fragte mich, ob ich seine Frau würde. Gemeinsam traten wir meinen Eltern unter die Augen und stellten sie vor vollendete Tatsachen.“

Wie mutig ihre Großeltern damals waren. Aoko hätte sicherlich nie den Mut aufgebracht sich gegen ihre Familie zu stellen. „Wie ist es weiter gegangen?“

„Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass mein Vater nicht begeistert von unserem Vorhaben war. Es kam zum Bruch und so zog ich zu Yoshiro, in dieses Haus. Hier ist meine Heimat, hier sind meine Kinder groß geworden und meine Enkelkinder aufgewachsen. Hier bin ich zuhause.“

Mitfühlend musterte Aoko ihre Großmutter. „Hattest du jemals wieder Kontakt zu deiner Familie?“

Oma sah sie lange an. „Nein.“ Sie legte Aoko ihre faltige Hand an die Wange. „Kind, ich möchte nicht, dass du dich gegen deine Familie stellst, niemals würde ich das gut heißen, aber was ich dir damit sagen will: Folge deinem Herzen. Du hast in Kaito einen aufrichtigen, jungen Mann gefunden, der dich liebt. Deine Familie liebt diesen Jungen, seit er klein ist. Deine Eltern wissen, dass du in gute Hände kommst. Shinichi steht zwischen euch. Das ist nun mal nicht zu ändern. Er liebt dich, er möchte dich beschützen und er will dich ebenso in guten Händen wissen. Er ist einfach nur noch blind und sieht nicht das sein bester Freund für dich bestimmt ist.“

„Er hat Angst das Kaito mich verletzt und er sich gegen seinen besten Freund stellen muss.“

Oma lächelte. „Warum sollte dieser Junge dich verletzen? Ist dir nicht aufgefallen, dass seine Aufmerksamkeit die ganze Zeit bei dir ist?“ Aoko schüttelte den Kopf. „Kindchen, du musst noch viel lernen. Dass ich euch in die Situation mit der Verlobung gebracht habe, tut mir leid. Ich wollte euch nur den richtigen Schubs geben. Entschuldige, dass ich mich eingemischt habe.“

„Apropos, was hast du eigentlich mit meinem Lieblingsschlafanzug gemacht?“

„Dieser kindische Bär? Oh, Aoko, das ist keine Wäsche, die ein Mann an einer Frau sehen möchte. Aber, wenn es dich beruhigt, ich habe ihn bei mir im Schlafzimmer. Du kannst ihn auf jeden Fall wieder mit nach Tokio nehmen.“ Aoko lächelte. „Wir sollten langsam gehen. Sicherlich sitzen schon alle bald beim Frühstück.“ Oma stieg über die Leiter aus dem Pool und Aoko folgte ihr.

Beide wickelten sich in große Handtücher ein, als Aoko hilflos aufblickte. „Und wie geht es jetzt weiter? Kaito geht nach Amerika zurück.“

„Mein Kind, höre auf dein Herz! Es wird dir sagen was du zu tun hast.“

Sie zogen sich um und traten wenig später auf die Terrasse.

Das Frühstück war bereits hergerichtet und nach und nach fanden sich alle am Esstisch ein.

Ran saß mit ihren Schwiegereltern bereits am Tisch, auch Sonoko und Makoto hatten sich bereits eingefunden. Aoko und ihre Großmutter begrüßten die gesellige Runde und setzten sich ebenso dazu.

„Wo ist denn Kaito?“, hakte Aoko nach und stellte fest, dass ihr Bruder auch noch fehlte.

Ran unterdrückte ein Gähnen und schmierte sich ein Brötchen. „Shin und Kaito sind joggen.“

Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Sie erinnerte sich zu gut an seine Worte, nachdem sie sich bei ihrem Bruder verplappert hatte. Wie konnte sie auch nur so dumm sein und Shinichi erzählen, dass sie mit Kaito bereits im Bett war. Natürlich war ihr Bruder alles andere als begeistert und es lag einzig und allein an Ran, dass er nicht sofort auf seinen besten Freund losgegangen ist.

Akako trat aus dem Haus heraus, begrüßte die Runde am Esstisch und setzte sich neben ihre Schulfreundin. Zu Aokos Leidwesen saß sie ihr gegenüber. Missmutig stellte sie fest das Akako perfekt gestylt war. Aokos Haare hingegen waren noch nass. In allem was die schöne Schwarzhaarige tat, wirkte sie anmutig und elegant. Sie passte nicht nur optisch zu Kaito, sondern war auch ebenso erfolgreich. Sofort fand sich Akako in das Gespräch ein und nahm sich nebenbei vom Frühstück.

Alles drehte sich an diesem Morgen um die Hochzeitsfeier. Während Yukiko und Oma von der Trauungszeremonie schwärmten, sinnierten Ran, Sonoko und Akako über die Musik. Makoto und Yusaku hingegen unterhielten sich leise über die Politik. Aoko hielt sich aus den Gesprächen komplett raus und hing ihren eigenen Gedanken nach.

Shinichi trat in den Garten und begrüßte seine Familie. Er setzte sich auf den freien Platz neben Akako und bediente sich ebenso am Frühstück, während er den Erzählungen schweigend lauschte.

Akako wechselte nun aber das Thema. „Ran, ich muss gleich los. Heute Abend muss ich noch zu einem Klienten fliegen.“

„Oh, wie schade, ich hatte gehofft noch ein bisschen Zeit mit dir zu haben.“

„Leider klappt das nicht. Aber ich bin ja nicht aus der Welt. Ich komme euch bald besuchen.“ Schon drückte Akako Ran, danach Shinichi und stand auf. Sie verabschiedete sich von allen und verschwand ins Haus.

Aoko spürte den misstrauischen Blick ihres Bruders zu deutlich und wusste, dass er noch nicht das letzte Wort gesprochen hatte. Sie spürte zudem seine schlechte Laune, was bedeutete, dass die Freunde nicht zimperlich mit Worten umgegangen waren. Shin sah frisch geduscht aus. Dann würde ihr Schein-Verlobter wohl auch bald zum Tisch kommen. Das schlechte Gewissen drückte Aoko erneut. Sie entschuldigte sich für einen Moment, stand auf und ging ebenso ins Haus hinein, als sie durch das Wohnzimmer trat und in den Flur hinaus gehen wollte, hielt sie entsetzt inne. Akako und Kaito standen eng beieinander und sprachen leise miteinander. Dabei spielte die Schöne wieder mal mit seinem Kragen. Aoko wollte eben in den Flur treten und sich zeigen, als Akako den jungen Mann am Kragen zu sich herunterzog und seinen Mund mit einem Kuss verschloss. War es das, wovor Shinichi sie gewarnt hatte? Konnte Kaito sich nicht nur auf eine Frau konzentrieren? War er nicht beziehungsfähig? Sie zog sich zurück und trat gedankenverloren den Rückweg zum Esstisch. Nun galt es herauszufinden was ihr Herz sprach.

Folge deinem Herzen

Kaito trat aus dem Haus in den Garten. Er begrüßte die gesellige Runde und setzte sich auf den frei gewordenen Platz Aoko gegenüber. Auch er bediente sich, während seine Augen immer wieder zu seinem Gegenüber huschten. Seine Laune ließ nichts auf die morgendliche Joggingrunde schließen. Im Gegenzug zu Shinichi wirkte er ausgelassen und erleichtert. Aoko hatte ihn nur kurz angesehen, dann fokussierte sie ihren Kaffee. Doch so langsam bekam sie das Gefühl, dass alle ihre Aufmerksamkeit auf sie richteten.

Yukiko sprach es dann auch schon aus. „Nun haben wir die erste Hochzeit erfolgreich hinter uns gebracht. Wie sieht es bei euch aus? Ihr habt euch gestern verlobt. Wann wollt ihr den Schritt in die Ehe wagen?“

Shinichi ließ absolut nicht erkennen, was er dachte und auch Kaitos Mimik spiegelte plötzlich absolute Verschlossenheit wider. Sonoko und Makoto beobachteten das Szenario aufmerksam aber schweigend, während Oma und Aokos Eltern auf eine Antwort warteten.

Yukiko schlug sich plötzlich lachend an die Stirn. „Natürlich, so schnell habt ihr noch kein Datum im Kopf. Meine Frage war wirklich unbedacht. Wir sollten uns einen Termin aussuchen. Yusaku! Wie wäre es im Frühling? Zur Kirschblütenzeit. Das wird eine wunderschöne Kulisse hier im Garten geben.“ Yusaku nickte seiner Frau zu. Und schon verfielen sie in die Hochzeitsplanung.

Aoko lauschte eine ganze Weile, suchte währenddessen unsicher nach einer Antwort. Lass dein Herz sprechen. Was tat es denn? Was sagte es? Sie blickte auf ihre Hand mit dem Verlobungsring. Was war richtig? Was war falsch? Er mochte sie, er wollte ihrer Familie eine Freude machen. Sie mochte ihn, wollte ihre Familie aber nicht belügen. Sie hatten ein paar Mal was miteinander, aber selbst das war für ihn vermutlich nichts Besonderes. Für sie hingegen war das alles, was sie sich jemals erträumte. Wie viele One-Night-Stands er in alle den Jahren hatte, wollte sie sich nicht mal annähernd vorstellen. Ob er sie auch als solchen sah? Wie viele Frauen hatte er wohl in Las Vegas? Jemand wie er konnte jede haben, warum sollte er solch eine lange Zeit über so eine weite Distanz in Abstinenz leben, nur weil sie hier in Japan saß und in ihn verliebt war? Hatte er nicht gesagt, dass verliebt sein was für Kinder wäre? Hin und her gerissen haderte sie mit sich. Ganz in Gedanken versunken drehte sie an ihrem Ring. „Ich habe etwas zu sagen“, erhob sie ihre Stimme. Sofort richtete sich die gesamte Aufmerksamkeit wieder auf sie. Aokos Augen wichen zu ihrer Oma, die sie ermutigend anlächelte, dann sah sie zu ihren Eltern. „Die Verlobung kam gestern überstürzt.“ Sie spielte nervös an ihrem Ring. „Ich habe mich in etwas verrannt und gedacht, dass sich alles fügen wird, aber dem ist nicht so.“ Sie sah zu Kaito, der sie stumm ansah und zu ahnen schien, was sie gerade vor hatte. „Wir beide haben keine Zukunft zusammen.“ Sie drehte ihren Kopf zu ihrer Oma: „Es tut mir leid.“ Sie zog ihren Ring vom Finger und legte diesen auf den Tisch. Schon stand sie auf und flüchtete. Kaito entschuldigte sich am Tisch, sprang auf und folgt ihr. Im Wohnzimmer bekam er Aoko zu fassen. „Bitte, lass mich los“, flehte die junge Frau. Sie wollte keine Diskussion oder Auseinandersetzung mit ihm. Ihr Herz pochte unruhig in seiner Nähe und das verwirrte sie zusätzlich.

Er aber hielt sie fest. „Wie kommst du zu der Meinung, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben?“

Aoko schluckte und suchte seine Augen. „Du hast Akako geküsst“, rutschte es aus ihr heraus. Beschämt senkte sie den Blick. Das war kindisch. Aber ein wichtiger Grund. „Ich kann das nicht. Ich kann nicht ständig mit anderen Frauen konkurrieren. Ich bin wie ich bin und ich wünsche mir einen Mann, der nur mich sieht.“ Sie begegnete seinem Blick. „Ich möchte die einzige sein.“ Sie stockte. „Ich hätte uns gerne als altes Paar auf einer Parkbank im Sonnenuntergang sitzend gesehen.“ Sie schluckte. „Aber ich sehe uns nicht zusammen.“

Er löste seinen Griff und Aoko flüchtete in ihr Zimmer. Ran eilte an Kaito vorbei, um ihrer Schwägerin zu folgen, während Shinichi auf seinen besten Freund zuging, um ihn aufmunternd auf die Schulter zu klopfen.

Aoko packte ihre Sachen. Sie würde nach Tokio fliegen und das alles hinter sich lassen. Es machte keinen Sinn hier zu bleiben.

Es klopfte und Ran betrat das Zimmer. „Aoko.“ Überrascht sah sie den gepackten Koffer. „Du gehst doch nicht, oder?“

„Es wäre Unsinn zu bleiben. Fährst du mich zum Flughafen?“

Ran nickte. Traurig blickte sie ihre Schwägerin an.

Aoko schnappte sich ihren Rucksack und schulterte diesen, dann griff sie nach ihrem Koffer. Einen letzten Blick in ihr Kinderzimmer, ein letztes Mal die letzten Tage Revue passieren lassen, ehe sie Ran ansah und ihr zunickte.

„Möchtest du dich noch verabschieden?“, hakte Ran unsicher nach.

„Ich möchte gerade niemanden sehen.“

Shinichis Frau nickte verständnisvoll. Sie verließen das Zimmer, traten die Treppe hinunter und gingen zur Haustüre. Dort trafen sie auf Großmutter Kudo. Sie schien fest damit gerechnet zu haben, ihre Enkelin verabschieden zu müssen. Aoko umarmte sie. „Ich komme dich bald wieder besuchen.“

Die Oma nickte. Ein besorgter Blick folgte, aber dann sprach sie milde lächelnd: „Folge deinem Herzen, mein Kind.“

Aoko nickte und drückte ihre Oma nochmal ganz fest, ehe sie ihr Elternhaus verließ.

Ran führte sie zu Shinichis Kleinwagen. Wenig später befanden sich die beiden Frauen auf dem Weg zum Flughafen. „Wie geht es jetzt weiter?“

Aoko zuckte mit den Schultern. „Ich hab einiges in der Uni verpasst.“

„Das meinte ich nicht. Zwischen euch ist so viel passiert, wie geht es mit Kaito und dir weiter?“

„Es gibt kein wir – das gab es nie.“

Ran konzentrierte sich auf die Straße und schwieg betreten.

Am Flughafen angekommen, fuhr Ran vor den Eingang. Aoko drehte sich zu ihr. „Vielen Dank für alles. Und schöne Flitterwochen.“

„Übermorgen geht’s los“, freute sich Ran und drückte ihre Schwägerin. „Komm uns bald besuchen.“

Sie verabschiedete sich von Ran und sah wenig später dem Kleinwagen ihres Bruders nach. War es wirklich die richtige Entscheidung? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Natürlich war es das. Sie schlenderte durch das Terminal und zum Schalter der Airline. Die Dame am Schalter konnte ihr aber noch keine Buchung zusagen. Und so saß sie nun am Flughafen und wartete auf eine Lösung. Die Gedanken an die letzten Tage schob sie schnell wieder von sich. Das schmerzhafte Ziehen in ihrer Brust ignorierte sie. Die Worte ihrer Oma drängten sich dafür ständig wieder in den Vordergrund. Sie solle auf ihr Herz hören.

Es war das Beste für alle, wenn sie ging. Für Shinichi, da er nicht mehr zwischen den Stühlen saß. Für Kaito, dem der Weg nun für Akako freistand. Und für sie selbst, die sich nun komplett auf sich und ihr Studium konzentrieren konnte. Ihr Handy klingelte und riss sie aus ihren trüben Gedanken. Sie zog es hervor. „Shinichi.“

„Hey, Schwesterchen, wann geht dein Flug?“

„Bald.“

„Sieh es positiv, du bist mal pünktlich.“

„Lass die Witze, Shin.“

„Hör zu, das ist echt beschissen gelaufen. Wieso läufst du aber jetzt weg? Du solltest dich den Tatsachen stellen.“ Eine Pause folgte, ehe ihr Bruder weiter sprach. „Ich hätte dir und Kaito mehr vertrauen müssen. Zudem muss ich ehrlich sagen, dass mich der Gedanke euch zusammen als Paar zuerst echt geschockt hat. Aber als ich dann dieses äußerst verstörende Bild verdrängt hatte, war das ganze gar nicht mehr so übel. Es tut mir leid. Ich hätte mich nicht bei euch einmischen dürfen. Es gibt keinen besseren Mann für dich. Wem sollte ich dich sonst anvertrauen, wenn nicht dem Jungen, den ich seit meinen Kindertagen kenne und zu 1000 Prozent blind vertraue.“

„Shinichi“, warf Aoko ein, aber ihr Bruder ignorierte sie gänzlich.

„Ich muss dich sehr verunsichert haben und dir auch großen Druck gemacht haben. Das tut mir wirklich sehr leid.“ Er entschuldigte sich, ließ sie aber immer noch nicht zu Wort kommen. „Er hat keiner anderen Frau mehr ernsthaft nachgeschaut. Sicherlich ist das in der Natur des Mannes festgelegt, aber solange wir wissen, wohin wir gehören, hat das nichts zu bedeuten. Das mit Akako solltest du dir ebenso anhören.“

Sie stutzte.

„Aoko.“

Irritiert horchte sie auf, denn ihr Name fiel nicht am Telefon. „Wie meinst du das, Shin?“ Dabei sah sie sich um. Während Shinichis Stimme an ihrem Ohr erklang, fand sie sich einem jungen Mann gegenüber. „Gib ihm eine Chance. Bis bald, kleine Schwester.“

Und dann erklang nur noch ein Tuten. Sie ließ ihr Handy sinken und starrte ihr Gegenüber. „Kaito“, hauchte sie überrascht und ihr gesamter Körper reagierte sofort auf seine Erscheinung. „Was machst du hier?“ Sie steckte ihr Mobiltelefon in die Tasche und schluckte. Das Kribbeln in ihrem Bauch verdrängte sie stur. Es war falsch und durfte nicht sein.

„Ich habe dir noch etwas zu sagen“, er verstummte, schob seine Hände in die Hosentaschen und sah sich unsicher um. Scheinbar fand er den Ort mehr als unpassend, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Und Aoko würde nicht gehen, denn sie wartete immer noch auf eine Nachricht der Dame, in welchem Flugzeug ein Platz frei war. „Das mit dem Kuss hast du vollkommen falsch verstanden. Akako hat die letzten Tage versucht wieder an unsere Beziehung von damals anzuknüpfen. Allerdings ist es nicht das was ich möchte. Du hast offenbar mitbekommen, dass sie mich geküsst hat, aber hast du auch mitbekommen, wie ich ihr zu verstehen gegeben habe, dass sie es sein lassen soll?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du weißt sicherlich noch, dass meiner Familie das kleine Theater gehört, in dem mein Vater seiner Zeit als Magier aufgetreten ist.“

Dieses Mal nickte sie. Es war seit Toichis Todestag nicht mehr geöffnet worden. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an den bekanntesten Zauberer Japans.

„Las Vegas hat mir eine Chance gegeben mich zu verwirklichen. Aber ich bin dort inzwischen an einem Punkt angekommen, über den ich nicht hinauskomme. Mein Traum war es schon immer das Erbe meines Vaters anzutreten, wenn ich ihm ebenbürtig bin. Dieser Urlaub hier dient mir auch dazu, das Theater zu inspizieren und zu prüfen in welchem Zustand es sich befindet.“

Aokos Augen wurden größer, ihr Herz klopfte schneller. Er würde das Theater betreten, es womöglich wieder mit Leben füllen.

Kaito schien ihr anzusehen, was ihr durch den Kopf ging. „Ich plane zurück zukommen. Ich möchte das Theater mit einer eigenen Show wieder bekannt machen und gleichzeitig meinem Vater ein Denkmal setzen.“

„Was sagt Chikage dazu?“ Sie konnte seine Worte kaum verarbeiten. Zu sehr überraschte sie die Neuigkeit.

„Sie ist sehr stolz, möchte aber in Las Vegas bleiben. Sie hat dort einen Mann kennen gelernt und ist glücklich mit ihm.“

Aoko staunte. Offenbar hatte sich doch so einiges getan in den letzten Jahren. Kaito käme nach Osaka zurück. Er kommt nach Hause. Es lägen dann keine tausende Kilometer Entfernung mehr zwischen ihnen.

Er trat einen Schritt auf sie zu. „Erinnerst du dich noch an deine Frage vor dem Junggesellenabend? Du hast mich gefragt, ob ich jemals richtig verliebt war. Ja, war ich, Aoko. Dieses Mädchen gibt mir das Gefühl sie immer bei mir haben zu wollen und nur sie schafft es, dass ich mich glücklich fühle. Und ich kann mich mit ihr zusammen sehen, wir beide, in hohem Alter zusammen und Händchen haltend, bei Sonnenuntergang auf einer Parkbank sitzend.“ Er trat einen weiteren Schritt zu ihr und ihr stockte der Atem. Er sah sie so intensiv an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. „Dieses Mädchen warst, ist und wirst immer du sein, Aoko Kudo. Niemand anderes wird mir je das Gefühl eines Zuhauses geben können.“ Er lächelte bedrückt. „Wenn du gehen willst, weil du nicht dasselbe fühlst, lass ich dich gehen. Aber solltest du doch das gleiche fühlen, dann bitte ich dich bei mir zu bleiben.“

Ihr Herz klopfte so stark, dass es bereits weh tat. Ihr stockte der Atem, wegen seiner Worte und auch seiner Nähe.

„Entschuldigen Sie, Miss?“ Die Dame von der Airline trat neben sie. „Ich hätte einen Platz für Sie in der nächsten Maschine in einer Stunde. Soll ich Sie fest einbuchen?“

Aoko wusste nicht, was sie tun sollte. Vor ihr stand der Mann, den sie sich schon so lange an ihre Seite wünschte, den sie liebte und der sie liebte. Ihr Herz begann unrund zu laufen. Da drangen die Worte ihrer Großmutter in ihr Gedächtnis. „Lass dein Herz sprechen.“ Das tat es so laut wie noch nie. Es zog sie zu diesem Mann und nirgendwo anders hin. Sie drehte sich der Frau zu. „Ich brauche den Flug doch noch nicht.“

Die Dame runzelte die Stirn, beäugte neugierig den attraktiven Mann und wandte sich anschließend ab.

Aoko entging der Blick keineswegs, aber auch Kaito ließ sich nicht anmerken, dass die Frau ihm eben gerade schöne Augen gemacht hatte. „Ich liebe dich“, gestand sie. „Aber wie soll das funktionieren?“

Kaito lächelte. „Mich interessieren keine anderen Frauen, für mich gibt es nur eine Einzige.“ Er zog seine Hand hervor. „Und wenn du mich noch haben willst, die Hochzeit wäre auf den nächsten Frühling geplant.“ Schelmisch hielt er ihr den Verlobungsring ihrer Großmutter vor das Gesicht.

Aoko starrte den Ring an, dann Kaito und lauschte in sich hinein. Es fühlte sich alles richtig an. „Muss ich ihn mir selbst anstecken?“

Er schüttelte lachend den Kopf und kniete sich vor sie hin. Sofort erregten sie die Aufmerksamkeit der Menschen in ihrer Umgebung. „Aoko, möchtest du meine Frau werden?“

Aoko schloss ihre Augen, suchte nach einem letzten Anzeichen Skepsis oder Unsicherheit, fand dies aber nicht. Dann öffnete sie strahlend ihre blauen Augen und nickte glücklich. „Ja, Kaito. Ja, ich will.“ Er steckte ihr den Ring an, stand auf und fand sich in einer festen Umarmung mit seiner Verlobten wieder.

Die Menge begann zu klatschen, aber das nahmen die beiden nicht mehr wahr. Zu sehr waren sie aufeinander und ihr persönliches Glück fixiert.

„Wollen wir nach Hause?“, fragte Kaito.

„Zuhause klingt gut“, antwortete Aoko.

Er nahm ihren Koffer und verknotete ihre Finger miteinander. Gemeinsam verließen sie den Flughafen. Vor dem Haupteingang stand die Limousine der Familie Kudo. Der Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Türe, doch einsteigen konnten die Verlobten nicht. Stattdessen stieg jemand aus. Die ältere Frau lächelte glücklich, als sie das verliebte Paar entdeckte.

„Oma!“ Aoko fiel ihrer Großmutter um den Hals und hörte nur noch die geliebte Stimme an ihrem Ohr.

„Hat dein Herz doch noch richtig gesprochen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Irischka25
2023-11-16T07:58:18+00:00 16.11.2023 08:58
Toll geschrieben, echt klasse die Geschichte 🤩🤩
Von:  Mayachan_
2022-09-06T19:48:21+00:00 06.09.2022 21:48
Oh wie schön 😍 ich fand deine ff mega 😍🥰
Ich hoffe bald wieder was von dir zu lesen ❤️

LG Mayachan
Von:  Mayachan_
2022-08-19T18:04:22+00:00 19.08.2022 20:04
Hey ich freue mich das es eine neue ff von dir gibt. Bei Gelegenheit Lese ich sie mir durch 😁

Lgb
Antwort von:  Kittykate
05.09.2022 19:57
Hallöchen,
die Geschichte ist beendet. Das heisst du kannst sie in einem Rutsch durchlesen ohne lästige Wartezeit ^_^

Viel Spaß!

LG Kitty


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