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Letzte Wiederkehr

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Prolog


 

Prolog

Obwohl Yugi spürte, wie sein Bewusstsein schwand, nahm er doch noch die vertraute Präsenz neben sich wahr. Doch sie war anders, als er sie bisher kannte. Er spürte Atems Geist ganz deutlich, doch sein Bewusstsein war nicht mit dem des Pharaos verschmolzen, er konnte nicht dessen Gedanken hören. Dennoch gab es keinen Zweifel. Und als er begriff, dass Atem immense Kräfte freisetzte und etwas beschwor, das resoluter war als alles, was Diva ihnen entgegengebracht hatte, das gestärkt wurde von Freundschaft und Vertrauen, da wusste er: Es würde alles gut werden.
 

***

Als er die Augen wieder öffnete, war alles vorbei. Der Geist des Ringes war fort, die Macht der Plana verschwunden. Er saß auf dem Boden und in seinem Blickfeld erschienen undeutlich Joey, Tristan, Téa und Ryou, die besorgt auf ihn zugerannt kamen. Dumpf hörte er ihre Rufe. Und da war noch etwas: Das Gefühl von vorhin war nicht abgeklungen. Mit klopfendem Herzen drehte er den Kopf leicht nach links – und seine Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, dass Atem nach wie vor dort stand. Mit einem eigenen Körper, wie er ihm zuvor lediglich bei ihrem letzten Duell zuteil geworden war.
 

In seiner Kleidung, die seiner eigenen Zeit entsprach, und seinem goldenen Geschmeide, das einem ägyptischen Herrscher anstand, wirkte er erhaben und doch deplatziert. „Pharao!“, ächzte Yugi heiser und versuchte angestrengt, sich aufzurappeln. „Pharao!“, stießen nun auch seine vier Freunde wie aus einem Mund aus, als sie atemlos vor ihnen Halt machten. Atem reagierte sofort und wandte sich ihm zu. Ihre Blicke trafen sich – doch in Atems Gesicht zeichnete sich nicht das ab, was Yugi erwartet hatte. Stattdessen blinzelte er – ratlos. „Atem?“, setzte Yugi noch einmal, zaghaft, an, „du bist zurück! Du bist es wirklich!“ „Ganz recht“, begann der Pharao nun langsam zu sprechen, „das ist mein Name. Aber … wer seid Ihr? Wo bin ich?“
 

***

Ein kalter Schauer überlief Yugi, als er endlich begreifen musste, dass vor ihm nicht der Atem stand, den er gekannt hatte. Dieser Atem hier hatte keinerlei Erinnerung an ihre gemeinsamen Jahre, an Domino oder daran, dass sein Geist einmal im Milleniumspuzzle gelebt hatte. „Du … kannst dich überhaupt nicht an uns erinnern?“, hatte Téa fassungslos nachgehakt und Yugi hatte deutlich gehört, wie sie sich konzentrieren musste, damit ihre Stimme fest klang. Atem hatte die Augen niedergeschlagen. „Nein … tut mir leid“, hatte er beschämt verneint, obwohl er sich ganz offensichtlich keiner Schuld bewusst sein konnte. „Der Geist des Milleniumsrings? Zorc?“, hatte Yugi zuletzt hoffnungsvoll gefragt. Wieder hatte Atem nur den Kopf geschüttelt. „Das sagt mir gar nichts. Wer soll das sein?“ Nun sah er sich argwöhnisch um. „Bitte – erklärt mir jetzt sofort, wo ich hier bin und wieso Ihr meinen Namen kennt. Was wollt Ihr von mir?!“, sagte er dann in scharfem, herrschaftlichem Ton, der keine Widerrede duldete.
 

Enttäuschung keimte in Yugi auf. Darüber, dass es nicht sein Seelenfreund war, der hier vor ihm stand. Aber gleichzeitig mischte sich auch Unverständnis darunter. Warum zum Teufel war Atem denn überhaupt wieder hier, nachdem er so lange Jahre dem Irrglauben erlegen war, dass sich ihre Wege nie mehr kreuzen würden? Wenn er in den letzten Jahren mit Atem eines gelernt hatte, dann war das, dass nichts jemals grundlos geschah, also – was bedeutete es?
 

Ihre Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, als nun Seto Kaiba von der anderen Seite der Arena mit bedeutungsschwangeren Schritten auf die Gruppe zuschritt. Mit entschlossenem Blick fixierte er Atem, schien etwas in seinen Augen zu suchen, das ihm sagte, dass er keinem Zweifel unterlag – obwohl er dies instinktiv sicher längst wusste. „Pharao“, knurrte er gewichtig, „ich wusste, du würdest kommen. Ich will ja nicht sagen 'Ich hab's ja gesagt', aber: Ich hab's ja gesagt." „Du hattest Recht", gab Yugi bereitwillig zu, „du hast nie aufgehört, daran zu glauben, dass er zurückkommt." „So ist es", bestätigte Kaiba sachlich. Dann wandte er sich Atem direkt zu: „Ich habe dich hergeholt und nun schuldest du mir ein lange aufgeschobenes Duell!“ Erleichterung flackerte jetzt in Atems Gesicht auf. „Hohepriester Seth!“, rief er aus, „Ra sei Dank, dass Ihr hier seid. Könnt Ihr mir sagen …“ Doch mitten im Satz unterbrach er sich, denn als er Kaiba betrachtete, schien ihn plötzlich die Erkenntnis zu erreichen, dass er sich getäuscht hatte. „Ihr seid es nicht … aber diese Ähnlichkeit ...warum …?“, murmelte er, mehr zu sich selbst.
 

„Hör auf mit dem Geschwafel!“, bellte Kaiba ihn wenig empathisch an, „ich habe auf diesen Moment viel zu lange gewartet! Mein Blut kocht förmlich! Ich will meine Revanche und ich bin nicht mehr bereit, dafür irgendwelche Abstriche zu machen!“ Atem hob den Kopf und blickte ihn stolz und ärgerlich an. „Wer auch immer Ihr seid – so habt Ihr nicht mit mir zu sprechen! Ich weiß nicht, von was Ihr redet, aber ich verlange auf der Stelle zu erfahren, was das alles soll! Im einen Moment bin ich in meinem Thronsaal und dann fühlt sich plötzlich alles so … taumelnd und leicht an und im nächsten Augenblick – befinde ich mich hier mit Menschen, die ich in meinem Leben noch nie gesehen habe! Nun redet! Seid Ihr Teil einer Verschwörung? Plant Ihr etwa ein Attentat? Eines sage ich Euch: Ich werde alles tun, um mein Volk zu schützen und ich bin nicht käuflich! Meine Beamten haben genaue Anweisung …“ „Moment mal!“, grätschte Yugi dazwischen, „heißt das etwa … du erinnerst dich an dein früheres Leben? Ich meine … an dein … jetziges Leben? An deine Zeit als Pharao?“
 

Der Blick, den Atem nun für ihn übrighatte, war eine Mischung aus Resignation, Abscheu und Irritation. „Ich verstehe nicht, was Ihr redet. Natürlich erinnere ich mich an mein Leben. Das Leben, das ich jetzt gerade führe. Und das hatte bisher nichts mit alldem hier – oder mit Euch – zu tun.“ „Dann bist du also gar nicht aus dem Totenreich zurückgekehrt!“, rief Yugi aus, „sondern aus einer Zeit, bevor dein Geist im Milleniumspuzzle eingeschlossen wurde!“
 

„Schluss mit diesem Theater!“, fuhr Kaiba nun dazwischen. Ihm schien endgültig der Geduldsfaden zu reißen, „was soll diese Schmierenkomödie!? Ich will mein Duell! Alles andere ist mir egal!“ Er machte eine unwirsche Bewegung mit der Hand, trat auf Atem zu und griff nach seinem Arm. Der Pharao reagierte blitzschnell, packte Kaibas Handgelenk und bog es nach hinten um, sodass dieser keuchend zurückwich. „Fasst mich nicht an! Ich weiß mich zu wehren!“, fauchte Atem wild, während Joey voller Genugtuung kicherte.
 

„Pharao“, ging Yugi nun mit ruhiger Stimme dazwischen, „auch wenn du verwirrt bist, du musst uns glauben, dass wir dir nichts Böses wollen. Wir wissen ebenfalls nicht, warum du hier bist, aber ich kann dir versichern, dass wir deine Freunde sind.“ „Ja, wir alle außer der reiche Sack da“, warf Joey ein. Atem blickte Yugi nachdenklich an. Er schien abzuwägen, welche Optionen er hatte. Schließlich schien er zu dem Schluss zu gelangen, dass ihm wenig blieb, außer auf Yugis Wort zu vertrauen. „Also gut“, sagte er, „ich muss wohl auf mein Bauchgefühl hören und das sagt mir, dass ich Euch trauen kann“, er warf einen kurzen Blick zu Kaiba hinüber, der diesen nur stumm und halsstarrig erwiderte, dann wandte er sich wieder Yugi zu. „Also schön. Erzählt mir alles, was Ihr wisst.“


 


 


 


 


 


 

I


 

I

Die abendliche Herbstluft war kühl und wohltuend, als sie Kaibas Duellarena verließen. Yugi atmete tief durch. Atem schlang unwillkürlich die Arme um seine Schultern und fröstelte. Seine Kleidung war nicht für das raue Klima in Domino gemacht. „Was für ein Ort ist das hier?“, fragte er verzagt, „warum hat Ra hier keine Kraft?“ „Du befindest dich auf einem anderen Kontinent … in einem anderen … Reich“, versuchte Téa zaghaft, ihm zu erklären. „Und nicht nur das“, fügte Yugi hinzu, „Pharao, du bist hier nicht nur an einem anderen Ort, sondern auch in einer anderen Zeit – 3000 Jahre später als zur Zeit deiner Regentschaft.“
 

Atem blickte die beiden stirnrunzelnd an. Offenbar grübelte er darüber nach, ob diese Geschichte verrückt genug war, um sie zu glauben, oder ob die beiden einer völlig irregeleiteten Gruppe von Verschwörern angehörten. „Yugi sag mal“, meldete sich nun Tristan zu Wort, „ich müsste langsam mal nach Hause. Was zur Hölle machen wir denn nun mit dem Pharao? Wo wird er bleiben?“ Yugi seufzte und rieb sich kurz die Schläfen. Er war sich der Tatsache unangenehm bewusst, dass alle ihn anstarrten und darauf warteten, dass er eine Lösung für dieses ganze Chaos hier parathielt. Aber die Wahrheit war: Er war einfach nur müde. Erschöpft und verwirrt von all den Ereignissen des Tages. Als er schließlich aufsah, wirkte er entschlossen. Sein Blick wanderte hinüber zu Kaiba, der mit Mokuba noch immer ein wenig abseits stand. „Kaiba wird sich darum kümmern!“, sagte er grimmig und richtete den Zeigefinger auf den Firmeninhaber. „Wie bitte?“, rutschte es Téa und Joey heraus. „Er war doch derjenige, der den Pharao unbedingt zurückhaben wollte!“, erklärte Yugi beharrlich, „er hat diesen ganzen Schlamassel hier eingefädelt! Soll er sich jetzt auch um die Konsequenzen kümmern! Ich habe in meinem kleinen Kinderzimmer kein zweites Bett und ihr doch auch nicht, oder? Kaiba hat sicher keines seiner vielen Gästezimmer belegt! Also: Die Lösung liegt doch auf der Hand.“
 

Kaiba sah aus, als habe er in eine Zitrone gebissen. Dafür, dass er zuvor so wild darauf gewesen war, die Aufmerksamkeit des Pharaos zu erlangen, wirkte er jetzt peinlich berührt. „Also dann“, sagte Yugi, „viel Glück mit ihm. Du wirst ihm wohl einige Dinge aus dieser Zeit erklären müssen.“ Und an sein ehemaliges Alter Ego gewandt fügte er hinzu, „Atem, wir können morgen wieder zusammenkommen und über alles sprechen, wenn du das willst. Wir finden sicher heraus, warum du hier bist. Aber jetzt können wir alle eine Mütze Schlaf vertragen.“ Und damit war es beschlossen.
 

***

Atem und Seto saßen im Inneren des Wagens und schwiegen sich über die Dauer der gesamten Fahrt an.
 

Der Pharao hatte reglos vor der schwarzen, blank polierten Limousine gestanden. „Du … musst einsteigen“, hatte Mokuba ihn ermunternd angesprochen, während sein älterer Bruder keinerlei Interesse daran gezeigt hatte, ihm etwas zu erklären. Atem hatte den jüngeren Kaiba zweifelnd betrachtet. Dieser hatte zuvorkommend die Tür für ihn geöffnet. „Da rein. Es ist nicht schlimm“, hatte er gutmütig wiederholt. Atem hatte ins enge Wageninnere geblinzelt. Er begriff nicht, wieso er freiwillig in dieses furchteinflößende Monstrum hineinklettern sollte. Auch als das Fahrzeug sich in Bewegung gesetzt hatte, war er ängstlich zusammengezuckt. „Selbst Ra hat nur eine einfache Barke, um sich fortzubewegen! Wo kommen wir hin, wenn wir uns über die Götter erheben!“, hatte er zynisch gemurmelt, „das hier ist einfach unnatürlich! Häuser, die sich von selbst bewegen!“ Jetzt gab er sich alle Mühe, die Straße um sie herum nicht zu genau in den Blick zu nehmen. Sein Sitznachbar tat wenig, um sein Gemüt zu beruhigen, und so zog er sich in sich zurück.
 

Als sie in der Kaibavilla angelangt waren und das Tor passiert hatten, führte man ihn in eine große Eingangshalle. Endlich blieb sein unfreiwilliger Gastgeber stehen. Unvermittelt drehte er sich um und warf Atem etwas zu. Dieser reagierte instinktiv und fing es auf. Es war eine von Kaibas neuen Duel Disks. „So“, knurrte Kaiba, „deine Schonfrist hat lange genug gedauert, 'anderer Yugi'. Jetzt lassen wir mal diese Spielchen und kommen endlich zum eigentlichen Grund, warum du hier bist. Wenn du denkst, du kannst dich davor drücken, dann hast du dich mächtig getäuscht!“ Atem schoss einen ärgerlichen Blick in Kaibas Richtung. „Mein Name ist Atem!“, zischte er pikiert. „Ist mir egal, wie du heißt. Man muss die Namen von Verlierern nicht kennen“, konterte der Konzernchef.
 

Atem inspizierte indessen skeptisch das handliche Gerät. Abrupt warf er es auf den Boden, um zu prüfen, ob es kaputtging. „Sehr robustes Material, nur ein kleiner Kratzer“, murmelte er, als er es wieder aufnahm. „Was … zur Hölle machst du denn da?!!“, rief Kaiba entsetzt aus, offenbar schockiert über den unangemessenen Umgang mit einem sensiblen High Tech-Gerät. „Also … Seth …“, begann Atem, ohne auf die Sanktion einzugehen. „Mein Name ist Seto Kaiba!“, korrigierte nun dieser ihn seinerseits. Für einen Moment starrten sie einander feindselig an. Schließlich atmete Atem entnervt aus. „Also dann eben Seto Kaiba … was ist es denn nun eigentlich, das Ihr so unbedingt von mir wollt?“ Kaiba wirkte überrumpelt und für einen Moment ratlos.
 

Er hatte damit gerechnet, dass die ersten Worte des Pharaos auf seine wahnwitzige Wiederbelebungsaktion etwas sein würden wie: „Was?! Nur weil du ein, zwei Mal ein blödes Spiel gegen mich verloren hast, hast du mich von den Toten zurückgeholt?!“, aber die Realität erwies sich wesentlich befremdlicher. Dieser Atem hier war … anders. Nicht weniger stolz, aber weniger fokussiert und ernst – und er wirkte ein bisschen verloren. „Na … ein Duell. Ich will natürlich meine Revanche. Also los, zück deine Karten! Und hör endlich auf mit dieser albernen antiquierten Sprechweise! Auch wenn du dich nicht dran erinnerst, wir waren schon mal beim 'Du'!“ Atem blinzelte. „Das heißt also, Ihr ... du wolltest die ewige Ruhe meines ... zukünftigen Ichs nur stören , weil du ein paar Mal zu oft bei einem blöden Kartenspiel verloren hast?“, fragte er ungläubig, „aber … deshalb holt man doch niemanden von den Toten zurück!“ Er lächelte nachsichtig.
 

Kaiba seufzte. Da war es nun also doch. Es musste sich also tatsächlich um den Pharao handeln. „Du weißt so gut wie ich, dass Duel Monsters nicht nur ein Kartenspiel ist! Alles steht und fällt mit diesem Spiel … und mit deinem Titel!“ „Also gut …“, gab der Pharao klein bei, „auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass das der einzige Grund sein soll, warum ich jetzt tatsächlich hier in der Zukunft bin: Wenn du willst, dass ich gegen dich spiele, dann musst du mir schon erst einmal die Regeln erklären.“ Kaiba klappte die Kinnlade herunter.
 

***

Er kniete auf dem nassen Asphalt. Natürlich wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es sich bei dem Untergrund um Asphalt handelte. Er bemerkte lediglich seine unbekannte Beschaffenheit im Gegensatz zum Sand der Wüste. Regen prasselte auf sein silbrig-weißes Haar und sein Gesicht. Er war orientierungslos, erstarrt. Da näherte sich ihm mit einem bedrohlichen Knurren ein schwarzes Ungetüm mit gelb-leuchtenden, runden Augen. In Bruchteilen von Sekunden mobilisierte er seine Glieder und sprang gerade rechtzeitig zur Seite. Das Ungeheuer stob einfach davon, ohne Notiz von ihm zu nehmen.
 

Er atmete durch. Nichts in seinem Umfeld kam ihm bekannt vor. Die Gebäude waren grau und wirkten beengend, der Himmel war düster. Eine Kälte kroch in seine Knochen, die mit nichts vergleichbar war, das er kannte: nicht einmal mit dem Klima in einer Grabkammer, wenn er Stunden dort verbrachte, um Schätze aufzuspüren und sie zu rauben.
 

Eine solche Kammer war er gerade im Begriff gewesen zu verlassen, bevor er hierhergekommen war. Als er die Pforte nach draußen geöffnet hatte, hatte ihm ein unnatürlich grelles Licht entgegengestrahlt, heller als der Tag selbst. Schwindel hatte ihn überkommen und es hatte sich angefühlt, als würde er aus seinem eigenen Jetzt, aus seinem Körper, seinen Gedanken und aus allem, das ihn im Moment verhaftete, herausgerupft. Dann dann war da eine beängstigende Leere und Fülle zugleich gewesen und im nächsten Augenblick hatte er auf allen Vieren auf dem Boden mit der fremden Beschaffenheit gekniet, von dem er nicht wusste, dass es sich um Asphalt handelte.
 

Er streifte durch die Straßen, aber nichts wurde besser. Alles sah gleich aus, nichts schien von Bedeutung. Der Zauber, der sonst allem innewohnte, war kaum noch zu fühlen. Aber ganz verschwunden war er nicht. Wenn man ein feines Gespür hatte, konnte man eine homöopathische Menge davon aus der Luft destillieren. Aber wo hatte sie ihren Ursprung?
 

***

Mokuba hatte inzwischen der starke Verdacht beschlichen, dass sein älterer Bruder sich und den Pharao in einer vertrackte Situation befördert hatte. Deshalb hatte er verkündet, dass es das Beste sei, zuerst einmal zu Abend zu essen und Atem danach ausruhen zu lassen.
 

Nun saßen sie an der langen Tafel und warteten darauf, dass der Koch ihnen das Abendessen brachte. Im Gesicht des Pharaos konnte der jüngere Kaiba tiefe Sorgenfalten ausmachen. „Über was grübelst du nach?“, fragte er offenherzig. „Oh“, Atem schien sich ertappt zu fühlen, „es ist nur … ich fürchte, dass sich meine Berater und mein Volk in meiner Heimat große Sorgen machen. Ich frage mich, ob mein Land in meiner Abwesenheit gut zurechtkommt.“ „Verstehe“, sagte Mokuba betroffen, „das ist natürlich ein Problem.“
 

In diesem Augenblick wurde das Essen aufgetragen. „Naja“, versuchte der 14-Jährige ihm gut zuzureden, „es wird schon alles in Ordnung sein. Sicher hast du fähige Stellvertreter. Nun iss erst einmal was. Unser Koch hat heute sein Spezial-Sukiyaki zubereitet!“ Atem nickte dankbar. Nachdem Mokuba ihm gezeigt hatte, wie man den Löffel benutzte, führte der Pharao diesen zum Mund – und erstarrte. Verunsichert ließ er das Besteck wieder sinken. „Was ist? Schmeckt es dir etwa nicht?“, wollte Mokuba enttäuscht wissen. „Das ist es nicht … aber … das ist ja heiß. Wie soll ich das essen?“ Mokuba warf Seto einen hilfesuchenden Blick zu. Dieser seufzte auf. „Richtig“, sagte er sachlich, „das hatte ich vergessen. Der Pharao stammt aus Ägypten. Dort konsumiert man das Essen noch heute wegen des warmen Klimas nicht heiß“, erklärte er seinem kleinen Bruder, „der Koch soll ein paar kalte Speisen bringen.“
 

Nachdem sie eine recht schweigsame Mahlzeit hinter sich gebracht hatten, erklärte Mokuba, er würde Atem jetzt sein Zimmer zeigen. „Einen Moment noch“, hielt Seto die beiden auf. Dann verschwand er kurz und als er zurückkam, legte er ein Buch in der Größe eines Telefonbuchs vor Atem auf den Tisch. Dieser sah ihn fragend an. „Damit du dich heute Abend nicht langweilst: Hier hast du die Spielanleitung für Duel Monsters." Atem nahm das Buch auf und blätterte es höflich durch. Dann wanderte sein Blick mit gerunzelter Stirn zurück zu Seto. „Netter Versuch“, sagte er, „aber obwohl ich die beste Bildung im Lande genossen habe, kann ich hiervon kein Wort lesen.“ Der Firmenchef starrte ihn an, dann legte er zwei Finger an seine Stirn und schloss resigniert die Augen. „Natürlich“, murmelte er, „aber sicher. Daran hatte ich nicht gedacht.“
 

Mokuba gluckste. „Du hast diese Idee mit dem Duell noch nicht aufgegeben, was, Bruder? Obwohl der Pharao offenbar das Duellieren noch gar nicht so gelernt hat, wie er es konnte, als er dich vernichtend … ich meine, als er dich geschlagen hat“, neckte er seinen Bruder. „Natürlich nicht“, verneinte Seto trocken, „er hat es damals gelernt und es zum Meister gebracht, warum sollte er das nicht noch einmal fertigbringen? Auf den Kopf gefallen ist er ja offensichtlich nicht.“ „Tja“, der jüngere Kaiba zuckte mit den Schultern, „dann musst du wohl oder übel in den sauren Apfel heißen und ihm alles beibringen, was du weißt.“ Er grinste, etwas schadenfroh. Die nächsten Tage versprachen einiges an Unterhaltung.


 


 


 


 


 


 


 


 

II


 

II

Atem zog die Knie an seine Brust und versuchte, noch eine Weile an nichts zu denken. Trotz der warmen Bettdecke, die man ihm gegeben hatte, fror er entsetzlich. Eine schwache Herbstsonne kroch zum Fenster herein und sagte ihm, dass Ra mit seiner Sonnenbarke aus der Unterwelt zurück war. Ein neuer Tag war angebrochen.
 

Geschlafen hatte er nur wenig, zu ungewohnt war die fremde Umgebung gewesen. Er dachte an sein eigenes Bett, von dem er sich nicht einmal sicher war, ob es noch irgendwo da draußen existierte. An all die vertrauten Personen, von denen er nun keine erreichen konnte. Er dachte an Seth, der sicher gewusst hätte, was in einer solchen Lage zu tun war. Heimweh überkam ihn heftig und lähmte ihn für einige Minuten. Dann schweiften seine Gedanken zu Seto Kaiba, der Seth so verblüffend ähnlichsah. Bereits während des Essens gestern hatte er ihm immer wieder faszinierte und verstohlene Blicke zugeworfen. Doch auch wenn er genauso stark und unerschütterlich wirkte wie sein wichtigster Beamter, war er doch weniger beständig und noch vorlauter und impulsiver als dieser – falls das überhaupt möglich war. Dennoch: Er war das einzige, das ihm zumindest das Gefühl gab, noch eine Verbindung zu dem Leben zu haben, das er gestern noch geführt hatte. Und alleine wegen seiner Ähnlichkeit zu Hohepriester Seth fiel es Atem schwer, ihm nicht instinktiv zu trauen.
 

Schließlich schlug er widerstrebend die Decke zurück und stand auf. Er ging zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Mokuba hatte fürsorglich dafür gesorgt, dass ihm eine Auswahl von Kleidung gebracht worden war, die dem Klima und der Mode dieser Zeit und dieses Reiches mehr entsprach als sein herrschaftliches Gewand. „Wir sollten lieber dafür sorgen, dass du nicht frierst – und nicht auffällst. Die Leute denken sonst, du gehörst zum Theater oder wärst ein fanatischer Cosplayer oder so“, hatte er gegrinst.
 

Atem besah sich die Kleidung und entschied sich für eine dunkle Jeans, ein ärmelloses schwarzes Shirt und einen pflaumefarbenen Blazer. Prüfend betrachtete er sich in dem mysteriösen Glas, in dem sein Ebenbild gefangen war. Dieses dämonische Gerät hatte ihn bereits am gestrigen Tag einen Riesenschrecken eingejagt, bevor Mokuba ihm erklärt hatte, dass lediglich das Licht und die Beschaffenheit des Glases dafür sorgten, dass er sich in der Scheibe sehen konnte.
 

Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn gewesen, sich selbst zu betrachten. Seine Haut war dunkler als die von Mokuba und Seto, aber er hatte bereits wahrgenommen, dass sie etwas blasser geworden war, seit er hier angekommen war. Für jemanden, der ihn nicht kannte, musste es wirken, als sei lediglich eines seiner Elternteile in einem Reich jenseits dieses „Japan“ verwurzelt. Nun, da er seine Statussymbole nicht mehr tragen durfte, spürte er mehr denn je, dass er hier in dieser Welt keinerlei Gewalt hatte, dass er seines festen Platzes in der Gesellschaft beraubt worden war. Er wusste nicht, wer und was er hier überhaupt noch war. Um sich nicht so leer zu fühlen, fügte er seinem Ensemble zuletzt doch noch seine Ohrringe und einen goldenen Armreif am rechten Handgelenk hinzu.
 

***

Nachdem Atem mit Mokuba gefrühstückt hatte, der ihm auch gleich ein Kompliment für seinen geschmackvollen Kleidngsstil gemacht hatte, war der jüngere Kaiba zur Schule aufgebrochen. Auch Yugi und seine Freunde waren am Vormittag im Unterricht. Da sie in ihrem Abschlussjahr waren, brauchten sie jede Stunde, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Gleich nach dem Frühstück hatte die kleinere Version des Pharaos angerufen und sich nach diesem erkundigt. Sobald die Schule zu Ende war, wollte Yugi mit den anderen herkommen und nach ihm sehen. Atem war es gleich, er kannte keinen von ihnen wirklich.
 

Nun saß er auf seinem Bett in dem Gästezimmer, wo man ihn untergebracht hatte, und vertrieb sich die Zeit damit, sich interessiert die zahlreichen Spielkarten zu betrachten, die Kaiba ihm bereitwillig überlassen hatte. Da der Konzernchef arbeiten musste, musste der geplante Unterricht in Duel Monsters bis zum Abend warten. Auch wenn er die Regeln des Spiels noch nicht beherrschte, so gefielen ihm die meisten Bilder auf den Karten doch gut. Einige davon erkannte er sogar aus den Schattenspielen wieder, andere amüsierten oder befremdeten ihn. Obwohl er unbegreiflicherweise die Sprache dieses Landes verstand und auch von anderen verstanden wurde, konnte er die kurzen Texte unter den Graphiken nicht lesen.
 

Gerade hatte er einen Stapel mit Monstern vom Typ „Maschine“ und „Psi“ weggelegt, mit denen er nichts anfangen konnte, als ihn ein seltsames Gefühl überkam – vertraut und doch alarmierend. Sein Blick richtete sich auf einen verdeckten Kartenstapel. Zielsicher nahm er ihn auf und besah sich die oberste Karte. Von ihr schien eine Art Glühen auszugehen und sie pulsierte förmlich. Anders als bei den anderen Spielkarten sprang ihm hier der kleingedruckte Text förmlich ins Gesicht, als stünde er nicht nur auf dem bedruckten Papier, sondern direkt vor seinem geistigen Auge. Und zu seiner Verblüffung konnte er die Worte auch lesen. Als er sich fragte, warum das so war, wurde ihm plötzlich klar, dass es sich hier nicht um die Zeichen der Landessprache, sondern um Hieroglyphen handelte. „Ritual der Schatten“ stand über einer düsteren Szenerie: Auf dem Wüstensand stand ein Tongefäß, in das eine Hand ein Pulver streute. Am Himmel darüber wurde die Sonne durch einen runden Schatten verdeckt. Was Atem noch nicht wusste: Bei der Karte, die er in Händen hielt, handelte es sich um eine Ritual-Zauberkarte.
 

***

Seto Kaiba saß in seinem Arbeitszimmer und versuchte derweil, sich auf ganz andere Zeichen zu konzentrieren, nämlich die in den E-Mails auf seinem Bildschirm. Es war ein seltsames Gefühl, dass der Pharao nun hier lebte – unter seinem Dach – und sich in einem der Zimmer auf demselben Stockwerk aufhielt und er selbst dennoch hier saß und arbeitete, so wie immer. So hatte er sich die Zeit nach seiner Wiederbelebung nicht vorgestellt – dann wiederum musste er sich eingestehen, dass seine Vorstellungskraft bisher nicht über die Aussicht auf einen Sieg hinausgegangen war. Er ertappte sich dabei, wie er sich fragte, was er sich eigentlich dabei gedacht hatte, so blauäugig diesen ägyptischen Geist wieder hierherzuholen, ohne zu wissen, wie er ihn nach ihrem Duell wieder loswurde. Aber es wäre ihm schon etwas eingefallen, schließlich war er genial … ein System, um Dimensionsreisen zu unternehmen zum Beispiel, wie dieser Diva es genutzt hatte.
 

Die Sache mit der Konzentration wollte ihm dennoch nicht so recht gelingen. Er war ein Gewohnheitstier und diese Situation war alles andere als gewöhnlich. Dennoch wunderte er sich darüber, dass die Gegenwart des Pharaos nicht befremdlicher für ihn war. Den gesamten gestrigen Tag über hatte er sich daran versucht, die jüngere Version seines Erzrivalen, die so vollkommen losgelöst von diesem Knilch Yugi Muto existierte, zu entschlüsseln. Er hatte sich zusammenreißen müssen, um ihn nicht unverblümt anzustarren, als sie einander am Tisch gegenübersaßen. Der Pharao wirkte so in sich gekehrt und ein wenig traurig, aber dennoch selbstbewusst und stark in seiner Persönlichkeit. Und da war noch etwas anderes: Er löste ein ungewohnt vertrautes Gefühl in Seto aus, und das konnte er sich nun wirklich nicht erklären.
 

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu seinem Arbeitszimmer und riss ihn aus seinen Gedanken. Betroffen stellte er fest, dass seine Hände die ganze Zeit über auf der Tastatur gelegen und sich nicht gerührt hatten. Für wie lange war das so gegangen? Sein Blick schnellte zur Tür und da war es schon wieder: Yugis anderes Ich – oder derjenige, der es einmal sein würde – trat ein und es fühlte sich fremd und vertraut zugleich an, als er mit langsamen, aber sicheren Schritten auf seinen Schreibtisch zukam und ihn etwas zurückhaltend anlächelte. Seto bemerkte, dass er sich umgezogen hatte. Er wirkte nun schon eher wie der Pharao, den er bisher kennengelernt hatte, lediglich sein Teint war dunkler und seine Augen von einem tiefen Rotviolett.
 

„Kann ich dir mit irgendwas helfen?“, fragte Seto steif und ein wenig abweisend. „Vielleicht“, sagte Atem und fügte dann hinzu, „ich hoffe, ich störe nicht, aber ich bin nun schon drei Mal über das ganze Gelände gelaufen und in meinem Zimmer gibt es auch nichts mehr Neues zu entdecken.“ „Warum schaust du nicht etwas Netsphinx?“, schlug Seto ohne viel Verständnis vor. „Wie bitte?“, fragte Atem höflich. Seto schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Aber Mokuba kommt sicher bald nach Hause.“ Atem legte den Kopf schief und funkelte Seto ein wenig herausfordernd an. „Warst du es nicht, der mich von den Toten zurückholen wollte?“ „Das ist korrekt. Und weiter?“, fragte Seto, ohne zu verstehen. „Und jetzt schiebst du mich an deinen kleinen Bruder ab, statt dich mit mir zu befassen?“ Seto biss die Zähne zusammen und gab ein murrendes Geräusch von sich.
 

Atem hielt ihm die mysteriöse Karte, zusammen mit einer weiteren, unter die Nase. Die zweite Karte war dunkelblau und zeigte eine finstere Kreatur, die sich gerade aus den Schatten schälte. „Ich hab mich gefragt, was es hiermit auf sich hat“, sagte er neugierig. Seto nahm die Karten entgegen und betrachtete sie kurz, aber abgesehen von der Tatsache, dass er sie noch nie zuvor gesehen hatte (was ihn verwunderte, da er so ziemlich jede Karte im Spiel und vor allem in seinem Besitz kannte), konnte er nichts Ungewöhnliches feststellen. Er überflog die Texte und gab sie Atem zurück „Was soll damit sein?“, fragte er desinteressiert. Atem zog die Stirn kraus. „Na, warum ist der Text auf diesen beiden Karten in altägyptischen Hieroglyphen verfasst?“, hakte er ungeduldig nach. „Oh“, machte Seto. Wieder starrte er auf die Karten. „Das … weiß ich nicht“, gab er offen zu. Es war nicht nur das, die Wahrheit war: Es war ihm nicht einmal aufgefallen. Denn er hatte keine Probleme gehabt, den Text zu lesen. Es war wie damals, beim Geflügelten Drachen des Ra.
 

Er widerstand dem Impuls, sich die Schläfen zu reiben. Oh, wie er es hasste, wenn seine Gedanken zu diesen verworrenen Themen abschweiften. Dennoch hatte er sich ihnen zum Teil stellen müssen, um überhaupt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, den Pharao zurückzuholen, und sie dann in die Tat umzusetzen. Er hatte sich damit abgefunden, dass es Dinge gab, die existierten, auch wenn sie einen Bruch in seinem logischen Denken darstellten. Wenn er jetzt an die Ereignisse in Battle City zurückdachte, dann waren sie allerdings entrückt, als habe er sie nur irgendwann einmal in einem alten Film gesehen. Das Gefühl, das er damit verband, war jedoch geblieben.
 

Er spürte, wie Atems Blick forschend auf ihm ruhte. „Ich will dich jetzt mal was fragen, Pharao“, sagte er barsch, „gestern hat man dir versucht, weiszumachen, dass du 3000 Jahre in die Zukunft katapultiert worden bist. So, als wäre das etwas ganz Alltägliches. Du bist doch sicher ein cleveres Kerlchen, wenn man dir zutraut, ein ganzes Land zu regieren. Wie kommt es dann, dass du all das einfach so hinnimmst, ohne es zu hinterfragen?“ Atem schmunzelte. „Vielleicht liegt es daran“, sagte er nachdenklich, „dass mir meine Rolle in dieser Welt von den Göttern zugewiesen wurde. Alles, was ich bin, war von Anfang an vorherbestimmt. Ich bin es einfach gewohnt, hinzunehmen, dass das Schicksal Dinge mit mir vorhat, die ich nicht begreifen kann und auch gar nicht muss. Außerdem ist man wo ich herkomme offen für die Magie, die allen Ereignissen unter diesem Himmel innewohnt. Ich kenne eure Kultur zu wenig, um voreilige Schlüsse zu ziehen, aber mir scheint es, als wäre euch diese Eigenschaft im Laufe der Jahrhunderte abgegangen – oder nie dagewesen.“
 

Seto überraschte es selbst, dass er für diese Erklärung keine abfällige Antwort parat hatte. Er nickte nur. Atem besah sich derweil den überladenen Schreibtisch. Dann seufzte er schwer. „Das hier sieht meinem eigenen Arbeitsalltag gar nicht mal unähnlich. Und jetzt muss ich vor Langeweile Löcher in die Luft starren. Kann ich dir nicht irgendwie zur Hand gehen?“
 

***

Nachdem Bakura einen Tag lang ziellos durch Domino geirrt war und die Nacht auf einer Parkbank verbracht hatte, begann ihn langsam, aber sicher der Hunger zu quälen. Die Sonne stand bereits wieder hoch am Himmel und bald hörte man eine Glocke läuten, woraufhin viele junge Menschen aus einem großen Haus schwärmten und sich überall in den Straßen verteilten.
 

Vor einem Gebäude, aus dem ein köstlicher Duft kroch, blieb er stehen und reckte die Nase in die Höhe. Ein Nahrungsmittel, das er noch nie zuvor gesehen hatte, prangte als Schild darüber. Es sah aus wie zwei Fladen mit einem Stück Fleisch und Gemüse in der Mitte. Wie hypnotisiert bewegte er sich auf den Eingang zu, als er plötzlich gegen jemanden prallte.
 

Der Junge mit dem weißen schulterlangen Haar, der ihm gegenüberstand, blinzelte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Er musterte Bakura von oben bis unten, dann wich er ängstlich zurück, der blanke Schrecken spiegelte sich in seinen großen, rehbraunen Augen. „Ich mag deinen Stil“, kommentierte Bakura trocken. Und dann: „Was glotzt du denn so blöd? Du schaust mich an, als hättest du ein Gespenst gesehen. Dabei siehst du selbst aus wie eines.“
 

Endlich kam wieder Leben in den jungen Mann und er zog Bakura energisch auf die Seite. „Was … zur Hölle …? Wieso bist du hier?“, fragte er ihn in scharfem, eindringlichem Ton. „Sollten wir uns kennen?“, fragte Bakura zurück, „Haben wir vielleicht mal bei nem Raub zusammengearbeitet oder so? Falls ja, muss ich dich enttäuschen. Ich bin ganz schlecht mit Namen und Gesichtern. Obwohl: Deins sollte mir in Erinnerung geblieben sein.“ Ryou wirkte nach wie vor entgeistert, doch nach den Ereignissen mit Atem gestern zählte er eins und eins zusammen. „Du erinnerst dich also nicht, oder? An mich? An die Ereignisse in Domino … an Zorc?“ „Zorc? Wer ist das nun wieder? Ist das der Typ vom Basar, dem ich immer die vorzüglichen Datteln klaue?“
 

Ryou seufzte. „Ach, vergiss es. Okay … am besten bringe ich dich erst einmal zu Yugi und den anderen. Du scheinst noch recht harmlos zu sein … Das hoffe ich zumindest.“ „Harmlos? Wen nennst du hier harmlos? Ich bin ein gefürchteter …“ Ryou ignorierte Bakuras empörtes Gezeter und war in Gedanken bereits ganz woanders. Wenn Atem und Bakura beide hier waren, dann konnte das hier nicht allein Kaibas Werk sein. Dann musste mehr hinter alldem stecken. „Hey! Hey, du! Kopie von mir“, machte Bakura ihn auf sich aufmerksam, „weißt du zufällig, wie man das da bekommt?“, er zeigte auf das große Schild über dem Burger-World-Gebäude und leckte sich sehnsüchtig die Lippen.


 


 


 


 


 


 


 


 

III

III
 

Seto hasste es, Aufgaben zu delegieren. Aber was konnte schon schiefgehen, wenn man jemanden damit beauftragte, etwas kaputtzumachen? Fasziniert schob Atem nun also Akte um Akte in den Schredder und sah dabei zu, wie sie zu Hunderten dünner Streifen verarbeitet wurden.
 

„Wo ich herkomme“, bemerkte er verwundert, „ist Papyrus so wertvoll, dass es niemand einfach so zerstören würde. Es wird aus Bäumen gewonnen.“ Seto brummte. „Dein Nachhaltigkeitsgedanke liegt wieder voll im Trend. Deshalb wird die KaibaCorporation auch nach und nach auf elektronische Speicherung und Verwaltung von Dokumenten umsteigen." Zum wiederholten Mal hatte Atem diesen Gesichtsausdruck, wenn er interessiert und angestrengt versuchte, eine Sache zu durchdringen. Er wirkte dann irgendwie … niedlich. „Das heißt“, kam Seto seiner Frage zuvor, „dass die Akten nicht mehr physisch existieren, sondern nur noch als digitale Daten:“
 

Die Miene des Pharaos blieb unverändert und Seto hätte beinahe laut aufgelacht. „Komm her, ich zeig‘s dir“, bot er schließlich an. Atem trat zu Seto hinter den Schreibtisch. Dieser gab seinem Rechner einen liebevollen Klaps. „Hier drin werden die Daten gespeichert. Und hier“, er zeigte auf den Monitor, „können sie dann visualisiert werden, damit wir sie als Schrift lesen können. Das funktioniert mit Hilfe von Licht.“ Nun trat Verständnis in Atems Augen „Du meinst, so wie beim Spiegel?“ Setos Mundwinkel zuckten. „So ähnlich. Nur dass hier das Licht im Monitor von hinten kommt, während es auf den Spiegel von vorne trifft.“ Atem nickte, obwohl Seto sich nicht sicher war, ob er wirklich begriffen hatte. „Dann hab ich nur noch eine Frage“, Atem zeigte auf den PC, „wie passen denn nur all diese Akten in dieses kleine Gefäß rein?“
 

***
 

„Du hast wen gefunden?!!”, Ryou musste den Hörer von sich halten, so laut drang Yugis Stimme hindurch. Ryou konnte förmlich sehen, wie er kreidebleich wurde. „Ja, ich weiß, wie das klingt. Aber hör mir doch erst mal zu. Ich glaube, es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Er hat keinerlei Erinnerungen an sein Vorhaben, alle Milleniumsgegenstände zu stehlen und Zorc zu erwecken. Ich glaube, er ist harmlos – lediglich sehr hungrig.“ Ryou warf einen Seitenhlick auf Bakura, der am Küchentisch saß und gerade mit Appetit seinen dritten Burger verputzte. „Das Zeug hat Suchtpotential“, schmatzte er, „aber hey, wie war das da eben mit den Milleniumsgegenständen? Ich soll sie an mich bringen? Gar nicht mal ne schlechte Idee.“ „Ups“, Ryou grinste schief, „vergiss das schnell wieder, okay?“
 

„Also schön“, seufzte Yugi, „bring ihn in einer halben Stunde zu Kaiba. Wir werden sehen, was wir aus alldem machen können.“
 

***
 

Von einem Moment auf den nächsten füllte am Nachmittag Leben die Kaibavilla, als kurz nach Mokuba auch Yugi, Joey, Tristan und Téa wieder auf der Matte standen. Was für ein Glück, dass er heute sehr früh aufgestanden war, um zu arbeiten, dachte Seto. „Hallo, Atem!“, begrüßte Yugi den Pharao freudig. Dieser hob zurückhaltend die Hand zum Gruß, blieb aber auf dem teuren Ledersofa sitzen.
 

„Na, wie seid ihr zurechtgekommen?“, fragte Joey feixend an Seto gewandt. Dieser wandte sich herablassend ab. „Pf. Ich leite ein millionenschweres Unternehmen. Denkt ihr etwa, ich habe Zeit, mich mit gestrandeten historischen Persönlichkeiten zu befassen?“ Atem schoss einen echauffierten Blick in seine Richtung und Yugi runzelte besorgt die Stirn. Er hoffte nur, dass er für den Pharao nicht die falsche Entscheidung getroffen hatte, als er Kaiba als seinen Herbergsvater abgestellt hatte.
 

Gerade da klingelte es an der Tür. Mokuba sprang auf und lief in die Eingangshalle, um zu öffnen. Atem hob den Kopf, er wirkte mit einem Mal hellwach. „Gibt’s irgendwas Neues? Irgendeinen Hinweis darauf, warum der Pharao wieder hier ist?“, fragte Yugi währenddessen im Wohnzimmer nachdenklich. Seto, der demonstrativ desinteressiert aus dem Fenster geschaut hatte, wandte sich ihm nun wieder zu. „Euer mutiger Pharao hat da vielleicht mal wieder eines von euren geliebten okkulten Rätseln ausgegraben“, schnarrte er despektierlich. „Ja?“, fragte Yugi neugierig, „was denn?“
 

In diesem Augenblick trat Atem zu ihnen. „Ach, gar nichts“, sagte er schnell, „Seto hier übertreibt es ein bisschen. Ich habe mich lediglich … für einige alte Möbelstücke hier im Haus interessiert. Nichts weiter.“ Seto warf ihm einen kritischen und irritierten Blick zu, schwieg aber. „Na gut …“, ließ Yugi die Sache auf sich beruhen, obwohl sich Zweifel in seinem Gesicht abzeichnete, „wir haben allerdings eine Neuigkeit, die dich interessieren dürfte, Pharao.“ „Achja?“, fragte nun Atem erstaunt zurück. Da hörten sie auch bereits, wie die Stimmen aus dem Gang schnell näherkamen. Nach Mokuba betraten zwei fast identische junge Männer den Raum. Beide hatten weißes Haar, lediglich der Größere von beiden hatte einen dunkleren Hautton, ähnlich dem von Atem. Der Blick des Pharaos schnellte zur Tür und sofort änderte sich die Atmosphäre im Raum.
 

Atems Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Du!“, spuckte er das angewiderte Wort förmlich aus. Bakuras Reaktion fiel nicht minder eindeutig aus, allerdings war seine Feindseligkeit in Hohn gekleidet. Er grinste abfällig. „Pharao“, schnarrte er, „sieh an, sieh an. Erfreut, mich wiederzusehen?“ Atems ganzer Körper hatte sich verkrampft. „Was zur Hölle tut er hier?“, zischte er Yugi zu. „Wir dachten, du könntest uns das vielleicht sagen“, entgegnete Ryou ruhig.
 

Atem schnaubte. „Nein, das kann ich absolut nicht! Da wo ich herkomme, ist er ein gesuchter Krimineller, der mit allen Wassern gewaschen ist! Seht euch bloß vor!“ Dann wandte er sich dem Grabräuber wieder zu. „Dass du es überhaupt noch einmal traust, mir unter die Augen zu treten!“ Bakuras Gesichtsausdruck wurde unbarmherzig. „Denkst du ernsthaft, ich wäre freiwillig hergekommen, wenn ich gewusst hätte, dass ich dich hier antreffe, du verzogene Brut?“ Der Pharao wandte sich wutentbrannt und mit einem Kopfschütteln ab.
 

„Warum habt ihr den denn auch hergebracht?“, sprang ihm nun unerwartet auch Kaiba zur Seite. Yugi musterte ihn ernst. „Weil das alles hier kein Zufall mehr sein kann. Es muss einen Grund geben, weshalb die beiden gemeinsam hergekommen sind. Das weißt du so gut wie ich. Kaiba, wenn es noch irgendwas gibt, das zur Lösung dieses Rätsels beitragen kann, dann bitte: Sag es uns!“ Kaiba starrte einen Augenblick lang grimmig zurück. Dann schüttelte er den Kopf. „Es gibt nichts. Sonst noch was? Andernfalls schafft euren Neuzuwachs hier raus.“ Joey und Tristan warfen sich halb fragende, halb amüsierte Blicke zu. „Kaiba entwickelt ja einen richtigen Beschützerinstinkt gegenüber seinem Gast“, witzelte auch Téa.
 

***
 

„Danke, dass du nichts über die beiden Karten gesagt hast“, sagte Atem später, als die Gruppe sich verabschiedet hatte. „Warum hast du es vertuscht?“, stellte Kaiba prompt die Gegenfrage, „Du und dieser Knirps erzählt euch doch sonst immer alles – zumindest werdet ihr das. Und mir hast du sie schließlich auch gezeigt.“ Atem schwieg einen Moment, dann sagte er schulterzuckend, „Ich weiß auch nicht. Es hat sich nicht richtig angefühlt. Und mit Bakura an deren Seite … ich habe das Gefühl, wenn diese Karten in die falschen Hände fallen …“ „Und meine Hände sind nicht die falschen?“, wollte Kaiba interessiert wissen.
 

„Du konntest es lesen, nicht wahr?“, stellte Atem nüchtern fest, „ich meine den Text auf den Karten. Ich habe es gleich gemerkt. Du warst dir nicht einmal darüber bewusst, dass es sich um eine andere Schrift handelt.“ „Gut aufgepasst, du Blitzmerker“, konterte Kaiba ärgerlich. Aber zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er es Atem nicht wirklich übelnahm, dass er ihn enttarnt hatte.
 

Atem rollte pikiert mit den Augen. „Du hast irgendeine Verbindung zu meinem Leben in der Vergangenheit, hab ich Recht?“ Seto ließ ein knurrendes Geräusch vernehmen. „Das höre ich ständig von euch Spinnern. Aber keiner hat mich je danach gefragt, ob ich das überhaupt will. Ich lebe im Hier und Jetzt und mein Handeln ist auf die Zukunft gerichtet, damit wir uns da richtig verstehen!“ Kühl wandte er sich zum Gehen.
 

„Und doch wolltest du mich zurückholen“, sagte Atem ganz ruhig. Seto hielt inne und wandte sich um. Ihre Blicke trafen sich und Seto spürte deutlich, wie Atem in seinen Augen nach etwas suchte, es förmlich aus ihm herausreißen wollte. Er fühlte sich von innen nach außen gekehrt. „Obwohl ich in mehrfacher Hinsicht ein Teil deiner Vergangenheit war. Wieso dann also, wenn du dich doch von ihr so unbedingt abwenden willst?“, hakte er unnachgiebig nach. Als Seto dem Blick nicht länger standhalten konnte, verließ er wortlos den Raum und ließ den Pharao stehen. Eine Antwort blieb er ihm schuldig.
 

***
 

In seinem Zimmer ließ Atem sich auf sein Bett fallen und stützte den Kopf in beide Hände. Er fühlte sich hilflos. Wie war nur alles soweit gekommen? Und wieso war ihm, von allen Personen, die er aus seiner eigenen Zeit kannte, ausgerechnet Bakura an diesen Ort gefolgt? Schon wenn er nur an den Grabräuber dachte, brodelte heiße Wut in ihm hoch und er musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu fluchen. Es war nicht nur, dass Bakura für alles stand, was er verabscheute, nein, er hatte auch seinen persönlichen Stolz verletzt – und Atem würde sich ewig vorwerfen, dass es dazu hatte kommen können.
 

Er fuhr hoch, als es plötzlich an der Tür klopfte. Vorsichtig öffnete sie sich einen Spalt breit und Mokuba lugte herein. „Atem, das Abendessen ist fertig. Außerdem hat Seto gesagt, dass er nach dem Essen Zeit für einen Crashkurs in Duel Monsters hat.“ Atem ließ sich erschöpft wieder aufs Bett sinken. „Mokuba, ich verzichte heute aufs Essen. Ich möchte lieber gleich zu Bett gehen. Du kannst deinem Bruder ausrichten, dass mir jetzt nicht der Sinn nach Kartenspielen steht.“ Der jüngere Kaiba nickte entschuldigend. Atems herrschaftlicher Tonfall ließ keine Widerrede zu, eine Haltung, die er wohl über viele Jahre perfektioniert hatte. Mit einem „In Ordnung. Ich sag es ihm. Gute Nacht dann“ überließ Mokuba ihn sich selbst.
 

Atem lag noch lange da und grübelte nach. Auch wenn er es gerne verhindert hätte, so kamen doch unangenehme Erinnerungen in ihm hoch.
 

***
 

Alles hatte damit begonnen, dass Mahad eines Tages einen ungewöhnlichen und vor allem ungebetenen Gast im Palast angekündigt hatte. „Wer sagst du?“, hatten Isis, Karim und Shada im Chor gefragt, „Bakura? Etwa der Grabräuber Bakura?“ „Kennt ihr noch einen anderen?“, hatte Mahad ungeduldig erwidert. Dann hatte er sich an Atem gewandt, „Pharao, ich kann ihn wegschicken, wenn Ihr es gebietet. Sagt nur ein Wort und ich weise ihn auf der Stelle ab.“ Atem hatte kurz den Kopf gesenkt. Die Situation war mehr als ungewöhnlich. Schließlich hatte er Mahad entschlossen angesehen. „Nein, führt ihn her. Ich will hören, was er zu sagen hat.“ „Pharao, seid Ihr sicher …“, hatte Hohepriester Seth protestiert, aber Atem hatte die Hand gehoben, um ihm zu bedeuten, dass er schweigen solle. „Ich habe mich bereits entschieden.“

IV


 

IV
 

„Welch Ehre!“, schnarrte Bakura, als er lässig, die Hände in die Hüften gestemmt, den Thronsaal betrat, „Wer hätte gedacht, dass Ihr mich empfangen würdet, Eure Lächerlichkeit?“ Atem saß auf seinem Thron und verzog keine Miene. „Wenn du noch die Gelegenheit dazu haben willst, dein Anliegen vorzubringen – falls du überhaupt eines hast, das Hand und Fuß besitzt –, solltest du auf dein Geschwafel verzichten und gleich zur Sache kommen!“, knurrte er. Atems Leibwächter standen schützend vor ihm und beäugten Bakura mit so viel Ekel, als sei er ein übergroßes Insekt.
 

„Schon gut, schon gut“, Bakura zauberten die herablassenden Blicke nur ein breites Grinsen auf die Lippen, „aber Ihr solltet Euch lieber genau überlegen, ob Ihr mich wegschickt oder einsperren lasst, Euer Untersetztheit. Denn ich habe Euch ein Angebot zu unterbreiten, dass Ihr vielleicht nicht so einfach ablehnen könnt.“ „Was für ein Angebot soll das sein?“, Atem lehnte sich ein wenig nach vorne, blieb aber betont desinteressiert „Sprich! Na los!“
 

Bakura seufzte. Dann schritt er langsam auf die Stufen zu, die zu Atems Thron hinaufführten, und ließ sich bequem darauf nieder. Die sechs Träger der Milleniumsgegenstände spannten ihre Muskeln an, auf alles gefasst. „Immer mit der Ruhe. Ihr müsst schon etwas Geduld an den Tag legen und mir aufmerksam zuhören, Pharao. Sonst platzt der Handel auf der Stelle. Und pfeift Eure Schoßhündchen zurück.“ Der Pharao machte seiner Leibgarde ein Zeichen, zu warten, schwieg aber pikiert und entgegnete nichts. Noch immer war Bakura am Zug, sich zu erklären, und wenn er ihn ködern wollte, hatte er mehr vorzubringen als heiße Luft. Als der Grabräuber merkte, dass er den König von Ägypten nicht zu weiteren giftigen Reaktionen bewegen konnte, wandte er sich, noch immer lächelnd, um und räusperte sich vernehmlich.
 

„Vielleicht ist Euch zu Ohren gekommen, dass ich ab und an mal ein Grab links mache – nichts, weswegen man ein Fass aufmachen müsste.“ „Ach was. Das ist ja ganz was Neues“, entgegnete Atem trocken. „Jedenfalls … wie Ihr Euch auch sicher denken könnt, habe ich meine Augen und Ohren überall, damit ich immer zuverlässig erfahre, welche Ausbeute es wo zu ergattern gibt. Dabei ist mir unlängst etwas sehr Interessantes zugetragen worden. Im Grab Eures Urgroßvaters, Pharao Aksethem, befindet sich angeblich eine unbezahlbare Schrift. Eine Schrift, auf der zahlreiche Geheimnisse der schwarzen Magie enthüllt werden. Eine Schrift, die so wertvoll ist, dass Euer Vorfahre es für das Ratsamste hielt, sie mit ins Grab zu nehmen. Eine Schrift, für deren Inhalt ich demnach – offengesprochen – töten würde.“ Atem lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er glaubte Bakura das aufs Wort. Fassungslos wechselte er einen Blick mit Seth. Dessen Gesicht sprach Bände und Atem konnte sein zur Schau gestelltes „Ich hab’s Euch ja gesagt“ darin nicht überlesen.
 

„Und warum vertraust du ausgerechnet mir das an?“, fragte er dennoch kühl, „gibt es dir einen Kick, mir deinem nächsten Coup bereits anzukündigen, nur um dir dann ins Fäustchen zu lachen, wenn ich es nicht fertigbringe, ihn zu verhindern?“ Bakura lachte laut auf. „Kompliment, Euer Scharfsinnigkeit. Ihr kennt mich bereits recht gut.“ Atem schnaubte verächtlich. „Dennoch“, fuhr der Dieb fort, „so würde ich unter normalen Umständen tatsächlich handeln. Allerdings liegen die Dinge in diesem Fall etwas anders.“
 

So langsam wurde es dem Pharao zu bunt. Er erhob sich. „Komm endlich zum Punkt. Du hast meine Geduld lange genug auf die Probe gestellt.“ „Na schön, na schön“, seufzte Bakura, „normalerweise würde ich das Grab aufbrechen und plündern und das Schriftstück an mich nehmen. Allerdings bringt mich das kaum weiter, denn das Risiko, dass ich dabei das Zeitliche segne, ist einfach zu hoch. Denn nachdem ich Erkundigungen über Euren Urgroßvater eingeholt habe, habe ich herausgefunden, dass die Pyramide, die er entworfen hat, legendär ist. Und wisst Ihr auch warum, Pharao?“ „Weil man ihr nachsagt, sie sei ein Geniestreich der Pyramidenbaukunst“, rezitierte Atem aus seinem eigenen Geschichtswissen, „und dass niemand es jemals schaffen könne, in die Grabkammer vorzudringen. Die Schrecken, die dort auf Grabräuber warten, übersteigen die menschliche Vorstellungskraft.“
 

„Ich sehe, Ihr habt Eure Hausaufgaben gemacht und selbst bereits ein wenig Ahnenforschung betrieben“, schnarrte der Dieb amüsiert, „Seht Ihr. Und eben das ist mein Problem. Was soll ich mit der Schrift anfangen, wenn ich nicht lebend aus dem Grab rauskomme, um die Zauber, die darauf gebannt sind, für meine Zwecke zu nutzen?“
 

„Du hast Recht. Das wäre wirklich nur zu bedauerlich“, knurrte Atem. Wut kochte in ihm hoch. Gleichzeitig fragte er sich, was Bakura mit alldem hier bezwecken wollte. Wieso saß er jetzt überhaupt hier und musste sich diese unerhörten Respektlosigkeiten bieten lassen? Wo führte all das hin? „Bakura – was willst du von mir?“, fragte er schließlich grimmig. „Ich will“, sagte Bakura und verhakte dabei den unangenehmen, durchdringenden Blick seiner hellen Augen mit den tiefroten Augen des Pharaos, bis dieser sich ausgeliefert und unbehaglich fühlte, „dass Ihr mir helft, die Mechanismen in der Pyramide zu überlisten. Ich weiß, dass in Eurer Palastbibliothek Aksethems Baupläne aufbewahrt werden. Und um Eurer Frage zuvorzukommen, was für Euch dabei herausspringt: Ich weiß aus sicherer Quelle, dass die Schrift, um die es mir geht, wichtige Hinweise zu Euren sieben Milleniumsgegenständen beinhaltet. Ich schlage Euch also einen Tausch vor: Ihr gebt mir die Baupläne und ich überlasse Euch nach dem geglückten Raub die Schrift – natürlich nachdem ich mir alles Wissen daraus angeeignet habe, das ich brauche. Das ist mein Angebot. Deshalb bin ich hergekommen.“
 

Atem stand der Mund offen. Er hatte keine Worte für so viel Dreistigkeit. Er konnte kaum glauben, was er gehört hatte. Auch seine Leibwächter machten entsetzte Gesichter. „Das könnte dir so passen, du miese Ratte!“, begehrte Seth mit bebender Stimme auf. Der Pharao warf ihm einen warnenden Blick zu. Es war nicht an ihm, Bakura zu antworten.
 

Alle blickten ihren Herrscher erwartungsvoll an, aber noch immer schwieg Atem. „Kommt schon. Eure Einfältigkeit“, säuselte Bakura, „ich weiß, wie sehr Ihr danach trachtet, mehr über die sieben Gegenstände zu erfahren. Hier ist Eure Chance. Ihr müsst sie nur ergreifen.“ Atem biss sich auf die Unterlippe. Es stimmte. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nichts davon, dass sein Onkel die Milleniumsgegenstände erschaffen hatte und unter welchen Umständen dies geschehen war. Auch war ihm wenig über Ihre Eigenschaften und Kräfte bekannt. Dass ihnen dennoch eine immense Magie innewohnte, die er nicht im Geringsten begriff und die er begrüßte und fürchtete zugleich, trieb ihn bereits seit Längerem um. Und doch war der Preis dafür, diese Informationen zu bekommen, unbezahlbar. Es ging um seine Werte, seine Integrität und das Vertrauen, das seine Untergebenen in ihn setzten.
 

„Mein König?“, fragte Isis zaghaft, als er nur stumm dasaß. Die Ansprache ließ ihn aus seinen Gedanken schrecken. „Ich erbitte mir ein wenig Bedenkzeit“, presste er schließlich hervor. „Was?!“, rief Seth fassungslos aus. Ein zufriedenes Grinsen lag auf Bakuras Lippen. Atem wusste, dass der Grabräuber sich nur zu gut darüber bewusst war, dass er ihn genau da hatte, wo er ihn haben wollte. Dass er bereits angebissen hatte und nun an seinem Haken zappelte. Es war demütigend. Wortlos ließ er den Dieb und sein Gefolge stehen und verließ den Thronsaal.
 

***

Schweißgebadet fuhr Atem aus dem Schlaf. Für einige Sekunden wusste er nicht, wo er sich befand, war orientierungslos, nichts schien an seinem Platz zu sein. Dann jedoch kamen die Erinnerungen an die letzten Tage zurück. Ratlos blickte er auf die Zahlen der kleinen Maschine auf seinem Nachtschrank, von der Mokuba ihm gesagt hatte, dass sie die Zeit anzeigte. Doch er konnte sie nicht lesen. Seinem Gefühl nach musste der neue Tag jedoch noch eine Weile auf sich warten lassen. Ein fahler Mond erhellte den Raum und langsam schälten sich Umrisse der Möbel aus der Dunkelheit heraus.
 

Hellwach starrte er an die Decke und lauschte seinem eigenen hämmernden Herzschlag. Nur ein Traum, dachte er. Aber das stimmte nicht ganz. Bakura befand sich ebenfalls hier, in unmittelbarer Nähe, und das bereitete Atem ein mehr als mulmiges Gefühl. Die vergangenen Ereignisse waren ihm wieder nähergerückt, obwohl er so sehr gehofft hatte, er könne sie vergessen und müsste sich nie wieder mit ihren möglichen Folgen befassen. Aber insgeheim hatte er bereits gewusst, dass er sich nicht aus der Verantwortung ziehen konnte und wollte. Das all das ein Nachspiel haben würde.
 

Bei der Frage, warum der Grabräuber und er gemeinsam hierhergekommen waren, wurde ihm übel. Sicher hatte es alles mit seiner Entscheidung von damals zu tun. Sicher war dieser Spuk nicht vorbei. Atems Gedanken schweiften zu den beiden Karten, die er Seto gegeben hatte, und in seinem Hals bildete sich ein Kloß. „Ritual der Schatten“, er hatte das schon einmal irgendwo gehört. Wenn ihm nur einfiele, wo das gewesen war. Die Kreatur auf der anderen Karte waberte durch seinen Geist und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
 

Als er die Gedanken nicht mehr ertragen konnte, die in seinem Kopf umherwirbelten und ihn immer lauter anschrien, stand er auf und zog sich an. Leise öffnete er die Zimmertür und huschte hinaus. Er wollte sehen, ob er in der Küche etwas zu Trinken fand. Hätte er doch nur gewusst, wie man diesen magischen Krug bediente, mit dem man Wasser heiß zaubern konnte, dann hätte er sich einen Tee zubereiten können, der seine Nerven etwas beruhigte.
 

Als er durch den Flur tappte, bedacht darauf, kein Geräusch zu verursachen, fiel sein Blick auf den Türspalt von Setos Arbeitszimmer. Ein dünner Lichtstrahl schien hindurch. War der Hausbesitzer etwa noch immer bei der Arbeit? Atem rang kurz mit sich, er wollte keine unangenehme Begegnung herbeiführen oder Setos Zorn auf sich ziehen, wenn er ihn abermals störte. Aber schließlich überwog der Wunsch, sich abzulenken und jetzt nicht alleine mit seinen Gedanken zu sein. Vorsichtig klopfte er an.
 

Nachdem er keine Reaktion erhielt, drückte er zaghaft die Türklinke und schaute ins Zimmer. Seto schreckte sichtlich hoch. „Verdammt, was – tust du hier?! Du hast mich zu Tode erschreckt!“, fragte er verwirrt. Offenbar war er sehr vertieft in etwas gewesen. „Ich habe geklopft. Du hast nicht reagiert“, sagte Atem entschuldigend, auch wenn das keine Antwort auf Setos Frage war. Der Firmenchef rieb sich müde die Augen. „Es ist spät, wieso machst du nicht morgen weiter?“, schlug der Pharao vor. „Und du?“, Seto zog eine Augenbraue nach oben, „wieso schläfst du nicht?“ „Ach … ungewohnte Umgebung. Und ich kann nicht mehr schlafen“, Atem zuckte verlegen mit den Schultern.
 

„Das ist kein Wunder. Wenn du dich auch lieber schon nachmittags aufs Ohr haust, anstatt deinen Verpflichtungen nachzukommen und dich auf unser Duell vorzubereiten!“, schnarrte Seto ohne einen Hauch von Einfühlungsvermögen. Atem zog die Stirn kraus, überrascht über Setos gereizte Reaktion. War er etwa eingeschnappt, weil er seiner Einladung, dieses ach so wichtige Spiel zu lernen, am Abend nicht nachgekommen war? „Was willst du damit sagen?!", gab er mit leichter Empörung zurück, „Welche Verpflichtungen denn? Denkst du etwa, ich bin dir diese blöde Kartenpartie schuldig? Ich habe im Augenblick wesentlich wichtigere Dinge im Kopf als ein albernes Kinderspiel! (Bei den letzten Worten zog Seto scharf die Luft ein.) Wenn überhaupt lerne ich es nur, weil es dir unerklärlicher Weise so sehr am Herzen liegt! Sieh es also als einen Freundschaftsdienst von mir an.“
 

„Pah“, Seto schnaubte verächtlich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, „Ich könnte mich nicht erinnern, dass wir Freunde sind. Glaubst du etwa allen Ernstes, ich würde dich hier logieren lassen, wenn dieses Duell zwischen uns nicht noch ausstünde? Aber bitte, wenn es dir eine solche Pein ist oder du zu viel Schiss hast, gegen mich anzutreten, dann sag das doch gleich. Du kannst auch gerne unter der Domino Bridge nächtigen, wenn dir das lieber ist.“ „Willst du mich jetzt etwa erpressen?“, fragte Atem mit bebender Stimme und baute sich vor Seto auf, „Du hättest ohnehin nicht die geringste Chance in diesem Duel-was-auch-immer-Spiel gegen mich, lass dir das ruhig gesagt sein. So wie ich es verstehe, hast du ja bisher nicht sonderlich gut gegen mich bestanden. Also sei lieber froh, dass ich dir das bisher erspart habe.“
 

„Warum hast du dann solche Angst davor, wenn du nichts vor mir zu befürchten hast?“, stellte Seto herausfordernd die Gegenfrage. „Ach, hör schon auf mit dem Imponiergehabe", Atem zeigte sich unbeeindruckt, „Was regst du dich so auf? Morgen lerne ich von mir aus die zwei, drei Regeln und dann werden wir ja sehen, wer von uns der Bessere ist.“ „Das wird nicht möglich sein“, sagte Seto nüchtern, „morgen hast du keine Zeit zum Lernen.“ „Was? Aber … warum denn nicht?“, wollte Atem verdutzt wissen. „Weil wir morgen einen kleinen Ausflug machen. Also, an deiner Stelle würde ich versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen.“
 

Damit erhob sich der Besitzer der KaibaCorporation, schaltete seinen PC aus und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Warte einen Augenblick“, sagte Atem, „Warum läufst du ständig nur vor dir selbst davon, statt dich mal ein paar unangenehmen Dingen zu stellen? Und eine Antwort bist du mir heute Nachmittag auch schuldig geblieben: Warum wolltest du mich zurückholen, wenn dir doch alles so zuwider ist, was mit mir und mit deiner Vergangenheit zusammenhängt?“ Seto blieb für einen Augenblick stumm, dann sagte er leise, aber mit frostiger Stimme, „Genau aus diesem Grund: Weil ich die Vergangenheit ruhen lassen will. Ich wollte ein für alle Mal mit dir abschließen. Ich bin es leid, dass du in meinem Kopf spukst und meine Gegenwart beeinflusst. Ich wollte dich endlich zum Schweigen bringen, indem ich dich vernichtend schlage. Und auch wenn die Dinge jetzt etwas anders liegen: Genau das werde ich auch nach wir vor tun, verlass dich darauf, Pharao.“
 

Dann verließ er das Zimmer und wieder blieb Atem allein zurück.


 


 

V


 

V

Als Seto müde in sein Bett fiel, hatte ihn ein seltsames Gefühl übermannt. Er verspürte ein unangenehmes Ziehen in seinem Bauch. Dennoch hatte er den vagen Verdacht, dass das kein Grund war, um einen Arzt aufzusuchen, sondern dass sich – und wenn es noch so abwegig schien – sein Gewissen bemerkbar machte. Womöglich war er mit seinen harschen Worten dem Pharao gegenüber doch ein wenig zu ausfallend gewesen.
 

So ganz wusste er selbst nicht, was in ihn gefahren war. Er war wohl schlichtweg übermüdet gewesen und dieser Kerl hatte ihn einfach aufgestachelt mit seinen impertinenten Fragen. Er konnte es nicht erklären, aber seit jeher brachte ihn die Anwesenheit von Yugis anderem Ich innerlich zum Kochen. Eine tiefe Unruhe befiel ihn jedes Mal, wenn er in seiner Nähe war, und er wusste nicht, warum. Er hatte so sehr gehofft, dass er dieses Gefühl endlich würde abschütteln können, wenn er diesen langersehnten Sieg gegen ihn errang. Aber davon schien er nun ebenfalls weit entfernt, da Atem die Tragweite von Duel Monsters einfach nicht zu begreifen schien – oder sie sogar mit Absicht dementierte, um ihn zu ärgern.
 

Und dann waren da die beiden Karten, auf die Atem ihn aufmerksam gemacht hatte. Seit die infantile Rasselbande am Nachmittag die Villa verlassen und Seto sich in sein Büro zurückgezogen hatte, lagen sie auf seinem Schreibtisch und schienen irgendwie seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seto konnte das Gefühl nicht beschreiben, das ihn überlief, wenn er die Schrift betrachtete, so vertraut und doch fremdartig. Ein ähnliches Gefühl hatte er auch damals gehabt, als er den Text auf dem Geflügelten Drachen des Ra hatte entziffern können, als Bakura ihm das Milleniumsauge überlassen hatte und schließlich als sein Geist in die Erinnerungen des Pharao gezogen worden war. Eigentlich in allen Situationen, in denen der Pharao zugegen gewesen war, ob bei ihrem gemeinsamen Duell gegen Dartz oder bei dem gegen Anubis.
 

Zum letzten Mal hatte er es dann beim finalen Spiel zwischen Yugi und dem Pharao wahrgenommen. Danach war es lange ferngeblieben und Seto hatte sich gefühlt, als habe man ihm einen Teil seines Lebens entrissen. Diese dämliche antike Magie, so verhasst sie ihm auch war, war tatsächlich zu einem Teil von ihm geworden. Als er schließlich das Milleniumspuzzle zurückgeholt hatte, war es gewesen wie nach Hause kommen. Als ob die Dinge plötzlich wieder zurechtgerückt waren. Er hatte sich vollständig gefühlt. Und dieses Gefühl hielt an, seit er Atem in seinem Haus untergebracht hatte.
 

Als er beim Arbeiten diese Karten angestarrt hatte, war diese rätselhafte Magie schließlich wieder dagewesen. Die Zeichen auf dem Papier waren so lebendig gewesen, als wollten sie ausgesprochen werden. Er verabscheute die Existenz dieser Karten, aber gleichzeitig wurde er magnetisch von ihnen angezogen. Er wusste nicht, wie lange er ins Grübeln versunken gewesen war und die beiden Spielkarten taxiert hatte. Endlich hatte er realisiert, dass er so nicht weiterkam, wenn er an diesem Tag noch irgendwie produktiv sein wollte. Deshalb hatte er einen Entschluss gefasst: Er würde versuchen, mehr über diese Unbekannten im Duel Monsters-Universum herauszufinden. Vielleicht konnte er in Erfahrung bringen, welche Bewandtnis es mit ihnen hatte und warum sie bei ihm aufgetaucht waren. Und er wusste auch genau, wo er mit seiner Suche beginnen musste. Aber alles zu seiner Zeit.
 

Nachdem er dies entschieden hatte, hatte er sich besser gefühlt und sich wieder konzentriert seiner Arbeit widmen können. So hatte er nicht wahrgenommen, wie spät es bereits geworden war, bis Atem schließlich hereingeplatzt war. Nachdem sie in dieser Nacht nicht gerade im Guten auseinandergegangen waren, beschloss er, das Grübeln für heute lieber sein zu lassen und seine Energie auf den morgigen Tag zu konzentrieren.
 

***

„Du darfst dich gleich nicht erschrecken“, sagte Seto ungerührt, während er den Gurt um Atems Mitte festzog. Dann ließ er sich auf dem Sitz neben ihm wieder und drückte willkürlich, wie es Atem schien, auf einige der Knöpfe, die sich vor ihm befanden. „Was könnte mich jetzt noch erschrecken?“, murmelte sein Gast zynisch. Nachdem er die Fahrt in der Limousine überstanden hatte, hatte er den Eindruck, ihn könne so schnell nichts mehr schocken. In einem fahrenden Haus an vielen anderen fahrenden Häusern durch eine Stadt zu rollen, die aus vielen seltsam geformten Pyramiden bestand, die endlos in den Himmel ragten, war so ziemlich das Verrückteste, was man erleben konnte. Viel schlimmer konnte es nicht mehr kommen, oder?
 

Oh doch. Es konnte. Atem saß mit einem Mal wie versteinert und krallte mit aller Kraft seine Hände in die Armlehnen, als Seto einen Hebel nach hinten zog, das Gefährt unter ihnen monströs zu jaulen und zu knurren begann und schließlich, als es ein schwindelerregendes Tempo erreicht hatte, in Schräglage ging, mit der Schnauze nach oben den sicheren Boden verließ und in den Himmel aufstieg. Noch dazu sah ihr fliegender Untergrund haargenau aus wie ein großes, blausilbernes Ungeheuer mit Flügeln. Befanden sie sich etwa in einem lebenden Geschöpf? Seto warf einen Seitenblick zu seinem Passagier hinüber, der trotz seines dunklen Teints leichenblass geworden war. „Bei den Göttern“, wisperte er, „das ist Blasphemie! Wir können nicht nach dem streben, was nur den Göttern gestattet ist!“
 

Seto konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Und ob ich das kann!“, feixte er, „Es gibt nämlich nichts, was ein Kaiba nicht kann! Meine Genialität und die entsprechende Technik machen es möglich!“ Atem hielt sich mittlerweile die Augen zu. „Sag mir einfach, wenn es vorbei ist“, presste er hervor. Seto lachte laut auf. „Ich sagte doch, wir machen einen Ausflug!“ „Woher sollte ich wissen, dass das wörtlich zu verstehen ist?!“, murmelte Atem. „Du solltest lieber die schöne Aussicht genießen. Hier kannst du richtig was von unserer Welt sehen. Bis wir da sind, dauert es ohnehin eine ganze Weile. Also arrangiere dich lieber mit der Situation“, riet ihm der Besitzer der Kaibacorp. „Meldet euch, wenn ihr ankommt!“, rief Mokuba ihnen von unten durch zum Trichter geformten Hände zu. Seto winkte ihm zur Bestätigung, dann wurde der jüngere Kaiba immer kleiner und kleiner und war schließlich nur mehr ein winziger Punkt.
 

Erst nachdem Atem sich nach und nach ein wenig entspannt und seine verkrampfte Haltung abgelegt hatte, schien ihm einzufallen, dass sie ja in der gestrigen Nacht in so etwas wie einem Streit auseinandergegangen waren und er Seto die Dinge noch immer übelnahm, die er ihm an den Kopf geworfen hatte. „Wo wollen wir eigentlich hin?“, fragte er deshalb mürrisch und betont desinteressiert. „Dahin, wo wir etwas über diese beiden Karten rausfinden können“, antwortete Seto fast beschwingt. Atem blinzelte ihn verblüfft an. „Oder willst du etwa nicht wissen, was es mit ihnen auf sich hat?“ „Dann spürst du also auch, dass es damit eine Bewandtnis hat?“, fragte Atem ernst. „Blödsinn!“, log Seto, „Ich hatte nur den Eindruck, dass du gestern besorgt warst deswegen. Warum sonst hast du die Karten für Yugi und vor diesem Zausel Bakura vertuscht?“
 

„Ich verstehe dich nicht“, sagte der Pharao kopfschüttelnd, „jetzt ganz plötzlich tust du mir einen Gefallen, obwohl du doch eine Firma zu leiten hast? Aber warum, wenn du doch von alldem nichts wissen willst und angeblich auch nichts Ungewöhnliches spürst?“ „Naja“, sagte Seto nüchtern, „betrachte es als Investment. Wenn ich dir entgegenkomme, vielleicht bist du dann ja doch bereit, dich auf unser Duell vorzubereiten.“ Atem verdrehte genervt die Augen. „Geht das wieder los.“ Dann jedoch schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. „Warte mal: Wenn ich’s mir recht überlege: Heißt das etwa, ich habe dich in der Hand und kann alles von dir verlangen, nach was mir der Sinn steht?“ „Werd nicht übermütig“, knurrte Seto und schluckte, verunsichert darüber, wie er Atems Aussage zu verstehen hatte. „Schau lieber mal aus dem Fenster, du verpasst sonst was!“, wechselte er geschickt das Thema.
 

Atem blinzelte hinaus und sofort stand ihm der Mund offen. Tatsächlich hatte er über ihre Diskussion seine anfängliche Todesangst vollkommen vergessen. Jetzt gerade flogen sie in gleißende Sonnenstrahlen, die sich unter ihnen in einem Fluss brachen, der sich durch eine saftig grüne Bergkette zog. Um ihr Gefährt schmiegten sich watteweiche Wolken. Atem hatte das Gefühl, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben. „Unglaublich!“, flüsterte er ehrfürchtig, „und alles sieht so anders aus als in Ägypten!“ Seto musste unwillkürlich lächeln. Die Ästhetik dieser Flüge war für ihn bereits Routine und er hatte fast vergessen, was sie in anderen auslösen konnte.
 

Eine Weile blickte Atem stumm aus dem Fenster, völlig absorbiert von dem Anblick, der sich ihm bot. Irgendwann jedoch begann er erneut ein Gespräch mit seinem Gastgeber und vergaß darüber ganz die Zeit. Er hätte nicht sagen können, wie lange sie schon unterwegs waren.
 

***

Für Seto gab es nichts Entspannenderes, als seinen Jet zu fliegen. Leider kam er viel zu selten dazu, deshalb genoss er es jetzt umso mehr, eine längere Strecke am Steuer zu sitzen und einfach seine Gedanken schweifen zu lassen. Viele hatten sich schon über die plakative und gewöhnungsbedürftige Form seines Weißer-Drachen-Jets lustiggemacht, das war ihm bewusst. Aber das prallte von ihm ab. Er liebte Technik in einzigartiger Optik.
 

„Alles klar. Und … wie viele Zauber- und Fallenkarten sollte man denn in einem Deck haben?“, wollte Atem gerade interessiert wissen. „Naja“, sagte Seto, „das kommt aufs Deck an. Aber die Faustregel ist: Ein Viertel Zauber- und Fallen zusammengenommen kommen auf drei Viertel Monster. Du siehst nämlich alt aus, wenn du ein Blatt ohne Monster hast. Das solltest du um jeden Preis vermeiden. Bei einem normalen Deck zumindest, nicht bei einem speziellen Structure Deck.“ Der Pharao nickte. „Verstehe. So ist das.“
 

Ein Lächeln schlich sich auf Setos Lippen. „Siehst du, nun weißt du doch schon einiges über die Regeln. Und du kannst es nicht wieder aus deinem Gedächtnis löschen.“ Im Laufe des Fluges hatte er seinen Erzrivalen geschickt in ein Gespräch über Duel Monsters verwickelt und sich schon zu den Grundregeln vorgearbeitet, obwohl er sich eigentlich sicher war, dass dieser es bemerkt, aber ihn nicht daran gehindert hatte. Atem lächelte nun ebenfalls verschmitzt und Setos Herz schlug ein wenig schneller, wofür er sich innerlich sofort schalt. „Nur weil ich die Regeln kenne, muss ich noch nicht gleich spielen. Ich habe ja auch gelernt, wie man kämpft, und muss deshalb noch lange keinen Krieg führen.“
 

„Und was machst du eigentlich den ganzen Tag so als Pharao, wenn du keine Kriege führst?“, rutschte es Seto heraus. Jetzt lachte Atem. „Ich höre Bittsteller an, prüfe Verträge, verhandle mit Gaufürsten, übe mich im Kampf, bilde mich politisch und kulturell weiter, veranstalte Feste und berate mit meinen Leibwächtern, zum Beispiel mit meinem obersten Hohepriester.“ „Seth, richtig?“, wollte Seto wissen. Bei dem Gedanken an den hochgewachsenen Hohepriester, der sein Gesicht trug, wurde ihm seltsam mulmig zu Mute. „Ja, ganz recht“, sagte Atem und ein wehmütiger Schleier legte sich kurz über seinen Blick. Doch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
 

„Wie auch immer – wir sind gleich da“, räusperte Seto sich. Atems Blick schnellte nach vorn. Sie steuerten jetzt auf ein Stück Land zu, das mitten im Wasser lag. Eine Insel, wurde dem Pharao klar. Etwa wie Zypern, mit dem er schon Handel getrieben hatte. „Und wo ist denn nun ‚da‘?“, wollte er fordernd wissen. „Wir statten dem Mann einen Besuch ab“, sagte Seto, „der das Kartenspiel erfunden hat.“ „Ein erwachsener Mann hat sich das ausgedacht?“, fragte Atem ungläubig. „Ob er besonders erwachsen ist, sei mal dahingestellt“, frotzelte Seto, „und wundere dich nicht. Er ist ein wenig … speziell.“ »Aber im Grunde ist das ja jeder von uns«, fügte er noch in Gedanken hinzu.
 

Wenige Minuten später setzte Seto den Jet gekonnt sanft auf dem Boden auf. Sie hatten wieder Land unter den Füßen. Atem blickte staunend zu den endlosen Stufen hinauf, die zu einem riesigen Gebäudekomplex führten. „Ein Palast. Ist er etwa ein König?!“ „Ein selbsternannter vielleicht. Das hier nennt er zumindest das Königreich der Duellanten.“
 

Hoch über ihnen öffnete sich jetzt bereits das große Eingangstor und von Weitem sahen sie, wie ein Mann mit langem, silbernem Haar, gekleidet in einen weißen Anzug, heraustrat. „Sieh einer an! Wenn das nicht der kleine Kaiba ist – und der verloren geglaubte Pharao-Boy!“, rief er ihnen zu. Begeistert breitete er beide Arme aus.


 


 


 


 


 


 

VI


 

VI

„Warum denn nicht?!“ Bakura saß auf Ryous Bett und schmollte. „Ich habe dir doch gesagt, weil das verdächtig wäre, wenn ich plötzlich mehr als die doppelte Portion von dem esse, was ich für gewöhnlich brauche! Meine Mutter stellt ja jetzt schon unangenehme Fragen darüber, wieso ich so einen gesunden Appetit entwickelt habe!“, entgegnete Ryou streng. Bakura brummelte etwas Unverständliches, woraus lediglich die Wörter „Hunger“ und „Burger“ deutlich herauszuhören waren. „Außerdem ist es hier total öde! Mir passt es gar nicht, dass du mich hier gefangenhältst! Ich bin ein Freigeist und lasse mir keine Vorschriften machen“, verkündete er, während er sich nach hinten in die Kissen fallen ließ.
 

Sein Ebenbild baute sich bedrohlich vor ihm auf. „Das ist ja wohl nicht mein Problem! Sei froh, dass du überhaupt ein Dach über dem Kopf hast! Was denkst du, was hier los wäre, wenn meine Mutter plötzlich glauben müsste, dass sie doppelt sieht! Solange du hier bist, musst du eben etwas zurückstecken!“ Er wunderte sich selbst darüber, dass er seinem ehemaligen/zukünftigen Alter Ego so tapfer die Stirn bot. Doch irgendetwas war anders an ihm. Der Grabräuber war nach wie vor durchtrieben, aber die dunkle Energie, die von ihm ausgegangen war, als Zorc ihn getrieben hatte, hatte ihn noch unberührt gelassen. Zum ersten Mal hatte Ryou das Gefühl, den Menschen hinter dem bösen Prinzip zu sehen, das ihn damals heimgesucht und die Kontrolle über seinen Körper erlangt hatte.
 

„Und du bist dir sicher, dass es hier keine Gräber gibt, die man … besichtigen könnte?“ „Ja!“, sagte Ryou bestimmt, „glücklicherweise ist es in unserer Kultur nicht üblich, Menschen mit all ihren wertvollen Besitztümern zu begraben. Alles, was es bei uns auf den Friedhöfen zu stehlen gibt, sind olle Grablichter.“ Bakura ließ ein Murrendes Geräusch vernehmen. „Da du offenbar so sehr von Langeweile geplagt bist, hört es sich fast so an, als hättest du tatsächlich nicht den geringsten Schimmer, warum du hier bist“, schloss der Kleinere der beiden verwundert. „Ich hab dir doch gesagt, ich weiß es nicht!“, knurrte Bakura genervt. „Sicher?“, hakte Ryou mit hochgezogener Augenbraue nach, „keine geheime Agenda? Kein Masterplan?“ „Du bist ja echt ne Nervensäge. Mir graut schon davor, wenn ich es, wie du sagst, einige Jahre mit dir aushalten muss!“ Doch dann hielt er plötzlich inne und hob den Kopf. Er erhob sich und trat ans Fenster.
 

„Was ist los? Was hast du?“, fragte Ryou verunsichert. „Nichts, es ist nur … ich spüre etwas. Und irgendwie kenne ich dieses Gefühl …“ Angestrengt blickte er zum Himmel, an dem in der Abenddämmerung einige dunkle Wolken aufzogen, „aber vielleicht bilde ich es mir auch nur ein“, schloss er schließlich. Doch der ernste Ausdruck auf seinem Gesicht wollte Ryou nicht recht gefallen. »Pharao, kannst du es auch spüren?«, fragte der König der Diebe in Gedanken.
 

***

Doch Atem befand sich weit entfernt und spürte gerade nur Pegasus eindringlichen Blick auf sich. „Das ist einfach nur superb!“, trällerte der Inselbesitzer entzückt, „Ich glaube es nicht! Du bist es leibhaftig, Pharao! Lass dich ansehen! Nette Bräune, steht dir wunderbar! Croquet, bring uns doch noch eine Flasche unseres besten Weins, sei so gut. Die Rückkehr des Pharaos muss gefeiert werden!“ Derjenige, der Pegasus Euphorie ausgelöst hatte, lehnte sich leicht zu Seto hinüber und flüsterte ihm ungläubig und mit erhobener Augenbraue zu: „Und den da soll ich gekannt haben?“ „Ja, unfreiwillig“, entgegnete sein Begleiter, ohne eine Miene zu verziehen, „erst hat er dich gezwungen an seinem Turnier teilzunehmen, um mit Hilfe deines Puzzles seine tote Frau wieder zum Leben zu erwecken, dann hat er Mokubas und meine Seele in Karten eingesperrt und wollte dich in einem Spiel der Schatten schlagen – aber am Ende wurde er dein Freund und das alles war Schnee von gestern.“
 

Er konnte zusehen, wie Atems Augenbraue immer höher wanderte und er langsam den Kopf schüttelte. „Aber im Grunde ist er kein schlechter Kerl“, ergänzte er noch, „du warst mit ehemaligen Feinden befreundet, die wesentlich geistesgestörter waren. Tja, ich habe eure merkwürdige Clique, die ständig um die skurrilsten Gestalten erweitert wurde, in dieser Hinsicht ohnehin nie verstanden.
 

„Kaiba-Boy, welche Laus ist dir nur über die Leber gelaufen? Lach doch mal ein bisschen! Immerhin ist dir dein Herzenswunsch erfüllt worden, der deine Leidenschaft entfacht hatte, das Unmögliche möglich zu machen! Wie literarisch! Besser als jeder Groschenroman!“, sprach der Hausherr ihn nun direkt an und erhielt zur Antwort nur ein genervtes Grummeln. „Wir sind nicht hergekommen, um uns die wirren Phantasien eines Einsiedlers anzuhören, Pegasus. Wir haben ein Anliegen. Also lass uns endlich zur Sache kommen!“
 

„Und das werden wir auch, kleiner Kaiba. Ich bin schon sehr gespannt, warum ihr den weiten Weg hierher auf euch genommen habt. Aber zuerst will der Pharao bestimmt eine kleine Besichtigungstour machen. Und danach sollten wir etwas essen. Ihr seid sicher hungrig.“ „Du ziehst die Sache nur unnötig in die Länge! Wenn du hier einsam bist, ist das nicht unser Problem!“, Setos Stuhl quietschte, als er sich ruckartig erhob und seine flachen Hände auf die Fläche der großen Tafel donnern ließ. „Also – um ehrlich zu sein hätte ich wirklich etwas Hunger“, sagte Atem belustigt und grinste Seto an, „warum schaltest du nicht mal ab, anstatt immer nur einem straffen Zeitplan hinterherzueilen?“ „Meine Rede! Hör auf deinen unerreichten Rivalen!“, nickte Pegasus zufrieden.
 

***

So kam es, dass Seto zuerst eine Besichtigung von Burg Pegasus, die Atem gebührlich bestaunte, und schließlich eine Fahrt in einem Jeep durch die Ländereien über sich ergehen lassen musste. Es dämmerte bereits, als die beiden Gäste erschöpft wieder an der Tafel saßen und auf eine Fülle an Speisen blickten. Seto hatte Pegasus unwirsch beschuldigt, von Anfang an geplant zu haben, sie hier festzusetzen, sodass sie über Nacht bleiben mussten. „Ach, Kaibalein“, hatte dieser nur verschmitzt gelächelt, „gib doch zu, dass du auch froh über etwas Gesellschaft bist!“ „Ja, und zwar über erwachsene Gesellschaft im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, die ihre Zeit nicht mehr mit Cartoons verbringt!“, hatte dieser gekontert und Atem musste kichern ob dieser fortwährenden Wortgefechte.
 

Draußen krochen jetzt die Schatten über die Burgmauern, aber drinnen umgab sie ein sanftes Licht. In der Mitte der Tafel flackerten zahlreiche Kerzen in elegant verzierten Leuchtern. Pegasus hatte sich entschuldigt, da er sich frischmachen und später zu ihnen stoßen wollte. In der Zwischenzeit solle es ihnen an nichts fehlen. Atem nippte entspannt an einem Glas Wein und wollte dann einen Bissen von einer der Speisen nehmen, die ihm alle unbekannt waren. Gerade, als er seine Gabel zum Mund führte, spürte er eine Berührung an seinem Handgelenk und sah überrascht auf. „Das solltest du nicht tun“, sagte Seto bestimmt, „es ist nämlich heiß. Du erschrickst dich sonst nur wieder und jammerst mir was vor.“
 

Verblüfft ließ Atem die Gabel sinken. „Danke“, sagte er leise und lächelte Seto, dessen barsche Worte seine Besorgnis nicht kaschieren konnten, dankbar an. Ein warmes, vertrautes Gefühl überkam ihn. Er konnte es nicht verhindern, dass er sich erneut an Seth erinnert fühlte, obwohl er wusste, dass Seto und der Hohepriester völlig verschiedene Personen waren. Und bevor er sie daran hindern konnte, jagten dieses positive auch alle negativen Gefühle, die damit verbunden waren. Die Scham, die Enttäuschung und die Einsamkeit, die er bisher recht erfolgreich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins gedrängt hatte.
 

***

Es war bereits Abend geworden und Stille hatte sich über den Palast gelegt. Die Sonne versank am Horizont und hinterließ den Himmel in einem schwachen Hellblau, eine erfrischende Brise strich sanft über Atems Gemächer und holte den Pharao aus seinen Grübeleien. Verdammt, schon so spät. Gerade erhob er sich seufzend und wollte zu seinem Ankleidetisch hinübergehen, als er Schritte hinter sich vernahm. „Pharao, bitte entschuldigt die Störung“, kündigte Seth sein Eintreten an. „Seth, aber nein, ich wollte gerade …“, Atem brach im Satz ab. „Seid Ihr wohlauf?“, erkundigte sich der Hohepriester diplomatisch. Atem nickte.
 

Er hatte seine Gedanken in eine Sackgasse gesteuert und wieder und wieder versucht, alles rational durchzugehen. Und was noch viel wichtiger war: Er hatte versucht, das Gefühl in seinem Inneren zu ignorieren, das ihn aufdringlich beschwor, Bakuras Angebot anzunehmen und den Handel einzugehen. So gern er auch seinem Wunsch gefolgt wäre, mehr über die Milleniumsgegenstände in Erfahrung zu bringen, um ihre Magie zu verstehen, durfte er es sich doch nicht erlauben, sich bei seinen Entscheidungen einfach seinen Launen hinzugeben. Er hatte Verpflichtungen, musste für etwas stehen. So viele Menschen warteten auf die richtigen Worte aus seinem Mund. Und gerade das machte es ihm so schwer, wieder hinauszutreten und das Ergebnis seiner Überlegungen zu verkünden.
 

Schuldbewusst zwang er sich, Seth anzusehen. Er hatte das unangenehme Gefühl, der Priester könne ihm seine schuldbehafteten Gedanken förmlich als Fäden aus dem Kopf ziehen. „Seth, ich kann es einfach nicht entscheiden“, gestand er leise, doch geradeheraus, „ich würde es sehr schätzen, Eure Meinung zu der Angelegenheit zu hören.“
 

Seth verneigte sich kurz. „Es ehrt mich, dass Ihr mich um Rat fragt. Pharao, wie Ihr Euch sicher denken könnt, ist die Sache für mich klar. Es gibt nur die eine, richtige Entscheidung. Und die heißt: Bakura wegschicken oder ihn sogar sofort einsperren und bestrafen! Ihr könnt es Euch nicht leisten, mit diesem Verbrecher gemeinsame Sache zu machen oder Euch auf seine Bedingungen einzulassen!“ Atem biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß ja“, murmelte er. Das alles war ihm bewusst, aber er wollte es nicht hören. „Und dennoch, Seth, unter uns gesprochen: Es würde mir helfen, dieses Land mithilfe der Milleniumsgegenstände zu regieren, wenn ich mehr über sie wüsste.“ Er verschwieg dabei, dass ihn die Magie der Gegenstände schon lange faszinierte und er den Wunsch hatte, sie zu ergründen.
 

„Pharao, Ihr könnt diesem Dieb nicht trauen. Wer weiß, ob seine Geschichte überhaupt Hand und Fuß hat.“ Auch das wollte Atem im Augenblick nicht wahrhaben. „Wir könnten es überprüfen lassen“, hielt er ein wenig zerknirscht dagegen. „Und wo würde uns das am Ende hinführen?“, fragte Seth ernst und belehrend.
 

Atem senkte resigniert den Kopf. Er wusste ja, dass der Priester Recht hatte und seine eigenen Argumente fadenscheinig waren. Er hatte sich bisher sehr gut in sein Amt eingefügt, aber dies waren die Momente, in denen es ihm unsagbar schwerfiel, es auszuüben. Er würde hinausgehen müssen und das Richtige tun. Er würde sagen, was er zu sagen hatte.
 

Seth schien dem Pharao anzusehen, wie er mit sich rang und von Gefühlen der Unsicherheit gequält wurde. Bedächtig schritt er auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Atem sah auf, das warme Gefühl der Berührung sorgte dafür, dass sein Puls sich etwas beschleunigte. „Mein Pharao, Ihr wisst, dass Ihr nicht alleine dasteht. Ihr müsst solche Kämpfe nicht mit Euch selbst ausfechten. Wir beraten Euch nach bestem Gewissen. Ihr könnt mich immer aufsuchen, wenn Euch etwas bedrückt.“ Seths Worte sorgten dafür, dass Atem etwas leichter atmen konnte. Dankbar sah er zu ihm auf und fand in den blauen Augen so viel Ergebenheit und Hingabe.
 

„Vielen Dank, Seth, das bedeutet mir wirklich etwas. Ich …“ Mit einem Mal ließ er es zu, dass ein Schwall von Schwäche und Emotionen ihn übermannte. Er taumelte in diese Geborgenheit hinein und schien endlos zu fallen, obwohl er sich aufgefangen fühlte. Ohne dass er es geplant hatte, lag seine Hand plötzlich an Seths Wange. Der Priester sah ihn überrascht an, während Atem die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte und sich zu dem größeren Mann emporstreckte. Seine Lippen berührten ganz leicht die des Priesters. Als er die Berührung auflöste, flatterten seine Lider kurz. Er entfernte sein Gesicht jedoch nicht von Seths, sondern genoss weiterhin die Nähe, nach der er sich, wenn er ehrlich zu sich war, so oft gesehnt hatte. All diese Gedanken standen ihm nun offen ins Gesicht geschrieben und Seth musste es lediglich lesen und darauf antworten. Niemals hatte er sich jemandem ohne Worte so schutzlos anvertraut.
 

Als Seth schließlich Atems Hand ergriff und sie behutsam an dessen Brust zurückführte, sie kurz drückte und dann losließ, durchzog Kälte das Innerste des Herrschers. Der Priester löste die Berührung auf und machte einen Schritt zurück. Dann ging er auf ein Knie. „Mein Pharao“, sagte er, „Ihr könnt mit all Euren Sorgen zu mir kommen, wenn das Euer Wunsch ist. Ich verehre Euch und habe Euch Treue geschworen. Aber das … ist nicht mein Wunsch und ich halte es nicht für angemessen, eine derartige Beziehung zu führen. Ich möchte Euch ungern zurückweisen und werde tun, was Ihr von mir verlangt, aber ich denke, es wäre nicht gut, wenn derartiges unser gutes politisches Verhältnis beeinflusst.“
 

„Schon gut“, presste Atem hervor. Er hatte sich abgewandt, jedes Wort ließ die Scham in ihm aufsteigen. Er kämpfte gegen die Tränen in seinen Augen an und wollte nicht, dass Seth die heftige Gefühlsregung in seinem Gesicht sah, „Ihr habt natürlich Recht. Entschuldigt mein unangemessenes Verhalten.“ „Euch braucht nichts leid zu tun“, sagte Seth schnell, „und natürlich ändert das nichts an meiner Haltung zu Euch.“ Atem nickte, endlich hatte er die Fassung soweit wiedergewonnen, dass er sich Seth erneut zuwenden konnte, „Ihr dürft gehen, Seth. Das war alles. Ich komme in ein paar Minuten nach und werde meine Entscheidung verkünden.“
 

So kam es, dass Atem mit all den Gefühlen, die er Seth gegenüber entwickelt hatte, mit all seinen Hoffnungen, auf die Nähe und Intimität zu einem Menschen, den er so sehr schätzen gelernt hatte und der sich als sein loyaler und kluger Freund erwiesen hatte, alleine blieb. Es war ihm schwergefallen zu akzeptieren, dass Seth nicht dieselben Begehren hatte wie er, dass ihre gegenseitige Zuneigung für ihn Grenzen besaß, die Atem gerne gesprengt hätte. Es war hart gewesen, jeden einzelnen Tag. Aber er hatte es geschafft, seinen Emotionen keinen Raum mehr zu geben.
 

***

Die Erinnerungen hatten ihn so heftig überflutet, dass er noch dasitzen konnte, die Schultern hängend, die Gabel noch immer in der Hand. Stumme Tränen rannen seine Wangen hinab, doch kein Laut verließ seinen Mund. Seto sah aufgeschreckt und unangenehm berührt zu ihm herüber und schien mit der Situation sichtlich überfordert. Doch Atem konnte den salzigen Tränen keinen Einhalt gebieten, so sehr er es auch wollte.
 

„Ähm … muss sehr schwer sein, so weit weg von der Heimat“, versuchte Seto unbeholfen, die Stille zu durchbrechen und die befremdliche Situation aufzulösen. Ein neuer Schwall Tränen quoll aus Atems Augen und er schnaubte kurz beim Gedanken, dass der Aufenthalt in seiner Heimat manchmal ebenso beschwerlich war, doch was konnte Seto schon von alldem wissen? Er machte ihm keinen Vorwurf. „Schon gut“, sagte er, „du musst nichts sagen. Es hat mich nur so überkommen. Es geht gleich wieder.“ Erleichtert nickte Seto und entspannte seinen Körper etwas.
 

„Was ist denn hier los? Fühlt sich ja an wie auf einer Beerdigung“, fragte der Hausbesitzer, als er den Raum betrat und die frostige Stimmung zu ihm herüberschwappte. „Es ist nichts“, versicherte Atem, wieder sichtlich gefasster, und wischte sich sein Gesicht mit dem Ärmel trocken, „ich hätte gern noch ein Glas von diesem vorzüglichen Wein!“, deklarierte er dann lächelnd.


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

VII


 

VII

„Kommen wir also zum eigentlichen Grund eures Besuches“, verkündete Pegasus, nachdem sie ausgiebig gespeist hatten. Atem fühlte sich bereits ermattet von der langen Anreise, seinem heftigen Gefühlsausbruch und dem Wein. Seto hingegen war keine Spur von Erschöpfung anzusehen. Geschäftig, fast wie bei einem Businessmeeting, holte er die beiden Karten aus seiner Tasche und schob sie Pegasus über die lange Tafel hinweg zu. „Kannst du uns das erklären?“, fragte er kurz angebunden.
 

Pegasus warf einen flüchtigen Blick auf die Karten und für den Bruchteil einer Sekunde veränderte sich sein Gesicht, in seine rotbraunen Augen trat ein mysteriöses Leuchten und er wirkte aufgeregt. Dann jedoch legte ihr Gastgeber sofort wieder seine kühle, zynische Maske an und strich sich eine silberne Haarsträhne aus dem Gesicht.
 

„Interessant“, sagte er amüsiert, „da seid ihr beiden ja auf etwas gestoßen, von dem ich eigentlich gehofft hatte, dass es nicht an die Öffentlichkeit gelangt.“ „Also hast du diese Karten entworfen und herstellen lassen?“, knurrte Seto feindselig. „In der Tat, das habe ich, Kaiba-Boy, aber ähnlich wie die Götterkarten sind sie nicht in Massenproduktion gegangen. Das heißt, diese hier sind Unikate.“
 

„Woher hast du die Inspiration dafür genommen?“, fragte nun Atem. Er wirkte aufmerksam und fixierte Pegasus mit ethnographischer Genauigkeit. „Dazu muss ich wohl etwas weiter ausholen“, seufzte Pegasus. Schließlich begann er, den beiden zu berichten, was er wusste.
 

***

„Wie ihr ja wisst, hat es auch mir das alte Ägypten angetan und ich habe viele meiner Inspirationen für Duel Monsters dort bezogen – die prominentesten sind natürlich die Götterkarten, für deren Erschaffung ich einiges auf mich genommen habe. Aber auch Exodia, viele der Grabwächter-Karten und einige andere haben ihren Ursprung in diesem faszinierenden Land und seiner mystischen Vergangenheit. Als ich Ägypten bereiste, um die Götterkarten höchstpersönlich in Stein gemeißelt zu sehen, habe ich auch einige andere Nachforschungen in Auftrag gegeben und immer die Augen nach vergessenen Rätseln offengehalten. So habe ich eines Tages erfahren, dass aus dem Museum von Kairo eine antike Schrift entwendet wurde, die angeblich alte Rituale der Schwarzen Magie barg. Dass sogar jemand gewagt hat, diese Schrift zu stehlen, hat meine Neugierde nur noch mehr geweckt und meinen Wunsch, in den Besitz dieser Artefakte zu gelangen, ins Unermessliche gesteigert.
 

Naja, ich kürze mal die illegalen Details etwas ab und sage nur so viel, dass es mir schließlich nach vielen Mühen gelungen ist, die Schriftrollen auf dem Schwarzmarkt zu erstehen. Anschließend habe ich sie übersetzen lassen und eingehend studiert. Es handelte sich dabei um ein Ritual, mit dessen Hilfe eine Kreatur beschworen werden kann, die das Gleichgewicht der Welt aus den Angeln hebt und Ra in seinem steten Weg mit seiner Sonnenbarke stört. Die Welt sollte fortan in Finsternis versinken. Das Ritual, so hieß es in der Schrift, könne jedoch nur derjenige durchführen, der dem Tod ins Auge geblickt hat und dann erblindet ist.“
 

„Was ist das wieder für ein gequirlter Blödsinn?“, unterbrach ihn Seto rüde. „Ich wiederhole nur, was dort geschrieben stand. Willst du die Geschichte nun hören, du ungeduldiger Jungspund, oder nicht?“ Seto lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grummelte ein wenig vor sich hin, während Atem aufmerksam zuhörte und es in seinem Kopf offenbar arbeitete. „Wenn ich nur wüsste, wo ich das schon mal gehört habe“, murmelte er leise. „Was?“, Seto wandte sich fragend zu ihm um. „Ach … gar nichts“, wiegelte der Pharao kopfschüttelnd ab, „ich hab nur laut gedacht.“
 

„Jedenfalls – inspiriert vom Text der Schrift habe ich mich zurückgezogen und die Karten gemalt. Mir schien es, dass der Inhalt des Rituals gut ins Konzept von Duel Monsters passte und dass es förmlich danach schrie, einen Ritualzauber und eine zugehörige Monsterkarte zu entwerfen. Danach habe ich die Produktion in Auftrag gegeben. Als sie mir ein Muster der Karten schickten, um es abzusegnen, habe ich etwas Seltsames bemerkt: Der Text unter den Bildern war nicht, wie ursprünglich angedacht, in Kanji, sondern in altägyptischen Hieroglyphen verfasst. Als ich Erkundigungen für den Grund eingezogen habe, konnte mir niemand der Beteiligten darauf eine Antwort geben. Jeder verwies mich nur an irgendwelche anderen Verantwortlichen, sodass meine Gutmütigkeit und Geduld als Geschäftsmann ziemlich auf die Probe gestellt wurden – du kannst dir das sicher lebhaft vorstellen, kleiner Kaiba.
 

Ich war an diesem Tag ziemlich erschöpft und meine Nerven strapaziert, doch einschlafen konnte ich nicht. Und als es mir schließlich doch gelang, war es ein unruhiger Schlaf. Ich musste an die Vorfälle mit den Götterkarten denken. Immer wieder geisterten die Hieroglyphen des Rituals und die eindringlichen Malereien, die ich angefertigt hatte, durch meine wirren Träume. Ich sah ein Auge, durch das plötzlich ein heiß brennender Schmerz zuckte, woraufhin es trüb wurde. Dann verdunkelte sich die Sonne und die Erde bebte. Ich fuhr aus dem Schlaf auf und fasste einen Entschluss. Ich würde auch diese Produktion stoppen. Zu ungut war mein Gefühl dabei, diese Karten der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen."
 

Tja, und deshalb gibt es heute nur diese beiden Exemplare. Und sonst weiß ich nichts darüber. Mehr kann ich euch nicht sagen. Außer vielleicht …“ „Außer was?“, Atem beugte sich interessiert nach vorn. Doch Pegasus schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, gar nichts. Nichts von Belang.“ Der Pharao musterte ihn lange mit seinen mysteriösen Augen, die scharfsinnig jede Gefühlsregung aufzudecken vermochten. Schließlich erhob sich Pegasus unbehaglich. „Es ist spät. Wir sollten zu Bett gehen. Eure Zimmer sind bereits für euch gerichtet worden. Ich wünsche euch eine geruhsame Nacht.“ Damit klaubte er die beiden Karten vom Tisch auf und schickte sich an, den Raum zu verlassen.
 

„Pegasus“, hielt Seto ihn noch einmal auf, „die Karten sind, soweit ich mich erinnere, jetzt in meinem Besitz.“ Pegasus sah überrascht auf die beiden Musterexemplare in seiner Hand. „Oh – natürlich, natürlich. Du hast vollkommen Recht, Kaiba-Boy. Ich muss wirklich schläfrig sein. Hier hast du sie zurück. Erlaube mir in diesem Zusammenhang eine letzte Frage: Wie bist du eigentlich in den Besitz dieser Raritäten gekommen? Denn soweit ich mich erinnere, habe ich sie immer gut verwahrt – bis sie eines Tages gestohlen wurden.“ „Gestohlen?!“, Atem riss die Augen auf und Seto wurde für einen Moment fahl. „Falls du jetzt glaubst, ich wäre ein Dieb, hast du dich geschnitten! Ich weiß nicht, wo die Karten herkamen. Der Pharao hat sie gestern gefunden und ich habe sie vorher noch nie zuvor gesehen. Aber da ich meine Mitarbeiter des Öfteren damit beauftrage, neue oder seltene Karten zu beschaffen, schätze ich, sie sind auf diesem Wege irgendwie zu mir gelangt.“
 

„Keine Sorge, Kaiba. Ich denke ja so einiges Unschmeichelhaftes von dir, aber dass du Ehre im Leib hast, das weiß ich. Wir werden dieses Rätsel heute nicht mehr lösen können. Belassen wir es einfach dabei. Ich bin ja froh, dass die Karten wieder aufgetaucht sind. Nun denn, ihr Täubchen. Gute Nacht.“
 

Als ihr Gastgeber verschwunden war, schien Atem tief in Gedanken. „Über was grübelst du?“, fragte Seto kurz angebunden, während er die beiden Karten in seiner Manteltasche verstaute. „Naja, es ist alles recht sonderbar. Erst wird diese Schrift aus dem Museum entwendet, nur um dann von diesem Pegasus erworben zu werden. Dann werden die Karten ebenfalls gestohlen und finden sich bei dir wieder – gerade zu dem Zeitpunkt, als mein Geist in eure Gegenwart gezogen wurde. Das scheinen mir doch recht viele Zufälle zu sein.“
 

„Ok, nehmen wir mal an, dieses ganze uralte Gefasel hätte Hand und Fuß“, seufzte Seto, „glaubt du denn, dass du dieser Jemand aus der Schrift bist, der dem Tod ins Auge geblickt hat und dann erblindet ist?“ „Wie meinst du das?“, hakte der Pharao nach. „Naja, ich meine, weil du – oder dein späteres Ich – gegen Zorc gekämpft hast und dabei fast verloren hättest. Du hast also in der Tat dem Tod ins Auge gesehen. Und dann hast du deinen Geist ins Puzzle verbannt und deine Erinnerungen verloren – du bist also bildlich gesprochen erblindet.“ Atem senkte den Kopf und legte eine Hand an sein Kinn. „Hm, das ergibt durchaus Sinn. Aber das würde ja bedeuten, dass ich das Ritual durchführen soll! Damit würde ich doch eine dunkle Macht freisetzen, wieso sollte ich das also tun?“ „Da hast du auch wieder Recht … oder vielleicht ist ja auch Bakura gemeint. Denn sein Geist ist, wie deiner, in den Ring verbannt worden. Und zuvor hat er Zorc beschworen, er hat also freiwillig dem todbringenden Wesen ins Auge geblickt.“
 

Atem gähnte. „Lassen wir es für heute gut sein und schlafen erst mal darüber. Ich bin nämlich sehr müde.“ Seto nickte. Croquet trat zu ihnen und führte sie zu ihren Zimmern im Gästeflügel. „Na herrlich“, sagte der Pharao trocken und lächelte verschmitzt, „das sind ja wirklich rosige Aussichten für mich. Nachdem ich jetzt weiß, welches Schicksal mich dort in Form von Zorc erwartet, habe ich richtig Lust, wieder in mein altes Leben zurückzukehren.“ Seto wurde ein bisschen mulmig zumute. In den üblichen Science Fiction-Romanen und -Filmen wurde einem immer gepredigt, dass man nicht zu stark in eine Zeitlinie eingreifen dürfe. Was hatte es wohl bewirkt, dass sie Atem von seiner Zukunft, seiner Verbannung ins Puzzle. erzählt hatten? Und was noch viel wichtiger war: Würde er überhaupt je zurückkehren können?
 

„Du … denkst also, dass du zurückkehren wirst?“, fragte er geradeheraus. Atem schlug die Augen nieder. „Was bleibt mir anderes übrig, als mir zumindest einzureden, daran zu glauben?“ sagte er leise und etwas matt. „Immerhin hast du selbst gerade gesagt, dass dein Leben in Ägypten nicht mehr besonders viel für dich bereithält. Wieso also überhaupt zurückkehren?“, gab Seto zu bedenken. „Das stimmt“, bestätigte der Pharao, „aber dennoch ist es das Leben, das für mich bestimmt ist, und es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden, ob ich es annehme. Und abgesehen davon wären wir wohl alle übel dran, wenn ich mein Schicksal nicht erfülle und versäume, gegen Zorc anzutreten, oder sehe ich das falsch?“
 

Atems Gedanken über seine Bestimmung hätte Seto einiges entgegenzusetzen gehabt, denn er war ein Freund davon, sein Leben selbst in der Hand zu haben. Und auch die Materie der Zeitreise war unfassbar kompliziert. Seto beschloss, heute nicht weiter darüber zu fachsimpeln und es dabei bewenden zu lassen. „Wie dem auch sei – es ist spät. Also – gute Nacht jedenfalls.“ Atem nickte. „Gute Nacht.“
 

***

Stille empfing Seto, als er sich müde die Augen rieb, seinen Mantel ablegte und in Hemd und Hose in sein Bett fiel. Der lange Flug hatte ihn viel Konzentration gekostet und er schlief fast augenblicklich ein. Ihm war jedoch nur ein kurzer Schlaf vergönnt. Als er die Augen wieder aufschlug, war es noch immer finster und die Uhr gegenüber seinem Bett zeigte 3:00 Uhr in der Nacht. Seto schloss wieder die Augen, doch schaffte es nicht, erneut einzuschlafen.
 

Seine Gedanken kreisten noch lange um das, was ihnen Pegasus erzählt hatte, und um die Frage, ob Atem derjenige sein könnte, der im Ritual genannt wurde. Warum sonst hätte er schließlich erneut in dieser Zeit erscheinen sollen? Allerdings – wenn dem tatsächlich so war, warum hatte man dann eine Version von ihm hergeschickt, die ihren entscheidenden Kampf gegen Zorc noch gar nicht ausgefochten hatte? War dann strenggenommen der Text auf der Karte nicht unzutreffend?
 

Seto gestand es sich nur schwerlich ein, aber er fühlte sich verantwortlich dafür, dass der Pharao nun hier in der Fremde festsaß – obwohl auch er sich mittlerweile fast sicher war, dass er seine Rückkehr nicht verursacht hatte. Ein größeres Prinzip schien hinter alldem zu stehen. Er bewunderte Atem dafür, dass er sich nicht unterkriegen ließ, dass er offen und selbstsicher blieb, auch wenn er vollkommen auf sich alleingestellt war und bei jedem Menschen, dem er hier begegnete, aufs Neue abwägen musste, ob ihm zu trauen sei. Er erinnerte Seto dabei an sein jüngeres Ich, das sich in seiner Anfangszeit als Geschäftsführer ebenfalls keine Schwäche hatte zu Schulden kommen lassen.
 

Und doch war Atem anders. Vorhin, als ihn offenbar seine Erinnerungen überwältigt hatten, hatte er eine solche Schwäche ganz offen gezeigt. Und auch wenn er dies nicht geplant hatte, musste Seto feststellen, dass er ihm für diese Offenheit nur noch mehr Respekt zollte, dass ihn dies fast noch stärker und integrer erscheinen ließ. Eine Welle der Empathie hatte ihn für den Pharao überkommen, die ihn sprachlos zurückgelassen hatte. Zu gerne hätte er gewusst, was es gewesen war, das dem Pharao die Tränen in die Augen getrieben hatte. Im Grunde wusste er nichts über sein früheres Leben und über die Menschen in seinem Umfeld. War Atem auf sich gestellt? Hatte er enge Vertraute?
 

So rasten Setos Gedanken und er wälzte sich unruhig hin- und her. Gerade als er schließlich doch für einige Zeit eingenickt sein musste, fiel plötzlich ein heller Lichtstrahl direkt in seine Augen und erhellte den Raum ein wenig. Verwundert erhob sich Seto und trat zum Fenster. In einem der höchsten Türme der Burg brannte scheinbar Licht. Dort schien sich jemand aufzuhalten. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn, als würde eine finstere Klaue nach seinem Geist greifen. Und vor seinem inneren Auge glühte erneut die Hieroglyphenschrift auf. Einem Impuls folgend eilte er zu dem Haken an der Tür, an dem er seinen Mantel aufgehängt hatte. Hektisch griff er in die Tasche, um die beiden Karten herauszubefördern. Er stockte – Die Spielkarten waren verschwunden. „Verdammter Mist!“
 

Eine beängstigende Vorahnung überkam ihn, die sich anfühlte, als würde sein Körper in Eiswasser geworfen. Just in diesem Moment klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie aufgestoßen und Atem stand, ebenfalls bekleidet und mit ernstem Gesichtsausdruck, vor ihm. „Die Karten …?“, fragte er angespannt. Seto begegnete seinem Blick etwas zerknirscht und Atem schien sofort zu begreifen. „Bei Osiris und Isis!“, stieß er fluchend aus, „dann hast du es auch gespürt, oder nicht?“ Seto nickte zähneknirschend. Das genügte dem Pharao.
 

„Atem, sieh dir das mal an!“, der Besitzer der Kaiba Corporation deutete auf das erleuchtete Turmzimmer, das man von seinem Fenster aus sehen konnte. Atems Blick flog hinauf. Ohne ein weiteres Wort sprintete er aus dem Raum. „Warte doch, verdammt!“, fluchte Seto. Er folgte ihm auf dem Fuß und hatte ihn aufgrund seiner längeren Beine schnell eingeholt. Schnaufend und mit brennenden Lungen passierten sie das Burgtor und die Ländereien, bis sie am Fuß des Turms angelangten.


 


 


 


 


 


 

VIII


 

VIII

„Wieso muss eigentlich ich auf dem Boden schlafen?“, grummelte Bakura mürrisch. „Weil das mein Zimmer und mein Bett ist! Sei lieber dankbar für das Dach überm Kopf! Gern geschehen!“, giftete Ryou schläfrig zurück. Ein permanentes Rascheln ließ verlauten, dass Bakura sich in seinem Schlafsack hin- und herwälzte. „Wärst du in meiner Zeit, würdest du mich fürchten. Ich bin ein gesuchter Dieb und habe überall meine Schergen!“, wisperte Bakura bedrohlich. „Wir sind aber dummerweise in meiner Zeit und hier schaffst du es nicht mal selbst, dir etwas zu Essen zu besorgen. Und wahllos Verbrechen begehen kannst du hier auch nicht so einfach wie im ägyptischen Untergrund, wo die Leute vom Pharao dich nicht auf dem Radar hatten!“ „Morgen schläfst du auf dem Boden, du aufmüpfiger, kleiner …“, setzte Bakura gerade an, als er plötzlich innehielt. Erneut einmal raschelte der Schlafsack und Bakura schälte sich hektisch aus dem kokonartigen Stoff. Auch Ryou saß aufrecht im Bett und war plötzlich hellwach.
 

Mit einem Satz stürmte Bakura aus dem Zimmer und nach draußen vor die Haustür. Ryou war ihm dicht auf den Fersen. „Spinnst du?! Was ist, wenn meine Mutter dich sieht?!“, wisperte er in scharfem Ton, aber Bakura hörte ihm nicht zu. „Fühlst du das auch?“, fragte er stattdessen aufmerksam. Ryou horchte in sich hinein. Tatsächlich kam ihm etwas seltsam vor. „Möglicherweise … ja“, gab er zu. Der zukünftige Geist des Milleniumsrings starrte mit finsterem Gesichtsausdruck zum Himmel. Und plötzlich glaubte auch Ryou, einen Schatten zu sehen, der den Schein des Mondes kurz verdunkelte. „Also bist du gar nicht mal so stumpfsinnig, wie ich dachte. Ich frage mich, ob dieses Gefühl das bedeutet, was ich denke, dass es bedeutet“, murmelte Bakura und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Von was redest du?“, fragte Ryou verunsichert. Doch er erhielt keine Antwort.
 

***

Auch Yugi sah zum selben Zeitpunkt durch das kleine Dachfenster in seinem Jugendzimmer und Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Unschlüssig, ob er so spät noch stören könnte, spielte er mit dem Telefonhörer in seiner Hand. Schließlich fasste er einen Entschluss und wählte eine Nummer. Nach kurzem Tuten nahm ein überraschend wacher Joey ab. „Was geht, Kumpel?“, fragte er kurz angebunden. „Joey … bilde ich mir das nur ein oder spürst du auch etwas? Irgendwie hab ich ein ganz mieses Gefühl. Als ob … etwas nicht in Ordnung wäre. Als ob irgendwas passiert wäre.“
 

Ein paar Sekunden war es ruhig in der Leitung, dann sagte Joey: „Ich kann dir nur sagen, dass ich nicht schlafen kann und das ist schon seltsam für meine Wenigkeit. Denkst du, es hat was mit dem Pharao zu tun?“ „Vielleicht. Womöglich gibt es ja eine neue Bedrohung, die der Grund dafür ist, dass er zurück ist.“ Joey ließ ein Geräusch des Unmuts vernehmen und schien sich die Haare zu raufen. „Mann, warum muss immer alles so kompliziert sein?! Und hat man denn nie seine Ruhe? Kann sich nicht mal jemand anders um diesen Scheiß kümmern?!“ Trotz der ernsten Lage musste Yugi kichern. „Ich sollte besser schnell mal bei Kaiba anrufen und nachfragen, ob alles in Ordnung ist“, beschloss er dann. „Ja, mach das. Und ärger ihn ein bisschen von mir!“
 

Doch in der Kaibavilla erfuhr Yugi von Roland, dass Seto und Atem sich seit dem Vormittag gar nicht mehr dort befanden, sondern im Königreich der Duellanten. Als er auflegte, war er recht blass um die Nase. „Das darf doch nicht wahr sein … was hat dieser Kaiba sich nur dabei gedacht?“
 

***

Seto atmete schwer, als sie vor dem Eingang zum Turm Halt machten. Atem war ihm trotz seiner kurzen Beine immer um Haaresbreite vorausgewesen und zerknirscht musste er feststellen, dass er mit seinem Bürojob wesentlich weniger Kondition besaß als der Pharao, der sich durch Training fit hielt und jetzt kaum aus der Puste war.
 

Keine zwei Sekunden sahen sie einander an, bevor Atem auch bereits die Treppen in Angriff nahm. Seto wollte sich seine Erschöpfung nicht anmerken lassen, also hechtete er hinterher.
 

Während sie weiter und weiter eine endlos scheinende Wendeltreppe erklommen, hörten sie unheimliche harte Zischlaute, die immer lauter zu werden schienen. „Was ist das?“, japste Seto. „Ich weiß nicht“, entgegnete Atem, während er sich vergewisserte, dass der Firmenchef noch hinter ihm war.
 

Der Schmerz in dessen Seite wurde gerade unerträglich, als sie es endlich geschafft hatten und Atem als Erster einen schmalen Gang und an dessen Ende schließlich ein kleines Turmzimmer betrat. Seto wäre beinahe in ihn hineingekracht, als der Pharao erschrocken zwei Schritte zurückwich. „Was …?“, setzte Seto an, als er auch bereits Zeuge eines gänsehauterregenden Schauspiels wurde:
 

Inmitten des Zimmers, das nur von Mondlicht erleuchtet wurde, stand Pegasus, die Arme ausgebreitet und mit glasigen Augen. Fast schien es, als schwebe er über dem Boden. Er wirkte wie in einer tiefen Trance gefangen und ein Glühen schien von ihm auszugehen. Um seinen Unterarm hatte er eine Duel Disk geschnallt und auf zwei von ihren Feldern lagen offen die beiden verschwundenen Karten. Funken stoben von ihnen auf und um Pegasus gesamten Arm. Und vor ihm auf dem Steinboden lag noch etwas anderes – eine Schriftrolle, die ziemlich alt aussah.
 

„Die Karten, Pegasus hat sie!“, stieß Seto hervor. „Er will das Ritual durchführen!“, fiel es Atem wie Schuppen von den Augen, „aber wieso denn er? Wieso Pegasus, ich dachte ich …?“ Seto überlegte fieberhaft. Plötzlich traf es ihn wie ein Schlag. „Er ist derjenige, der dem Tod ins Auge geblickt hat und dann erblindet ist! Pegasus hat durch sein Milleniumsauge seine verstorbene Frau gesehen. Er hat also dem Tod ins Auge geblickt. Aber dann hat Bakura sein Milleniumsauge gestohlen und es mir gegeben – diese Sicht, die ihm geschenkt wurde und die ihn Dinge sehen ließ, die niemand sonst sehen kann, ist ihm genommen worden. Er ist also erblindet!“ „Verdammt, wieso sind wir nicht eher darauf gekommen?“, knurrte Atem.
 

Ein Pulsieren erfüllte jetzt den Raum wie ein Herzschlag. Lauter und aufdringlicher wurden die Zischlaute und jetzt erst begriff Seto, dass sie aus Pegasus Mund kamen: Er murmelte etwas. „Die Formel! Er spricht die Formel für das Ritual auf der Schriftrolle!“, rief Atem, „das darf ich nicht zulassen!“ Seine Hände ballten sich entschlossen zu Fäusten und er stürmte, ohne zu überlegen, auf Pegasus los.
 

„Pharao, warte! Was wenn du …?!“ Seto konnte nur erstarrt zusehen, seine Beine wollten sich nicht bewegen. »Verdammt, tu was! Komm schon!«, ermahnte er sich innerlich eindringlich. Schließlich zwang er sich mit aller Kraft zum Handeln und strebte ebenfalls nach vorn – aber in diesem Moment erhellte ein gleißendes Licht den Raum und Atem wurde zurückgeschleudert und prallte unsanft gegen Seto. Sie gingen beide zu Boden und einen Sekundenbruchteil später war es stockfinster im Raum.
 

„Pharao, ist alles in Ordnung?“, fragte Seto und rüttelte leicht an den Schultern des Kleineren. Dieser setzte sich benommen auf und ächzte schmerzvoll. „Ich weiß nicht“, sagte er orientierungslos, „was ist passiert?“ Seto schwieg. Er nahm jetzt etwas wahr und sein Blick schnellte zu der Stelle, wo Pegasus gestanden hatte. Plötzlich war ihm, als würde ihn etwas ansehen, ihn mit seinem Blick durchdringen. Eine Klaue schien sich aus den Schatten zu schälen. Atem musste es auch wahrnehmen, denn er schnappte nach Luft und spannte seinen Körper an. Die Luft war zum Zerreißen gespannt und beide spürten sie die Präsenz von etwas Drückendem, etwas Gefährlichem. Sie getrauten sich kaum zu atmen und Seto verstärkte seinen Griff um Atems Schultern.
 

Dann, mit einem Mal, wurde es hell. Erschrocken fuhren Seto und Atem herum und erkannten Croquet, der in der Tür stand, die Hand noch immer auf dem Lichtschalter. Sein Blick ging an den beiden Gästen vorbei und Schrecken spiegelte sich jetzt darin. „Mr. Pegasus!“, rief er aus. Pegasus stand nicht mehr dort, sondern lag bäuchlings und reglos am Boden, eine Hand über den beiden Karten, die von der Duel Disk gerutscht waren.
 

„Scheiße, ist er etwa …?“, begann Seto. Croquet holte ein Handy aus seiner Tasche und sprach leise in den Hörer. Als er das Telefonat beendet hatte, kniete er sich zu Pegasus herunter und fühlte seinen Puls. „Er lebt“, murmelte er, mehr zu sich selbst.
 

Seto und Atem atmeten auf. „Kannst du aufstehen?“, fragte der Größere an den Pharao gewandt, der noch immer gegen ihn gelehnt dasaß. „Ich denke schon.“ Seto stützte ihn so gut es ging und schließlich schaffte er es, auf die Beine zu kommen. Seto bemerkte jedoch, dass er blass aussah und im Stehen noch ein wenig mehr Farbe aus seinem Gesicht wich. „Ein medizinisches Team ist gleich hier“, informierte Croquet sie, „die werden sich auch um Sie kümmern.“ Atem nickte dankbar und durchquerte dann den Raum.
 

Er besah sich die Karten und die Schrift auf dem Boden. Sein Blick blieb an den Hieroglyphen darauf hängen und verweilte dort wenige Sekunden, bevor plötzlich Erkenntnis in sein Gesicht trat. „Bei Osiris!“, keuchte er erschrocken auf. „Was? Was hast du?!“, hakte Seto ungeduldig nach. „Ich …“ In diesem Augenblick stürmten die Sanitäter den Raum und eilten zu dem bewusstlosen Pegasus hinüber, riefen sich Anweisungen zu und begannen hektisch mit der Erstversorgung.
 

Croquet sprach kurz mit den Medizinern und ein junger Mann aus dem Rettungsteam kam zu ihnen herüber und erkundigte sich nach Atems Befinden. „Es geht schon, halb so wild“, wehrte dieser ab, „Sie sollten sich zuerst um Pegasus kümmern, das hat Vorrang!“ Der Sanitäter nickte, bat Atem aber, zumindest kurz seinen Arm freizumachen um seinen Blutdruck zu messen. „In Ordnung“, sagte er, „sobald Pegasus stabil ist, kommen wir nochmal auf Sie zu und werden Sie in aller Ruhe untersuchen.“ „Das wäre auch besser für Sie!“, drohte Seto und Atem bedankte sich höflich. Der junge Mann rollte mit den Augen über Setos rüde Art und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
 

„Ihr beiden solltet zurück auf eure Zimmer gehen“, sagte Croquet jetzt, „ihr könnt hier aktuell nichts für Mr. Pegasus tun.“ „Ja, das wird das Beste sein“, fand auch Seto, „Atem, kommst …“ Als er zum Pharao hinübersah, wankte dieser leicht hin und her und sank dann erschöpft auf ein Knie. Sofort eilte der Firmenchef zu ihm. „Alles ok? Es hat dich heftiger erwischt als gedacht, oder?“, fragte er, während er sich neben ihn kniete. „Nein, alles gut. Los, steh auf. Wir verschwinden“, wisperte der Pharao und warf ihm unerwarteterweise einen verschwörerischen Blick zu. Dann erhob er sich und schritt betont langsam Richtung Tür. Als Seto genauer hinsah, bemerkte er die Schriftrolle in Atems Hand, die dieser scheinbar unbemerkt vom Boden aufgehoben hatte und nun flink in seinem Ärmel verschwinden ließ. „Du … bist wirklich ein Phänomen!“, schüttelte der Konzernchef ungläubig den Kopf über Atems Gewieftheit. „Ich werte das mal als Kompliment“, grinste dieser, „und jetzt raus hier.“
 

„Hey, geht es Ihnen wirklich gut?“ Erneut hielt der junge Sanitäter sie auf, als sie gerade die Tür ansteuerten. Er hatte wohl den Vorfall beobachtet und wirkte sichtlich besorgt, „Möglicherweise ist Ihr Kreislauf noch nicht wieder stabil. Den Kopf haben Sie sich aber nicht gestoßen, oder?“ „Ihm geht’s gut. Kümmern Sie sich lieber um Ihren Kram und machen Sie ihre Arbeit!“, zischte Seto ungeduldig. „Okay ... was denn nun? Eben wollten Sie doch noch unbedingt, dass ich ihn untersuche", wunderte sich der Ersthelfer, „Da haben Sie ja wirklich einen bissigen Wachhund“, richtete er sich dann an Atem. „Nehmen Sie es ihm nicht übel. Er ist immer so“, lächelte Atem entschuldigend.
 

Schließlich sahen sie zu, dass sie das Zimmer verließen und so schnell wie möglich das Weite suchten, bevor der Verlust der Rolle irgendjemanden auffiel.
 

***

Der Weg zurück zum Zentralflügel der Burg schien sich zu ziehen wie Kaugummi. Atem hatte die Wucht des Energiestoßes ziemlich zugesetzt und es fiel ihm schwer, zu laufen. Er versuchte sich auf Seto zu stützen, was sich als nicht gerade einfach erwies, da dieser viel größer war. „Vielleicht kämen wir schneller voran, wenn ich dich einfach tragen würde“, drängte dieser ungeduldig. „Soweit kommts noch!“, schoss Atem giftig zurück, „vielleicht kämen wir ja auch schneller voran, wenn du nicht so viel nörgeln würdest!“
 

Endlich hatten sie den Gästeflügel erreicht und Seto stieß die Tür zu Atems Zimmer auf. Müde schleppte dieser sich zu dem altrosa Ohrensessel, der am Fenster stand, und ließ sich seufzend daraufsinken. Er atmete tief durch.
 

„Was – war das?“, fragte Seto und schloss die Tür hinter sich. Es fühlte sich an, als seien sie in Sicherheit, aber er ahnte, dass das trügerisch war. Atem zog die Schriftrolle aus seinem Ärmel hervor und überflog die Zeilen. „Die Worte, die Pegasus da vorhin skandiert hat … er hat das Ritual durchgeführt. Es ist die Formel auf der Schrift“ „Und ist es ihm gelungen?“, brachte Seto gepresst hervor. „Ich fürchte schon. Ich nehme an, dass die Magie, die in dieser Zeit noch existiert, nicht ausreicht, um alleine durch die Formel auf der Schriftrolle ein solches Ritual zu vollziehen. Deshalb brauchte es zusätzlich die beiden Karten, die Pegasus selbst erschaffen hat. Und wir haben sie ihm geradewegs in die Hände gespielt.“
 

„Aber warum sollte Pegasus sowas tun?“, gab Seto zu bedenken. „Das weiß ich nicht. Ich dachte, du könntest mir das sagen. Du kennst ihn länger als ich“, Atem zuckte die Schultern. „Ich habe nicht die geringste Ahnung", gab Seto zu, „aber abgesehen davon … nehmen wir mal an, Pegasus hat da wirklich irgendwas … Dunkles freigesetzt“, noch immer fiel es Seto schwer, zu glauben, was er nicht sehen konnte, „was können wir jetzt noch tun?“ „Ich habe einen Verdacht. Aber dazu muss ich etwas weiter ausholen. Als ich diese Schrift dort oben gesehen hab, ist mir nämlich etwas klargeworden.“ Seto horchte auf. „Was meinst du?“ Atem wirkte unbehaglich und sah auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. „Bitte setz dich. Es ist eine längere Geschichte.“


 


 


 


 


 


 


 


 

IX


 

IX

Und dann erzählte Atem Seto die Begebenheit von damals, als Bakura in seinem Palast auftauchte und ihm den Handel anbot. Es fiel ihm alles andere als leicht, darüber zu sprechen. Doch sein Verdacht erhärtete sich allmählich, dass es eine Verbindung zwischen den Ereignissen von damals und den jüngsten Geschehnissen gab. Als er an dem Punkt angelangt war, an dem er sich zurückgezogen hatte, um über Bakuras Angebot nachzudenken, blickte er auf und sah Seto direkt in die Augen.
 

Der Firmenchef hatte sich mittlerweile auf der Sessellehne niedergelassen und hörte aufmerksam zu. „So langsam geht mir ein Licht auf“, sagte er, als er sich Atems Geschichte durch den Kopf gehen ließ, „kann es vielleicht sein, dass diese ominöse Schrift dieselbe ist, die Bakura aus dem Grab stehlen wollte?“ Atem nickte bedeutungsschwanger. „Nachdem ich vorhin dort oben einen Blick darauf geworfen habe, bin ich mir ziemlich sicher. Ich habe sie zwar damals nur sehr kurz zu Gesicht bekommen …“ „Also hast du Bakuras Handel damals zugestimmt?“, wollte Seto wissen. Innerlich musste er ein wenig grinsen. Alles andere hätte ihn auch sehr gewundert, denn Atem schien, soweit er ihn kannte, nie den gradlinigen Weg zu wählen.
 

Auch Atem lächelte jetzt verlegen. „Ich verfluche diese Entscheidung seitdem jeden verdammten Tag. Trotzdem … ich glaube, wenn ich nochmal in dieser Situation wäre, ich würde wieder so handeln“, gestand er leise, „aber … ich wollte derzeit so gerne mehr über die Milleniumsgegenstände erfahren. Ich wollte diese Informationen und ich wollte aktiv etwas dafür tun, um sie zu erhalten, und nicht immer nur Boten und Schergen ausschicken und Däumchen drehen.“ Er blickte traurig auf das Papyrus in seiner Hand und überflog erneut die Zeilen, „nur …“, begann er verlegen. Doch Seto unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte.
 

„Warum bist du so streng mit dir? Gut, du hast dich nicht gerade mit Ruhm bekleckert und dich nicht an deinen lächerlichen Pharaonen-Kodex gehalten, auf den du so große Stücke hältst. Aber es gibt bei Weitem schlimmere Delikte. Dein Volk hat deswegen nicht gleich eine Revolte gestartet, nehme ich mal an. Du wolltest diese Schrift – du hast sie aus einem Grab geholt, in dem sie sonst nur verrottet wäre.“
 

Atem sah Seto lange eindringlich mit seinen großen Augen an. Der Chef der Kaiba Corp dachte ganz genauso, wie er selbst damals darüber gedacht hatte – und so ganz anders als Seth. Wie es schien, waren die beiden sich doch viel unähnlicher, als er geglaubt hatte, und Atem fühlte sich zum ersten Mal in seinem Impuls bestätigt. Er fühlte sich verstanden. Vielleicht war es ein gefährliches Denken, aber diese Unkonventionalität hatte er wohl damals mit Bakura gemein gehabt.
 

„Leider ist es nicht ganz so einfach. Denn die Aktion ging damals ziemlich nach hinten los“, sagte Atem etwas kleinlaut. Er seufzte. „Ich erzähle dir wohl besser, was passiert ist. Dann verstehst du, was ich meine.“
 

***

Atem konnte Seths Anspannung förmlich aus der Luft greifen, auch wenn er ihn nicht sehen konnte, da er wenige Meter hinter ihm herritt. Er spürte, wie der Hohepriester mit sich rang und den Drang niederkämpfte, erneut eine Diskussion anzuzetteln.
 

Sie legten den Weg schweigend zurück, Bakura vorne, dicht gefolgt von Atem und Seth. Auch Bakura hatte kein Interesse an einer höflichen Konversation und schwieg sich aus, bis sie schließlich tief in der Wüste Halt machten. Die Umrisse einer riesigen Pyramide, die sie schon seit geraumer Zeit aus der Ferne gesehen hatten, stimmten alle drei ehrfürchtig. Es dämmerte bereits und die drückende Schwüle wich einem angenehmen Abendwind. Atem schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und genoss die Erfrischung.
 

„So, da wären wir also. Jetzt schick deinen Aufpasser weg, andernfalls platzt unser Handel“, verkündete der König der Diebe, während er von seinem Wallach abstieg. Atem ließ sich ebenfalls vom Pferd gleiten und wandte sich zu Seth um. „Seth, Ihr wisst, wie die Abmachung lautet. Reitet jetzt umgehend zurück. Sollte ich bis morgen früh nicht wieder im Palast sein, könnt Ihr nach mir suchen. Vorher ist es Euch untersagt, irgendwelche Schritte zu unternehmen.“ Seth biss die Zähne zusammen und ballte die Hand zur Faust. „Pharao, ich appelliere an Euch! Überlegt Euch diesen Wahnsinn noch einmal. Ihr müsst das nicht tun. Mit schmutzigen Verbrechern habt Ihr nichts zu tun. Ihr könnt Bakura nicht trauen und ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Euch mit ihm alleinzulassen! Das – ist einfach nicht richtig!“ »Nicht richtig«, dachte Atem wehmütig. Für Seth gab es nur richtig oder falsch, schwarz oder weiß. Ein Gefühl der Resignation überkam ihn. Es war müßig, noch weiter mit dem Priester zu streiten.
 

In den letzten Tagen hatten ihm die ständigen Debatten mit seinen Leibwächtern, die ihn nach seiner Entscheidung verfolgt hatten, einem Großteil seiner Energie geraubt. Energie, die er doch am heutigen Tag so dringend benötigte. „Ich verstehe einfach nicht, wieso es Euch plötzlich so wichtig ist!“, hatte Seth beharrlich geäußert, „bevor Bakura hier reinspaziert ist, war es Euch auch kein Anliegen, mehr über die Milleniumsgegenstände zu erfahren.“ Atem hatte irgendwann nur mehr müde den Kopf geschüttelt. „Ihr müsst es nicht verstehen“, hatte er ruhig gesagt, „ich verlange nur von Euch, dass Ihr es akzeptiert und schweigt – und das ist keine Bitte.“ Seth hatte sich genug Unverfrorenheit herausgenommen und Atem hatte sich irgendwann gegen weitere Diskussionen gesperrt. Dass es hier womöglich um mehr ging als darum, Informationen über die mystischen Gegenstände zu bekommen, konnte er Seth ohnehin nicht begreiflich machen. Er verstand es ja noch nicht einmal selbst richtig. Es war nicht mehr als ein vager Verdacht, der in den letzten Tagen in ihm aufgekeimt war.
 

„Ich habe Euch um Euren Rat gefragt und Ihr habt ihn mir erteilt. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber nun ist es an mir, zu entscheiden", hatte Atem letztlich die endlosen Diskussionen schroff beendet, „und solltet Ihr meine Anweisungen nicht respektieren, muss ich in Betracht ziehen, dass Ihr nicht der Richtige für Euren Posten seid.“ Er hatte es nur so dahergesagt, aber Seth hatte verletzt dreingeblickt und Atems Gesichtsausdruck war hart und unnachgiebig geblieben. Er musste seine zweifelhafte Entscheidung jetzt durchsetzen, durfte nicht ins Wanken kommen. Andernfalls brachte er sich selbst um das letzte Bisschen Autorität, das er noch besaß. Seths Gegenwart konnte er ohnehin nur noch schwerlich ertragen, nachdem dieser ihn an jenem Tag zurückgewiesen hatte, und diese Wortgefechte machten es ihm nicht gerade leichter, mit der Situation umzugehen.
 

„Pharao?“, fragte der Hohepriester jetzt vorsichtig nach, als Atem, offenbar in Gedanken versunken, nicht reagierte. „Tut, was ich von Euch verlange“, sagte er matt, „wir sehen uns morgen.“ Obwohl er den gekränkten Ausdruck in Seths Gesicht wahrnahm, wandte er sich ohne ein weiteres Wort zu Bakura um und nickte ihm zu, zum Zeichen, dass er soweit war. „Ich hoffe, Euer kleiner Schatten hier macht uns keinen Ärger“, sagte der Dieb warnend. Atem hoffte dies auch inständig, sagte aber so überzeugt wie möglich: „Keine Sorge, er wird meine Anweisungen befolgen.“
 

Nun war es an Bakura, zu nicken. „Habt Ihr die Pläne?“, fragte er dann und Atem beförderte einige Rolle Papyrus unter seinem Gewand hervor. Nach vielem Hin und Her hatten Sie sich auf einige klare Spielregeln geeinigt: Atem würde mit Bakura zusammen das Grab betreten. Doch er durfte keinen seiner Leibwächter mit dorthin nehmen. Er musste diesen Weg allein antreten. Erst nachdem sie ihre Mission erfolgreich abgeschlossen hatten und nachdem Bakura den Inhalt der Schrift studiert und sich anschließend davongemacht hatte, durfte Atem zum Palast zurückkehren oder sich von einem seiner Bediensteten dorthin eskortieren lassen.
 

Im Gegenzug hatte Atem darauf bestanden, dass die Schriftrolle sofort nach Verlassen der Pyramide und nachdem Bakura ihr ihre Geheimnisse entnommen hatte, in seinen eigenen Besitz überging. So würde er wenigstens keine Beihilfe zu einem von Bakuras Diebstählen leisten, wobei nun er es strenggenommen ja nun selbst war, der etwas aus dem Grab stahl. Etwas, das seinem Ahnen gehört hatte und auf das er deshalb ein gewisses Anrecht hatte zwar, aber dennoch handelte er nicht rechtmäßig. Diesen Gedanken versuchte er geflissentlich zu verdrängen, als er entschlossen hinter Bakura herstapfte. Er wollte Seth und all die Gefühle, die er mit ihm verband, hinter sich lassen. Vielleicht wollte er auch einfach ein einziges Mal in seinem Leben etwas tun, das ihm nicht vorherbestimmt war. Das er selbst entscheiden und lenken konnte. Er als Individuum, nicht als Kronprinz oder Herrscher.
 

„Nach Euch, Euer Waghalsigkeit“, grinste Bakura und bedeutete Atem nun den Weg durch die hohe Steinpforte hinein in die Pyramide, „es sei denn, Ihr habt auf den Bauplänen bereits eine Falle entdeckt. In diesem Fall solltet Ihr Euch diesen Schritt natürlich nochmal überlegen.“ Atem hatte die Dokumente seines Vorfahren bereits eingehend studiert, unter keinen Umständen wollte er diesen Weg unvorbereitet antreten. Deshalb wusste er ganz genau, an welchen Stellen sie sich vorsehen mussten. Diese Informationen hatte er Bakura voraus und genau das war es, das ihn vor dieser Mission nicht zurückschrecken ließ. Dies war die zweite Forderung gewesen, die er an den Dieb gestellt hatte: Die Baupläne für die Pyramide sollten über den ganzen Weg bis zum Grab in seinem Gewahrsam bleiben. So hatte er das Leben des Diebes selbst in der Hand und damit die volle Kontrolle über die Situation. „Nein“, sagte er jetzt, „der Eingang ist sicher.“ Bakura nickte lediglich. „Dann lasst uns keine Zeit mehr vertrödeln.“
 

Dunkelheit schluckte die beiden wie ein beängstigender schwarzer Schlund und Atem fröstelte. Obwohl er im Besitz der Pläne war, spürte er deutlich, dass Bakura sich nun in seinem Element, in seinem Revier befand und er selbst das Nachsehen hatte. Sie waren jetzt von der Außenwelt abgeschnitten und niemand konnte ihm mehr beistehen. „Na, besorgt?“, fragte der Grabräuber neckend. Atem zuckte regelrecht zusammen, als die raue Stimme die Stille brach. Er hoffte, dass Bakura es nicht bemerkt hatte. „Nicht mehr als du es auch sein solltest“, antwortete er und versuchte dabei, seiner eigenen Stimme eine gewisse Gelassenheit zu verleihen. Er wollte seine Füße dazu bringen, ihm zu gehorchen, aber für einen Moment war er wie paralysiert. Doch es half alles nichts. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Also schob er seine Ängste beiseite und tat den ersten Schritt in die Dunkelheit.
 

***

Es dauerte die ganze Nacht, bis Atem und Bakura endlich die Grabkammer erreichten. Draußen graute bereits der neue Tag, doch davon ahnten die beiden nichts. Sie hatten jegliches Gefühl für Zeit verloren. Atems Schulter schmerzte unter Bakuras Gewicht. Die letzten beiden Wegstunden bis zum Grab hatte er ihn stützen müssen. Sein Bein, das er sich auf dem Weg verletzt hatte, schleifte der Grabräuber schlaff hinter sich her.
 

Keuchend und schweißgebadet drückten sie nun gemeinsam die Steintür zur Kammer auf. Als dies vollbracht war, lehnte sich Bakura stöhnend gegen die Wand. „Warum habt Ihr das getan?“, fragte er schwer atmend, „warum habt Ihr mich nicht einfach zurückgelassen und seid allein zum Grab vorgedrungen, um Euch die Schrift zu holen?“ Atem schnaubte. „Wir hatten eine Abmachung. Einen Vertrag. Und zumindest mir ist das etwas wert. Ich hoffe, du hättest ebenso gehandelt. Denn wer ein bisschen Ehre im Leib hat, bricht ein solches Abkommen nicht.“ „Immer so rechtschaffen und regeltreu“, spie Bakura spottend aus. Atem hatte genug von diesen Spielchen. Die Dunkelheit machte ihm zunehmend zu schaffen und lag bereits schwer auf seinem Gemüt. Er wollte nur noch tun, was getan werden musste, und dann den Weg nach draußen antreten. „Genug geredet“, sagte er, „lass uns reingehen.“
 

Eine Gänsehaut zog sich über seinen ganzen Körper, als er das kühle Grab betrat. Jetzt erst wurde ihm wieder bewusst, wie frevelhaft es war, was sie hier taten. Dass sie hier die Ruhe eines Verstorbenen störten, in das Reich seiner stillen Ruhe eindrangen. Und auch, wie nah sie hier dem Totenreich waren, in das er selbst früher oder später würde eintreten müssen. Ehrfürchtig ließ er die Szenerie auf sich wirken, bevor Bakura schließlich an ihn herantrat. „Ey, Pharao, wir haben ein klitzekleines Problem!“, knurrte er trocken. Atem schreckte auf. „Äh … was?“ „Der Sarkophag – er ist nicht hier. Und die Schriftrolle auch nicht!“ Ein metallisches Klimpern war zu vernehmen, als Bakura sich bewegte, und Zorn flammte in Atem auf, als er feststellte, dass der Grabräuber bereits einige Kostbarkeiten aus dem Grab in seinen Stoffbeutel gepackt hatte. Doch er rief sich zur Raison. Es gab jetzt Wichtigeres und es war ihm mittlerweile alles egal, solange sie nur bald wieder unter freiem Himmel waren.
 

„Nicht da?“, fragte er heiser. „Was soll das bedeuten? Und nun?“ „Steht denn nicht irgendwas in den Bauplänen dazu?“, wollte Bakura ungeduldig wissen, „gibt es vielleicht einen Mechanismus, um einen weiteren Teil der Kammer zu öffnen?“ Atem holte das Papyrus hervor und Bakura leuchtete ihm mit der vorletzten Kerze, die ihnen geblieben war. Mit zusammengezogenen Brauen schüttelte Atem den Kopf. „Nichts. Die Pläne hören vor dem Tor zur Grabkammer auf. Für sie gab es offenbar keine Aufzeichnungen.“ „Clever, dein Urgroßvater“, gab Bakura neidlos zu, „dieses letzte Geheimnis hat er wohl mit in den Sarkophag genommen.“
 

Erschöpft ließ Atem sich auf den Boden sinken und vergrab sein Gesicht in seinen Händen. „Aber … es muss doch irgendeine Möglichkeit geben. Gibt es denn niemandem, dem Aksethem zutritt zu diesem letzten Teil des Grabs gewährt hätte? Dem er seine sterblichen Überreste offenbart hätte?“ Bakuras Gesicht wurde nachdenklich. „Vielleicht doch …“, sagte er dann langsam, „Pharao, Ihr seid nicht so dumm, wie ich geglaubt habe. Es gibt jemanden, dem er genügend vertraut hätte.“
 

Erkenntnis traf sie beide im gleichen Moment und sie suchten den Blick des jeweils anderen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihr ganzes Denken eins zu sein, funktionierten sie als eine Einheit. „Mir!“, sagte Atem erleuchtet, „Richtig. Ihr als sein Nachfahre seid der einzige, dem der Zutritt gestattet sein dürfte!“, bestätigte Bakura. Der Pharao ließ seinen Blick durch die Kammer schweifen, bis sein Blick an einem kleinen steinernen Tisch hängen blieb, auf dem sich eine schlichte, leere Tonschale befand. Daneben lag ein kleines, kostbar verziertes Messer. Atem trat langsam an die Utensilien heran. „Damit muss es eine Bewandtnis haben“, murmelte er, „bisher gab es für alles in dieser Pyramide einen Mechanismus. Vielleicht, wenn ich …“ Er nahm das Messer auf und drückte die Klinge gegen seine Fingerkuppe. Sofort quoll ein schmales Rinnsal Blut hervor. Er hielt seinen Finger über die Schale und ein, zwei, drei Tropfen fielen lautlos hinein.
 

Augenblicklich ging ein Ruck durch die Kammer und sie vernahmen ein lautes Reiben von Stein an Stein. Der Boden in der Mitte der Kammer tat sich auf und die Umrisse eines großen Gegenstands schoben sich nach oben, bis schließlich ein gewaltiger Sarkophag vor ihnen emporragte. „Nicht übel. Eine uralte Magie des Blutes“, Bakura stieß einen Pfiff aus, „dieser Grabraub geht dann wohl komplett auf Eure Kosten, kleiner Pharao“. Atems Augen strahlten. So mitgerissen war er von dem Erfolg, den sie zu verzeichnen hatten, dass er die Bissigkeit in Bakuras Worten ignorierte. Euphorie und neue Energie fluteten seinen Körper.
 

Doch nach wie vor waren sie einen Schritt vom Ziel entfernt. „Aber – wo ist die Schrift?“, fragte er etwas enttäuscht. Bakura trat nun langsam auf den Sarkophag zu. Atem wollte zornig protestieren, als Bakura auch bereits den Deckel nach oben geklappt hatte und einen kritischen Blick hineinwarf. „Bakura, lass …“, weiter kam der Pharao nicht, denn der Dieb griff beherzt ins Innere und Millisekunden später beförderte er zwei Blätter zusammengerollten Papyrus hervor. „Mission abgeschlossen“, sagte er nüchtern. Atem atmete erleichtert aus. „Jetzt schließ den Deckel und lass die Toten ruhen!“, befahl er grimmig. Bakura tat überraschenderweise wie ihm geheißen und humpelte zu Atem zurück. Atem hielt Bakura seine offene Hand hin und dieser begriff sofort. Zähneknirschend legte der die beiden Schriftrollen hinein. Atem entrollte sie kurz und überflog den Text. Erst auf dem einen, dann dem anderen Blatt. Doch das Licht war nur schwach und seine Nerven strapaziert, sodass er sich nicht auf den Inhalt fokussieren konnte.
 

„Lass uns verschwinden“, sagte der Pharao, während er die Blätter wieder zusammenrollte. „glücklicherweise müssen wir nicht wieder den ganzen Weg zurückgehen. Es gibt einen zweiten Ausgang, der nicht weit von hier ist.“ Er sah Bakura die Dankbarkeit für diese erfreuliche Wendung förmlich an. „Pharao“, sagte der Dieb und wandte sich noch einmal zu Atem um, „war wirklich nett mit Euch Geschäfte zu machen.“ Er grinste breit. „Jederzeit wieder“, grinste auch Atem und hätte sich im nächsten Moment für diesen unbedachten Kommentar gerne auf die Zunge gebissen. Ein Glücksgefühl breitete sich in ihm aus und er schämte sich dafür. Aber er konnte nicht leugnen, dass er dieses Abenteuer genossen hatte, dass er sich nie so lebendig gefühlt hatte.
 

Noch etwa eine Stunde mussten sie laufen, bis sie schließlich, Bakura nach wie vor auf Atem gestützt, die Pforte erreichten, die sie vom Tageslicht trennte. Atem streifte Bakuras Arm ab und wandte sich erwartungsvoll zu ihm um. „Was? Was ist?“, wollte der Grabräuber wissen. „Die Schriftrollen“, sagte Atem geschäftlich, „jetzt ist deine Chance, dir ihren Inhalt zu Gemüt zu führen. Sobald diese Tür sich öffnet, ist dein Anspruch darauf verwirkt.“ Bakuras Augen blitzten auf. „Ihr lasst mich das also tatsächlich tun“, stellte er ungläubig fest und ließ ein heiseres Lachen vernehmen, „entweder Ihr seid unfassbar einfältig oder einfach nur zwanghaft loyal.“ Dennoch nahm er das Papyrus an sich, als Atem es ihm entgegenhielt.
 

Mit feurigem Blick überflog er die Zeilen, doch lediglich kurz. Zu kurz, um sie sich einzuprägen, wie Atem fand. Schließlich blickte er auf. Mit einem „In Ordnung. Ich weiß alles, was ich wissen muss“ rollte er die Schrift wieder zusammen und hielt sie Atem hin. Dieser streckte die Hand danach aus. In dem Moment spürte er einen heftigen Tritt in seine Mitte, der ihn kurz in sich zusammensinken ließ, und gleich darauf einen festen Stoß gegen seine Brust. Er stolperte rückwärts und prallte mit dem Hinterkopf gegen die raue Steinwand. Einen Moment lang überkam ihn Schwindel und die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Nur vage nahm er wahr, wie Bakura die schwere Tür aufhievte und die Schriftrolle in seinem Gewandt verschwinden ließ. „Was Ihr gesagt habt über Ehre im Leib, Pharao“, zischte er, als er mitleidig auf den orientierungslosen Atem herabblickte, „tja, Ihr hättet es besser wissen müssen. Ihr hättet ahnen müssen, dass ich keine besitze. Also, man sieht sich!“ Damit verschwand er in den ersten, blendend hellen Sonnenstrahlen des neuen Tages.
 

Atem hatte das Bewusstsein verloren. Es war fast Mittag, als er die Augen wieder aufschlug und entsetzlich laute Stimmen vernahm. Als er am Morgen nicht zurückgekehrt war, waren seine Leibwächter besorgt aufgebrochen, um nach ihm zu suchen, und hatten ihn schließlich hinter der offenen Pforte liegend gefunden. Übelkeit stieg in Atem auf und schüttelte seinen ganzen Körper. Er fühlte sich schwach, hilflos und klein. Er wollte Seth nicht in die Augen sehen müssen, wollte nicht den vorwurfsvollen, belehrenden und noch schlimmer – mitleidigen – Blicken ausgesetzt sein, die ihm stumm zu verstehen gaben, dass er dumm und naiv gewesen war. Er wollte sich nicht mit seinem Fehler auseinandersetzen, mit Seths unerschütterlichen Glauben an Ehre und Struktur. Er wollte nur hier liegen und sich elend fühlen. All das kam ihm vor wie ein Albtraum.


 


 

***

Als Atem diesmal mit seiner Erzählung geendet hatte, nahm Seto eine Veränderung in seinem Verhalten wahr. Er wirkte jetzt gedrungen und unsicher. Als er vorsichtig seinen Blick wieder zu ihm hob, lag darin Scham, Reue und Angst.
 

Seto verursachte es fast körperliche Schmerzen, ihn so zu sehen. „Tja, und das war die ganze Geschichte“, schloss der Pharao bedrückt, „Bakura hat mich reingelegt. Ich hatte das Nachsehen und musste damit leben. Und noch dazu habe ich bei diesem kleinen Ausflug nicht das Geringste gewonnen. Die Schriftrolle war weg und ihren Inhalt habe ich nie erfahren.“
 

„Und wenn schon!“, platzte es aufgebracht aus Seto heraus. Atem sah überrascht auf. „Was meinst du damit?“, fragte der Pharao. „Okay, es ist passiert. Du hast einen Fehler gemacht, hast falsch geurteilt. Und wenn schon! Jeder macht Fehler. Und dieser hier hat niemandem ernsthaft geschadet. Also was soll’s? Denkst du etwa, ich hätte mir am Anfang meiner Karriere als Geschäftsmann keine Fehltritte geleistet? Ich habe mich ständig grün und blau geärgert, habe gepatzt und daraus gelernt. So ist nun mal das Leben! Okay, ich gebe zu: Ich lasse bei anderen selbst ungern Fehler durchgehen, weil ich es bei mir selbst ebenfalls nicht tue. Aber Fakt ist doch, wir sind alle nur Menschen. Und so etwas gehört nun mal dazu. Kein Grund, sich deshalb zu quälen.“
 

Atem seufzte resigniert. „Das sagt sich so einfach. Von mir wurde aber niemals erwartet, dass ich ‚nur ein Mensch‘ bin. An mich als Sohn Ras wurde immer der Anspruch gestellt, dass ich diese perfekte, unfehlbare Kreatur bin, die dem Land Stärke gibt und Mut macht.“ Seto schnaubte verächtlich. „Siehst du! Und genau deshalb finde ich eure Kultur mit ihrem Gefasel von Schicksal und Bestimmung einfach nur ätzend! Ich kann es echt nicht mehr hören. Du wolltest mal raus, wolltest mal was anderes sehen, ein Abenteuer erleben. Und du hast die Gelegenheit beim Schopf gepackt und dir diesen Wunsch erfüllt! Also hattest du am Ende ja doch etwas davon, auch wenn Bakura dich übers Ohr gehauen hat. Du hast dieses Gefühl gehabt, das dir keiner mehr nehmen kann! Du hast dich selbst verwirklicht, so wie das hier und heute alle tun. Wenn du mich fragst, du kannst nur froh sein, dass du jetzt hier bist und nicht mehr dort!“
 

Atem sah ihn verblüfft und wortlos an. Er hatte erwartet, dass Seto ihn auslachte oder ihn für seine unbedachte Entscheidung tadelte, dass er sich über ihn erhob und ihm sagte, das alles geschehe ihm nur recht. Mit allem hatte er gerechnet, doch nicht mit dem, was der Firmenchef ihm da jetzt gerade an den Kopf warf. Nicht mit Ermutigung oder Zuspruch. Noch nie hatte er eine so große Erleichterung verspürt wie in diesem Moment, wo ihn zum ersten Mal jemand in seinen persönlichen Wünschen bekräftigte, sie nicht als sinnlose Spinnereien abtat. So lange hatte er sich wegen seines Handelns gedanklich gestraft. Aber nun war da ein kleiner Teil in ihm, der es wagen konnte zu glauben, dass er das vielleicht gar nicht musste. Erneut kämpfte er mit den Tränen, so viel stießen Setos Worte in ihm drin an. Seine Überraschung und Rührung musste ihm offen ins Gesicht geschrieben stehen.
 

Es gab so vieles, das er hätte sagen können, aber in seinem Kopf herrschte nur Leere und er fand keine passenden Worte. Schließlich stellte er lediglich noch einmal leise die Frage, die ihn am meisten umtrieb. Und an Setos Blick konnte er sehen, dass er bereits wusste, was kommen würde: „Warum wolltest du mein späteres Ich aus dem Totenreich zurückholen?“
 

Obwohl Atem erneut Unbehagen und Zweifel in den eisblauen Augen las, senkte Seto den Blick nicht und er stand auch nicht auf, um Abstand zu gewinnen, wie er es beim letzten Mal getan hatte. Doch eine Antwort blieb er Atem auch dieses Mal schuldig. Stattdessen näherten sich ihre Gesichter einander langsam, bis Atems Wimpern fast gegen Setos schlugen. Atem spürte Setos Wärme und roch seinen Duft, der so anders war als der von Seth. Es roch aufregend und nach Freiheit. Und ein bisschen nach Geborgenheit. Vorsichtig legte der Besitzer der Kaiba Corporation eine Hand an Atems Wange. Dann berührten ihre Lippen sich federleicht.
 

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und Atem und Seto fuhren auseinander. „Entschuldigen Sie“, sagte der junge Sanitäter von vorhin und blinzelte in den Raum, „Mr. Pegasus ist nun versorgt und stabil und wir würden Sie nun gerne ebenfalls kurz durchchecken.“


 


 


 


 


 


 

X


 

X

Langsam, aber mit pochendem Herzen erhob sich Seto und machte dem jungen Mann mit dem schwarzen Haar und den warmen, braunen Augen Platz, der sofort routiniert begann, Atem in die Augen zu leuchten und ihm einige Fragen zu stellen. „Tut das weh?“, erkundigte er sich, während er Druck auf Atems Brustkorb ausübte. „Ein wenig“, antwortete Atem wahrheitsgemäß.
 

Der junge Sanitäter war sehr einfühlsam und gab sich alle Mühe, dass sich der Pharao nicht unwohl fühlte. Seto wusste, dass das zu seinem Job gehörte und er diesen sicherlich tadellos ausübte. Dennoch konnte er nicht umhin, einen Stich der Eifersucht in seiner Brust zu spüren, als er Atem so ungezwungen berührte, einen belanglosen Scherz machte und Atem damit zum Kichern brachte. Mit geballter Faust stand der Chef der KaibCorp am Fenster und ließ den Blick über die Ländereien schweifen, um dieses Gefühl von sich zu drängen. Der Mond war bereits verschwunden, die Dämmerung hatte eingesetzt und der Himmel spannte sich über die Burg wie ein fahles, blassblaues Tuch.
 

Seto begriff nicht, was da eben passiert war und was ihn bewegt hatte. In seinem Kopf rasten die Gedanken und er fühlte so viele verschiedene Dinge, dass sie sich alle gegenseitig aufhoben und er sich erschöpft und ausgesaugt vorkam. Die Gründe, die ihn dazu gebraucht hatten, Atem so nahe zu kommen, hatten bisher stets so tief unter der Oberfläche seiner Gedanken geschlummert, dass er sie nicht hatte erreichen können. Dass er sich nicht mal wirklich gewagt hatte, zu ihnen vorzudringen und nach ihnen zu greifen. Jetzt plötzlich lag das alles offen und dennoch wusste er nicht, was er nun damit anfangen sollte.
 

All das passte nicht zu seinem Leben. Passte nicht zu seiner Agenda. Aber wenn er ehrlich zu sich war, hatte auch der Wunsch nicht hineingepasst, Atem aus dem Totenreich zurückzuholen. Trotzdem war der Drang danach so groß, so präsent gewesen, dass er keine andere Möglichkeit mehr gesehen hatte. Er hatte es als seine bisher größte Herausforderung betrachtet, die nur ein Vorspiel zu der eigentlichen Herausforderung hatte sein sollen, der er sich hatte stellen wollen. Doch das Duell mit dem Pharao war in den letzten Stunden in den Hintergrund gerückt. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich sogar, ob es ihm wirklich jemals etwas bedeutet hatte, diesen Titel wiederzuerringen. Alles war verkehrt und es kam ihm vor, als würde er den Halt verlieren. Atems Frage konnte er nach wie vor nicht in Worten beantworten. Er hatte lediglich gewusst, dass er den Pharao einfach hatte zurückholen wollen. Es war eine Gewissheit, wie es sie selten im Leben gab.
 

So wie jetzt gerade hatte er sich schon einmal gefühlt. An dem Tag, an dem Atem ihn zum ersten Mal geschlagen und seine Seele in tausend Stücke zerschmettert hatte. Schon damals war ihm der Pharao durch Mark und Bein gegangen und Seto hätte nicht sagen können, ob er für das, was er in ihm angerichtet hatte, Magie genutzt hatte oder ob er es nur mit seinen Worten und Gesten getan hatte. Die Jahre, die darauffolgten, waren turbulent und verwirrend gewesen. Und der Pharao war immer ein Teil von alldem, war immer in seiner Nähe gewesen. Bis Seto sich an seine Anwesenheit gewöhnt hatte, bis sie zu einem festen Bestandteil seines Alltags geworden war. Genau wie dieses Gefühl, dass er mit ihm verband.
 

Und obwohl sich der Atem, der sich nun mit ihm hier im Raum befand, nicht an all das erinnern konnte, obwohl er all diese Dinge noch nicht getan hatte, fühlte Seto sich wohl in seiner Gegenwart, fühlte sich auf seltsame Weise zu Hause. So sehr, dass er es nicht mehr hatte mit ansehen wollen, dass Atem sich selbst für Unbedeutsamkeiten die Schuld gab, die von all den guten Dingen, die er erreicht hatte, doch längst in den Schatten gestellt worden waren. Von all seinen richtigen Entscheidungen und seinem so intelligenten und angenehmen Wesen. Er hatte ihm diese Schwere auf seinem Gemüt nehmen wollen, hatte dem Pharao zeigen wollen, dass ein solcher Fehltritt in dieser Welt lediglich eine Lappalie war. Dass niemand immer so handeln konnte, wie andere es erwarteten. Und dass er ihm dennoch nah sein wollte. Und dann war alles in seinem Kopf verschwommen und ein unbegreifliches, neues Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Er hatte sich … leicht gefühlt, aufgehoben, aber schwerelos.
 

„So, das war’s auch schon. Ihnen fehlt nichts außer ein paar geprellten Rippen“, holte ihn die Stimme des Sanitäters aus seinen Gedanken, der jetzt aufstand und zufrieden seine Instrumente wegräumte. „Vielen Dank für Ihre Mühe“, sagte Atem freundlich. „Ach, gerne doch. Ich bin froh, dass es Ihnen soweit gutgeht. Sie sollten sich jetzt aber etwas ausruhen. Soll ich Ihnen noch ein Schmerzmittel für die Nacht geben?“ „Ich denke, das wird nicht nötig sein. So schlimm ist es wirklich nicht“, schüttelte Atem den Kopf. „Wie Sie meinen. Dann schlafen Sie sich aus. Gute Nacht.“ „Was ist mit Pegasus?“, wollte Seto jetzt wissen, „wann können wir mit ihm sprechen?“ „Vermutlich erst morgen im Laufe des Tages“, der junge Mann wandte seine Aufmerksamkeit nun ihm zu, „er schläft jetzt und hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen. Sie können versuchen, ihn anzusprechen, sobald er aufwacht, aber ich denke, es wird seine Zeit brauchen, bis er wieder ganz klar ist.“ Seto nickte verstehend. „Gut, dann war es das“, sagte er kühl. Plötzlich fühlte er sich sehr müde. Ein Blick auf Atem verriet ihm, dass es ihm ebenso ging.
 

Nachdem der Sanitäter den Raum verlassen hatte, räusperte er sich verhalten. „Ich denke, du solltest dich wirklich etwas ausruhen. Ich werde auch versuchen, noch ein bisschen Schlaf zu bekommen.“ Er hatte nicht wirklich vor, zu schlafen, aber er wollte Atem nicht das Gefühl geben, dass es jetzt unangemessen war, sich auszukurieren. „In Ordnung“, Atem lächelte ihm dankbar zu. „Dann bis morgen.“
 

***

Nach dem Frühstück, das sie fünf Stunden später zu sich nahmen und das für Seto nur aus drei Tassen Kaffee bestand, wollten sie sofort ihr Glück versuchen und mit dem Burgherrn sprechen. Croquet hatte ihnen gesagt, dass Mr. Pegasus bereits aufgewacht war, und führte sie jetzt in den Krankenflügel.
 

Der silberhaarige Mann drehte leicht den Kopf zu ihnen, als sie eintraten, und seine Augenlider flatterten kurz, bevor sich die rotbraunen Augen auf Atem und Seto richteten. Der Burgherr war noch an zahlreiche Schläuche angeschlossen und sah erschöpft und blass aus. „Pegasus“, begann Seto ernst, „wir müssen unbedingt wissen …“, doch er fing sich einen strengen Blick von Seiten Atems ein und verstummte sofort. „Wie geht es Ihnen? Wir waren sehr besorgt um Sie“, übernahm der Pharao jetzt etwas diplomatischer die Gesprächsführung.
 

Auf Pegasus Lippen zeichnete sich ein verklärtes Lächeln ab. Für einige Sekunden sah er Atem und Seto verträumt an, dann flötete er: „Blendend, blendend, alles ist so wattig in meinem Kopf! Und ihr … ihr beide … ihr seid so ein hübsches Paar! Traumhaft! Ich könnte mir gut vorstellen, auf meiner Burg für euch eine Hochzeitsfeier auszurichten! Das wäre ein Ereignis! Wie würde euch das gefallen?“ Er kicherte leise. Atem und Seto blickten sich ratlos an. Dann trat Seto näher an das Bett heran. „Pegasus, bitte versuch dich zu konzentrieren! Kannst du uns etwas darüber sagen, was gestern Nacht passiert ist?!“ „Gestern?“, fragte Pegasus verwirrt, „ja! Es gab ein großes Feuerwerk! So eins könnte ich für die Party auch organisieren!“
 

Seto war sichtlich frustriert und wollte weiter auf Pegasus eindringen, aber Atem griff entschlossen nach seinem Arm und zog ihn vom Bett weg. „Das hat jetzt keinen Sinn“, stellte er beschwichtigend fest, „lass uns einfach später nochmal wiederkommen.“ Seto seufzte. „Wir verschwenden hier nur unsere Zeit!“, fluchte er verärgert. Atem schüttelte amüsiert den Kopf. „Das sehe ich aber ganz anders!“ Seto wandte sich zu ihm um. „Wie meinst du das?“ „Naja, ich weiß bereits einen netten Zeitvertreib für uns beide, bis Pegasus wieder bei klarem Verstand ist.“ Seto blinzelte ihn perplex an.
 

***

30 Minuten später saßen die beiden um den kleinen Tisch in Setos Gästezimmer und blickten konzentriert auf die Spielmatte zwischen ihnen, auf der bereits einige Karten ihren Platz gefunden hatten. „Aber warum darf ich dich denn nicht angreifen?“, fragte Atem konzentriert. „Weil wir in der ersten Runde sind. Es wäre nicht gerade fair, wenn du mich angreifst, wenn ich noch nicht einmal die Möglichkeit hatte, ein Monster zu beschwören, oder?“, erklärte der Firmenchef geduldig. Ein wenig nervös war Atem nun doch. Seto schien zwar zufrieden mit seinem Fortschritt in Duel Monsters zu sein, aber er schien auch große Ansprüche an ihn zu stellen. Offensichtlich war sein späteres Ich ein echtes Ass in diesem Spiel. Andererseits: Wenn er sich sicher sein konnte, dass er es irgendwann so gut beherrschen würde, dann musste er sich wohl jetzt keinen Druck machen, wenn er etwas nicht sofort verstand. „Und diese Schriftzeichen in der rechten oberen Ecke“, erkundigte er sich weiter, „was hat es mit denen auf sich?“ „Sie geben den Monstertyp an“, antwortete Seto, „das wird wichtig bei Ausrüstungs- und anderen Zauberkarten oder Effekten, die nur bestimmte Typen betreffen.“ Atem gab sich Mühe, sich alles zu merken.
 

„Genug des Vorgeplänkels“, schloss Seto schließlich, „wie wäre es denn, wenn wir jetzt einfach mal ein Match wagen? Learning by doing ist noch immer die beste Methode.“ „Ehrlich? Jetzt schon?“, Atem sah verdutzt von seinem Blatt auf, „du setzt ja ganz schön viel Vertrauen in mich“, stellte er etwas kleinlaut fest. „Natürlich, was sonst? Wärst du es andernfalls wert, dich zu schlagen?“ Seto grinste herausfordernd und Atem musste immer wieder feststellen, dass sein Gastgeber tatsächlich Humor besaß, zumindest wenn er sich wohlzufühlen schien. „Also gut, Kaiba, gehen wir's an! Stell dich auf eine weitere Niederlage ein!“, Atem grinste verschmitzt. In Setos Gesicht leuchteten nun ein Ausdruck der Genugtuung und ein schwer zu beschreibendes Feuer. Atem konnte es schwer festmachen, aber er schien jetzt ein anderer zu sein und ihm gefiel der Kampfgeist des Älteren. Er übte eine Anziehung auf Atem aus, die sowohl ein Kribbeln in seinem Bauch verursachte als auch dafür sorgte, dass er sich sehr wohlfühlte. An Seth hatte er eine solche Ausstrahlung zuvor nie wahrgenommen.
 

Seto mischte geübt seine Karten und reichte sie Atem vorschriftsgemäß zum Abheben. Dabei berührten sich ihre Hände für einen Moment und Atem traf es wie ein elektrischer Impuls. Sein Blick richtete sich auf und fing Setos ein und für einen Moment versanken sie in den Augen des jeweils anderen. „Danke“, sagte Atem dann unvermittelt, ohne Seto sein Deck aus der Hand zu nehmen. „Für was?“, wollte Seto wissen. Er biss sich leicht nervös auf die Lippe. „Dass du mir zugehört hast und mich nicht verurteilst“, erklärte Atem. „Auch ich bin nicht auf alles stolz, was ich getan habe", lenkte Seto ein, „auch in Bezug auf dich und deine Freunde. Wenn du davon wüsstest, würdest du mir nicht für so etwas danken.“
 

Atem legte den Kopf schief. „Naja … das liegt in der Zukunft. In meiner zumindest. Ich sehe keinen Sinn darin, über ungelegte Eier zu sprechen.“ „Aber es liegt auch in meiner Vergangenheit. Und vielleicht ist es Zeit, einiges davon wiedergutzumachen.“ „Oder vielleicht sollten wir Zeit nicht so linear betrachten, sondern ganz einfach das Beste aus dem Hier und Jetzt machen“, schlug Atem ermutigend vor. „Das habe ich immer versucht“, nickte Seto bestätigend, „und du solltest das auch tun. Du solltest vergessen, was mit Bakura war, und stattdessen dafür sorgen, dass diese Schriftrolle keinen weiteren Schaden anrichtet.“ Atem nickte. „Wirst du mir denn dabei helfen?“, fragte er. Seto schien kurz mit sich zu hadern. Anderen zu helfen gehörte offensichtlich nicht zu seinen leichtesten Übungen. „Ach … zur Hölle, ja. Ich mach’s!“, knurrte er schließlich entschlossen.
 

Atem lächelte ihn zufrieden an. Dann, einem plötzlichen Impuls folgend, umrundete er den Tisch, bis er vor Setos Stuhl stand. Seto sah verblüfft zu ihm auf, als der Pharao dessen Gesicht behutsam in seine Hände nahm, sich zu ihm herabbeugte und ihn erneut küsste. Er spürte Setos kraftvolle Lippen, die sich auf seine eigenen pressten, und fragte sich gleichzeitig, was er hier eigentlich tat. Das hier war nicht sein Leben, das hier war nur eine Zwischenstation für ihn, bis alles wieder seinen gewohnten Gang gehen würde. Nichts weiter als ein Traum, aus dem er irgendwann würde erwachen müssen. Ein gefährlicher Traum, der ihn süchtig machen konnte. Ein Traum von Freiheit und von einem Leben, das alles war, von was er nie zu träumen gewagt hätte, aber dennoch ein Traum. Er durfte hier nicht auf falsche Ideen kommen, nicht zu viel von dieser berauschenden Atmosphäre in sich aufnehmen, denn dann würde es ihm noch schwerer fallen, all das hier wieder hinter sich zu lassen.
 

Er spürte, wie Seto ihn jetzt fordernder küsste und ihn enger an sich zog. Mit seiner Hand spielte er mit einer von Atems blonden Strähnen, die ihm ins Gesicht fielen. Panik stieg mit einem Mal in Atem auf und all das, was ihn in seinem alten Leben stets zu erdrücken drohte, fiel in seinen Magen wie ein schwerer Stein. Er fürchtete, wenn er sich noch weiter in dieses überwältigende Gefühl fallen ließ, dass er sich selbst verlieren könnte, dass er vergessen könnte, als wer er geboren war. Mit pochendem Herzen brach er den Kuss ab und zog sich abrupt von Seto zurück. Für einen Augenblick ließ er seine Hand jedoch auf dessen Wange ruhen und zögerte, ihn gehen zu lassen. Dann sah er ihn entschuldigend an, bevor er sich langsam entfernte und zum Fenster ging. „Entschuldige bitte“, sagte er leise und mit gepresster Stimme, während er sich fahrig mit der Hand durch sein Haar fuhr. „Es muss dir nicht leid tun“, sagte Seto, den das alles nicht weniger zu überfordern schien.
 

Es klopfte und Croquet trat ein. „Bitte entschuldigen Sie die Störung“, sagte er, „aber Mr. Pegasus ist nun ansprechbar und er hat nach Ihnen beiden verlangt. Er möchte Sie unverzüglich sehen.“ Atem wandte sich um und suchte Setos Blick. „Alles klar, holen wir uns ein paar Antworten!“, schlug dieser entschlossen vor.


 


 


 


 


 


 

XI


 

XI

Erneut saßen Seto und Atem wenige Minuten später in dem kleinen Zimmer im Krankenflügel, in dem der Hausherr untergebracht war. Über dem Bett des Patienten brannte nun schummrig eine Leseleuchte, die Dunkelheit hatte sich erneut über die Ländereien gelegt und die Welt erschien klein und gedrungen. In diesem Augenblick fiel es ihnen beiden schwer, sich vorzustellen, dass dort draußen etwas Bedrohliches lauern sollte. Und selbst wenn dies der Fall war, schienen sie hier in ihrem fernen Asyl davon unberührt zu sein.
 

Pegasus richtete sich im Bett auf, als die beiden eintraten. „Ah, vortrefflich“, sagte er, „gut, dass ihr umgehend hergekommen seid. Setzt euch doch.“ Seto blieb jedoch stehen und seine Augen funkelten argwöhnisch und bedrohlich auf Pegasus herab. „Pegasus, deine Schonfrist ist vorbei. Wir wollen auf der Stelle Antworten! Was ist da gestern Nacht passiert? Wieso hast du uns so unverschämt hintergangen?!“ Atem ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder und zog Seto auf einen weiteren. Er warf ihm einen warnenden Blick zu.
 

Pegasus jedoch fasste sich mit der rechten Hand an die Stirn und seufzte bedrückt. „Bevor ich euch diese Frage beantworte, wäre es hilfreich, wenn ihr beiden mir erst mal erzählen könntet, was ich denn eigentlich genau getan haben soll?“ Atem und Seto sahen sich verwirrt an. „Das … weißt du nicht?“, fragte Atem vorsichtig. „Ehrlichgesagt nein. Von dem Moment, an dem wir uns verabschiedet haben, ist alles in meinem Verstand vernebelt. Ich erinnere mich an einzelne Momente. Ein grelles Licht, einen Schmerz … dass ich irgendwas gesprochen habe. Und dass ihr beiden da wart. Aber das üble Gefühl, dass ich in der Magengegend habe, seit ich wieder klar im Kopf bin, sagt mir, dass es etwas mit diesen Karten zu tun hat.“
 

„Korrekt“, bestätigte Seto, „als wir dazustießen, hattest du die Karten – die du mir übrigens gestohlen haben musst – und die Schriftrolle, die angeblich aus dem Museum entwendet wurde. Und du hast etwas … beschworen.“ Atem und Seto konnten zusehen, wie Pegasus Gesicht aschfahl wurde. „Beschworen? Wollt ihr etwa damit sagen, ich habe das Ritual durchgeführt? Das echte?“ „Ich fürchte ja“, sagte Atem ernst. Dann holte er die Schriftrolle hervor und zeigte sie Pegasus, „Das hier haben wir an uns genommen. Die Beschwörungsformel für das Ritual steht drauf.“ Pegasus Augen wurden groß. „Aber wie kommt diese Schrift hierher?! Ich verstehe nicht.“ „Das frage ich mich auch“, sagte Atem nachdenklich, „und vor allem: Wieso hat nur das eine von beiden Blättern seinen Weg hierhergefunden?“ Seto zog die Brauen zusammen und sah Atem stirnrunzelnd an. „Was meinst du damit, ‚nur ein Blatt‘?“ „Ich meine, dass diese Schrift aus zwei Papyrusrollen bestanden hat. Da bin ich mir ganz sicher. Gestern Abend, als ich mich daran erinnert habe, wie wir sie aus dem Grab geholt haben, wurde es mir klar. Deshalb bin ich vorhin nochmal zum Turmzimmer gegangen und habe alles abgesucht. Aber es scheint nur dieses eine Blatt hier zu geben.“
 

„Verstehe“, nickte Pegasus, „und was ist es denn nun genau, das da fehlt? Was stand darin?“ Atem seufzte matt. „Ich kann es nicht ganz genau sagen. Ich hatte nie die Zeit, mir den Inhalt ausführlich zu Gemüte zu führen. Aber soweit ich mich erinnere war es eine Art Anleitung, wie man die Beschwörung wieder rückgängig macht.“ Pegasus lächelte bitter. „Da hat jemand also ganze Arbeit geleistet, um sicherzugehen, dass das Ritual zwar durchgeführt wird, aber auf keinen Fall wieder umgekehrt werden kann.“
 

„Was uns zurück zu der wichtigsten Frage führt“, sagte Seto kühl, „Warum du? Warum hast du das Ritual durchgeführt?“ „Naja“, überlegte Atem, „Pegasus hat das jahrtausendealte Ritual wiederentdeckt und die Karten geschaffen, denen er offenbar eine gewisse Magie verliehen hat – vielleicht durch das Milenniumsauge, das er damals noch besaß. Immerhin hat sogar die Prophezeiung vorhergesagt, dass er es sein würde, der die Beschwörung spricht“ Seto zeigte sich unbeeindruckt. „Du hast uns diesen ganzen Schlamassel eingebrockt, Pegasus! Nun kümmer dich auch gefälligst darum, dass das wieder in Ordnung kommt!“
 

Pegasus blickte auf seine Hände, die auf der Bettdecke ruhten. „Ich fürchte, du hast ganz Recht, kleiner Kaiba. Auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, wie ich die Karten aus deinem Mantel entwenden und das Ritual durchführen konnte und warum ich es getan habe, muss ich wohl einiges an Wiedergutmachung leisten.“ „Das hast du gut erfasst!“, knurrte Seto. „Was schlagt ihr also vor?“, ihr Gastgeber sah wieder zu den beiden auf. Atem erhob sich. „Ich weiß es nicht. Wir können schlecht einschätzen, was du da freigesetzt hast. Aber ich mache mir Gedanken um unsere Freunde in Domino“, sagte er nachdrücklich, „ich finde, wir haben uns lange genug hier aufgehalten. Wir sollten morgen früh gleich zurückkehren und sehen, ob es allen gutgeht.“ Seto nickte und dachte an Mokuba. Und er wusste, auch wenn Atem Yugi und die anderen kaum kannte, fühlte er sich verantwortlich für sie.
 

„Warum lassen wir nicht eure kleinen Freunde und deinen Bruder hierher einfliegen?“, schlug Pegasus vor, „ich möchte wirklich helfen und wenn ihr morgen früh in aller Eile von hier verschwindet, können wir nur schwerlich beraten, was unsere nächsten Schritte sein könnten. Warum bringen wir nicht alle hier zusammen und in Sicherheit und überlegen dann in Ruhe gemeinsam, welche die beste Strategie ist?“ Atem sah Seto fragend an. „Ich weiß nicht“, sagte der Firmenchef abweisend, „ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir uns in Domino aufhalten.“ „Komm schon, Kaiba-Boy!“, blieb Pegasus hartnäckig, „Gib dir nen Ruck! Es wird euch hier an nichts fehlen und die anderen werden sich freuen, so vorbildlich bewirtet zu werden! Alle, die dir etwas bedeuten, werden hier versammelt sein! Und sobald sich in Domino etwas tut, könnt ihr umgehend zurückkehren.“ Atem musterte Pegasus lange und eindringlich. „In Ordnung“, sagte er dann, „ja, ich denke, die Idee ist nicht die schlechteste. Aber nur, wenn du auch einverstanden bist, Seto?“ Seto knurrte widerwillig. „Na, schön. Von mir aus.“
 

***

„Denkst du, da sind vielleicht noch anderer Dinge, die Pegasus in dieser Geschichte in die Wege geleitet hat, ohne dass er sich daran erinnert?“, fragte Atem, als Seto und er nebeneinander durch die leeren Flure der Burg liefen. „Wie was zum Beispiel?“ „Naja, zum Beispiel die Hieroglyphen auf der Karte, die er angeblich nicht in Auftrag gegeben hat. Oder vielleicht sogar der Diebstahl der Schrift aus dem Museum?“ „Unmöglich ist es nicht“, gab Seto zu, „Mir ist da auch eine Sache nach wie vor unklar“, fügte er dann hinzu. „Was meinst du?“, fragte Atem. „Wenn die eine Rolle der Schrift das Ritual enthält und die andere beschreibt, wie man es umkehren kann – wo ist dann der Teil über die Milleniumsgegenstände, mit dem Bakura dich seinerzeit für seine Aktion geködert hat?“ Atem blieb stehen und blickte zu Seto auf. „Dieser Gedanke ist mir gestern Nacht auch gekommen, nachdem ich die Seite hier ausführlich gelesen habe. Ich fürchte, ich bin gleich doppelt in Bakuras Falle getappt.“ Beschämt sah er auf seine Fußspitzen, „tja, blöd gelaufen.“
 

Überrascht blickte er auf und zuckte sogar ein wenig zusammen, als Seto plötzlich lauthals begann zu lachen. „Was? Was ist? Machst du dich lustig?!“, entrüstete sich Atem, konnte jedoch selbst ein Lächeln nicht verkneifen. „Entschuldige“, sagte Seto, „es ist nur: Diese ganze Geschichte hat schon etwas ungemein Komisches, das musst du zugeben.“ „Ja … schätze, du hast Recht“, sagte Atem nachsichtig. Am Ende lachten sie beide laut und herzlich. Als sie sich beruhigt hatten, herrschte wieder Stille. „Wie … geht das mit uns nun weiter?“, fragte Seto etwas unbeholfen. Atem lächelte ihn ermunternd an. „Ich weiß nicht … ich schätze, wir lassen uns überraschen, wo es hinführt.“ „Das klingt gut“, damit konnte Seto leben. Es sagte ihm zu, dass Atem ihn nicht zu etwas drängte, wo er selbst kaum begriff, was zwischen ihnen passierte.
 

„Tut mir leid, dass ich so viel Durcheinander in dein Leben gebraucht habe“, sagte Atem und senkte den Kopf. „Ach … mach dir keinen Kopf“, wiegelte Seto ab, „ich wollte ja, dass du zurückkommst. Ich hätte einkalkulieren müssen, dass man in deiner Nähe immer in Schwierigkeiten gerät.“ Schließlich machte er ein paar Schritte auf Atem zu und zog ihn in eine Umarmung. Der Pharao legte langsam seine Arme um Setos Taille und vergrub seinen Kopf in dessen Hemd. So standen sie einfach nur da und die Zeit glitt ihnen aus den Fingern. Sie wollten den Moment festhalten und sich darin verkriechen. Als Atem sich schließlich von Seto löste, fühlte er sich wehmütig und glücklich zugleich.
 

„Oh, hallo!“ hörten sie plötzlich eine freundliche Stimme und wandten sich ihrem Ursprung zu. Vor ihnen stand der junge Sanitäter vom Vortag. „Na, so ein Zufall“, murmelte Seto wenig begeistert über das Zusammentreffen. „Hat er ein Problem mit mir?“, fragte der junge Mann mit den schwarzen Haaren über Setos Kopf hinweg an Atem gewandt. „Nein, nein, er steht nur nicht besonders auf den Austausch von Belanglosigkeiten“, versicherte der Pharao. „Aha …“, machte der Sanitäter verunsichert, „und Sie auch nicht?“ „Ich nehme doch einfach mal an, dass es keine Belanglosigkeiten sind, die Sie uns zu sagen haben“, entgegnete Atem diplomatisch.
 

„Gut gekontert. Also, ich finde wir könnten uns ruhig duzen. Wir sind ja etwa gleichalt. Ich bin Uyeda.“ „Atem“, stellte der Pharao sich vor, „und das ist Seto.“ „Atem? Ein außergewöhnlicher Name. Kommt er aus Ägypten?“, Uyeda zeigte sich interessiert. „Ja, woher weißt du das?“, fragte Atem überrascht. „Ich bin dort geboren“, erklärte der Sanitäter, „meine Mutter ist Japanerin.“ Erst jetzt fiel auch Seto seine leicht gebräunte Haut auf, deren Ton dem von Atem glich. „Ehrlich?“, die Augen des Pharao leuchteten. Scheinbar löste die Erwähnung seiner Heimat etwas in ihm aus.
 

„Kommt ihr heute nochmal auf den Punkt? Andernfalls gehe ich schon mal vor“, knurrte Seto abweisend. „Mein Punkt ist eigentlich“, Uyeda wandte sich nun vollkommen Atem zu, „du hast gestern bei mir echt Eindruck hinterlassen. Seid ihr denn noch länger hier auf der Burg? Ich hatte gehofft, du hast vielleicht Lust, mal nen Kaffee mit mir zu trinken.“ „Oh“, erst jetzt begriff Atem, worauf das Ganze hinauszulaufen schien. „Alles klar, ich bin weg“, Seto setzte sich in Bewegung, doch Atem griff nach seiner Hand und hielt ihn zurück. „Uyeda, das ist wirklich schmeichelhaft. Aber ich muss leider ablehnen. Tut mir leid, es hat nichts mit dir zu tun.“ Der junge Sanitäter blickte auf Atems Hand, die Setos noch immer festhielt. „Schade, aber schon gut. Es war immerhin einen Versuch wert.“
 

„Was machst du überhaupt noch hier?“, platzte es aus Seto heraus, „Pegasus ist doch wieder auf dem Damm.“ „Oh, aber ich gehöre zum medizinischen Personal von Industrial Illusions. Ich wohne also hier“, erklärte Uyeda verwundert. „Hier auf der Burg? Wer hätte gedacht, dass hier noch andere Leute leben außer Pegasus und Croquet“, Setos Mundwinkel zuckten amüsiert. „Wie es aussieht, werden wir uns wohl noch öfter begegnen", sagte Atem lächelnd, „wir bleiben noch eine Zeit lang hier." „Wie erfreulich", murmelte Seto zynisch, während sie schließlich zum Hauptflügel zurückkehrten.
 

***

„Ja … ja, sicher ist es problematisch, aber hierlassen ohne Beaufsichtigung kann ich ihn wohl auch schlecht. Das steht außer Frage!“, flüsterte Ryou eindringlich in den Telefonhörer. Nachdem er eine Weile nickend lauschte, legte er mit einem „Okay … verstehe. Wir sehn uns dann in ein paar Stunden" auf. Mit einem tiefen Seufzer stellte er das Telefon zurück auf die Station.
 

„Was ist los? Was wisperst du so geheimniskrämerisch?“, fragte Bakura argwöhnisch und legte den Kopf schief. Ryou wandte sich zu dem Geist des Ringes um, der auf dem Bett neben einem Monsterworld-Spielbrett saß, das er selbst stümperhaft aus Ryous bunter Bastelpappe hergestellt hatte. „Wir müssen unser Spiel leider abbrechen“, verkündete Ryou, „wir werden heute noch verreisen!“ „Was?!“, Bakura machte ein langes Gesicht, „du willst dich nur drücken, weil du am Verlieren bist!“ „So ein Blödsinn!“, entrüstete sich Ryou, „und abgesehen davon ist es ein wirklich ödes Spiel. Hast du dir das etwa selbst ausgedacht? Schon allein der Name ist lächerlich: Monsterworld. Mehr als ein reguläres Tabletop RPG ist es ja wohl nicht und die gibt’s wie Sand am Meer.“ Bakura schmollte. „Glaubst du etwa, in alten Ägypten wäre sowas schon am Fließband produziert worden? Unverschämtheit! Und was ist an dem Namen so schlimm? Es ist eine Welt, in der es Monster gibt. Also: Monsterworld.“
 

Während er sich noch echauffierte, bekam er von Ryou bereits einen roten Koffer vor die Füße geworfen. „Ach, und was soll ich bitte einpacken? Ich habe nicht viel, womit ich arbeiten kann“, kommentierte der Grabräuber patzig. „Pack deine Zahnbürste ein und ein paar von den Klamotten, die mir zu groß sind“, entgegnete Ryou leicht genervt, während er einen zweiten Koffer unter dem Bett hervorzog. „Wo geht es überhaupt hin?“, erkundigte sich sein zukünftiges Alter Ego. „Auf eine Insel.“ „Oh, machen wir Urlaub?“ „So ähnlich. Wir besuchen dort Kaiba und den Pharao. Offenbar gibt es ein kleines Problem, das wir klären müssen.“ „Was für ein Problem ist das denn?“, Bakura horchte auf. „Das erfahren wir schon noch, wenn wir dort sind“, Ryou eilte gehetzt von Schrank zu Schrank und zog Klamotten daraus hervor.
 

Der Ringgeist verzog das Gesicht. „Na toll. Ferien mit dem Pharao, das kann ja heiter werden.“ Ryou runzelte die Stirn. „Was hast du ihm nur getan, dass er vor ein paar Tagen so fuchsteufelswild auf dich reagiert hat? Du musst ihm ja mächtig die Ernte verhagelt haben“, stellte er fest, die Arme in die Hüften gestemmt. „So ähnlich“, murrte Bakura, „ich habe eine Abmachung gebrochen, die wir hatten, und ihn damit vor seinem Hofstaat und vor seinem Schwarm, diesem Seth, blamiert.“ Ryou horchte interessiert auf, verwundert darüber, dass der Grabräuber so offenherzig drauflosplauderte. „Eine Abmachung? Also eine Art Vertrag?“, hakte er nach. „Es gab keinen schriftlichen Vertrag!“, stellte Bakura defensiv klar, „trotzdem … war es nicht gerade ehrbar, ein solches Abkommen zu brechen. Tja, was soll ich sagen. Ich kann eben nicht anders. Ich bin nun mal kein rechtschaffener Mensch. Hab’s einfach nicht im Blut.“
 

„Also, in dem Fall verstehe ich, wieso dir Atem spinnefeind ist“, Ryou wandte sich kopfschüttelnd ab und begann, Hemden in seinen Koffer zu legen, „selbst ich hätte mehr von dir erwartet.“ „Ich sage dir doch, es gab nicht mal einen schriftlichen Vertrag!!!“, begann Bakura wild gestikulierend zu zetern. In diesem Moment jedoch traf ihn ein gestreiftes T-Shirt direkt ins Gesicht. „Ich sehe dich nicht packen!“ mahnte ihn Ryou streng.


 


 


 


 


 


 

XII


 

XII

Dunkle Wolken hatten sich über dem Königreich der Duellanten zusammengebraut und vereinzelte Blitze zuckten über den Abendhimmel. Atem hatte es sich am Fenster seines Zimmers bequem gemacht und beobachtete die ersten Regentropfen, wie sie auf die Ländereien prasselten, mehr und mehr wurden und schließlich in einen heftigen Schauer übergingen. In seiner Heimat war Regen etwas äußerst Seltenes und deshalb ein besonderes Ereignis. Deshalb faszinierte es ihn umso mehr. Es war, als schwemme das Unwetter die Welt um sie herum fort. Er öffnete das Fenster und sog den erfrischenden, heilsamen Duft in sich ein. Gerade da klopfte es an der Tür und Seto betrat das Zimmer.
 

„Okay, ich habe mit Yugi telefoniert“, informierte er den Pharao, „er sagt, sie fliegen heute Abend noch los und sind dann morgen früh hier. Pegasus hat angeboten, seine Privatjets zu schicken, aber ich habe Mokuba Anweisung gegeben, sie mit unserem Flugzeug herzubringen. Das geht schneller.“ „Verstehe“, Atem nickte. „Und … da ist noch etwas“, Seto lächelte jetzt etwas gequält und ließ sich dann auf einen der Sessel sinken. „Was? Was ist los?“, Atem horchte auf. „Es ist nur – sie bringen Bakura auch mit hierher. Yugi sagte, dass es besser so ist, solange wir ihn nicht richtig einschätzen können.“
 

Atems Miene verfinsterte sich augenblicklich, aber er seufzte nur. „Tja … ich bin nicht begeistert, aber das muss ich wohl einsehen. Naja … dann dauert es ja noch eine ganze Weile, bis wir uns mit den anderen beratschlagen können. Was schlägst du vor, was wir heute Abend noch tun? Sollen wir uns noch ein bisschen ausgiebiger in der Burg umsehen? Vielleicht entdecken wir ein paar Hinweise bezüglich Pegasus‘ seltsamem Blackout?“ „Ehrlichgesagt“, sagte Seto und machte eine kurze Pause, bevor er sich ein Herz zu fassen schien, „bevor es hier morgen recht lebhaft wird, fände ich es schön, wenn wir heute Abend noch etwas zur Ruhe kämen.“
 

Ein weicher Ausdruck trat in Atems Gesicht und er legte verschmitzt den Kopf schief. Es schien Seto schwerzufallen, offen über seine Gefühle zu sprechen, aber er glaubte herauszuhören, dass der Firmenchef sich erhoffte, noch ein wenig mehr Zeit mit ihm verbringen zu können, bevor dies vielleicht nicht mehr möglich war. „Also“, lächelte er, „ich wäre für eine weitere Partie Duel Monsters zu haben.“ Seto musste unwillkürlich grinsen. „Du weißt, damit würdest du mich sehr glücklich machen.“ „Na, wenn es mehr dazu nicht braucht“, zwinkerte Atem.
 

Langsam trat er auf Seto zu und fing seine Hände mit den eigenen ein. Während ihre Blicke ineinander versanken, fuhr er federleicht mit einem Zeigefinger über Setos Handrücken. Erneut war er dem Chef der KaibaCorporation nahe genug, um dessen unverkennbaren Duft zu riechen, der so anders war als der von Seth. Für den Bruchteil einer Sekunde jagte der Gedanke durch Atems Kopf, dass man ihm hiermit vielleicht eine zweite Chance gegeben hatte, ein bisschen Glück zu erfahren, herauszufinden, wie es war, diese Art von Nähe zu genießen. Aber er verwarf ihn gleich wieder. Was für unsinnige Dinge man doch manchmal dachte, wenn Emotionen im Spiel waren. Dennoch erlaubte er sich, seine Stirn an die von Seto zu legen und seinen Geruch tief einzuatmen. „Hör zu“, begann er dann vorsichtig, „ich weiß, ich habe vorhin gesagt, wir sollten sehen, wo uns das hier hinführt. Und ich will das auch wirklich, bitte versteh mich nicht falsch. Aber: Bist du dir auch darüber im Klaren, dass ich hier nicht wirklich hergehöre? Und dass alles, was zwischen uns jetzt entsteht, vielleicht zeitlich begrenzt ist?“
 

Seto schwieg einen Moment, doch dann sagte er entschieden, „Ich weiß sehr gut, dass wir nicht vorhersehen können, was passiert. Und es gefällt mir nicht wirklich. Aber eine bessere Chance haben wir wohl nicht. Und ich möchte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.“
 

Im Grunde seines Denkens war er immer der Meinung gewesen, dass Atem nach Domino gehörte. Deshalb war es ihm wohl auch so vorgekommen, dass die Zeit stillgestanden hatte, seitdem dieser verschwunden war. Atem hatte es verdient, dass er mehr über sich und darüber lernen durfte, was er wollte, als er es in seinem Leben als Pharao konnte. Und die Tatsache, dass es seine freie Wahl war, seine Zeit gerade mit ihm, Seto Kaiba, zu verbringen, erfüllte ihn mit Stolz. Denn er war sich darüber im Klaren, dass Menschen wie dieser Uyeda wesentlich offener und herzlicher waren und sicherer in sozialen Situationen auftraten, als er selbst es tat. Jahrelang hatte all das in seinem Leben keine Rolle gespielt und das war ihm nie als Defizit erschienen. Doch nun …
 

Dankbar und erleichtert sah Atem zu Seto auf. „Ich schätze, dann ist es für mich auch in Ordnung“, sagte er. Setos Hand legte sich in seinen Nacken und strich dann seinen Rücken hinab. Wo Atems Shirt aufhörte, konnte er dessen warme Haut spüren. Plötzlich wurde es ihm klar wie nie: Atem war hier, lebendig, etwas, das er sich fast nicht mehr zu glauben gewagt hätte.
 

Der Pharao überbrückte die letzte Distanz zwischen ihnen und sie versanken in einem langen Kuss. Zwei Gestalten in einer riesigen Burg, in der man sich verlieren konnte. In der Düsternis des Abends, die die Sicht raubte. In einem Unwetter, das alle Gedanken übertönte. Nur sie beide konnten die des jeweils anderen hören – und lernten einander zu sehen.
 

***

Joey streckte sich ausgiebig nach dem langen Flug und setzte einen Fuß auf den Boden im Königreich der Duellanten. Sofort sank er einige Zentimenter im Matsch ein und hüpfte fröstelnd von einem Bein auf das andere, während er die Arme um seinen Körper schlang. „Brrr, wer hat das schlechte Wetter bestellt?!“, beschwerte er sich. Noch immer regnete es im Strömen und kein Ende war in Sicht. Obwohl es bereits Vormittag war, ließ sich weit und breit keine Sonne am Himmelszelt ausmachen. „Gut, dass dein Großvater nicht mitgekommen ist“, sagte Mokuba an Yugi gewandt, „er hätte sich sicher eine gefährliche Erkältung eingefangen.“ Yugi nickte. „Ja, er wollte lieber in Domino bleiben, obwohl ich mir wirklich Sorgen um ihn mache, wenn er sich dort allein aufhält.“
 

Kurze Zeit später marschierte die ganze Gruppe unter vier großen Regenschirmen mit dem Logo der KaibaCorporation darauf über die Insel. „Haha, I’m back, Baby!“, grinste Joey, „fühlt sich seltsam an, wieder hier zu sein, oder, Leute?“ Téa nickte. „Ja. Das alles ist so lange her und trotzdem kommt’s mir vor, als wäre es erst gestern gewesen.“ „Hey, wisst ihr noch? In der Höhle da waren wir eingesperrt!“, sagte Tristan und zeigte auf den schmalen Eingang. „Ja, und hier hat Yugi sich mit Mako duelliert.“ „Und in dem Wald hat Bakura uns in Karten verwandelt und ein Spiel der Schatten mit dem Pharao gespielt!“ Bakura horchte auf und grinste schief. „Jap, das klingt nach mir“, stellte er nüchtern fest, „aber nachdem ich gehört habe, dass dieser Pegasus euch auf seine verlassene Insel hier gelockt, den Pharao ebenfalls in ein Spiel der Schatten verwickelt und die ein oder andere Seele gestohlen hat, ihr jetzt aber mit ihm befreundet seid, verstehe ich besser, wieso ihr zu mir so nett und gastfreundlich seid. Ich sollte mich jedenfalls mal mit diesem Typen unterhalten und ihm beibringen, wie so ein finsterer Plan das nächste Mal auch todsicher aufgeht!“
 

Nach 30 Minuten kamen sie endlich, durchnässt und ausgefroren, auf der Burg an. Pegasus begrüßte sie höchstpersönlich am Eingangstor. „Willkommen, willkommen, meine Freunde! Gedenken wir der alten Zeiten und lassen die Tage unseres Kennenlernens wiederaufleben!“, mit diesen Worten breitete er dramatisch seine Arme aus. „Lieber nicht“, sagte Tristan zynisch, „wir würden es begrüßen, diesmal unsere Seelen zu behalten.“ „Ach, Schnee von gestern“, winkte Pegasus ab, „heute sind wir hier versammelt, um als Team zusammenzuarbeiten! Aber bevor wir alles besprechen, solltet Ihr euch trockene Kleidung anziehen. Croquet zeigt euch gleich eure Zimmer.“
 

Als sie einer nach dem anderen die Treppen erklommen, blieb Pegasus Blick finster an Bakura hängen. „Hat er was gegen mich?“, flüsterte dieser Ryou zu, „Kann man so sagen“, wisperte dieser energisch zurück, „du hast ihm sein Milleniumsauge abgenommen und ihn bewusstlos duelliert.“ „Oh – ja, das klingt ebenfalls nach mir!“, nickte der zukünftige Geist des Ringes verstehend.
 

***

Atem fühlte sich sehr wohl, als er die Augen aufschlug. Auch wenn seine Schulter schmerzte. Als er sich orientierte, stellte er fest, dass er mit dem Kopf an Setos Schulter eingeschlafen war. Seto hatte locker den Arm um ihn gelegt. Auf dem Tisch lagen nach wie vor die Spielkarten ihres begonnenen Duel Monsters-Matchs. Sie hatten irgendwann den Faden verloren und sich lediglich leise unterhalten. Schließlich mussten sie eingeschlafen sein.
 

Jetzt horchte der Pharao auf, als er Stimmengewirr auf dem Gang vernahm. Auch Seto schlug desorientiert die Augen auf. „Seto, ich schätze, die anderen sind da“, informierte ihn Atem schläfrig. Setos Blick fiel auf die angefangene Duel Monsters Partie und seine Augen weiteten sich. „Ich glaube es nicht!“, hellwach fuhr er hoch. „Was? Was ist denn?“ Atem blickte ihn verwirrt an. „Ich hätte gewonnen!“, stieß Seto ungläubig hervor, „Sieh doch! Noch ein Angriff und deine Lebenspunkte wären auf Null gewesen! Ich hätte endlich, wahrhaftig gewonnen! Ich kann es nicht glauben. Nach all den Jahren! Was für ein Triumph!“ Atem lächelte wissend und rang ein paar Sekunden mit sich, ob er Seto in seinem Irrglauben lassen und ihm seinen vermeintlichen Sieg auskosten lassen sollte, damit er endlich von dieser leidigen Obsession ablassen und seinen Frieden damit schließen konnte. Doch er war selbst zu kompetitiv und ehrgeizig, um das einfach so stehenzulassen.
 

„Das hättest du wohl gern!“, platzte es aus ihm heraus, „Leider hast du dich geschnitten. Denn ich, mein Lieber, hatte das hier auf der Hand!“ Dann drehte er sein Blatt um, das verdeckt auf dem Tisch lag, und hielt Seto eine Schnellzauberkarte hin. „Damit hätte ich deinen Angriff auf eines deiner Monster umgelenkt! Und da du nur noch 500 Lebenspunkte hast – tja.“ Der euphorische Ausdruck in Setos Gesicht verebbte augenblicklich. „Verdammt!“, murmelte er. Dann jedoch seufzte er. „Naja – was solls. Es wäre auch zu einfach gewesen. Irgendwann, Pharao! Irgendwann wird es passieren, wenn du es am wenigstens erwartest!“ Atem grinste. „Wir werden sehen. Heute jedenfalls nicht.“ Dann zog er Seto in einen langen Kuss. Für einen Moment vergaßen sie die Umgebung um sie herum und der Kuss wurde leidenschaftlicher und verlangender. Setos Lippen glitten über Atems Schlüsselbein und erkundeten die warme Haut, auf der sich eine Gänsehaut gebildet hatte. Atem legte seine Hände an Setos Rücken und spürte dort jeden Muskel.
 

Plötzlich drang ein Jauchzen an ihre Ohren. „Burg Pegasus, mach dich darauf gefasst, von Joey erobert zu werden!“, erklang Joeys fröhliche Stimme von draußen. Atem und Seto hielten inne und mussten unwillkürlich lachen. „Wheeler ist so ein Kindskopf“, stellte Seto kopfschüttelnd fest. „Wir sollten sie lieber in Empfang nehmen“, schlug Atem vor.
 

Als die beiden kurz darauf müde und zerknittert das Zimmer verließen, wurden sie von vielen Augenpaaren verwirrt angestarrt. Alle schienen erst mal verarbeiten zu müssen, dass die beiden aus demselben Zimmer gekommen waren. „O … kay“, sagte Joey schließlich lediglich, „das ist neu.“ Atem fing Setos Blick auf und beide mussten grinsen. „Großer Bruder!“, jubelte Mokuba kurz darauf, lief auf Seto zu und umarmte ihn stürmisch. „Wenn ich gewusst hätte, dass euer Ausflug so lange dauert, wäre ich von Anfang an mitgekommen!“ „Steht die Firma noch?“, fragte Seto schuldbewusst. „Das Gebäude schon“, ärgerte Mokuba ihn zwinkernd. Seto hasste es, wenn er nicht selbst ein kritisches Auge auf die Geschäfte haben konnte, und delegierte nur ungern.
 

***

Wenig später saßen sie alle versammelt in Pegasus Speisezimmer. Einige von ihnen hatten Platz an der großen Tafel gefunden, andere lümmelten sich auf den Sitzgelegenheiten in einer kleinen Sitzecke. „Also gut“, ergriff Yugi als erster das Wort, „jetzt sind wir aber sehr neugierig: Warum habt ihr uns alle einfliegen lassen? Ist denn etwas passiert?“ Dabei dachte er an das merkwürdige Gefühl zurück, dass er in der vorletzten Nacht gehabt hatte.
 

„Augenblick mal“, unterbrach ihn Atem und erhob sich. Dann warf er einen strengen Blick zu Bakura hinüber, der sich auf einem der Sessel niedergelassen und die Beine übereinandergeschlagen hatte, „wir können gerne über alles in Ruhe sprechen, aber ich sehe nicht, was er hier verloren hat! Ich halte es für keine gute Idee, dass er mithört!“ Bakura erhob sich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach, wirklich, Eure Hoheit? Ich schätze aber, ich werdet lernen müssen, dass hier nicht mehr alles nach Eurem hübschen Köpfchen geht, und nicht all Euren Wünschen immer entsprochen wird. Also, da wir da nun geklärt hätten …“ Herausfordernd funkelte er den Pharao an. „Du kleine Ratte!“, zischte dieser bedrohlich, „verschwinde besser aus der Schusslinie, bevor ich richtig wütend werde!“ „Ich gehe nirgendwohin!“, lächelte Bakura siegesssicher, „immerhin betrifft diese Angelegenheit mich genauso wie dich.“ „Oh, wirklich? Du scheinst dich ja bereits gut auszukennen. Woher willst du denn überhaupt wissen, um welche Angelegenheit es hier geht?!“, fragte der Pharao lauernd, Dann wandte er sich an den Rest der Gruppe: „Seht ihr, das ist der beste Beweis dafür, dass ihm nicht zu trauen ist!“
 

Bakura wollte erneut den Mund öffnen, als Ryou plötzlich aufstand und beide Hände hob. „Okay, hört sofort auf damit!“, erhob er seine Stimme in einem erstaunlich strengen Ton, den niemand von ihm erwartet hatte, „Hier geht es nicht um eure dämliche Meinungsverschiedenheit oder um euren verletzten Stolz! Es gibt jetzt wesentlich wichtigeres als eure persönlichen Probleme. Ja, und deshalb denke ich, dass Bakura ebenfalls an unserer Beratung teilnehmen sollte! Immerhin wird es einen Grund dafür geben, weshalb er mit dir, Atem, hierhergebracht wurde. Und wenn wir ihm vorenthalten, um was es geht, können wir schlecht herausfinden, was dieser Grund ist. Vielleicht hat er wichtige Informationen, die uns helfen können bei – was auch immer ihr uns gleich berichten werdet!“
 

Atem nahm wieder Platz und schwieg mit pikiertem Gesichtsausdruck. „In Ordnung“, entschied Yugi schließlich, „Bakura bleibt. Nun weiht uns endlich ein!“ Und so berichteten Pegasus, Seto und Atem – letzterer nur widerwillig – abwechselnd die Begebenheiten der letzten Tage und schließlich auch Atems und Bakuras Erlebnisse in dessen Zeit als Pharao, die mit dem Ritual in Verbindung standen. „Soso, diese alte Geschichte hatte also ein sehr verspätetes Nachspiel“, sagte Bakura amüsiert, „sowas ähnliches hatte ich schon im Gefühl.“
 

„Das habt ihr also in der Kaibavilla vor uns verheimlicht“, stellte Yugi angesäuert fest, „warum habt ihr nichts gesagt? Wir haben immerhin bisher jede Situation zusammen gemeistert!“ „Ja, das mag sein“, sagte Atem schuldbewusst, „aber … du vergisst, dass das nur für euch gilt, nicht für mich. Ich habe all das noch nicht erlebt, und ich wollte einfach niemanden in meine Angelegenheiten hineinziehen.“ „Kaiba offenbar schon“, stellte Yugi nüchtern fest. „Die Karte war immerhin in seinem Besitz“, entgegnete Atem ruhig.
 

„Leute, das bringt uns nicht weiter“, ging nun Téa dazwischen und hob beschwichtigend die Hände, „lasst und lieber überlegen, was wir jetzt tun können. Also, wie ich es sehe, können wir schlecht planen, da wir nichts darüber wissen, was denn nun eigentlich durch das Ritual freigesetzt wurde.“ „Das stimmt leider“, Ryou legte eine Hand an sein Kinn, „kann uns denn die Schrift nicht mehr Aufschluss darüber geben?“ „Das wäre immerhin ein Ansatzpunkt“, nickte Atem. „Ein paar von uns sollten sich dem Papyrus nochmal genau widmen und den Text nach Hinweisen durchkämmen – und vorzugsweise diejenigen, die ihn auch lesen können“, überlegte Yugi. „Okay, Pegasus und ich können und darum kümmern“, schlug Atem vor. „Nein“, sagte Seto entschieden, „ich würde gerne mit Pegasus zusammen einige Unterlagen von Industrial Illusions durchsehen, um herauszufinden, ob es Hinweise darauf gibt, dass Pegasus vorher schon einmal Dinge veranlasst hat, an die er sich nicht erinnern kann.“ Der Pharao nickte einsichtig. Er hatte sofort begriffen, dass Seto Pegasus generell etwas mehr auf den Zahn fühlen und nicht lediglich weitere Erinnerungslücken überprüfen wollte. „Wie du meinst, Kaiba-Boy“, erklärte sich Pegasus bereitwillig einverstanden.
 

„Aber wer bleibt denn dann noch, um mit mir den Inhalt der Schrift durchzugehen? Wer sonst kann die Hieroglyphen lesen?“, fragte Atem. Alle Augen richteten sich auf Bakura. „Ohhhh nein“, Atem schüttelte fassungslos den Kopf ob dieser absurden Idee. „Komm schon, gib dir mal nen Ruck, Alter!“, bat Joey ihn, „wir wollen doch alle mit dieser Sache hier weiterkommen, oder nicht?“ Erneut schwieg Atem kurz. „Schön“, gab er sich schließlich geschlagen.
 

Erneut zuckte ein greller Blitz draußen auf und nur wenige Millisekunden später folgte ein krachender Donnerschlag. „Was ist nur mit dem Wetter los?“, fragte Ryou, der zusammengezuckt war, „dieses Unwetter scheint gar nicht weiterzuziehen.“ „Möglicherweise ist es kein gewöhnliches Gewitter“, merkte Yugi nachdenklich an. Pegasus klatschte in die Hände. „Tja, so wie ich es sehe, gibt es wenig, was wir sonst tun können. Der Kleine Kaiba und ich machen uns dann an die Arbeit, genau wie der Pharao und der Geist des Milleniumsringes. Für den Rest gilt: Fühlt euch wie zu Hause! Heute Abend wartet dann eine kleine Überraschung auf euch alle!“
 

„Alles okay?“, fragte Seto Atem vorsichtig, als die Gruppe sich langsam auflöste. „Ja, alles bestens“, entgegnete der Pharao leicht verstimmt und Seto runzelte zweifelnd die Stirn. „Also gut“, Bakura kam zu ihnen herübergeschlendert und steckte lässig die Hände in die Hosentaschen, „bringen wir diese unangenehme Sache hinter uns.“ „Sehe ich auch so“, sagte Atem steif. „Sofern dich dein kleiner Bodyguard da mit mir alleinlässt, versteht sich.“ Der König der Diebe warf Seto einen hochmütigen Blick zu, dann fügte er hinzu: „Wie ich sehe, hast du ja nicht lange gebraucht, um deinen heißgeliebten Priester zu ersetzen. Naja, nachdem er dich so rüde abserviert hat, ist ja nur verständlich, dass man sich anderweitig umschaut. Andere Mutter haben auch schöne Söhne – insbesondere wenn sie fast genauso aussehen.“ Er grinste triumphal und beobachtete Setos Reaktion auf seine Worte.
 

„Halt den Mund!“, spie Atem ihm harsch entgegen. Auch sein Blick wanderte zu Seto, der ihn fragend ansah. „Atem, was meint Bakura damit?“, wollte er argwöhnisch wissen. „Ach, nichts weiter – können wir das später in Ruhe besprechen?“
 

„Kaiba-Boy, was dauert denn noch so lange?“, ertönte Pegasus Stimme ungeduldig von der anderen Seite des Raumes. Seto zögerte kurz, schien dann aber einzusehen, dass dies nicht der rechte Moment war, und nickte Atem und Bakura kurz zu, bevor er Pegasus aus dem Speisesaal folgte.


 


 


 


 


 


 


 


 

XIII


 

XIII

„Du bist wirklich durch und durch böse!“, zischte Atem Bakura geladen zu, nachdem sie alleine waren, „du musstest diese Sache Seto jetzt unbedingt aufs Brot schmieren, oder?“ Bakura grinste. „Das hast du gut erfasst! Genauso bin ich!“ Atem schüttelte schnaubend den Kopf. „Ich hätte dich einsperren sollen, als ich die Chance und die Kerker dazu hatte!“, knurrte er. „Haben wir nicht ein Rätsel zu lösen oder so?“, gähnte Bakura in gespielter Langeweile, „Wie genau bringt es uns weiter, wenn du mir Beleidigungen an den Kopf wirfst? Denkst du, ich bin erbaut darüber, mit dir hier sitzen und Knobelspiele spielen zu müssen?“ Atem funkelte ihn ein paar Sekunden lang lediglich wild an.
 

Schließlich ließ er sich auf ein Sofa fallen und zog die Schriftrolle aus seiner Tasche. Die Hieroglyphen verschwammen vor seinen Augen, eine solche Wut tobte in ihm. Und wenn er ehrlich mit sich war, dann richtete sie sich am allermeisten gegen sich selbst. Warum hatte er Bakura überhaupt so tief in sein Innerstes blicken lassen, dass er jetzt die Macht hatte, andere auf der Basis dieser Informationen gegen ihn auszuspielen?
 

***

Atem lehnte sich erschöpft gegen die Wand, deren raue Oberfläche er neben sich spürte, aber nicht sah. „Können wir einen Moment ausruhen?“, bat er zähneknirschend. Er gab nicht gerne zu, dass ihm der beschwerliche Weg zusetzte. Es war nicht so sehr die körperliche Anstrengung – denn dir war er durch tägliches hartes Training gewohnt – als vielmehr das Wandern in völliger Dunkelheit, das ihm zu schaffen machte. „Ungern“, sagte Bakura, der vor ihm herlief, „Was ist? Ist unser verwöhnter König vom vielen Faulenzen auf dem Thron aus der Übung?“ „Hättest du wohl gern!“, zischte Atem, „ich bin lediglich nicht so eine Nachteule wie du!“ „Das würde ich an Eurer Stelle auch sa …“ In diesem Moment geschah es. Atem spürte lediglich, eine Vibration der Wände um ihn herum und hörte ein kaum vernehmliches Knirschen. Es war vielmehr ein Gefühl als dass die Wahrnehmung schon vollends in seinem Kopf angekommen war.
 

Einer Intuition folgend griff er nach vorne, dorthin, wo er Bakura vermutete, packte mit beiden Händen seinen Arm und zog ihn ruckartig nach hinten. Im selben Augenblick prasselten von der Decke hunderte von Steinbrocken mit einem ohrenbetäubenden Getöse. Bakura stöhnte schmerzvoll auf, bevor er durch Atems groben Zug das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Die letzten einzelnen Brocken fielen noch immer vor ihnen zu Boden, danach folgte viel Sand, der unentwegt fortrieselte. Dort, wo der Weg eben noch frei gewesen war, türmte sich jetzt ein gewaltiger Geröllhaufen auf. Es war kein Durchkommen mehr. „Alle Achtung“, sagte Bakura, „das nenn ich Reflexe.“ Atem ließ sich ebenfalls erschöpft zu Boden sinken.
 

Nach wenigen Sekunden, in denen Sie die Ereignisse erst einmal verdauen mussten, nahm er wahr, wie der König der Diebe sich neben ihm versuchte aufzurappeln. Mit einem Zischen sank er jedoch augenblicklich wieder zu Boden, noch bevor er auf die Füße gekommen war. „Was ist los?“, fragte der Pharao in die Dunkelheit. „Ich hab einen größeren Brocken auf den Fuß bekommen. Verdammter Mist!“, fluchte Bakura ärgerlich, „das hat mir grade noch gefehlt!“ „Eine kleine Pause klingt jetzt gar nicht mehr so übel, was?“, neckte ihn Atem mit Genugtuung. „Ach, haltet Eure Klappe“, sagte Bakura grimmig, machte aber keine Anstalten, einen Aufbruch in die Wege zu leiten.
 

So saßen sie da und starrten auf den Berg Steine vor ihnen, so viel sie davon erkennen konnten. „Hast du noch starke Schmerzen?“, fragte Atem. „Nein“, log Bakura abweisend. Dann fügte er etwas ruhiger und nachsichtiger hinzu: „Warum habt Ihr das getan? Warum helft Ihr mir?“ Atem zuckte die Schultern, auch wenn er wusste, dass Bakura es nicht sehen konnte. „Ich weiß nicht. Ich brauche dich immerhin noch. Aber ich hätte es so oder so getan. Ich bin einfach niemand, der andere über die Klippe schubst.“ „Ja, das merke ich“, schnaubte Bakura, „aber ich meinte eigentlich nicht nur das eben. Sondern das Ganze hier. Dieser absurde Aufwand. Wieso habt Ihr in mein Angebot eingewilligt?“ Atem seufzte und blickte zu Boden. „Schätze, ich … hab sonst nicht viel Abwechslung in meinem Leben“, gestand er dann leise. Er wusste bereits, er würde dies hier hinterher bereuen, aber er redete trotzdem drauf los. Es gab sonst niemandem, dem er diese Dinge anvertrauen konnte.
 

„Und warum führt Ihr es dann? Warum macht Ihr diesen Scheiß mit?“ Nun war es an Atem zu schnauben. „Hast du eine Ahnung. Du denkst wirklich, man kann das alles einfach abstreifen? Es sich anders überlegen? Umschulen? Du bist ja naiver, als ich gedacht habe.“ „Was ist mit Eurem Priester, diesem Seth? Bereitet er Euch nicht ein paar nette Abendstunden?“ Atem biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. „Wüsste nicht, was dich das anginge“, spie er aus.
 

„Es geht mich tatsächlich nichts an“, gab Bakura offen zu, „aber dass da mehr in der Luft ist als ein bloßes Dienstverhältnis, das sieht ein Blinder.“ „Da ist nichts!“, zischte Atem. Dann sagte er leiser: „Er – will davon nichts wissen. Er sagt, ich übe nicht diese Anziehung auf ihn aus. Und dass das unsere Arbeit beeinträchtigen würde.“ Bakura legte den Kopf schief. „Also hatte ich Recht. Da ist doch etwas. Und seid Ihr denn sicher, dass er die Wahrheit sagt? Er wirkte doch recht besorgt um Euch.“ Atem knurrte. „Er ist nur besorgt um die Führung des Landes und um seine geliebten Gesetze. Ich wünschte, er könnte sich einfach mal fallenlassen.“
 

„Wisst Ihr, Euer Armseligkeit“, sagte Bakura noch einigen Sekunden, „ich glaube, ich habe Euch tatsächlich ein wenig falsch eingeschätzt. Ich dachte, Ihr seid genauso wie er. Aber das stimmt nicht. Ihr tut mir ehrlichgesagt leid. Und das sage ich sicher kein zweites Mal.“ „Danke“, Atem nickte, auch wenn ihm dies wenig weiterhalf, tat es doch gut.
 

„Wir müssen die Steine aus dem Weg räumen“, kam der Grabräuber das Gespräch wieder auf ihren weiteren Weg zu sprechen, „helft mir auf“, wies er Atem an. Der Pharao stützte Bakura, sodass dieser sich unter Ächzen hochziehen konnte. Schweigend begannen sie, Stein um Stein aus dem Haufen herauszubrechen zur zur Seite zu legen. „Das dauert viel zu lange!“, bemerkte Atem nach fünf Minuten, „wenn das so weitergeht, sitzen wir morgen früh noch hier!“ Bakura schwieg. Der Pharao hatte Recht.
 

Atem trat einen Schritt zurück und betrachtete sich den Steinhaufen eingehend, inspizierte einzelne Stellen der soliden Wand. „Wir brauchen etwas, das wir als Hebel benutzen können“, verkündete er schließlich. Bakura überlegte kurz. Dann zog er ein edel aussehendes Messer aus seiner Tasche, das Atem sofort als Diebesgut aus einem anderen Grab erkannte. „Könnte das gehen?“, fragte er und reichte es dem Pharao. „Möglich.“ Atem setzte den Hebel mit Bedacht an, suchte den richtigen Winkel. Dann drückte er mit aller Kraft, die er hatte. Ein Knirschen war zu hören, dann das Rollen von Steinen. Sekunden später klaffte ein hüftbreites Loch in der Steinwand. „Pharao, Ihr habt meinen Respekt, ehrlich. Man kann vieles über Euch sagen, aber nicht, dass Ihr nichts in Eurem hübschen Köpfchen habt. Euer Seth sollte sich um Eure Zuneigung reißen. Er sieht nicht, was er direkt vor seinen Augen hat.“ „Netter Versuch, mich aufzumuntern“, gab Atem schmunzelnd zurück. „Hat’s gewirkt?“, wollte Bakura grinsend wissen. „Ein wenig“, gab der Pharao zu, „jetzt aber weiter!“ Sie krochen durch das Loch, wobei sie sich Hände und Knie ordentlich aufschürften. Für den Rest des Weges musste Atem Bakura stützen.
 

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Er gab nur ungern zu, dass er in Bakuras Falle getappt war. Der Grabräuber hatte den Vertrauenswürdigen, Verständnisvollen gemimt und der Pharao, verletzlich und einsam wie er gewesen war, hatte begonnen ihm sein Herz auszuschütten – gegen besseres Wissen. Bakura hatten seine Wünsche nie interessiert, das zeigte sich jetzt nur zu deutlich, wo er versuchte aus reiner Schadenfreude Atems gutes Verhältnis zu Seto zu sabotieren.
 

Bakura fläzte sich nun neben ihn aufs Sofa und zog lässig die Füße nach oben. „Also, bewachst du die Schriftrolle jetzt wie Osiris oder lässt du mich einen Blick draufwerfen?“, grinste er den ehemaligen Pharao an. „Ich will dich was fragen“, sagte dieser ohne zu antworten und brachte die Schrift aus Bakuras Reichweite, „Dass der Text Informationen über die Milleniumsgegenstände enthält – das war auch gelogen, oder? Das hast du nur gesagt, um mich zu ködern.“ Bakura blickte ihn überrascht an. „Nein“, sagte er dann ernst, „das wäre zwar eine nette Idee gewesen, aber das geht nicht auf mein Konto. Meine Informanten haben mir tatsächlich davon berichtet.“ Nun war es an Atem, sich überrascht zu zeigen. „Aber … wenn dieser Teil die Beschwörung und der andere die Gegenformel enthält, wo soll dann bitte der Teil über die Artefakte sein?“ Bakura zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? Da bin ich überfragt. Interessiert mich auch reichlich wenig. Viel spannender finde ich, was da für eine Macht freigesetzt wurde. Ich hoffe, wir finden die Gegenbeschwörung erst, nachdem wir die Auswirkungen des Rituals zu Gesicht bekommen haben!“
 

Atem beäugte Bakura argwöhnisch. Er wusste nach wie vor nicht, ob er ihm die Sache mit den Gegenständen glauben sollte, aber es half alles nichts. Widerwillig reichte er ihm die Schrift, die der König der Diebe sofort mit gierigem Blick überflog.
 

***

Seto grübelte indessen ebenfalls über Bakura und seine Worte nach. Ein flaues Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen seit ihrem kurzen Schlagabtausch. Was hatte er mit seiner Anspielung gemeint? War sie am Ende gar nicht so kryptisch, wie Seto sie empfunden hatte? Im Grunde hätte er die Frotzelei als leere Provokation abgetan. Doch was ihn irritiert hatte, war Atems forsche und unangenehm berührte Reaktion. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, Bakura hätte den Hohepriester Seth nicht erwähnt. Seto wusste, dass er eine große Rolle in Atems Leben gespielt hatte. Doch vielleicht hatte er mehr Raum darin eingenommen, als es ihm selbst lieb war. Konnte etwas an Bakuras Worten dran sein? Fühlte Atem sich nur deshalb zu ihm, Seto, hingezogen, weil er Seths Ebenbild war?
 

Seto musste all seine Willenskraft zusammennehmen, um sich gedanklich von diesen nagenden Fragen zu lösen und sich vollkommen auf Pegasus Arbeitszimmer zu konzentrieren, das se nun betraten. „Sei mein Gast“, lud Pegasus ihn ein, die Arme ausgebreitet, „alle Unterlagen, die sich hier befinden, stehen dir selbstverständlich zur Einsicht zur Verfügung.“ Es wirkte, als sei er tatsächlich bereit, alle Karten offenzulegen. Seto setzte sich also an Pegasus Schreibtisch und begann damit, systematisch alles durchzugehen, was sich an Akten darauf befand. Als er damit fertig war, erhob er sich und fuhr mit den Zeigefinger an den Ordnern in den hohen Regalen entlang. Es war ihm klar, dass er diese unmöglich alle an einem Nachmittag lesen konnte. Falls Pegasus irgendwo darin verdächtige Dokumente versteckt haben sollte, war es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
 

„Sind das alle Unterlagen? Oder gibt es noch welche in der Firma?“, fragte er sachlich. „Das ist alles, was in Papierform vorliegt. Den Rest haben wir umgestellt auf elektronische Akten. Leider sind diese aber hochvertrauliche Dokumente auf unserem Server, zu denen ich dir unmöglich Zugang gewähren kann, wenn du verstehst.“ Seto nickte. „Sicher.“ So waren nun mal die Spielregeln der Geschäftswelt. Dem konnte er wenig entgegensetzen. „Nichts deutet für mich darauf hin, dass weitere Transaktionen stattgefunden haben, von denen du nichts mehr weißt, Pegasus“, sagte er schließlich, „ich denke, wir sind hier fertig.“ „Es erleichtert mich sehr, dass du zu diesem Schluss gekommen bist“, entgegnete Pegasus vergnügt, „also gut, dann lass uns zu den anderen zurückkehren.“ Seto nickte, aber ein vages Gefühl ließ ihn nicht los, dass es sich lohnte, tiefer zu graben.
 

Sie befanden sich bereits auf halbem Weg nach unten, da verlangsamte Seto seine Schritte. „Kommst, du, Kaiba-Boy? Wieso bummelst du so?“, rief Pegasus ihm über die Schulter zu. „Ich komme gleich nach!“, informierte Seto ihn, „Ich muss kurz noch etwas aus meinem Zimmer holen.“ „In Ordnung“, lächelte Pegasus, „mach dich schonmal zurecht. Du weißt ja: Es wartet noch eine Überraschung auf euch.“ Er zwinkerte ihm zu und entschwebte die große Haupttreppe nach unten in Richtung Eingangshalle.
 

Seto wartete einen Augenblick, dann eilte er zurück nach oben und schritt Gang für Gang entlang. Seine eigene Zimmertür würdigte er jedoch keines Blickes, sondern strebte direkt auf den Teil der Burg zu, wo er Pegasus Schlafzimmer vermutete. Zu seinem Bedauern wusste er nicht genau, wo es sich befand, lediglich die Richtung, in die Pegasus verschwinden sehen hatte. Es zeigte sich jedoch schnell, dass der Hausherr einen kompletten Flügel der Burg als Quartier bezogen hatte, der durch eine große Doppeltür vom Rest des Gebäudes abgetrennt war. Nach einem ersten wenig hoffnungsvollen Versuch, ihn zu betreten, stellte Seto fest, dass die Tür verschlossen war. Er kramte nach einer Büroklammer in seinem Mantel und wurde schließlich fündig. Mit ruhiger Hand bog er sich das Werkzeug zurecht und zweckentfremdete es zum Dietrich. Nach wenigen Sekunden hatte er das Schloss geknackt. Auf leisen Sohlen schlich er hinein und drückte die Tür vorsichtig hinter sich zu. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob du nicht doch etwas vor uns verbirgst“, murmelte er zu sich selbst.
 

Er stand jetzt in einem geräumigen und luxuriösen Wohnraum, der in Gold und Altrosa gehalten war und an die Gemächer eines Herrschers erinnerten. Alles war aufgeräumt und wenig persönlich und keine überflüssigen Gegenstände waren zu sehen. Nirgends befanden sich Hinweise auf herumliegende Papiere. Auch ein Computer war nicht vor Ort. Pegasus war scheinbar wenig technikaffin. An der hinteren Wand befand sich eine weitere Tür. Seto durchquerte den Raum und stellte mit Genugtuung fest, dass diese zweite Tür nicht verschlossen war. Er durchschritt sie und stand nun im Schlafzimmer des Hausherrn. Ein riesiges Himmelbett thronte an einer breiten Wand, aber Seto schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Sofort zog etwas auf einem Jugendstil-Nachtschrank seinen Blick auf sich: Dort lag ein geöffnetes Kuvert. Mit wenigen Schritten war Seto zur Stelle und nahm es auf. Er zog daraus ein einzelnes Papier heraus und studierte es interessiert. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. „So ist das also“, murmelte er.
 

Im nächsten Augenblick schreckte er auf, als er ein Geräusch aus dem Nebenraum vernahm. Die Tür öffnete sich und jemand trat ein. Blitzschnell legte er den Umschlag zurück an seinen Platz und huschte hinter einen schweren altrosa Vorhang. Dort harrte er aus und lauschte, wie eine Reinigungskraft den Nebenraum betrat, dort durchsaugte und schließlich das Schlafzimmer in Angriff nahm. Er schloss die Augen und sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als der Staubsaugerkopf gefährlich nahe an seinem Versteck vorbeibrauste. Doch nichts weiter geschah. Als die Tür zum Flügel sich wieder geschlossen hatte, wartete er noch einige Minuten ab, dann huschte er ebenfalls hinaus und schlenderte abgeklärt die Treppe hinab in den Salon zu den anderen.


 


 


 


 


 


 


 

XIV


 

XIV

„Also“, schloss Bakura nach einer Stunde des Brütens über der Schriftrolle, „ich sehe hier beim besten Willen nichts, das uns weiterbringen könnte. Hier steht etwas von einer Kreatur beziehungsweise irgendeiner Art … Schöpfung, die die Sonne verdunkelt. Dann die Prophezeiung mit dem erblindeten Auge blah blah blah. Alles bereits passiert, Schnee von gestern.“ „Ja“, stimmte Atem ihm zähneknirschend zu, „und Genaueres über diese Kreatur ist dem Text nicht zu entnehmen. Genausowenig erkenne ich darin irgendeinen geheimen Code. Ich schätze, wir brauchen einfach diese andere Schriftrolle, um Klarheit zu bekommen.“ Er blickte argwöhnisch zu Bakura auf. „Hey, was soll dieser Blick? Als ob ich das Ding hätte verschwinden lassen! Ich war nicht mal hier!“ „Man weiß ja nie …“, grummelte Atem. Dann erhob er sich. „Eins ist mir nach wie vor unklar“, bemerkte er schließlich, „was ist eigentlich mit der Schriftrolle passiert, nachdem du sie mir damals gestohlen hast?“ „Du meinst, nachdem wir beide sie gemeinsam aus dem Grab gestohlen haben?“, feixte Bakura, „ach … eine echt blöde Sache, nicht so wichtig.“
 

Nun war es an Atem zu grinsen. „Jetzt will ich es aber erst recht wissen! Na komm schon!“ „Vergiss es!“, keifte Bakura. Blitzschnell griff sich Atem seinen Arm und bog ihn nach hinten. „Na, wirst du’s mir jetzt sagen?“, drohte er listig. „Bei Osiris und Isis, du bist ne echte Nervensäge! Schön, also gut. Lass endlich los und rück mir von der Pelle!“ Atem entließ den Dieb aus seinem Griff. „Naja … um meinen Erfolg zu feiern, bin ich direkt nach unserem kleinen Ausflug in eine Schenke gegangen. Dort hab ich … vielleicht einen Becher zu viel getrunken … oder zwei … und eventuell bei ein paar Kollegen mit meinem Coup geprahlt.“ „Und da haben sie dir die Rolle gestohlen, so wie du mir?“, grinste Atem überheblich. „Möglich“, schmollte Bakura. Atem warf den Kopf in den Nacken vor Lachen. „Das nenn ich doch mal ausgleichende Gerechtigkeit!“
 

„Hey, ihr Streithähne“, in diesem Moment trat Joey zu ihnen, „habt ihr bisher irgendwas Brauchbares rausbekommen?“ Atem schüttelte lediglich frustriert den Kopf. „Okay. Kaiba und Pegasus sind zurück. Ich schätze, wir sollten zu den anderen gehen, um zu besprechen, wie wir weiter vorgehen.“ „Verstanden“, sagte Atem und folgte ihm, ohne dem Grabräuber eines weiteren Blickes zu würdigen. „Na, wie bist du mit dem fiesen Bakura ausgekommen? Das war ja mächtig mutig von dir, ehrlich, Alter!“, neckte Joey ihn auf dem Weg. „Wir – haben uns arrangiert“, erklärte Atem, „und was ich dich schon die ganze Zeit mal fragen wollte: Wieso, bei Ra, nennst du mich eigentlich ständig ‚Alter‘? Nur weil ich 3000 Jahre vor dir gelebt habe, bin ich noch lange kein alter Mann!“ „Ach, vergiss es, Alter“, grinste Joey verlegen.
 

Auch den anderen berichteten sowohl Seto als auch Atem ihre wenig motivierenden Neuigkeiten. Seinen Fund in Pegasus Schlafzimmer verschwieg der Chef der KaibaCorp allerdings tunlichst. Noch sollte Pegasus nicht wissen, dass er Verdacht geschöpft hatte. Später wollte er mit Atem unter vier Augen darüber sprechen. „Tja, und nun?“, fragte Ryou ratlos. Nach einem kurzen Moment des ratlosen Schweigens klatschte Pegasus schließlich in die Hände. „Nun denn, meine Freunde: Ich schätze, wir haben für heute alles getan, was wir konnten. Wir sollten abwarten, was passiert. Vielleicht enthüllt sich uns ja ganz von selbst, was hier gespielt wird. Aber in der Zwischenzeit sollten wir nicht Däumchen drehen. Wie ihr euch sicher erinnert, habe ich euch eine kleine Überraschung versprochen. Nun, wenn ihr mir bitte folgen wollt.“ Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand in die Richtung, in die er sich auch sogleich in Bewegung setzte.
 

„Der muss einfach immer seine Show abzieh’n“, lästerte Joey, „als ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür wäre.“ „Seh ich genauso“, stimmte Tristan grimmig zu. Dennoch dackelten alle gehorsam ihrem Gastgeber hinterher, bis sie am Eingangstor zur Burg angelangten. Sofort war Croquet zur Stelle und überreichte ihnen allen Regenschirme. Da es bereits seit dem Vormittag aus Eimern schüttete, hatten sie diese auch dringend nötig, wenn sie die Burg verlassen wollten. Der Angestellte öffnete nun das Eingangstor und Pegasus führte sie alle zielstrebig nach draußen, bis sie auf dem Dach der Burg abrupt wieder Halt machten, dort, wo Atem einst gegen Kaiba gekämpft hatte. Doch über ihnen erstreckte sich nicht mehr der freie Himmel. Nein, sie standen in einem riesigen Zelt. Verdattert schüttelten sie ihre Schirme aus und übergaben sie wieder an Croquet.
 

Als sie alle unter das Zeltdach drängten, staunten sie nicht schlecht: Überall waren Stehtische aufgestellt, ein langes Buffet erstreckte sich an einer Seite, bunte Lichterketten waren an den Streben des Zeltes entlang befestigt und tanzende Lichter bewegten sich über die weiße Zeltdecke. Eine große Schüssel mit Bowle und viele andere flüssige und essbare Köstlichkeiten standen für sie bereit. Aus einer Lautsprecheranlage war ausgelassene Musik zu vernehmen.
 

„Darf ich euch alle einladen, diesen Abend mit mir zu genießen“, erhob Pegasus großspurig seine Stimme, „ich habe keine Mühen gescheut, für eure Ankunft eine kleine Feier zu organisieren. Bisher hat der Schatten, der heraufbeschworen wurde, noch keine Macht. Noch können wir die Zeit nutzen, um uns zu erholen und zu erfrischen.“ „Um uns zu betrinken wohl eher“, wisperte Ryou mit Blick auf die riesige Bowleschüssel.“ In diesem Augenblick schwebte auch bereits ein Bediensteter mit einem Tablett vorbei, auf dem sich Gläser mit Champagner befanden. „Nun lasst uns anstoßen! Auf einen schönen Abend und auf gute Zusammenarbeit!“, rief Pegasus theatralisch.
 

„Unmöglich, findet ihr nicht?“, Téa kam zu Atem und Yugi herüber. Yugi nickte grimmig. „Finde ich auch. Wir wissen nicht, welches Schicksal Domino ereilt, und Pegasus animiert uns zum Feiern.“ „Vielleicht sollten wir auf eigene Faust weiter überlegen“, grübelte Téa. „Wenn ich nur wüsste, was wir tun könnten. Ich werd mal bei Großvater anrufen und ihn nach der Lage in Domino befragen“, schlug Yugi vor. „Gute Idee!“, nickte Téa. Gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg zurück ins Innere der Burg.
 

„Hey, Atem!“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Der Pharao wandte sich überrascht um. „Uyeda, hallo“, sagte er freundlich, „nimmst du auch an diesem Spektakel teil?“ Der junge Sanitäter legte die Hand an den Hinterkopf und lachte verlegen. „Ja, Pegasus hat auch das Personal eingeladen, mal ne Auszeit zu nehmen.“ Atem konnte es ihm nicht verübeln. Immerhin wussten Pegasus Angestellte nichts von den Dingen, die sich um sie herum abspielten.
 

„Eindrucksvoll, was Pegasus da auf die Beine gestellt hat, nicht wahr?“, wollte der medizinische Angestellte wissen. Der Pharao zuckte mit den Schultern und gab sich unbeeindruckt. „Ich hatte schon wesentlich prunkvollere Feste an meinem Hof.“ „ Wie bitte?“, Uyeda blickte verwirrt drein. „Ach … vergiss es. Nicht der Rede wert“, wiegelte Atem schnell ab und lenkte das Thema auf andere Dinge, „du hast gestern gesagt, du bist in Ägypten geboren. Warum bist du hergekommen?“ „Nun ja, zum einen wollte ich mich im Ausland ausbilden lassen, weil ich auch gerne woanders leben wollte. In Ägypten konnte ich nämlich meine Sexualität nicht offen ausleben, ohne dafür verfolgt zu werden. Japanisch konnte ich durch meine Mutter sprechen, das bot sich also an. Zum anderen … ach, vergiss es. Das war eigentlich der größte Grund.“ Bald schon befand sich der Pharao in einem unterhaltsamen Gespräch mit Pegasus Angestelltem.
 

Bakura schlürfte derweil sein zweites Glas Bowle leer. „Nicht so gut, wie unser süßer Wein in Ägypten, aber trinkbar“, stellte er schmatzend fest. „Halt dich zurück!“, zischte Ryou ihm zu, „es ist noch früh am Abend und wer weiß, was heute noch alles passieren könnte.“ „Ich kann wohl keine Minute ohne meinen Babysitter unterwegs sein!“, stichelte Bakura schmollend.
 

„Komm schon, kleiner Kaiba! Amüsier dich etwas!“, versuchte Pegasus am anderen Ende des Zeltes Seto in Stimmung zu bringen. „Pegasus, ich habe keine Zeit für deinen Zirkus. Jetzt entschuldige mich bitte, ich muss mit dem Pharao sprechen!“ Was dachte dieser verquere schrille Vogel sich eigentlich? Offenbar hatte seine Einsamkeit ihn wirklich jeglichen Taktgefühls entbehren lassen. Seto steuerte auf Atem zu, der sich offenbar im Gespräch befand, stockte aber, als er näherkam und ihm klarwurde, mit wem der Pharao sich da so angeregt austauschte. Kurzentschlossen legte er die letzten Schritte zu den beiden zurück, packte Atem am Arm und zog ihn von Uyeda weg. „Atem, du musst mit mir mitkommen!“
 

„Hey, was soll das!“, ärgerlich befreite sich der Pharao aus seinem Griff und entzog Seto seinen Arm, „siehst du nicht, dass ich in einem Gespräch bin?!“ „Doch, das tue ich! Und es passt mir ganz und gar nicht!“ Atem zog eine Augenbraue hoch. „So, tut es das nicht? Hier ist eine Information für dich: Du hast nicht zu bestimmen, mit wem ich mich unterhalte. Was denkst du dir eigentlich?“ Er schüttelte fassungslos über Setos Verhalten den Kopf. Für so lächerlich eifersüchtig hätte er ihn gar nicht gehalten. „Atem, so meine ich das ja gar nicht. Hör mir bitte kurz zu!“ „Ist das etwa wegen dem, was Bakura vorhin gesagt hat?“, dämmerte es dem Pharao plötzlich. „Nein, das ist es nicht. Ich meine … ja, ich gebe zu, diese Stichelei hat mich verunsichert.“ „Das ist ja auch absolut verständlich“, lenkte Atem ein, „aber dann sollten wir doch in Ruhe darüber sprechen.“ Seto atmete hörbar ein und aus. „Schön“, sagte er und beschloss, sein eigentliches Anliegen erst mal hinten anzustellen, „dann lass uns doch gleich jetzt sprechen.“
 

„Gut“, willigte Atem ein, „aber lass mich wenigstens noch mein Gespräch zu Ende bringen.“ Mit diesen Worten stolzierte er, zu Setos Unmut, zurück zu Uyeda, um sich bei ihm für die rüde Unterbrechung zu entschuldigen. „Dein Freund ist ja wirklich ganz schön rasend, wenn er eifersüchtig ist“, lachte Uyeda peinlich berührt. „Ich verstehe es auch nicht so ganz“, gab Atem zu, „jedenfalls muss ich etwas mit ihm klären. Tut mir leid, dass unsere Unterhaltung so abrupt endet.“ „Kein Ding“, sagte Uyeda, „vielleicht seh’n wir uns später noch: Ich werd wohl noch ne Weile hier sein.“
 

Als Atem zu Seto zurückkehrte, verschränkte er die Arme vor der Brust. „Also gut, dann frag mich gerne, was du wissen möchtest.“ „Ich möchte wissen, auf was Bakura da angespielt hat. Warst … oder bist du in deiner Zeit in irgendeiner Form mit dieser Kopie von mir involviert?“ Atem lächelte. „Nein, war und bin ich nicht. Und wenn überhaupt bist du die Kopie von ihm.“ Gleich darauf hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Genau dieser Umstand trieb Seto im Augenblick scheinbar um. Er hätte ihn nicht auch noch ausbuchstabieren müssen. „Du bringst es auf den Punkt“, sagte der Besitzer der KaibaCorp jetzt leiser. „Also, Bakura dachte scheinbar, ich bin lediglich ein Ersatz für diesen Seth. Und … ist das der Fall?“
 

Atem zögerte einen Moment zu lang, dann jedoch schüttelte er den Kopf. „Es stimmt, ich hatte … habe in meiner Zeit Gefühle für Seth. Allerdings wurden sie von ihm nie erwidert. Es hat mich nie irgendwo hingebracht. Es stimmt auch, dass du mich natürlich optisch sehr an Seth erinnert hast, als ich hier ankam. Und dass das womöglich mit ein Grund dafür ist, dass ich zu dir schnell Vertrauen aufbauen konnte. Aber mittlerweile weiß ich, dass du in vielen Dingen sehr anders bist als Seth. Und gerade deshalb bin ich dir so zugetan. Deshalb möchte ich sehen, wie es mit uns weitergehen kann.“
 

Seto schwieg. Was konnte er dem entgegensetzen? Atem schien ihm ehrlich zu antworten und ihm schien wirklich etwas an ihm zu liegen. Bei so vielen ähnlich aussehenden Gestalten konnte alles schon recht verwirrend sein. Und dennoch … irgendetwas hielt von davon ab, sich zu entspannen. Wenn er selbst ein so starkes Band zu Atem fühlte, warum tat dieser Hohepriester Seth es dann nicht? Und was würde geschehen, wenn der Pharao schließlich in seine Zeit zurückkehrte?
 

„Fehlt er dir?“, fragte er schließlich, ohne dass er es geplant hatte. Der Pharao sah nachdenklich aus. „Ja … ich schätze schon, manchmal.“ „Und wenn du eine Chance mit ihm gehabt hättest? Wenn er ebenso empfunden hätte wie du … wären wir dann da, wo wir jetzt sind?“ Atem zog die Augenbrauen zusammen. „Wahrscheinlich nicht“, gab er zu, „aber genau das ist es doch, was diese Chance erst für uns aufgetan hat.“ „Und wenn es anders wäre, wenn Seth sich zu dir hingezogen gefühlt hätte, und du könntest zwischen uns beiden wählen: Wer von uns wäre es dann?“, drang Seto weiter in den Pharao. Dieser schüttelte verständnislos den Kopf. „Findest du das nicht etwas unfair? Ich sehe nicht, wo uns das hinführt. Ich bin jetzt hier und die Dinge sind, wie sie sind. Manche Menschen verliert man, andere gewinnt man.“ „Tut mir leid“, flüsterte Seto, „aber ich denke, ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken.“ „Wie du willst“, entgegnete der ehemalige Herrscher, etwas vor den Kopf gestoßen. „Ich werde auf mein Zimmer gehen“, beschloss der Firmenchef. „In Ordnung, dann sehen wir uns morgen … schätze ich.“ Die Hand des Pharaos berührte unsicher die von Seto. Schließlich wandte er sich zum Gehen. „Atem, einen Augenblick noch!“, hielt Seto ihn noch einmal zurück. „Da ist noch was, was ich ganz vergessen habe: Ich muss dich bitten, nicht mehr mit diesem Uyeda zu sprechen.“
 

Atems Augen verengten sich zu Schlitzen. „Geht das schon wieder los?“, seufzte er genervt, „ich hab dir doch gesagt, dass das nicht deine Entscheidung ist! Bist du wegen dieser Sache mit Seth jetzt etwa so paranoid?! Mit sowas kommst du bei mir nicht weit, lass dir das gesagt sein.“ „Atem, nein, das ist es nicht! So meinte ich das gar nicht. Ich muss …“ Aber Atem war einfach davongestapft. „Ich will es nicht wissen! Sag mir Bescheid, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist!“, rief er ihm über die Schulter zu.
 

Noch während er sich einen Überblick verschaffte, wo welchem Grüppchen er sich nun stellen könnte, wurde er abrupt um die Taille gepackt und zur Bowle gezogen. „Groooßer Pharao!“, johlte Bakura und reichte ihm ein Glas, „ich weiß, wir haben es nicht gut angefangen und meistens bin ich ziemlich mies zu dir. Aber heute Abend geb ich dir einen aus! Lass uns anstoßen!“ Atem schmunzelte über Bakuras Schwips. „Du weißt schon, dass du mir keinen ausgeben kannst, wenn du selbst hier alles von Pegasus spendiert bekommst.“ „Ach, wer wird denn so kleinlich sein“, lallte Bakura, „gib dir mal nen Ruck, großer König! Niemand ist perfekt, auch du nicht! Sei nicht so steif! Ein bisschen Heiterkeit wird dir guttun!“
 

Atem seufzte und musste lächeln. „… Ach, was solls. Heute ist heute und morgen ist morgen“, stimmte er ihm schließlich mit einer wegwerfenden Handbewegung zu und stieß mit ihm an. „Selbst nach 3000 Jahren können wir einander nicht entkommen! Das schreit nach einem Toast auf wie Fäden, die unser Schicksal miteinander verwoben haben!“, plapperte der König der Diebe gutgelaunt weiter. So füllte sich auch Atems Glas ein zweites und ein drittes Mal. Und so registrierten die beiden als Letzte, dass Yugi und Téa plötzlich in der Zeltmitte standen und versuchten, die Aufmerksamkeit aller zu erlangen.
 

„Hey, hört mir bitte alle zu!“, rief Yugi mit ernstem Gesicht, „Leute, ihr müsst sofort mit diesem Blödsinn hier aufhören!“ Endlich waren alle verstummt und blickten die beiden an. Die Musik setzte aus und der Moment schien eingefroren. „Ich habe gerade mit Großvater telefoniert“, sagte Yugi jetzt leiser, „in Domino gehen seltsame Dinge vor sich. Es ist sogar in den Nachrichten. Kommt mit rein und seht es euch selbst an.“


 


 

XV


 

XV

Schon bald hatten sich alle ihrer nassen Schuhe entledigt, die Regenschirme in einen Schirmständer gestellt und versammelten sich nun um den großen Flachbildfernseher in Pegasus‘ Salon. Dort schaltete der Nachrichtensprecher gerade zu einer Reporterin in Tokio, deren Stimme aufgeregt erklang: „Nun zu weiteren Breaking News: In sämtlichen japanischen Städten kam es zu rätselhaften Erscheinungen“, erklärte sie ernst, „Passanten in den Innenstädten geben an, schattenhaften Kreaturen begegnet zu sein, die sie nicht näher zu beschreiben wussten.“
 

Als nächstes blendete man einen Mann in den Vierzigern ein, der verängstigt und gehetzt aussah. „Es war … einfach unheimlich“, erzählte er der Kamera, „ich war auf dem Weg zum Supermarkt. Auf einmal wurde es um mich herum düster, als wäre es Nacht. Und dann … hab ich etwas gesehen. Eine Art Schatten, ja, so könnte man es beschreiben! Ja, und dann ist er wie … in mich hineingefahren. Ich fühlte mich … irgendwie resigniert und wusste gar nicht mehr, was ich eigentlich im Begriff war zu tun. Auf einmal war es vorbei. Ich wusste nicht mal, ob ich mir alles eingebildet hatte. Ich wusste nicht, wie lange ich nichts mehr bewusst wahrgenommen hatte.“
 

„Ähnliche Begegnungen der dritten Art werden von dutzenden Einwohnerinnen und Einwohnern Japans beschrieben“, meldete sich nun wieder die Journalistin zu Wort, „ob es sich hierbei um kollektive Wahnvorstellungen, ausgelöst etwa durch eine Nahrungsmittelvergiftung oder Rauschgift, handelt, bleibt zu untersuchen.“ „Vielen Dank, Tanemura-san“, sagte nun der Nachrichtensprecher im Studio, „außerdem ist Japan von einem seltsamen meteorologischen Ereignis betroffen. Die Sonne war am heutigen Tag bereits ab 14:00 Uhr nicht mehr sichtbar. Expertinnen und Experten prüfen aktuell, ob es sich dabei um ein astronomisches Phänomen handelt.“
 

Yugi schaltete den Fernseher aus und wandte sich ernst zu den anderen um. „Ich habe mit Großvater gesprochen. Er hat mir gesagt, er hat in Domino mit eigenen Augen gesehen, wie eins dieser schattenhaften Wesen, die kaum Konturen oder eine Form zu haben scheinen, mitten auf der Straße vor dem Spieleladen in eine Fußgängerin hineingefahren ist. Sie hat daraufhin wie ein Zombie agiert. Außerdem scheint es stündlich dunkler draußen zu werden.“ „Ja, du hast Recht“, sagte Téa mit einem raschen Blick zum Fenster, „es ist jetzt erst früher Abend und bereits stockfinster. Bei dem Unwetter und in dem beleuchteten Zelt ist mir das gar nicht so sehr aufgefallen.“
 

„Seltsam“, sagte Atem gedankenverloren mehr zu sich selbst. „Was denn?“, wollte Yugi wissen. Atem sah auf. „Naja, warum überall in Japan? Warum dann nicht hier? Müsste denn hier nicht das Zentrum des Ganzen sein, weil Pegasus hier das Ritual durchgeführt hat? Ich meine, sicher, es ist auch hier dunkel und gewittrig. Aber einen Schatten habe ich bis jetzt nicht gesehen.“ Alle sahen sich etwas ratlos an und wussten darauf ebenfalls keine Antwort.
 

„Jedenfalls möchte ich so schnell wie möglich nach Domino zurück!“, sagte Yugi mit bebender Stimme, „ich kann Großvater dort nicht länger alleine lassen! Wahrscheinlich war es ein Fehler, überhaupt herzukommen. Irgendwas muss ich einfach tun!“ „Das sehe ich genauso!“, alle wandten sich überrascht um, als von der offenen Tür zum Salon her plötzlich Setos Stimme erklang. Auch Atem sah zu ihm hin und ihre Blicke verhakten sich für einen Augenblick ineinander.
 

„Heute Abend ist das völlig zwecklos“, sagte Pegasus entschieden, „bei Nacht und in mitten dieses Unwetters zu fliegen halte ich für eine mehr als unvernünftige Idee.“ „Das stimmt leider“, gab Seto zu, „auch wenn ich befürchte, dass wir morgen früh ähnliche Bedingungen wie heute Abend haben werden. Trotzdem war es ein langer Tag und wir sollten alle etwas ausruhen. Ich werde morgen sehr früh aufbrechen. Ich kann meine Firma nicht so lange unbesetzt lassen.“ „Ich komme auf jeden Fall mit!“, verkündete Yugi entschlossen und Seto nickte.
 

Dann trat er zu Atem. „Atem, es wäre mir recht, wenn du auch mitkommst.“ Der Pharao sah unschlüssig aus. „Seto, ich weiß nicht …“ „Bitte, überleg es dir bis morgen.“ Schließlich trat er noch einen Schritt näher an ihn heran und drückte ihm, von den anderen unbemerkt, den Umschlag in die Hand, den er auf Pegasus Nachtschrank gefunden und im Gehen kurzerhand eingesteckt hatte. „Was …?“, setzte Atem an, doch Seto unterbrach ihn. „Rede mit niemandem darüber und sieh es dir später alleine an“, raunte er ihm zu, „ich denke, das wird dich davon überzeugen, dass es die richtige Entscheidung ist, abzureisen.“ Mit zusammengezogenen Brauen nahm Atem das Kuvert entgegen und steckte es ein.
 

„Vielleicht sollten wir morgen alle gehen“, überlegte Ryou leise, „Gott sei Dank sind wir ja mit Kaibas Jet gekommen. Wir sind also flexibel.“ Bakura sah nachdenklich aus. Hellwach und wieder ernüchtert ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Ein resigniertes Schweigen legte sich über die ganze Gruppe.
 

Doch es hielt nicht lange an. Unvermittelt wurde es durch ein ohrenbetäubendes Geräusch draußen vor dem Fenster unterbrochen und für einen kurzen Moment strahlte ein taghelles Licht zu ihnen herein. Es sah aus, als leuchte jemand mit einer riesigen Taschenlampe durchs Fenster. Alarmiert sprangen Joey und Tristan auf, liefen zur großen Glasfront und pressten ihre Nasen daran platt. „Was war das?!“, wollte auch Téa wissen. Pegasus schritt ebenfalls zum Fenster und beobachtete interessiert, was draußen vor sich ging. „Es sieht aus, als bekämen wir noch mehr Besuch. Wie gut, dass ich gerade heute eine Party ausrichte.“
 

Draußen auf dem Burgdach, auf dessen Höhe sich auch der Salon mit der großen Glasfront befand, landete gerade ein fliederfarbener, kompakter Jet direkt neben Setos Weißer-Drachen-Jet. Als sich dieTür des Fluggeräts öffnete, konnten sie beobachten, wie diesem ein hochgewachsener, gutgekleideter Mann entstieg.
 

Joey machte große Augen. „Spinn ich?!“, rief er aus, „das ist dieser Etepetete-Schnösel, Ziggy von Schroeder!“ „Ah, Zigfried, mein alter Freund und Geschäftspartner“, sagte Pegasus amüsiert, „nun, das könnte interessant werden. Ich bin gespannt, was er hier will.“ Er machte Croquet ein Zeichen, dem Neuankömmling das Tor zu öffnen.
 

Es dauerte lediglich wenige Minuten, bis Zigfried von Schroeder in einem mintgrünen Anzug mit violetter Schleife und mit einem rosa-geblümten Regenschirm bewaffnet vor ihnen allen stand und sie argwöhnisch begutachtete. „Was ist das hier für eine Versammlung?“, verlangte er verwundert zu wissen. Dann fiel sein Blick auf Kaiba und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Sieh an, der liebe Herr Kaiba. Herr Pegasus, machen Sie etwa hinter meinem Rücken Business-Deals mit der KaibaCorporation?“ „Mit Nichten!“, knurrte Seto, „ich habe es nicht nötig, überhaupt noch mit Industrial Illusions zusammenzuarbeiten. Die KaibaCorporation hat mittlerweile so sehr expandiert, Kooperationen wären nur unnötiger Ballast!“, prahlte er. „Nun, wenn du das sagst“, entgegnete Zigfried unbeeindruckt.
 

„Was verschafft mit denn die Ehre, Schroeder-Boy?“, fragte der Burgherr höflich. „Ganz einfach: Sie haben etwas von mir, das ich wiederhaben will, Pegasus. Und ich brauche es sofort!“, kam der Angesprochene ohne Umschweife auf den Punkt. „Aha, so ist das also. Ich helfe natürlich gerne, wenn ich kann. Und was könnte das sein, dass du von mir brauchst?“, fragte Pegasus, während er seelenruhig an seinem Glas Wein nippte. „Die Schriftrolle mit dem ‚Ritual der Schatten‘!“, verkündete Zigfried. Alle starrten ihn mit offenen Mündern an.
 

„Wie bitte?“, fragte Yugi als erster, „die Schriftrolle soll dir gehören?“ „Jetzt wird es interessant“, murmelte Bakura schadenfroh. „Genau so ist es! … Aber woher wisst ihr überhaupt von der Schrift?“, wollte Zigfried skeptisch wissen. „Nun, bedauerlicherweise … kann ich deinem Wunsch nicht nachkommen“, entgegnete Pegasus ruhig. „Was? Aber … warum denn nicht? Ich zahle Ihnen den ursprünglichen Preis wieder vollständig zurück!“, begehrte Zigfried auf. „Das glaube ich nur zu gerne. Aber leider ist eine Seite der Schrift ... abhandengekommen“, erklärte Pegasus, während er hilflos die Hände hob.
 

„Sie ist … was?!“, Zigfried von Schroeder wurde mit einem Mal blass um die Nase. „Aber wie … wie kann das möglich sein?! Hätte ich gewusst, wie Sie mit einer solch antiken Kostbarkeit umgehen, hätte ich sie Ihnen gar nicht erst beschafft!!“, stieß er zornig hervor, das Gesicht vor Wut verzerrt.
 

„Jetzt mal langsam zum Mitschreiben“, ging Tristan verwirrt dazwischen, „du hast Pegasus die Schrift besorgt?“ „Ich wüsste zwar nicht, was dich das angehen könnte, aber – ja“, erklärte Zigfried ungeduldig, „Herr Pegasus hatte mich damals kontaktiert, nachdem ich bei Kaibas Grand Championship-Turnier gescheitert war. Vielleicht wisst ihr es nicht, aber ich sammle antike Gegenstände. Ja, ich habe eine ganz beachtliche Kollektion. Jedenfalls hat er meiner Firma einen Exklusiv-Deal mit Industrial Illusions angeboten. Alles was ich dafür tun musste, war, diese Schriftrolle zu beschaffen, die aus dem Museum in Kairo entwendet worden war. Da ich exzellente Kontakte in den Untergrund habe, hat es nicht lange gedauert, herauszufinden, wo das Stück im Darknet angeboten wurde. Natürlich hätte ich ein solch kostbares Dokument gerne selbst in meiner Sammlung gehabt, aber … der langersehnte Vertrag mit Industrial Illusions war nun mal wichtiger.“
 

Die Gruppe sah nun geschlossen zu Pegasus hinüber. „Was schaut ihr denn jetzt so? Habe ich euch nicht schon anfangs erzählt, dass ich die Schriftrolle für meine Kartenproduktion habe beschaffen lassen? Von wen, das ist doch vollkommen irrelevant!“ „Zigfried“, klinkte sich nun Atem in das Gespräch ein, „aber warum möchtest du denn die Schrift nach all der Zeit nun so plötzlich wiederhaben?“ „Das würde mich auch interessieren!“, sagte Joey.
 

„Nun ja … das ist weil … ein Käufer ist auf mich zugekommen. Ja, er hatte wohl Wind davon bekommen, dass die Rolle einmal in meinem Besitz war, und er zahlt einen – einen phänomenalen Betrag dafür! Ich dachte erst, ich hätte mich verhört! Ein Betrag, der mir gerade sehr gelegen kommt, da ich an einer neuen, geheimen Technologie arbeite, die sogar die KaibaCorp nicht toppen kann! An der Trendwende in meiner Karriere sozusagen!“
 

Alle sahen zu Pegasus, als er unvermittelt in schallendes Gelächter ausbrach. „Ist das nicht die reine Ironie?“, er wischte sich die Lachtränen weg, „alle sind wir zum gleichen Zeitpunkt versammelt wegen dieser sagenumwobenen Schrift. Und das Tragische ist: Wäre sie noch vollständig in meinem Besitz, hätte ich vielleicht sogar ein Nachsehen gehabt und sie dir für einen guten Preis oder ein Vorrecht auf deine neue Technologie zurückverkauft – nur damit du sie dann hättest weiterverschachern können. Aber nun sind mir ja leider die Hände gebunden. Du kannst die eine Hälfte haben – für die Hälfte des Kaufpreises.“
 

Zigfried war außer sich vor Verzweiflung. „Ich verstehe einfach nicht, wie ein solch wertvolles Artefakt einfach so verschwinden kann! Das – das kann ich nicht akzeptieren! Nein, ich gehe hier nicht eher weg, bevor diese Seite wieder aufgetaucht ist, und wenn ich die ganze Burg Stein für Stein auseinandernehmen muss!“ „Soll er doch suchen“, bemerkte Bakura glucksend, „vielleicht findet er ja was.“ „Heute noch zurückzufliegen ist jedenfalls keine Option“, bemerkte Pegasus, „Croquet, sei so gut und quartiere Herrn von Schroeder in einem der Gästezimmer ein.“
 

„Naja, schätze mal, deine Party hat ein frühzeitiges Ende gefunden, Pegasus“, seufzte Joey bitter. Tatsächlich war keinem von ihnen mehr nach Feiern zumute. „Ja, ich denke, wir sollten alle etwas Ruhe finden und uns für morgen auf alles gefasst machen“, nickte Ryou zustimmend, „ich für meinen Teil würde auch morgen früh lieber nach Hause fliegen. Ich mache mir Sorgen um meine Mutter.“
 

***

So löste sich die Gruppe nach und nach auf. Schweigend liefen Ryou und Bakura die Stufen hinauf in Richtung ihrer Quartiere, die nebeneinanderlagen. „Verrate mir mal eins“, durchbrach der Grabräuber schließlich das Schweigen zwischen ihnen, „warum steckt ihr eigentlich so viel wertvolle Energie in eure Bemühungen, eine Sache zu verhindern, gegen die ihr vermutlich nicht das Geringste ausrichten könnt? Was geht’s euch überhaupt an? Ihr habt es nicht mal ausgelöst. Ihr seid niemandem was schuldig.“
 

Ryou sah ihn nachdenklich an. Sie standen jetzt vor ihren Zimmertüren. „Eigentlich keine schlechte Frage“, gab er zu. Auch er würde sich jetzt lieber um einen Studienplatz in England kümmern. Doch nun, da er nicht einmal sicher wusste, ob er überhaupt jemals dort würde leben können, ob nicht vorher eine große Dunkelheit dem Leben, das sie jetzt lebten, ein Ende bereiten würde … „Ich schätze, wir haben einfach immer das Missvergnügen, mehr zu wissen als alle anderen. Wir stecken mittlerweile zu tief in alldem drin. Und mit diesem Wissen einfach so weiterzumachen, nichts zu unternehmen und dadurch indirekt dazu beizutragen, dass vielleicht Menschen zu Schaden kommen … ich für meinen Teil ziehe es da lieber vor, den unangenehmen Weg einzuschlagen. Gegenfrage: Wieso verwendest du so viel deiner Energie darauf, Gräber auszurauben und dich unrechtmäßig zu bereichern? Oder Schriftrollen mit dunklen Ritualen darauf an dich zu bringen?
 

Bakura betrachtete ihn nachdenklich. Dann grinste er hämisch. „Es ist einfach, was ich tue. Aus der ersten Reihe zu verfolgen, wie das ‚Ritual der Schatten‘, von dem ich geglaubt hatte, dass ich es aus Leichtsinn verloren hatte, endlich entfesselt wurde – also ich für meinen Teil fand diesen Trip in die Zukunft bisher mehr als lohnenswert!“
 

Ryou zog eine Augenbraue nach oben. Dann steckte er wortlos den Schlüssel in das Schlüsselloch seiner Tür und schloss auf. Bevor er eintrat, drehte er sich noch einmal zu Bakura um. „Du kannst so viel mit deiner Skrupellosigkeit prahlen und das alles so sehr auf die leichte Schulter nehmen, wie du willst. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du sicherlich nicht nur als stummer Zaungast hierhergebracht wurdest. Ich bin fest davon überzeugt, dass du deinen Teil dazu beitragen wirst, das Schlimmste zu verhindern, ob es dir gefällt oder nicht. Und ich hoffe, wenn es soweit ist, bin ich dann ein Zuschauer in der ersten Reihe.“ Er lächelte Bakura erhaben zu, dann schloss er die Tür hinter sich und ließ ihn irritiert auf dem Flur stehen.
 

***

Atem saß derweil auf seinem Bett und drehte nachdenklich den Briefumschlag in den Händen, den ihm Seto vorhin zugesteckt hatte. Er fragte sich, was das alles sollte, Erst verhielt sich Seto vollkommen irrational und eifersüchtig und nun überbrachte er ihm eine Art schriftliche Botschaft. Noch dazu wusste der Firmenchef doch nur zu gut, dass Atem der Schrift dieses Landes nicht mächtig war. Der Pharao spielte mit dem Gedanken, den Brief einfach nicht zu öffnen, entschied sich letztlich aber doch dafür. Er war zu neugierig, um nicht wissen zu wollen, was sich darin befand. Er löste die Klebefläche und war überrascht, als er im Inneren des Kuverts keinen gewöhnlichen Brief, sondern ein kleineres Stück Papier fand.
 

Zuerst war er sich nicht darüber bewusst, was es war, das er da in Händen hielt. Leider hatte er noch immer viel zu viel über die Gepflogenheiten dieser Zeit zu lernen. Doch schließlich erkannte er darauf neben den üblichen Schriftzeichen deutlich eine Zahl und dazu das Zeichen, das sie hier in diesem Japan benutzten, wenn es um Geldsummen ging. Es musste sich also um eine Art Scheck oder Rechnung handeln. Eine zweite Zeichenfolge kam ihm ebenfalls bekannt vor, denn er hatte sie schon mehrmals während ihres Aufenthaltes hier gesehen: Es waren dieselben Zeichen, die an dem Namensschild auf der Kleidung des jungen Sanitäters standen: Uyeda Bukhari. Bedeutete das etwa, dass Uyeda von Pegasus Geld empfangen hatte?
 

Atem schnappte nach Luft und ließ den Zettel sinken. Natürlich! Nun machte es alles Sinn. Wie hatte er so dumm sein können, zu glauben, dass Seto ihn aus Eifersucht von Uyeda hatte fernhalten wollen? Er hatte es nur getan, weil er Informationen gehabt hatte, die Atem nicht hatte – und er hatte es versucht, ihm zu sagen. Dass nämlich Pegasus Uyeda für irgendetwas bezahlt hatte, das nichts mit seinem regulären Gehalt zu tun hatte. Dass möglicherweise beiden nicht zu trauen war. Atem schämte sich jetzt für seine harschen Worte.
 

Entschlossen klopfte er wenige Minuten später an Setos Zimmertür. Erstaunt öffnete ihm der Chef der KaibaCorporation. Er trug lediglich ein locker geknöpftes Hemd, offenbar hatte er nicht mehr mit Gesellschaft gerechnet. „Tut mir leid“, sagte Atem leise, „du wolltest es mir sagen, aber ich hab dich nicht gelassen.“ Seto schüttelte leicht den Kopf. „Mir tut’s auch leid. Ich … hab dich ziemlich ins Kreuzverhör genommen, das war albern von mir. Ich weiß auch nicht, was in mich …“
 

Weiter kam er nicht, denn Atem zog ihn rabiat zu sich herunter und verwickelte ihn in einen stürmischen Kuss, der immer begieriger und leidenschaftlicher wurde. Mit dem Fuß trat Seto die Tür hinter ihnen zu, als Atem ihn ins Innere des Zimmers schob und ungeduldig an Setos Hemdknöpfen nestelte. Er spürte Setos Hände warm auf seinem Rücken, wie sie unter sein Shirt glitten und ihn enger an sich zogen, hörte ihrer beider Atem, der schneller und stoßweise ging.
 

Atem brach den Kuss für einen kurzen Moment ab, um Seto mit seinen ausdrucksstarken Augen anzusehen. „Seto, ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn alles einen anderen Verlauf genommen hätte", sagte er, „ich weiß nur, dass ich das hier will. Und dass es im Augenblick nichts mit Seth zu tun hat." „Und ich weiß nach wie vor nicht, warum ich dich unbedingt aus dem Totenreich zurückholen wollte", entgegnete Seto leise, „Aber vielleicht … spielt das alles auch einfach keine Rolle. Wir sind jetzt hier. Mehr muss ich im Augenblick nicht wissen.“
 

Atem ließ seine Hände über Setos entblößte Brust nach oben zu dessen Schultern gleiten und zog ihn erneut nach unten und in einen Kuss. Seine Hände vergrub er in Setos Haar, während Seto seine Lippen über Atems Nacken gleiten ließ. Und Atem erlaubte es sich, nicht an sein früheres Leben zu denken, nicht an Seth oder an seine Fehltritte, an sein Schicksal oder daran, dass alles enden musste.


 


 


 


 


 


 

XVI


 

XVI

Atem lag hellwach da und nahm ganz bewusst den warmen Körper neben sich wahr. Seto schlief bereits. Er hatte seinen Arm locker um den Pharao gelegt und Atem rückte etwas näher zu ihm heran, verbarg sein Gesicht in Setos Halsbeuge und atmete seinen vertrauten Geruch ein. Er verspürte etwas, das sich vage anfühlte wie Glück und Leichtigkeit. Vielleicht existierte es nur in diesem Raum und er hätte sich gerne in den Augenblick eingegraben, diese Blase niemals verlassen. Doch zu viel spielte sich in seinem Kopf ab, als dass er zur Ruhe kommen konnte.
 

Alles an dieser Situation war neu: Dieses Gebäude, die Innovationen dieser Zeit, die Menschen um ihn herum, ihre vertrackte Situation. Er fühlte sich so verloren und doch gleichzeitig so aufgehoben. Jede Nacht hatte er im Palast alleine verbracht, hatte sich mit all seinen Gedanken und Emotionen zurückgezogen. Allein Seto jetzt neben sich liegend zu wissen gab ihm irgendwie Halt. Nie zuvor hatte er einen Menschen so nah bei sich gehabt wie jetzt, sich jemandem so sehr geöffnet. Er spürte, dass es Seto genauso erging. Sie entdeckten diese Zweisamkeit gemeinsam für sich. In Setos Blick hatte Atem in dieser Nacht ein tiefes Vertrauen in ihn gesehen. Ein Vertrauen, dass sich wohl über die Zeit hinweg entwickelt hatte. Bei Atem selbst war es von dem Moment an vorhanden gewesen, als er in dieser Zeit gelandet war.
 

Er hatte sich fallenlassen und war in der Lage gewesen, Seto als Person zu begegnen und seine Rolle als Herrscher ganz beiseitezuschieben. Bei Seth hatte er oft den Eindruck gehabt, dass so viel zwischen ihnen stand: So viele Pflichten, Erwartungen und Formalitäten, dass sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen konnten. Weil sie weggesperrt waren in die goldenen Käfige ihrer Ämter. Setos Zuneigung, Respekt und Sorge hatten nichts mit irgendwelchen vorgegebenen Rollen zu tun. Dem Besitzer der Kaibacorp war all das egal und das genoss der Pharao in vollen Zügen.
 

Dennoch war da eine leise Ahnung in ihm, die ihn um den Schlaf brachte und davon abhielt, sich ganz zu entspannen. Noch immer wusste er, dass dies hier nicht sein Leben war und dass er aus einem bestimmten Grund hergebracht worden war. Dass er all dies hier erst verursacht hatte durch seine Unvernunft und Abenteuerlust. Dass von ihm auch hier bestimmte Dinge erwartet wurden. Nur was es war, das er tun sollte, wusste er nicht. So lag er wach, war tief in Gedanken verstrickt, und seine tiefgründigen violetten Augen starrten an die Decke. Es war schwül, trotz des Unwetters, das draußen tobte. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und stand leise auf, um Seto nicht zu wecken.
 

***

Es war eine stürmische Nacht und auch Bakura fand nur wenig Schlaf. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, aber es half alles nichts. Jede Faser seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Außerdem begann er zum ersten Mal, seit er in dieser Welt gelandet war, ernsthaft nachzudenken. Die ganze Zeit über hatte er alles mehr oder weniger über sich ergehen lassen, hatte aus der Ferne zugesehen. Dort, wo er herkam, hatte er niemanden und niemand vermisste ihn. Es gab keine Verpflichtungen, um die er sich kümmern musste, und so sehr er auch stets auf seinen Vorteil aus war – sein eigenes Leben war ihm nicht allzu viel wert. Er hatte es sich angewöhnt, jeden Tag so zu nehmen, wie er kam.
 

Er gab es nur ungern zu, aber Ryous Worte hatten ihn irgendwie getroffen. Dieser kleine Abklatsch von ihm selbst war wirklich ein neunmalkluger Moralapostel. Trotzdem hatte er ihn dazu bewogen, sich ernsthaft zu fragen, warum er hier war. Und warum gerade mit Atem zusammen. „Hach, die großen Fragen des Lebens, wann ist es so weit mit mir gekommen?“, murmelte er zynisch in sein Kopfkissen. Als er es nicht mehr im Bett aushielt, stand er auf, zog sich an und verließ sein Zimmer. Er brauchte Luft zum Atmen und einen Tapetenwechsel.
 

Bedächtig schritt er die Treppe hinab bis in die große Eingangshalle der Burg. Dort ließ er sich auf den Stufen nieder und starrte ins Dunkel. Sicher war an Ryous Äußerung etwas dran: Man überwand nicht einfach so Zeit und Raum, ohne dass man 3000 Jahre nach dem eigenen Leben irgendetwas zu erledigen hätte. Aber er war absolut nicht der Typ dazu, der erledigte, was andere von ihm wollten. Trotzdem, vielleicht hatte das Schicksal das auch bereits einkalkuliert und alles wartete nur darauf, dass er als treibende, dunkle Kraft in Erscheinung trat. Dass der Vorhang sich öffnete und er den Schurken aus dem Drehbuch gab, gegen den Atem bestehen musste. Aber das war absurd. Immerhin hatte Pegasus doch diesen Part schon ganz erfolgreich übernommen, wenn auch unfreiwillig. Und die Bedrohung, wegen der sie scheinbar hier waren und die ihren Ursprung im alten Ägypten hatte, war bereits freigesetzt.
 

Er horchte auf, als er ein Geräusch wahrnahm. Sicher nur ein Knacken der alten Möbel, Stufen und Wände. Andererseits hatte es sich menschlich angehört. Fast wie Schritte. Unschlüssig erhob sich Bakura. Da war es wieder. Wie das leise Öffnen und Schließen von Türen. Dann Schritte, die sich rasch näherten. Bakura schlich in den Salon und spähte von dort aus durch einen Türspalt nach draußen in die Eingangshalle.
 

Jetzt trat eine Gestalt in sein Blickfeld. Pegasus schritt mit ernstem Gesichtsausdruck die Treppenstufen nach unten. Unter dem Arm trug er etwas, das Bakura nicht genau ausmachen konnte. Es machte den Anschein eines kleinen Päckchens. In der Eingangshalle blickte er sich kurz nach allen Seiten um, schließlich zog er einen winzigen, goldenen Schlüssel aus der Tasche und ging damit zielstrebig zu einer Stelle hinter der breiten Treppe. Er steckte den Schlüssel einfach direkt in die Wand – und eine niedrige Tür öffnete sich. Pegasus musste sich nun offenbar bücken, dann sah Bakura, wie er eine schmale Treppe hinabkraxelte, die offenbar in einen Keller oder unterirdischen Raum führte. Sorgsam zog er die versteckte Wandtür hinter sich zu.
 

„Dieser gewiefte Clown“, murmelte Bakura fassungslos. Neugierig verharrte er in seiner Position und fand es schade, dass er keine Schale mit Datteln oder einen Becher Wein dabeihatte, um sich dieses Schauspiel zu versüßen. Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Tür erneut und der Gastgeber entstieg dem kleinen Kellerschacht wieder. – Das erste, was Bakura ins Auge sprang, war, dass das Päckchen unter seinem Arm verschwunden war. Hatte er dort unten etwas deponiert, was nicht gefunden werden sollte?
 

Geschäftig und ohne mit der Wimper zu zucken schritt Pegasus die Treppe zum ersten Stock wieder nach oben. Kurz darauf hörte der König der Diebe erneut das leise Schließen von Türen – bereits weit entfernt. Er atmete auf und verließ sein Versteck.
 

In Gedanken bei seiner unfreiwilligen Beobachtung erklomm er ebenfalls die Treppe und schritt den Gang entlang zu seinem Zimmer, als sich neben ihm unvermittelt eine Tür öffnete und der Pharao schnell aus seinem Zimmer trat. Als er begriff, dass er nicht alleine auf dem Gang war, öffnete er den Mund zu einem erschreckten Laut, aber Bakura legte ihm schnell eine Hand auf den Mund. „Halt die Klappe!“, befahl er ihm zischend, „oder willst du die ganze Burg aufwecken?“ Atem begriff und verstummte, wobei er ärgerlich Bakuras Hand wegschlug. „Lass los!“, fauchte er. Bakuras Augenbraue flog nach oben, als er bemerkte, dass Atem nicht aus seinem eigenen Zimmer gekommen war. „Was ist los, Mumie? Hast du dich etwa verlaufen? Nur zu verständlich für eine so kleine Person in einem so großen Gebäude“, neckte er den Pharao flüsternd. „Sehr witzig“, wisperte dieser zurück, „ich bin wachgeworden und kann nicht mehr einschlafen.“ „Was für ein Zufall, da geht es mir genauso“, entgegnete Bakura, „Trifft sich gut, dass ich dir hier begegne. Ich muss nämlich ohnehin mit dir sprechen.“ Atem blinzelte den Dieb ratlos an.
 

Wenige Minuten später befanden sich die beiden auf Bakuras Zimmer. „Setz dich doch“, bot der Dieb dem Pharao an, aber dieser blieb unschlüssig und etwas feindselig stehen. „So misstrauisch nach unserem kleinen Umtrunk vorhin?“, schmunzelte Bakura, „ich werd‘ dich schon nicht fressen, aber ganz wie du willst.“ „Was wolltest du mit mir besprechen?“, kam Atem sachlich auf den Punkt. Bakura seufzte und ließ sich aufs Bett fallen. „Ich … hab ein bisschen nachgedacht“, stellte er fest. „Na, das ist doch die erste gute Idee, die ich aus deinem Mund höre. Ein Schritt in die richtige Richtung“, kommentierte Atem bissig. Bakura ignorierte die Spitze. „Ich denke, du solltest morgen früh nicht mit deinem Priester-Verschnitt-Liebhaber nach Domino zurückfahren“, sagte er entschieden. Der Pharao blickte ihn verständnislos an, aber etwas in seinem Gesichtsausdruck sagte Bakura, dass der Gedanke ihm nicht fremd war.
 

„Was soll das heißen?“, fragte der Pharao. „Das soll heißen, dass ich eben etwas beobachtet habe. Pegasus hat eine geheime Tür in einen Keller und dort hat er gerade, mitten in der Nacht, etwas hingebracht. Wer weiß, vielleicht war es ja unser meistgesuchter zweiter Papyrus. Ich weiß nicht … ich habe so ein Gefühl, dass wir der Sache nachgehen sollten. Und … dass wir hier besser aufgehoben sind als in Domino.“
 

Atem sah ihn unschlüssig an und versuchte, sein Gesicht zu ergründen. Dann schritt er quer durch das Zimmer und ließ sich schließlich doch auf dem Sessel am Fenster nieder. „Und warum das alles? Nenn mir nur einen guten Grund, warum ich dir trauen sollte? Warum ich auf dich hören und mit dir hierbleiben sollte, statt mit Seto zurückzufliegen?“ Bakura nickte leicht, dann sagte er: „Weil es die Wahrheit war, was ich dir in der Pyramide gesagt hab: Du hast dir meinen Respekt verdient. Ja, ich hab dich abgezogen und ich würde lügen, wenn ich dir sagen würde, ich würd‘s nicht wieder tun, aber … das heißt nicht, dass alles, was ich dir gesagt hab, gelogen war. Und ich denke, wir beide können hier zusammen etwas ausrichten. Und das ist das Ehrlichste, was du von mir bekommst.“
 

Der Pharao sah nachdenklich aus und strich sich seufzend eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Weißt du, was das Verrückteste ist?“, fragte er dann, „ich bereue es trotz allem nicht, damals auf dein Angebot eingegangen zu sein. Ich weiß, ich sollte es. Ich weiß, weil ich so entschieden habe, stecken wir jetzt 3000 Jahre später hier in diesem Schlamassel, aber …“ Er zuckte mit den Schultern, „ist es verwerflich, so zu fühlen?“, fragte er den Dieb unverhohlen. Dieser seufzte. „Wieso fragst du ausgerechnet mich das? Aber wenn du wirklich meine Meinung wissen willst: Ich denke, wir sind alle nur Menschen, keine Götter. Auch du nicht. Auch wenn dir das eingeredet wurde.“ Atem senkte den Kopf, schließlich blickte er entschlossen auf. „Okay“, knurrte er, „ich bin dabei. Wir bleiben hier und behalten die Burg im Auge. Aber unter einer Bedingung.“ „Scheinbar wird es unter uns zur Gewohnheit, Verträge auszuhandeln“, lächelte Bakura amüsiert und beugte sich neugierig vor. Atem schlug erhaben die Beine übereinander. „Ich will keine von deinen Spielchen, während wir hier zusammenarbeiten. Für diese Zeit herrscht Waffenstillstand, klar?“ Bakura grinste schief. „Sehr wohl, Euer Winzigkeit.“
 

„Gut“, schloss Atem, „dann erzähl mir jetzt genau, was du beobachtet hast.“ Das tat Bakura. „Verstehe.“ Atem zog die Stirn in Falten. Er haderte kurz mit sich, doch dann zog er langsam das Kuvert mit dem Scheck für Uyeda aus der Tasche seines Blazers. „Da … ist etwas, das ich dir zeigen will.“
 

***

„Du willst was?!“, fragte Seto angespannt, als Atem ihn am Morgen in seinen Entschluss einweihte. Er richtete sich neben dem Pharao im Bett auf, während dieser noch auf den Ellbogen gestützt dalag. „Ich weiß, es klingt absurd“, sagte der Kleinere der beiden. „Allerdings!“, fuhr Seto ihn an. „Aber ich habe es bereits beschlossen. Du wirst es also so akzeptieren müssen. Ich habe in Domino keine Verpflichtungen und keine Angehörigen. Ich kann hier mehr ausrichten. Und das werde ich auch, um meinen Fehler wiedergutzumachen. Ich bin hierfür verantwortlich!“ Seto knurrte verstimmt. „Das passt mir nicht, Atem. Ich will nicht, dass du mit Pegasus und diesem scheinheiligen Uyeda allein hier auf der Burg bist.“ Atem schmunzelte, weil er wusste, dass Seto nur so abfällig über Uyeda redete und seinen Namen ausspie wie Galle, weil er ihn angeflirtet hatte. „Ich weiß, es ist verrückt, das ausgerechnet aus meinem Mund zu hören, aber: Ich bin nicht allein. Bakura ist ja auch hier.“ Seto schnaubte verächtlich und schwang seine Beine aus dem Bett. „Ganz recht, noch ein Grund mehr, warum du mit nach Domino fliegen solltest!“
 

Atem richtete sich ebenfalls auf, schlang von hinten seine Arme um Seto und atmete den Duft seines Haars ein. „Ich werde mich nicht umentscheiden, du kannst dir deine Energie also sparen und die Zeit bis zum Aufbruch lieber angenehmer nutzen.“ Während er Setos Schultern massierte spürte er, wie dessen Muskeln sich etwas entspannten. Dann lehnte der Firmenchef sich zum Nachttisch hinüber und angelte sich ein kleines Telefon, das darauf gelegen hatte. „Du bist wirklich sturer als hundert Esel. Also schön, dann nimm wenigstens dieses Handy und halt mich auf dem Laufenden“, gab er sich geschlagen.
 

Er reichte Atem das Telefon nach hinten und dieser lehnte sich gegen die Kopflehne des Bettes und begutachtete das Gerät neugierig. Als er bei seiner Inspektion unabsichtlich auf den Home-Button drückte und das Display aufleuchtete, warf er es wie von der Tarantel gestochen wieder von sich. Seto seufzte. „Das erfordert wohl noch eine gehörige Portion Übung“, stellte er nüchtern fest. Er rückte nah an den Pharao heran und wischte mit dem Finger quer über den Bildschirm. „So entsperrst du es“, erklärte er, „dann siehst du hier deinen Home-Bildschirm …“ „obwohl ich keine Ahnung habe, was das ist“, unterbrach ihn Atem lachend. „Und wenn du mich anrufen willst …“, fuhr Seto fort, dann jedoch unterbrach er sich und hielt inne. Er nahm dem Pharao das Telefon aus der Hand und nahm ihn stattdessen in den Arm. „Ach, vergiss es“, murmelte er in Atems Haar, „du wirst es schon selbst rausfinden.“
 

***

Noch immer regnete es leicht, als sie sich alle in Regencapes auf den Weg zu Setos großem Privatjet machten. „Atem, kommst du wirklich hier allein klar?“, fragte Yugi, der sich im Gehen zu seinem späteren Alter Ego umwandte. Dieser nickte. „Mach dir keine Gedanken, ich weiß, was ich tue.“ Der Pharao sah in Yugis Blick die Enttäuschung darüber, dass sie nicht mehr dieselbe Verbindung miteinander teilten, die er von ihrer gemeinsamen Zeit kannte. Er wusste, er sollte sich schuldig fühlen, doch er kannte den jungen Mann, der ihm so ähnlichsah, schlichtweg nicht. Er hoffte, er würde es erleben, dass sie sich irgendwann in seiner eigenen Zukunft besser kennenlernen durften. „Pass auf dich auf, Pharao“, sagte auch Joey und Téa nickte eifrig, bevor sie in das KaibaCorp-Flugzeug stiegen.
 

Ryou und Bakura standen derweil bereits vor Kaibas Flugzeug. „Deine Entscheidung“, wollte Ryou wissen, „hat die vielleicht ein kleines bisschen mit unserem Gespräch gestern Abend zu tun?“ „Das hättest du wohl gern, du kleiner Wichtigtuer!“, grinste Bakura überheblich. Ryou hob unschuldig die Hände. „Schon gut, es war ja lediglich eine Vermutung. Verstehe, dann hat sie wohl eher etwas damit zu tun, dass du den Pharao doch besser leiden kannst, als du zugeben willst? Und dass du ihn nicht alleine lassen willst?“ Ryou schmunzelte, doch Bakura lief rot an vor Wut. „Von wegen! Es war meine Idee, hierzubleiben! Ich musste sogar Überzeugungsarbeit leisten, um ihn dazu zu bewegen!“ Ryou hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. „Alles klar. Ich bin jedenfalls froh, dass ich zur Abwechslung mal nicht die Verantwortung für dich habe. Benimm dich trotzdem, hörst du?“ „Ph! Eigentlich will ich nur hierbleiben, damit ich deinen nervigen Moralpredigten endlich entkomme! Jetzt hau schon ab und lass dich nicht von den Schatten holen!“
 

Bakura drehte sich um und stampfte theatralisch davon. Den ganzen Weg zurück zur Burg murmelte er wirr wilde Flüche vor sich hin: „Was bildet diese Kopie sich ein!? Denkt, er wäre mein Babysitter. Der wird sich noch wundern!“ Er verstummte erst, als Atem grinsend neben ihm auftauchte. „Na, bereit für das, was wir vorhaben?“ Bakura nickte grimmig. „Lass uns die Burg linksmachen!“


 


 


 


 


 


 


 


 

XVII


 

XVII

Als das Flugzeug sich auf Flughöhe befand, dauerte es nicht lange, bis es erneut in ein heftiges Unwetter geriet. Dazu kam der dichte Nebel, der die Sicht versperrte. Die Wolkendecke wollte ebenfalls nicht aufreißer. Dementsprechend gedrückt und angespannt war die Stimmung im Flugzeug. Alle Passagiere, inklusive Seto, saßen da und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Setos Pilot hatte ihm dringend davon abgeraten, in diesem Wetter mit seinem Weißer-Drachen-Jet den Weg zurückzulegen. Dieser war deshalb bis auf weiteres im Königreich der Duellanten geblieben.
 

„Was für ne Suppe da draußen. Leute, hattet ihr schon mal so Bammel bei einem Flug?“, durchbrach Joey nervös die Stille. Téa schüttelte beklommen den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass wir nochmal sowas erleben vor unserem Schulabschluss. Die ganze Zeit hatte ich, um ehrlich zu sein, ziemliche Angst, nach New York zu gehen. So ganz allein in einer so großen Stadt. Ich hab schon hin- und herüberlegt, ob ich die Sache nicht komplett abblase. Aber jetzt … jetzt grade denke ich, ich sollte es durchziehen. Man weiß nie, was noch passiert. Man sollte sich seine Wünsche besser heute als morgen erfüllen.“
 

Niemand sagte etwas, aber alle waren seltsam berührt von Téas Gedankengang. Auch Seto war innerlich wachsam. Er trug schließlich die Verantwortung für alle an Bord. Ein klein wenig hatte er sich gewünscht, sie hätten gar nicht starten können. So hätte er auch Atem nicht allein zurücklassen müssen. „Kaiba, denkst du, der Pharao kommt klar?“, riss Yugis Ansprache ihn aus seinem Gedankenlabyrinth. Seto nickte entschieden. „Man sollte meinen, du würdest ihn nach all den Jahren besser kennen, um mich so etwas zu fragen“, knurrte er etwas abweisend. Yugi nickte. „Ey, Kaiba! Reiß deine Klappe nicht so auf und lern mal’n bisschen Anstand!“, entrüstete sich Joey. Seto schnaubte. „Yugi, pfeif deinen Wachhund zurück“, überging er Joeys Rüffel abgeklärt. „Kommt alle mal wieder runter. Eure Kabbelei kann jetzt keiner gebrauchen“, rief Ryou sie zur Vernunft.
 

Nach Stunden, die allen wie eine Ewigkeit vorkamen, landete das Flugzeug endlich auf dem Gelände der KaibaCorporation. Einer nach dem anderen kletterten sie ins Freie und blickten sich um. Die Luft schien zu stehen und der Himmel war von einem tiefen Grau. Es fühlte sich an, als wären sie außerhalb von Zeit und Raum gelandet, nicht in ihrer vertrauten Heimatstadt. Wenn man genau hinsah, konnte man durch die Wolkendecke undeutlich schwarze Schemen gleiten sehen. Seto überprüfte gewohnheitsmäßíg seine DuelDisc, schnallte sie an sein Handgelenk und drückte den Knopf, der dafür sorgte, dass sie sich ausklappte. „Ich denke, damit werden wir dieses Mal wenig ausrichten können, Kaiba“, sagte Yugi ruhig. „Wie auch immer“, entgegnete Seto, „ich habe jetzt hier zu tun und lasse euch allein. Passt auf euch auf.“ Damit schritt er, dicht gefolgt von Mokuba, in Richtung des Firmengebäudes. „Kaiba, lass uns in Kontakt bleiben!“, rief Yugi ihm noch besorgt nach.
 

„Gut Leute, wir sollten uns auch auf den Weg zu unseren Familien machen“, sagte Téa ernst. Alle nickten und so eilten sie los. Auf halben Weg verabschiedeten sie sich von Ryou, der in die andere Richtung abbiegen musste. „Soll dich nicht jemand von uns begleiten?“, fragte Tristan skeptisch. Ryou schüttelte den Kopf. „Ich komme klar, bitte kümmert ihr euch um eure Eltern.“ „Pass auf dich auf, Alter“, entgegente Joey grimmig.
 

Die vier bogen jetzt in ein ruhigeres Wohngebiet ein und alles wirkte plötzlich wie ausgestorben. Ab und an kreuzten andere Fußgänger ihren Weg, aber diese blickten nicht auf und schienen keine Notiz von ihnen zu nehmen. Schweigen breitete sich erneut über ihnen aus. Plötzlich blieb Téa einfach stehen und Tristan wäre beinahe in sie hineingelaufen. „Ey, was soll das denn? Was ist los?“, fragte er gereizt. Dann blickte er zu Joey hinüber und auch dieser stand mit einem Mal reglos da und starrte ins Leere. „Joey?“, fragte Yugi vorsichtig, „Téa? Was ist mit euch?“ Yugi und Tristan blickten sich ratlos an. „Yugi, sieh doch!“, stieß Tristan plötzlich atemlos aus. Dicht über ihnen kreisten schemenhafte Kreaturen, senkten sich in Zeitlupe, wie Federn, auf Joey und Téa herab, umschlossen ihre Handgelenke und krochen von dort nach oben zu ihrer Körpermitte. Yugi und Tristan tauschten alarmierte Blicke.
 

***

Ryou setzte derweil seinen Weg alleine fort. Immer wieder blickte er sich unsicher um. Die Stille und Regungslosigkeit um ihn herum war ihm nicht geheuer. Er gab es nur ungern zu, aber seit Bakura wieder aufgetaucht war, hatte es sich angefühlt, als habe er ein Stück seiner selbst wiedererlangt. Er hatte sich vollständiger gefühlt. Doch jetzt, wo der Geist des Ringes viele Meilen entfernt war, kam er sich nackt und ausgeliefert vor. Er rügte sich innerlich für solche Gedanken. Er wusste, so sollte es nicht sein.
 

Er war ohne den Geist des Ringes besser dran und sollte endlich sein Leben in Freiheit genießen. Aber die Wahrheit war: Seit den Ereignissen in Ägypten und Bakuras und Zorcs Verschwinden war es ihm nicht recht gelungen, sein Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Teás Äußerung im Flugzeug hatte dafür gesorgt, dass sich in seinem Hals ein dicker Kloß gebildet hatte. Er wusste, in ein paar Wochen würden sie alle ihren Schulabschluss machen. Alle würden sie wissen, wo der Weg sie danach hinführte. Alle freuten sie sich auf neue Projekte und Herausforderungen. Nur er selbst hatte nicht die geringste Ahnung, was er mit sich anfangen sollte. Sollte er studieren? Eine Ausbildung machen? Einfach ganz weit weggehen?
 

Erschrocken blickte er sich um, als er plötzlich registrierte, dass einige graue Schemen über ihm kreisten und tiefer und tiefer sanken. Je näher sie ihm kamen, desto mehr nahmen sie Gestalt an. „Was ist das? Was wollt ihr von mir?!“, fragte er mit brüchiger Stimme. Er spürte, wie seine Hände zitterten. „Wollt ihr etwa … mich?“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, als er auch bereits spürte, wie die schattenhaften Wesen seinen Körper und zugleich seine Gedanken berührten und mit ihm verschmolzen. Wie erstarrt blieb er mitten auf dem Gehweg stehen und rührte sich nicht mehr. Alles schien so sinnlos. Alles war dunkel.
 

***

„Nun“, sagte Pegasus, als Atem und Bakura wieder die Burg betraten und ließ die beiden aufschrecken, „ich sehe, ihr beiden bleibt mir noch ein wenig erhalten. Ich freue mich ja über Gäste, und nochmal kannst du mir mein Milleniumsauge ja glücklicherweise nicht entwenden, mein lieber Grabräuber-Boy. Dennoch, klärt mich auf: Was verschafft mir diese Ehre?“, fragte der Gastgeber verschmitzt. „Wir äh …“, Atem beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. Zumindest bei einem Teil davon, „wir dachten, wir könnten doch noch einmal nach dem zweiten Papyrus suchen. Vielleicht finden wir es ja hier irgendwo und können so das Ritual damit rückgängig machen. Schließlich haben wir in Domino keine Familien und hätten dort nicht viel zu tun.“ „Ich verstehe“, nickte Pegasus zustimmend, „natürlich seid ihr frei, euch hier nach Herzenslust umzuschauen. Es wäre ja geradezu famos, wenn die Schrift am Ende auftauchen sollte. Aber nun: Was haltet ihr zuerst von einem gediegenen Frühstück?“
 

***

„Also gut“, wisperte Atem, als er und Bakura das gemeinsame Frühstück hinter sich gebracht hatten und durch die Eingangshalle zurück in Richtung ihrer Zimmer liefen, „was schlägst du vor, wo wir anfangen?“ „Uns jetzt um den Kellerraum zu kümmern macht keinen Sinn“, raunte Bakura, „erstens müssen wir erst mal an den Schlüssel kommen. Zweitens sollten wir diese Mission lieber auf die Nacht verlagern.“ Atem nickte zustimmend. „Sehe ich genauso. Aber wie kommen wir an diesen Schlüssel ran? Wir wissen ja noch noch mal, wo wir danach suchen müssen?“ Während Bakura noch überlegte, nahmen sie plötzlich Schritte hinter sich wahr und drehten sich ertappt um.
 

Vor ihnen stand Zigfried von Schroeder, heute in einem leuchtend sonnengelben Anzug, und musterte die beiden mit neugierigem, durchdringendem Blick aus seinen blaugrünen Augen. „Hey, ihr beiden“, richtete er das Wort an sie, „wenn mir die Frage erlaubt ist: Was tut ihr noch hier? Alle eure Freunde sind doch abgereist. Und überhaupt: Wir hatten ja bereits das Vergnügen, Yugi, aber du da mit den irreparablen Haaren: Wer bist du und was tust du hier auf Burg Pegasus?“ Bakura zwirbelte eine Haarsträhne zwischen seinen Fingern. „Was soll das heißen, ‚irreparabel‘?“, fragte er, ehrlich interessiert. „Das heißt, was es heißt“, entgegnete Zigfried und rückte dabei die rosa Schleife an seinem Hemd zurecht, „diese Frisur kann keiner mehr retten. Du, mein Freund, brauchst ein komplettes Make-over!“ „Ein – was?“ „Na, eine Typveränderung. Interessiert?“ „Kommt drauf an. Würde ich dann so aussehen wie du?“, der König der Diebe verzog das Gesicht. Zigfried brach in schallendes Gelächter aus. „Hahaha, das hättest du wohl gern!“ „Eigentlich ni …“
 

„Lasst uns nicht zu sehr vom Thema abkommen“, mischte sich nun Atem in das Gespräch ein. „Ganz Recht“, sagte Zigfried, „also, jetzt raus mit der Sprache: Über was habt ihr da eben geflüstert?“ Bakura und Atem warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Schließlich sagte Bakura: „Kriemhild oder wie auch immer du heißt: Du suchst doch nach der zweiten Seite dieser Schrift, hab ich Recht?“ „So ist es. Pegasus hat mir zwar noch einmal versichert, dass sie nicht aufzufinden ist, aber ich werde nicht eher abreisen, bis ich mich selbst überzeugt habe.“ „Wie trefflich“, entgegnete Atem, „wir suchen nämlich ebenfalls danach. Vielleicht können wir uns zusammentun.“
 

Zigfrieds Augen weiteten sich verblüfft. „Ihr sucht danach? Aber kommt nicht auf die Idee, dass ihr die Schrift an euch bringen könntet! Sie gehört mir, damit das klar ist!“ „Ja, schon gut“, Atem hob beschwichtigend seine Hände, „Wir möchten ja lediglich einen Blick darauf werfen und vielleicht eine … wie heißt das … Fotologie davon machen. Dann kannst du sie haben.“ Zigfried überlegte kurz. „Na schön. Dann rückt mal raus damit, welche Anhaltspunkte ihr bisher habt.“ Atem lachte verlegen und fasste sich an den Hinterkopf. „Äh … bisher eigentlich keine.“
 

***

Bakura schlenderte gelassen durch die Burg. Atem, er und Zigfried hatten sich den riesigen Gebäudekomplex aufgeteilt, um schneller mit der Suche voranzukommen. Aber der Dieb fragte sich jetzt ernsthaft, nach was er eigentlich suchen sollte. Sicherlich lag die Schriftrolle ja nicht einfach so offen irgendwo herum. Nach welcher Art von Behältnis sollte er also Ausschau halten? Am Ende hatte Pegasus sie doch in diesen ominösen Keller gebracht und sie machten sich die Mühe völlig umsonst. Wenn er sich doch damals nur etwas länger Zeit genommen hätte, sich den Text durchzulesen! Wenn er doch nur besser auf seine Errungenschaft Acht gegeben hätte. Nicht nur, dass er ein Vermögen dafür bekommen hätte oder das Ritual selbst hätte durchführen können. Auch jetzt käme ihm das zugute. Ein solcher Anfängerfehler passierte ihm doch sonst nicht! Er zerbrach sich ärgerlich den Kopf aber das, was er auf dem Papyrus gelesen hatte, aber er konnte sich beim besten Willen, wenn überhaupt, nur an einzelne Fetzen daraus erinnern. Und selbst bei diesen war er sich nicht sicher. Atem schien es da nicht anders zu gehen. Er griff nach einer weiteren Türklinke, doch dann stockte er … Konnte es vielleicht sein, dass …?
 

***

Uyeda schüttelte widerstrebend den Kopf. „Mr. Pegasus, ich kann das nicht tun. Ehrlich. Das können sie nicht von mir verlangen. Es gehörte nicht zur Vereinbarung.“ Pegasus schlug die Beine übereinander und nippte genüsslich an seinem Wein. „Du vergisst, mein junger Freund, dass zu unserer Abmachung gehörte, dass du ab und an außerdienstliche Aufgaben für mich erledigst – im Gegenzug dafür ist dir deine Stelle hier sicher.“ Uyeda trat unruhig von einem Bein aufs andere. „Das stimmt. Und bisher habe ich ja auch immer alles befolgt, ohne es zu hinterfragen …“ „Ja, in der Tat. Du hast alles ganz tadellos verrichtet“, unterbrach ihn der Burgherr mit einem gönnerhaften Lächeln. „… aber das hier – ich weiß ja nicht.“ „Es liegt ganz bei dir“, Pegasus hob beide Hände, um jegliche Verantwortung von sich zu weisen, „brichst du den Vertrag, muss ich dir leider den Geldhahn zudrehen.“ Uyeda biss sich auf die Unterlippe und ballte die Hand zur Faust.
 

Völlig in Gedanken trat er schließlich aus Pegasus Privatbereich und legte den Weg in den Hauptflügel zurück, als er plötzlich unsanft mit jemanden zusammenprallte. „Oh, Verzeihung – ach, Atem, du bist das!“, stieß er nervös aus. „Uyeda, hallo“, auch Atem wirkte heute zurückhaltender als gestern noch. „Tut mir leid, ich hab dich nicht gesehen. Du … bist noch hier?“, fragte der Sanitäter und fuhr sich fahrig durch sein schwarzes Haar, „sind deine Freunde denn nicht abgereist?“ „Das sind sie“, nickte Atem lächelnd, „aber ich habe hier nochwas zu erledigen.“ „Oh, wie reizend“, antwortete Uyeda abwesend, „na dann viel Spaß dabei. Schönen Tag!“ Atem blickte ihm mit gerunzelter Stirn nach, als der junge Mann zerstreut seinen Weg fortsetzte. „Was ist denn mit dem los? Der wirkt total durch den Wind“, murmelte er und dachte unwillkürlich an den Scheck in dem Umschlag.
 

Schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf. Konzentriert und aufmerksam sah der Pharao sich in seinem Flügel um und streifte durch die Zimmer. Als er gerade aus einem der Gästezimmer trat, lehnte Bakura an einer Wand im Flur, lässig einen Fuß gegen die Wand gestemmt. „Was ist? Bist du etwa schon fertig mit deinem Areal?“, wunderte sich der Pharao. „Nein“, sagte Bakura langsam, „das nicht.“ „Aber?“ Atem legte den Kopf schief. „Pharao, kannst du dich noch an einzelne Versatzstücke aus der Schriftrolle erinnern?“, stellte er die Gegenfrage. Atem zog die Augenbrauen zusammen. „Hm … kaum“, gab er zu, „dank deines Manövers konnte ich ja lediglich einen kurzen Blick darauf werfen und die Zeilen überfliegen. Aber weil ich mich nicht so genau damit auseinandergesetzt habe, sind mir die einzelnen Wörter, die ich in den paar Sekunden aufnehmen konnte, entfallen.“ „Genauso wie bei mir“, murmelte Bakura, „aber trotzdem. Einen Versuch wäre es wert.“ „Was redest du, bei Osiris?“, sagte Atem genervt. „Pharao“, Bakura stieß sich von der Wand ab, „vielleicht müssen wir diesen Fetzen Papier gar nicht unbedingt finden. Vielleicht gibt es einen anderen Weg.“ „Einen Weg wohin?“, wollte Atem wissen. „Na, den Text zurückzubringen.“ Der Pharao blinzelte ihn verständnislos an.
 

Wenig später saßen die beiden auf Atems Zimmer. „Was ist denn mit Zigfried? Sollten wir ihm nicht Bescheid geben?“ Bakura winkte ab. „Lass den doch ruhig weitersuchen. Das kann ja nicht schaden und seine Gier treibt ihn vielleicht zu Höchstleistungen an.“ Sie mussten beide kichern. „Also, dann erklär mir, was du im Sinn hast“, sagte Atem schließlich wieder ernst. „Es ist ein harmloses Stück schwarze Magie“, lächelte Bakura, „es kann helfen, Erinnerungen, die nur noch in unserem Unterbewusstsein vorhanden sind, zu Tage zu fördern. Ich habe es oft bei Informanten angewandt, um Details über den Verbleib von kostbaren Gütern herauszufinden, die diese irgendwann mal irgendwo aufgeschnappt hatten.“ „War ja wieder klar“, Atem verschränkte die Arme vor der Brust. „Sei lieber dankbar für diesen kleinen Trick“, grinste Bakura, „es ist doch so“, erklärte er weiter, „wir beide sind die einzigen, die die Schrift angesehen haben, stimmts?“ „Richtig.“ „Und wir beide sind es, die jetzt hier sind, weit weg von unseren eigentlichen Leben, richtig?“ „Richtig …“, Erkenntnis trat in Atems Züge, „Moment … willst du damit etwa sagen …?“ „Na, es könnte doch zumindest sein. Was, wenn das der Grund ist, dass wir hierhergebracht wurden? Damit wir uns zusammen erinnern. Damit wir das, was in unserem Unterbewusstsein noch von dem Text übriggeblieben ist, ausgraben – und gemeinsam das Puzzle vervollständigen!“ Atem sah ihn verblüfft und beeindruckt an. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das irgendwann mal sagen würde, aber: Du könntest Recht haben! – Also schön, was müssen wir tun?“
 

***

Pegasus lehnte sich zufrieden auf seinem roten Samtsessel zurück und fixierte er aufmerksam die überdimensionale Leinwand, die das dunkle Zimmer zeigte, in dem sich Atem und Bakura gerade auf ihr Vorhaben vorbereiteten. „Ihr macht es wirklich unterhaltsam, das muss man euch schon lassen“, murmelte er lächelnd, während er einen großen Schluck aus seinem Weinglas nahm.


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

XVIII


 

XVIII

Auch Zigfried stand missgelaunt in einem der Gästezimmer, das er gerade erfolglos durchsucht hatte. Diese ganze Situation war ihm mehr als lästig. Er fühlte sich wie in einem der Spiele, für die er die nötige Technologie entwickelte. Nur dass dies hier wesentlich weniger komfortabel war als mit einer VR-Brille vor der Konsole zu sitzen. Für so etwas hier war er ganz und gar nicht gemacht. Er konnte nicht begreifen, wie Pegasus eine Hälfte der antiken Schrift einfach so abhandenkommen konnte. Damals, als der Industrial-Illusions-Chef ihn zum ersten Mal deshalb kontaktiert hatte, hatte es den Anschein gemacht, als sei er ein Sammler, der diese kostbaren Stücke genauso sehr schätzte wie er selbst. Hatte er ihn in diesem Punkt so verkannt?
 

Doch dieses Mal ging es um mehr als nur um ein Artefakt. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er die Schrift ohne zu zögern seiner eigenen Sammlung hinzugefügt. Aber vor zwei Tagen hatte sich dieser anonyme Händler bei ihm gemeldet und ihm eine horrende Summe dafür geboten. Als er die Zahl in der Nachricht gelesen hatte, hatte er sich die Augen reiben müssen. Er hatte es gar nicht glauben können!
 

Es war nicht so, dass er Geld dringend nötig hatte, aber dennoch: Auch sein Deal mit Pegasus damals hatte ihn nicht so steinreich gemacht, wie Kaiba es war. Und die Schroeder-Corp brauchte dringend eine Innovation, die sie wieder ins Rennen brachte. Mehr noch: Sein Unternehmen musste endlich aus dem Schatten der KaibaCorporation treten. Zigfried war es so satt, dass seine Gedanken immer und immer wieder nur darum kreisten, wie Seto Kaiba ihm damals zuvorgekommen war und seine vielversprechende Karriere ausgebremst hatte. Nicht nur sein Bruder, sondern auch er selbst hatte genug unter seinen Minderwertigkeitsgefühlen und Rachegelüsten gelitten. Es war höchste Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen und weiterzugehen.
 

Und nun endlich hatte er auch die zündende Idee, die ihm das ermöglichen konnte. Eine Idee, an die er mehr glaubte als an alles zuvor in seinem Leben! Diesmal war es völlig anders als bei seiner virtuellen Duel-Technologie. Sie war gut gewesen, ohne Frage. Aber er hatte nie wirklich dafür gebrannt. Dieses Mal aber spürte er, dass er ein Produkt großmachen konnte. Er allein.
 

Alles war bereits durchgeplant, das Konzept so simpel wie genial: Seine neue Software sollte Kundinnen und Kunden in Friseur- und Beauty-Salons ermöglichen, mit einer VR-Brille unter Betreuung des Personals neue Looks zu kreieren und sich auszuprobieren. Im Anschluss an diese experimentelle Phase konnte die gewünschte Typveränderung dann zur Wirklichkeit werden. Bei diesem verwahrlosten Penner Bakura juckte es ihm gehörig in den Fingern. Ihm hätte er zu gerne einmal gezeigt, was seine Technik aus einem Menschen machen konnte, aber natürlich war alles noch streng unter Verschluss und er konnte nicht einfach so damit hausieren gehen.
 

Ein erster Prototyp existierte bereits. Doch dieser musste noch stark verbessert und weiterentwickelt werden und das kostete nun mal Geld. Viel Geld. Das Problem dabei war: Seine Investoren glaubten bisher nicht an den einschlagenden Erfolg und alleine konnte er weder die Vollendung des Programms geschweige denn die Marketing-Kampagne finanziell stemmen.
 

Er ballte die Faust, als er an die vielen erniedrigenden Treffen mit möglichen Kooperationspartnern zurückdachte, in die er so viel Herzblut und Hoffnung gesteckt hatte, in denen er gebuckelt und fast gebettelt hatte. Es war ihm zutiefst zuwider gewesen und hatte an seinem Stolz gekratzt. „Tut mir leid, Herr von Schroeder“, hatte selbst der letzte von ihnen schließlich gesagt, „aber … wir sind nicht interessiert. Wir glauben nicht wirklich daran, dass das Produkt Abnehmer findet.“ „Aber … ich werde höchstpersönlich bei den Dienstleistern Klinken putzen!“, hatte er beteuert, „ich kann das Konzept über meine Kanäle in sozialen Medien verbreiten! Ich habe bereits ein eigenes Mode-Label, das sehr gut läuft! Ich schwöre Ihnen, ich werde nicht aufhören, bis auch jeder noch so kleine Friseursalon das Konzept in seine Verkaufsstrategie integriert hat!“ „Versuchen Sie es gerne“, bestätigte der Investor, „falls Sie Erfolg haben sollten, melden Sie sich doch wieder. Dann können wir erneut Verhandlungen aufnehmen. Ich persönlich investiere lieber in ein erprobtes Produkt als in ein Hirngespinst.“ Das Lachen der Firmenvertreter, als sie sein Büro verlassen hatten, klang noch heute in seinen Ohren nach.
 

Er war in einer Sackgasse angelangt. Dieser Deal mit den anonymen Käufer hier war eine einmalige Chance, die er einfach nutzen musste! Er musste dieses Papyrus finden, und hoffentlich unversehrt!
 

Aber diese Suche nach der Nadel im Heuhaufen hier war mehr als sinnlos. Er konnte ja noch nicht einmal sagen, ob ihm bisher überhaupt alle Teile des Gebäudes bekannt waren. Wenn es doch nur einen Lageplan oder etwas ähnliches gäbe, mit dem er sich orientieren könnte … er blickte sich suchend um und fand schließlich, was er sich erhofft hatte: Auf dem kleinen Schreibtisch stand ein Tablet, das sicherlich mit dem Drahtlosnetzwerk von Burg Pegasus verbunden war. Entschlossen ließ er sich auf dem Schreibtischstuhl nieder. Seine Augen blitzten ehrgeizig auf und er begann konzentriert zu arbeiten: Wenn jemand sich unbehelligt in Pegasus' Netzwerk hacken konnte, dann war er es!
 

Bereits nach wenigen Minuten hatte er, was er brauchte. Das Display zeigte einen kompletten Grundriss der Burg. Aufmerksam studierte er die Bereiche, zu denen er bisher keinen Zutritt gehabt hatte. Da war natürlich Pegasus‘ Flügel. Aber er entdeckte noch etwas anderes auf dem Plan: Hinter der Treppe schien es einen geheimen Eingang zu einem Keller zu geben. „Sehr verdächtig, Pegasus“, murmelte er, „vielleicht willst du mir auch nur einen Bären aufbinden und die Schrift befindet sich dort, wo du glaubst, ich würde sie ohnehin nie finden. Na, das werden wir ja sehen!“
 

Keine fünf Minuten später stand er vor der fast unsichtbaren Tür, die laut Plan in den Kellerraum führen sollte. Wie unerfreulich! Es gab hier nur so ein altmodisches, überholtes Analogschloss, das man nicht digital umgehen konnte. Er musste zugeben, seine motorischen Fähigkeiten waren leider gleich Null, wenn es nicht gerade um Haarstyling ging.
 

„Tja, so ein Pech, nicht wahr?“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich und fuhr erschrocken zusammen. „Kein Grund sich ertappt zu fühlen!“, sagte Pegasus nachsichtig und nahm die letzten Stufen der großen Haupttreppe, bis er schließlich vor ihm zum Stehen kam. „Wenn ich dir einen Vorschlag machen darf, junger Schroeder-Boy … statt diese Tür da zu öffnen, wie wäre es denn, wenn wir ein bisschen übers Geschäftliche reden, wo du schon mal den weiten Weg hierher zurückgelegt hast?“
 

„Was meinen Sie damit?“, fragte Zigfried argwöhnisch. „Nun, ich meine, dass mir zu Ohren gekommen ist, dass du händeringend Investoren für eine neue Technologie suchst – lediglich mich, der dich in der Vergangenheit doch so großzügig gefördert hat, hast du wohl auf deiner Liste vergessen.“ „Nun, ich dachte ehrlichgesagt, dass Industrial Illusions nur DuelMonsters-bezogene Produkte finanziert“, rechtfertigte Zigfried sich verunsichert. „Das kannst du nicht wissen, wenn du nicht fragst!“, lächelte der Hausherr und fuhr sich durch das silberne Haar, „wie wäre es, wenn du es einfach mal versuchst. Überzeuge mich von deiner Vision! Ich liebe Menschen, die für etwas brennen!“ Zigfried überlegte einen Augenblick. „Na schön“, sagte er schließlich, „ich habe das Prototyp-Programm dabei. Alles, was ich brauche, ist eine VR-Brille.“ „Das dürfte das geringste Hindernis sein“, lachte Pegasus, „folge mir.“
 

Eine halbe Stunde später nahm Pegasus die Brille wieder ab und nickte bedächtig. Zigfrieds Herz schlug ihm bis zum Hals. „Was denken Sie?“, fragte er mit gepresster Stimme und buttrigen Knien. Zu Maximilian Pegasus hatte er stets aufgesehen und vielleicht hatte er es auch vermieden, ihn zu kontaktieren, weil er sich so sehr von seinem Urteil fürchtete. Der Burgherr sah ihn an. „Superb!“, flötete er schließlich begeistert und klatschte anerkennend in die Hände. „Ich denke, ich sehe hier ein großes Geschäft.“ „Wirklich?“, fragte Zigfried nach Luft schnappend. „Aber natürlich. Nicht nur im Produkt selbst, sondern auch in Verbindung mit dem Unternehmer, der es authentisch verkauft. Also mit dir. Ich würde nur zu gerne investieren.“ Zigfried konnte sein Glück kaum fassen. Schnell hatten sie sich auf eine Summe und das weitere Vorgehen geeinigt.
 

„Wunderbar. Ich bin froh, dass du nicht umsonst hergekommen bist, kleiner von Schroeder“, sagte Pegasus und erhob sich, „oh, da wäre noch eine ganz kleine Sache, um die ich dich bitten würde.“ „Ja, sicher“, Zigfried war so im Taumel der Euphorie, dass er kaum richtig hinhörte. „Eine reine Formalität.“ Pegasus zog etwas aus seiner Tasche und hielt es Zigfried hin. Zuerst begriff dieser nicht, was er da vor sich hatte, aber als er genauer hinsah, weiteten sich seine türkisfarbenen Augen. „Das … ist ja die Schriftrolle! Beide Teile davon!“, stieß er hervor. „In der Tat“, nickte Pegasus, „leider musste ich dich etwas anflunkern was das betrifft. Es waren nun mal Personen anwesend, die nicht wissen sollten, dass sich die andere Hälfte dieser Schrift noch in meinem Besitz befindet. Personen die … nichts Gutes damit im Sinn haben.“ Zigfried zog die Augenbrauen zusammen. „Meinen Sie, diese beiden, die nach der Rolle suchen? Yugi und diesen verwahrlosten Landstreicher?“ „Genau die“, bestätigte der Gastgeber, „also bitte: Tu mir den kleinen Gefallen und nimm die Rolle an dich. Ich möchte, dass du unverzüglich damit abreist, verstehst du? Verliere keine Zeit mehr.“
 

„In Ordnung aber …“ „Und da wir schon einmal bei kleinen Geständnissen sind: Nun muss ich dir offenbaren, dass ich derjenige war, der dich kontaktiert und dir das Angebot gemacht hat.“ „Sie waren das?! Aber warum denn?! Die Schrift gehört Ihnen doch bereits!“ Pegasus kicherte wie ein Schulmädchen, offenbar amüsiert über Zigfrieds Begriffsstutzigkeit. „Na, damit du schnell herreist und das Artefakt außer Reichweite der falschen Personen bringst, ohne dass es Verdacht erregt, ganz einfach. Ein kleiner Notbehelf, den ich mir erlaubt habe. Wenn Croquet oder jemand von meinem Personal aus der Burg das erledigt hätte und abgereist wäre, wäre es zu sehr aufgefallen. Aber du hast unseren anderen Gästen ja bereits glaubhaft gemacht, dass du ein sagenhaftes Angebot bekommen hast und das Artefakt so schnell wie möglich an den Mann bringen willst. Und da du ja nun nicht umsonst gekommen bist, hoffe ich, du verzeihst mir diesen kleinen Schwindel. Mein Sekretär wird einen Investoren-Vertrag aufsetzen, den ich dir am Montag sofort zur Prüfung zuschicke. Du hast mein Wort darauf.“ „Also gut.“ Zigfried griff nach den beiden Papyrusseiten und verließ damit Pegasus Büro.
 

Es fühlte sich seltsam an, damit durch die Eingangspforte der Burg zu schreiten, irgendwie nicht richtig. Er hatte zwar den beiden anderen versprochen, ihnen einen Blick auf die Rolle zu ermöglichen, bevor er sie mit sich nahm … aber die Bedingungen hatten sich schließlich geändert. An diesem Vertrag hing seine gesamte weitere Karriere, sein zukünftiges Leben. Mit zitternden Händen schloss er schließlich die Klappe seines fliederfarbenen Jets und startete den Motor. Noch immer realisierte er nicht so recht, was eben passiert war, als er der Boden unter ihm zu vibrieren begann und das Flugzeug abhob.
 

***

„Joey! Téa! Könnt ihr mich hören?! Hört schon auf mit dem Blödsinn!“, Tristan wedelte wild mit der Hand vor den Gesichtern seiner beiden Freunde herum. „Es ist zwecklos“, flüsterte Yugi, „sie reagieren nicht auf uns. Verdammt, wir sind auf uns allein gestellt!“ Panik und Hilflosigkeit breiteten sich in ihm aus und schnürten ihm die Kehle zu.
 

„Yugi, sieh mal da!“, Tristan deutete alarmiert auf ein schwarzes, nebliges Geflecht, das begonnen hatte, sich nun auch Yugis Arm hinaufzuschlängeln. Dieser wich erschrocken zurück. „Was … was ist das?“, plötzlich jedoch begriff er, „wir … wir ziehen es selbst an! Diese Schatten da, das lösen wir ganz allein aus, wenn wir uns in negativen Gedanken verstricken!“ „Du meinst, Joey und Téa haben diese Schatten durch ihre Selbstzweifel angezogen?“, wollte Tristan skeptisch wissen. „Ich glaube schon“, bestätigte Yugi, „vielleicht ernähren sie sich sogar davon, ja, vielleicht macht es sie stärker, wenn sie sich an Wirte heften können, die mit negativen Gedanken und Gefühlen hadern. Wir müssen mit aller Kraft versuchen. positiv zu bleiben, auch wenn uns das im Augenblick schwerfällt!“ „Kein Problem“, Tristan ballte die Hand zur Faust und reckte sie in die Höhe, „ich bin immer positiv!“ Yugi musste lächeln. „Das stimmt tatsächlich. Im Gegensatz zu Joey und Téa, wie es scheint“, er warf einen besorgten Blick auf die beiden.
 

„Joey, kannst du mich hören?“, sprach er seinen besten Freund schließlich erneut an, obwohl dessen Augen glasig waren und er keinerlei Reaktion zeigte. „Ich weiß … dass dich momentan viele Zweifel plagen. Und dich ebenfalls, Téa: Ich weiß, dass … wir gerade an einem Punkt im Leben sind, an dem es ganz natürlich ist, sich zu fragen, ob man den richtigen Weg gewählt hat. Ob man alldem gewachsen ist. Mir geht es ja selbst nicht anders.“
 

„Yugi …“, als Joeys Lippen sich begannen zu bewegen, war es zäh, als wären sie zusammengeklebt, als koste es ihn größte Anstrengung, zu sprechen. „Joey?“, fragte der Kleinere aufgeregt. „Yugi … warum sollte jemand wie du Zweifel haben? Dir ist bisher immer alles gelungen. Du hast deinen Großvater, der dich unterstützt, du bist ein cleveres Kerlchen, du hast Top-Ideen … und du bist der König der Spiele. Aber ich … was habe ich schon? Mein mein größter Traum steht immer nur auf wackligen Füßen. Was, wenn ich wieder verliere? Gegen Kaiba. Gegen alle anderen … Ich schätze, ich bin als Verlierer geboren. Ich werde nie ein erfolgreicher Duellant.“
 

„Er hat Recht“, Yugis Kopf schnellte nach links, als nun auch Téas Stimme leise erklang. „was ist, wenn ich aus New York zurückkehre und gescheitert bin? Was, wenn ich es nicht schaffe, dort Fuß zu fassen? Oder die Sprache nicht richtig lerne? Was, wenn ich zu viel Angst habe?! Wie soll ich euch dann noch unter die Augen treten?“
 

Yugi schüttelte fassungslos den Kopf. „Denkt ihr ehrlich, dass wir so über euch denken?! Denkt ihr, dass das für uns irgendeinen Unterschied macht?! Glaubt ihr denn, ich kann nicht genauso scheitern wie ihr? Was, wenn sich ein Spiel von mir schlecht verkauft? Wenn meine Ideen nicht gut genug sind, um damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen?! Und überhaupt: Was ist schon dabei, mal zu scheitern? Dafür haben wir uns doch gegenseitig, um uns nicht alleine zu lassen, auch wenn das passiert!! Um uns wieder aufzuhelfen!“
 

„Yugi hat Recht“, mischte sich nun auch Tristan ein, „seit wann machen wir solche Sachen alleine im stillen Kämmerlein aus, statt darüber zu sprechen!? Man kann niemals von sich behaupten, gescheitert zu sein, wenn man seinen Traum mit allem verfolgt, was man hat! So, wie du es tust, Joey. Oder du, Téa. Denkst du, ich würde mich trauen, alleine nach Übersee zu fliegen? Meinen Respekt hast du schon, weil du es überhaupt versuchst!“ Yugi senkte den Kopf. „Momentan könnte es sein, dass wir alle scheitern. Vielleicht können wir unsere Familien und Freunde nicht retten. Deshalb brauchen wir euch jetzt hier, um das zu verhindern! In der Realität, und nicht in euren dunklen Schneckenhäusern!“
 

Sein Blick flog zu Téa, als er eine Bewegung aus ihrer Richtung wahrnahm. Ihre Hand wanderte zu ihrem Gesicht. Abwesend wischte sie sich eine Träne von der Wange. „Téa?“, fragte er zaghaft. „Du hast Recht, Yugi“, sagte sie mit erstickter Stimme. Sie weinte zwar stumme Tränen, doch der dunkle Schatten, der sie umklammert hatte, löste sich von ihr, stieg wie Wasserdampf nach oben und verpuffte schließlich in der Finsternis über ihnen. „Es tut mir leid. Ich habe mich mitreißen lassen.“ „Schon okay. Das ist nur menschlich.“
 

Nun wandte sich Yugi wieder Joey zu. „Joey, bitte. Auch wenn du nicht an dich glaubst – ich tue es. Und weißt du, warum? Weil ich sehe, was du bis heute schon erreicht hast. Das sind keine leeren Illusionen. Das sind die Früchte deiner harten Arbeit und deines guten Charakters.“ Joeys Kopf drehte sich langsam und wandte sich ihm zu. „Meinst du das ehrlich, Alter?“, fragte er zaghaft. Yugi nickte lediglich. „Okay“, sagte Joey schließlich, „danke, Yugi. Danke, Tristan. Ich bin schon’n ziemlicher Trottel, was? Tut mir leid, dass ich mich so hab gehen lassen.“ Dann setzte er sich wieder in Bewegung und einen Fuß vor den anderen, als wäre nichts gewesen. Der Schatten, der ihn in Dunkelheit getaucht hatte, löste sich auch von ihm mit jedem weiteren Schritt etwas mehr und wie bei Téa zuvor verpuffte er schließlich gänzlich. Tristan atmete erleichtert auf. „Ihr habt uns nen ganz schönen Schrecken eingejagt, ehrlich mal.“
 

Joey runzelte die Stirn und wandte sich um. „Ja, schätze, wir tun besser daran, nicht allein durch die Gegend zu rennen. Wenn wir zusammen sind, laufen wir weniger Gefahr, als Zombies zu enden.“ Téa wurde mit einem Mal blass. „Leute, was ist mit Ryou? Er ist ganz allein nach Hause gegangen!“ „Verdammt!“, stimmte Tristan ihr beklommen zu. „Richtig. Und auch wenn ich’s nur ungern sage: Wir sollten auch Kaiba warnen!“, nickte Joey grimmig. „Okay“, Yugi seufzte, „ich denke, das Beste wird sein, wenn wir alle nach unseren Familien sehen und ihnen einbläuen, negative Gedanken so gut es geht zu vermeiden. Jemand von uns sollte Ryou einsammeln. Und dann gehen wir alle zurück zur KaibaCorporation.“ „Klingt nach nem Plan!“, stimmte Joey zu.
 

***

In seinem Büro prüfte Seto zuerst die wichtigsten Dokumente auf seinem Schreibtisch und erledigte dringende Angelegenheiten. Im Gebäude war es auffällig still. Viele aus den Reihen seines Personals schienen heute nicht zur Arbeit erschienen zu sein und das machte ihm Sorge. Auch der Schreibtisch seines Sekretärs im Vorzimmer war leergeblieben. Da er keine Möglichkeit hatte, herauszufinden, wer fehlte, wusste er auch nicht, welche wichtigen Arbeitsabläufe dadurch ins Stocken gerieten.
 

Er schaltete den Rechner an und begann, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche dringenden Aufgaben anfielen. Doch so recht konnte er sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Atem ab, der sich mit Bakura alleine im Königreich der Duellanten aufhielt. Hoffentlich gab er auf sich Acht und ließ sich nicht wieder von diesem dubiosen Zeitgenossen in einen Hinterhalt locken. Und dann war da auch noch Pegasus, dem er seit seinem Fund nicht mehr so ganz über den Weg traute. Ganz zu schweigen von diesem Uyeda-Typen. Dass zudem noch sein Konkurrent, dieser von Schroeder, sich in der Burg aufhielt, machte es auch nicht gerade besser. Verdammt, was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, den Pharao einfach mit diesen zwielichtigen Gestalten zurückzulassen!?
 

Nach einer Viertelstunde musste er sich geschlagen und zugeben, dass es wenig Sinn hatte, sich weiterhin hier aufzuhalten. Er würde ohnehin nicht die Konzentration aufbringen, produktiv zu arbeiten. Also fuhr er den Computer wieder herunter und schnappte sich seine Jacke. „Mokuba!“, rief er ins Vorzimmer, während er mit seiner Chipkarte die Bürotür abschloss, „Mokuba, ich hab’s mir anders überlegt! Wir gehen nach Hause. Ich rufe nur mal schnell noch bei Atem auf dem Handy an, dann können wir los. Sag Roland schon mal Be … Mokuba?“
 

Als Seto sich zu seinem Bruder umgewandt hatte, stockte er erschrocken. Der jüngere Kaiba saß auf dem kleinen Sofa im Vorzimmer, sein Smartphone in Händen. Doch seine Augen waren nicht auf das Display geheftet, sondern starrten völlig ins Leere. Auch sonst zeigte er nicht die geringste Regung. Mit wenigen Schritten war Seto bei ihm. „Mokuba, was ist mit dir?“ Hilflos rüttelte er an der Schulter seines kleinen Bruders. Dann kniete er sich neben ihn und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. „Geht es dir nicht gut?“ Mokubas Lippen bewegten sich, aber es wollte kein rechter Ton herauskommen. Es war nicht mehr als ein Flüstern, was Seto vernahm.
 

„Ich … bin nutzlos.“ „Wie bitte?“, Seto dachte, sich verhört zu haben, „was redest du da für wirres Zeug? Komm endlich. Steh auf und dann verschwinden wir hier!“ Halb glaubte er noch, sein Bruder erlaubte sich einen makabren Scherz mit ihm. „Ich werde nie so gut sein wie du. Gut genug, um eine wichtige Position in der Firma einzunehmen“, wisperte Mokuba jetzt, ohne auf seine Worte einzugehen, „weil ich nicht schlau genug bin.“ „Was soll das? Wie kommst du denn auf diese Dinge?“, so langsam befiel den Firmenchef Unbehagen, „okay, du hast vielleicht auch mal ne schlechte Schulnote … aber wozu brauchst du Kunst oder Literatur, um in der KaibaCorp zu arbeiten? Natürlich wirst du das irgendwann tun!“ „Das sagst du nur, weil ich dein Bruder bin. Wenn ich jemand anders wäre, hätte ich schlechte Karten. Du hast dir alles für uns aufgebaut. Und was konnte ich tun? Nicht das Geringste!“ „Aber Mokuba!“, Seto war vollkommen überfordert.
 

Just in diesem Moment pochte es laut gegen die Vorzimmertür. „Kaiba, bist du dadrin?!“, quasselte Joey drauf los. „Augenblick“, sagte Seto zu Mokuba und ging, um zu öffnen. Vor seiner Tür standen in Reih und Glied Yugi, Joey, Tristan, Téa und Ryou. „Wir kommen, um dich zu warnen“, sagte Yugi mit ernstem Gesichtsausdruck, „hier geht etwas Seltsames vor sich: Diese Schatten um uns herum ernähren sich scheinbar von dunklen Gedanken. Nehmen sie Überhand, haben sie dich völlig im Griff.“ Erkenntnis trat ins Setos Züge. „Jetzt wird mir so einiges klar.“ Er gab den Blick frei auf Mokuba und auch die anderen begriffen die Situation sofort. „Lass mal Yugi, den Profi-Coach, ran“, grinste Joey, „niemand kann deinen kleinen Bruder besser aufpäppeln als er.“ Ryou nickte. „Das kann ich bestätigen! Bei mir hat er es auch im Handumdrehen geschafft!“ „In Ordnung“, Seto nickte, „danke euch. Ich werde mich in der Zwischenzeit mal bei Atem erkundigen, ob bei ihm alles in Ordnung ist.“
 

Während Yugi sich neben Mokuba niederließ, wählte er das Mobiltelefon an, das er dem Pharao gegeben hatte. Es tutete lange, dann schließlich knackte es in der Leitung. „Hallo? Hallo? … Ist das jetzt richtig so?“, sprach Atem verunsichert ins Telefon. Er klang weit entfernt. „Ich glaube, du hältst es falschrum“, hörte er jetzt auch Bakuras Stimme aus dem Off. „Oh … das kann sein.“ Nun wurde die Stimme des Pharaos lauter. „Seto?“, fragte er. „Ja, ich bin's. Ich sehe, du warst erfolgreich. Ist alles okay?“ „Ja, alles in Ordnung. Wie ist die Lage in Domino?“ „Das ist schwer in wenigen Worten zu beschreiben“, sagte Seto etwas resigniert, „aber es scheint, als würden …“ Er brach ab, da er am anderen Ende der Leitung ein Rascheln hörte. Bakura und Atem schienen sich jetzt aufgeregt miteinander zu unterhalten, doch er verstand nicht, was sie sagten. „Seto, es ist grade ziemlich schlecht. Ich ruf dich zurück, ja?“, sagte Atem schließlich hektisch. In der nächsten Sekunde brach das Gespräch ab.


 


 


 


 


 


 

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Seto starrte nachdenklich auf sein Telefon. Dass er nicht wusste, was sich bei Atem gerade abspielte, machte ihn schier wahnsinnig. Die Angst um ihn lähmte all seine Gedanken. Was konnte so dringend gewesen sein, dass der Pharao das Telefonat hatte abwürgen müssen? Schwebte er etwa in Gefahr? Von hier aus konnte er absolut nichts tun, um ihm beizustehen! Zwar war er sich darüber bewusst, dass Atem durchaus selbst in der Lage war, einen Ausweg zu finden, das hatte er bisher schließlich immer getan. Aber dennoch … Er fühlte sich so nutzlos wie noch nie. Und nicht nur das: Er bereute es jetzt mehr und mehr, Atem zurückgelassen zu haben. Keiner von ihnen konnte wissen, wie das alles endete, und wenn er sich nicht täuschte, würde Atem bei alldem eine Rolle spielen.
 

Aber was würde sein, wenn all das hier vorüber war? Würde Atem dann einfach sang- und klanglos verschwinden? Würde diese Anomalie in der Zeit dann einfach stillschweigend bereinigt werden und er musste das akzeptieren? Und wollte er denn überhaupt, dass sich diese Sache hier so schnell erledigt hatte? Er wünschte sich noch ein wenig mehr Zeit, nur eine Woche, nur einen Tag, an dem er den Pharao besser kennenlernen konnte und sie sich keine Sorgen um schattenhafte Wesen oder Rituale machen mussten. Nun, da der Pharao all das hier in Bewegung gesetzt hatte, wie würde er weitermachen, nachdem er wieder zurück in seiner Zeit war? Wie sollte er vergessen, was hätte sein können? Und wieso hatten sie sich ihrer gemeinsamen Zeit nun selbst beraubt, indem sie sich getrennt hatten?
 

Seto zuckte zusammen, als er etwas Kaltes an seinen Knöcheln spürte. Er blickte an sich herab und sah, wie sich fast unsichtbare Ranken um seine Fußgelenke schlängelten und ihn daran hinderten, sich zu bewegen. Seine Beine fühlten sich bleischwer an und sein Gemüt war gedrückt. Verdammt, er war in die Falle getappt, ohne es zu merken! Das durfte er nicht. Er durfte sich jetzt nicht mit solchen Zweifeln befassen! Er musste für seinen Bruder da sein und zusehen, dass er diese Sache hier so schnell wie möglich in den Griff bekam, um zu Atem zurückkehren zu können! Mit aller Kraft mobilisierte er seine Beine und schüttelte gleichzeitig den Kopf, um die düsteren Gedanken abzustreifen. Dann setzte er sich in Bewegung und kehrte zu den anderen zurück.
 

Langsam trat er wieder an das kleine Sofa heran, wo Yugi gerade leise mit Mokuba sprach. „Hör mal zu“, sagte der König der Spiele ruhig, „dein Bruder hat all das für euch beide aufgebaut und ist dabei über sich hinausgewachsen, weil er es musste. Er hatte keine Wahl. Aber statt dich deshalb schlecht zu fühlen, solltest du diese Chance, die er für dich geschaffen hat, lieber nutzen. Du bist sicher aufgewachsen und kannst jetzt die beste Ausbildung genießen. Dir stehen alle Türen offen.“ „Und trotzdem schaffe ich es nicht mal, so gute Noten zu schreiben wie Seto“, murmelte Mokuba bedrückt.
 

Wenigstens hier konnte Seto vielleicht etwas ausrichten, das wurde ihm jetzt klar. Er setzte sich ebenfalls zu seinem kleinen Bruder. „Mokuba, hör mal: Ich glaube, dir ist das nicht klar, aber ich habe dich immer um so viele Dinge beneidet, die du hast und ich nicht.“ Mokuba lachte schnaubend auf. „Das sagst du nur so daher.“ „Nein, überhaupt nicht!“, protestierte Seto, „deine Offenheit. Deine Empathie und dein Feingefühl im Umgang mit Menschen. Das sind alles Dinge, die mir fehlen und die dich zu ganz anderen Positionen in der Firma befähigen als mich.“ Mokuba schwieg verunsichert. „Glaubst du wirklich?“, fragte er schließlich. „Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Ich will, dass du das Gesicht der KaibaCorp wirst, wenn du alt genug bist. Derjenige, der uns in der Öffentlichkeit vertritt. Und der dafür sorgt, dass es allen Mitarbeitenden gutgeht. Denn nur zufriedene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen führen ein Unternehmen zum Erfolg.“ „Dein Bruder hat Recht!“, mischte sich Joey ein, „er ist echt’n ziemlicher Eisklotz und gehört nicht ins Fernsehn! Kein Mensch will das sehn!“ „Ja, vielleicht bringt ihm unser guter Pharao künftig mal etwas Einfühlungsvermögen bei, das wäre doch was“, kicherte auch Tristan.
 

Jetzt kam etwas Regung in Mokubas Körper. „Vielleicht … könnte ich mich wirklich darauf konzentrieren“, sagte er zaghaft, „okay, ich versuch's. Ich gebe alles, damit du mit mir zufrieden bist, großer Bruder!“ Und wie bei den anderen zuvor löste sich ein Schatten von ihm wie ein sich lichtender Nebel.
 

Mokuba erhob sich und streckte seine Glieder. Erleichtert schloss Seto ihn in die Arme. „Bin ich froh!“ „Tut mir leid, dass ich dir noch zusätzlich zu allem anderen Sorgen mache“, murmelte Mokuba kleinlaut. „Mach dir keinen Kopf. Aber wenn du wieder solche Gedanken haben solltest, rede bitte offen mit mir darüber, okay?“, bat Seto und sah ihn ernst an. „Okay … versprochen. Dann hoffe ich mal, dass Atem dich nicht ganz so sozial kompetent macht, damit ich am Ende nicht doch noch überflüssig werde“, grinste Mokuba, „auch wenn ich mich ehrlich für dich freue, Seto!“ Ehrlich lächelnd sah er schließlich zu seinem Bruder auf. „Du kannst ja schon wieder frech sein, dann scheint ja alles in Ordnung zu sein“, kommentierte der ältere Kaiba.
 

„Da wir nun alle wieder bei klarem Verstand sind, sollten wir beratschlagen, wie wir in dieser Sache vorgehen wollen“, sagte Ryou. Sie standen vor dem großen Panoramafenster in Setos Vorzimmer, das im obersten Stock der KaibaCorporation lag, und blickten bedrückt auf ihre Heimatstadt hinab. Von diesem höchsten Punkt Dominos aus wirkte alles gespenstig und ausgestorben, als habe jemand die Zeit angehalten. Eine dunkle Wolkendecke hing über der Stadt und erweckte den Eindruck, sie seien vom Rest der Welt abgeschnitten.
 

Joey ballte frustriert seine Hände zu Fäusten. „Verdammt, es macht mich wahnsinnig, dass wir hier nur rumstehen und nichts tun können!“ Téa blickte ihn verständnisvoll an. „Ja, man kommt sich einfach machtlos vor. Wenn wir doch den Menschen da unten nur irgendwie mitteilen könnten, was wir wissen!“ „Das Problem daran ist“, überlegte Tristan, „wer würde uns das schon glauben? Eine finstre Macht, die sich von der Dunkelheit in unserem Inneren ernährt? Die würden uns für Spinner halten, die an Verschwörungsideologien glauben!“
 

„Das stimmt wohl … aber vielleicht nicht, wenn wir ihnen eine Geschichte erzählen, die sie hören wollen“, sprach Mokuba seine Gedanken laut aus. „Wie meinst du das?“, fragte Seto überrascht. „Naja, ich dachte … wir könnten ihnen doch etwas erzählen, das sie glauben können … war nur so’n Gedanke.“ „Ja, das ist keine schlechte Idee“, sagte nun auch Ryou, „Wir müssen den Menschen da draußen nur einen guten Grund geben, negative Gedanken bewusst zu vermeiden. Mein Onkel arbeitet beim Sitz der japanischen Presseagentur in Domino. Ich könnte zu ihm gehen und ihn bitten, eine Pressemitteilung zu veröffentlichen.“
 

„Das klingt so hirnrissig, dass es glatt klappen könnte“, sagte Joey und legte den Kopf schief. „immerhin wollen die Leute doch verstehen, was hier abgeht, oder? Sie wollen, dass man ihnen eine Erklärung für all das auf dem Silbertablet liefert.“ „Ich hab’s!“, rief Tristan, „warum sagen wir nicht, dass Wissenschaftler der KaibaCorp ein neuartiges Virus entdeckt haben, das für die Lethargie der Menschen verantwortlich ist. Ja, und psychisch labile Menschen mit viel Stress und Ängsten sind besonders gefährdet, deshalb sollte jede Art von Stress und negativen Gedanken vermieden werden!“
 

„Ich weiß nicht“, zweifelte Yugi an seinem Einfall, „würde das die Ängste der Menschen nicht nur schüren, wenn man ihnen einbläut, dass genau diese sie jetzt auch noch krank machen? Außerdem: Wie sollten Forschende innerhalb eines Tages die Ursache einer neuartigen Krankheit entdeckt haben ohne längere Studien? Die Leute wollen zwar eine Erklärung, aber blöd sind sie schließlich nicht. Ganz zu schweigen davon, dass Kaibas Forschungsteam nicht aus Virologen, sondern aus Informatikern und Mechatronikerinnen besteht.“ „Dann weiß ich auch nicht weiter“, sagte Tristan geknickt und mit hängenden Schultern.
 

„Ich bin trotzdem dafür, dass wir es auf nen Versuch ankommen lassen!“, sagte Joey, „oder hast du ne bessere Idee, Alter?“ „Ich habe eine“, meldete sich nun Seto zu Wort. „Na das war ja wieder klar“, murrte Joey. „Ich werde sicher nicht meine Firma dazu anleiten, Falschinformationen rauszugeben und mich dadurch selbst diskreditieren“, fuhr der KaibaCorporation-Chef fort, „das könnt ihr also knicken. Ich plädiere eher dafür, dass wir den Leuten da draußen gar nicht erst die Wahl lassen, was sie glauben wollen.“ „Wie meinst du das?“, Téa zog die Augenbrauen zusammen. „Hört zu: Ich stelle mir das so vor: Ich verschaffe mir Zugriff auf alle lokalen Fernsehsendestationen und alle Monitore in Geschäften und in der Innenstadt sowie auf alle Kinoleinwände. Wir werden ab jetzt 24 Stunden jede Minute nur noch ein einziges Programm auf allen Bildschirmen der Stadt senden: Hypnose.“
 

Alle brauchten einen Augenblick, bis sie begriffen. „Du meinst, ein Hypnoseprogramm, das die Menschen dazu bringt, sich wohlzufühlen und positive Gedanken zu haben?“, hakte Yugi schließlich nach. „Genau das“, bestätigte Seto. „Na toll, Lügen erzählen willst du nicht, aber dich in alle Systeme der Stadt hacken, das geht voll in Ordnung!“, schmolle Tristan. Seto grinste. „Niemand wird das zur mir nachverfolgen können, dafür sorge ich.“
 

***

„Also schön”, sagte Bakura, während er im Zimmer einige Kerzen anzündete, „dann lass uns beginnen.“ „Jetzt machst du es aber spannend“, lachte Atem nervös, „ist diese Schaueratmosphäre denn wirklich nötig?“ „Ja, ist sie“, beteuerte Bakura ernst, „das richtige Setting, den richtigen Ton zu kreieren wird oft unterschätzt. Es wird uns dabei helfen, unsere Gedanken und Emotionen in die richtigen Bahnen zu lenken.“ Er setzte sich im Schneidersitz dem Pharao gegenüber auf den Boden. „Woher hast du die überhaupt?“, wollte Atem wissen und deutete auf die flackernden Kerzen. „Hab sie in Ryous Haus in einer Schublade gefunden und eingesackt“, gab Bakura genervt zurück, „also, jetzt hör zu. Dir muss klar sein, auf was du dich hier einlässt, wenn wir das tun. Deshalb ein paar Warnungen vorweg.“
 

Atem rutschte nervös hin und her. Bakura war mit einem Mal so anders, so ernst und fokussiert. „Unsere Gedanken werden sich während des Zaubers sehr nahe sein, darauf musst du gefasst sein. Es wird ein intensives Erlebnis. Und wir müssen uns füreinander öffnen, keine inneren Blockaden errichten. Das ist unbedingt notwendig, wenn wir den Text gemeinsam rekonstruieren wollen. Unsere Erinnerungen werden sich miteinander verschlingen und dadurch gegenseitig verstärken. Aus zwei Erinnerungen wird eine werden. Alles in allem: Du wirst gleich mit mehreren Dingen gleichzeitig konfrontiert sein, die für dich neu sind. Stell dich darauf ein, dass es kein Spaziergang wird.“
 

Der Pharao schluckte. „In Ordnung. Ist vermerkt“, sagte er dann. „Willst du es trotzdem durchziehen?“, fragte der zukünftige Geist des Ringes. Der Pharao nickte entschlossen. „Auf jeden Fall!“ „Gut, dann lass uns …“ In diesem Moment klingelte schrill Atems Smartphone. Bakura sah ihn anklagend an und verdrehte die Augen.
 

„Tut mir leid, das ist sicher Seto. Ich geh kurz ran, ja?“ Überfordert blickte er auf das Display und stocherte wild mit dem Finger darauf herum, bis schließlich tatsächlich Setos Stimme daraus ertönte. „Atem? Bist du dran?“ „Hallo? Hallo? Ist das jetzt richtig so?“, rief Atem lautstark in den Hörer. „Ich glaube, du hältst es falschrum“, kommentierte Bakura trocken. „Oh … das kann sein.“ Der Pharao drehte das Gerät um 180 Grad und hielt es erneut ans Ohr. „Seto? … Ja, alles in Ordnung. Wie ist die Lage in Domino?“ Während Seto Kaibas Stimme nun wieder leise aus dem Hörer ertönte, nahm Bakura noch etwas anderes wahr. Eine leichte Vibration des Bodens unter ihnen und einen brummenden Ton, der weiter und weiter anschwoll.
 

Er erhob sich und lief zum Fenster. Was er dort sah, ließ ihn die Augen weit aufreißen, „Pharao, das solltest du dir dringend ansehen!“, sagte er schließlich alarmiert und delegierte Atem zum Fenster. Dieser ließ den Hörer sinken und spähte ebenfalls hinaus. „Das gibt es doch nicht! … Seto, es ist grade ziemlich schlecht. Ich ruf dich zurück, ja?“ Blass um die Nase legte er auf und blickte Bakura an.
 

Gemeinsam beobachteten sie, wie das fliederfarbene, elegante Fluggerät von Zigfried von Schroeder vom Burgdach abhob und am Horizont kleiner und kleiner wurde. „Was denkst du, hat das zu bedeuten?“, wollte Atem von Bakura wissen. „Ich denke, es bedeutet entweder, dass unser Freund mit dem Haarfetisch es sich anders überlegt hat … oder dass er gefunden hat, was er gesucht hat – und sich einen Dreck um unsere Abmachung schert.“ „Bei der Schnauze von Anubis, wir müssen das herausfinden! Aber wie?“ „Lass uns die Kellertür überprüfen! Wenn Brunhild sich dort Zutritt verschafft hat, werden wir dort vielleicht Spuren finden!“
 

Sie stürzten zur Zimmertür und auf den Gang hinaus, doch Bakura hielt den Pharao am Arm fest. „Verhalt dich unauffällig!“, ermahnte er ihn, „wir dürfen nicht panisch wirken!“ Betont gemächlich schlenderten sie also die Treppe nach unten in die Eingangshalle. Bakura steuerte auf die geheime Tür zu, als ihnen plötzlich jemand entgegenschritt. „Pegasus“, sagte Atem so ruhig wie möglich, „wir … haben gerade mitbekommen, dass Zigfried abgereist ist. Weißt du etwas darüber, warum er es sich so plötzlich anders überlegt hat?“
 

Der Burgherr zuckte mit den Schultern und schüttelte bedrückt den Kopf. „Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich habe mich selbst mehr als gewundert, als er mich eben aufgesucht hat und überstürzt aufbrechen wollte. Ich konnte ihn auch nicht dazu überreden, wenigstens noch zum Abendessen oder auf einen Abschiedstrunk zu bleiben – zu meinem großen Bedauern. Es war alles äußerst merkwürdig.“ Bakura und Atem wechselten einen vielsagenden Blick. „Wie schade“, sagte Atem schließlich beiläufig, „tja, da kann man nichts machen.“ „Nein, das kann man nicht. Euch beide sehe ich doch aber beim Abendessen, nicht wahr?“ Sie nickten synchron, während Pegasus sich empfahl und nach oben verschwand.
 

„Denkst du, Pegasus sagt die Wahrheit?“, fragte Bakura, „hat uns der Paradiesvogel tatsächlich ein Schnippchen geschlagen?“ Atem sah den Grabräuber von der Seite an und legte den Kopf schief. „Ärgerst du dich etwa? Dass er dir beim Diebstahl der Schrift zuvorgekommen ist?“ „Ach, hör schon auf!“, fauchte Bakura unwirsch, „es kratzt nun mal an meinem Stolz und an meinem Ruf!“ „Noch wissen wir immerhin nicht, ob er tatsächlich was gefunden hat. Vielleicht hat ihn auch ein dringender Anruf in einer anderen Sache erreicht oder so“, beschwichtigte ihn der Pharao halbherzig. „Wer’s glaubt“, knurrte Bakura.
 

„Atem?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Sie wandten sich um und sahen sich Uyeda gegenüber. Bakura verdrehte genervt die Augen. „Wie viele nutzlose Typen rennen hier eigentlich noch rum und sabotieren unsere Mission?“, murmelte er. „Hallo Uyeda“, sagte Atem inzwischen. „Atem, hör mal … tut mir leid, dass ich vorhin so kurz angebunden war. Ich war etwas in Gedanken. Was ich dich eigentlich fragen wollte: Wieso bist du denn nicht mit diesem miesepetrigen Freund abgereist? Das wundert mich doch etwas.“ Der Pharao schmunzelte. „Stimmt. Das wollte ich auch zuerst. Aber …“, er stockte, unsicher, welche Informationen er Uyeda ohne Bedenken anvertrauen konnte. „Hör mal zu“, sagte der Sanitäter jetzt ernst, „ich merke, dass du mir gegenüber zurückhaltend bist. Aber ich denke, wenn du mir etwas mehr darüber sagst, was ihr hier vorhabt, könnte ich euch helfen. Ich habe eine exzellente Kenntnis der Burg.“ „Uyeda, das ist wirklich sehr zuvorkommend, aber …“ „Ich finde dich wirklich nett, Atem“, unterbrach ihn der Angestellte schnell, „sag mir einfach, was du brauchst, und ich schaue, was ich tun kann. Ehrlich.“
 

Atem warf Bakura einen fragenden Blick zu. „Bitte entschuldige mich einen Augenblick“, sagte er dann an Uyeda gewandt. Anschließend trat er zu Bakura und sie steckten die Köpfe zusammen. „Was denkst du? Sollten wir sein Angebot annehmen?“, fragte der Pharao unentschlossen. „Also ich traue ihm so wenig über den Weg wie mir selbst“, wisperte der Grabräuber, „nicht nach diesem Scheck, den du mir gezeigt hast.“ „Ich ja auch nicht. Trotzdem denke ich, dass er kein schlechter Mensch ist.“ „Ich sage es ist eine Falle“, Bakura verschränkte die Arme vor der Brust. „Und selbst wenn – vielleicht sollten wir es trotzdem riskieren.“ „Du bist der weise Pharao“, sagte Bakura schulterzuckend.
 

„Uyeda, also gut. Vielleicht kannst du uns wirklich bei etwas helfen“, sagte Atem nun wieder laut, „es ist nämlich so: Wir suchen etwas, von dem wir glauben, dass es vielleicht in dem Keller ist, der hinter dieser Wandtür hier liegt. Dazu brauchen wir allerdings den Schlüssel. Hast du eine Idee, wo er sein könnte?“ Uyeda trat verwundert an die Tür heran und betastete mit den Fingern die feinen Rillen ihrer fast unsichtbaren Umrandung. „Tatsache“, wunderte er sich, „da ist tatsächlich eine Tür. Wie habt ihr das rausgefunden?“ „Spielt keine Rolle“, sagte der Grabräuber schnell, „weißt du, wo Pegasus den Schlüssel aufbewahren könnte?“ Uyeda überlegte kurz und fuhr mit seiner Hand an der Wand weiter nach unten bis zu dem kleinen , fast nicht sichtbaren Schlüsselloch.
 

„Ein paar Ideen hätte ich dazu schon“, antwortete er, „die wahrscheinlichste davon ist wohl auch die, die euch am wenigsten gefallen wird.“ „Und die wäre?“, fragte Bakura und pustete sich gelangweilt eine weiße Strähne aus der Stirn. „Ich kenne Pegasus nun schon einige Jahre und ehrlichgesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass er einen solch wichtigen Schlüssel unbewacht lassen würde, wenn alle möglichen Leute hier herumschnüffeln. Also tippe ich darauf, dass er ihn bei sich am Körper trägt.“ Atem wirkte mit einem Mal bedrückt. „So ein Mist. Darauf hätten wir auch selbst kommen können. Aber wenn es stimmt, was du sagst, dann ist es nahezu unmöglich, da ranzukommen.“ „Unmöglich ist gar nichts“, warf Bakura unwirsch ein. „Ich stimme deinem blassen Freund zu“, sagte Uyeda, „es ist nicht vollkommen unmöglich. Zumindest nicht für mich.“ „Was meinst du damit?“, Atem blinzelte ihn verständnislos an.
 

„Zufällig ist in nicht ganz einer Stunde Pegasus wöchentlicher medizinischer Check-Up, den ein Kumpel von mir aus dem medizinischen Team durchführt. Dieser Kollege schuldet mir ohnehin noch einen Gefallen. Ich wette, Pegasus wird keinen Verdacht schöpfen, wenn jemand, der sowieso so nah an seinem Körper arbeitet, die Augen nach einem Schlüssel offenhält. Und während Yujiro, mein Kollege, Pegasus untersucht, kann ich unbemerkt in seinen Kleidern suchen.“ „Ich weiß nicht so recht“, sagte Atem, „riskierst du da nicht ziemlich viel? Wenn du auffliegst, bist du deine Anstellung sicher los.“ „Lass das nur meine Sorge sein“, zwinkerte Uyeda unbesorgt, „gebt mir ein paar Stunden, um die Sache abzuwickeln. Und sollte ich nicht erfolgreich sein, können wir immer noch weitersehen, welche Möglichkeiten und noch bleiben.“
 

Atem sah nicht glücklich aus, aber nickte widerstrebend. „Hey, nun sei doch nicht so skeptisch. Kopf hoch!“, versuchte Uyeda ihn zu beruhigen, „wenn du lächelst, gefällst du mir viel besser. Jetzt grade siehst du aus wie dein unterkühlter Liebhaber. Also dann, ihr hört von mir:“ Damit zog er voller Tatendrang wieder ab. Bakura zog eine Augenbraue hoch. „Wer hätte gedacht, dass in unserer Zeit deine Gefühle nicht erwidert werden und du dich hier vor Verehrern nicht retten kannst. Trotzdem: Mir behagt die Sache nicht.“ Atem nickte. „Mir auch nicht. Aber welche Option haben wir? Und eins muss man Uyeda schließlich lassen: Er riskiert hier ziemlich viel für uns." Bakura knurrte. „Schön. Es ist besser, wenn wir die Durchführung des Zaubers auf später verschieben. Für diese Sache benötigen wir Ruhe und Zeit, das geht nicht so einfach zwischen Tür und Angel." Atem stimmte ihm zu: „Und womöglich hat sich diese Sache ohnehin erledigt, falls wir die Schrift doch finden sollen. Und in der Zwischenzeit sollte ich wirklich Seto zurückrufen. Er macht sich sicher bereits Sorgen.“
 

***

Es donnerte bereits wieder von ferne, als Zigfried seinem Flugzeug Stunden später endlich entstieg und langsam die letzten Meter zu seiner Villa zurücklegte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Pegasus Burg nahm er seine Umgebung bewusst wahr: Alles schien entrückt, geisterhaft, als wäre er nicht nach Hause geflogen, sondern aus Zeit und Raum gefallen. Fast erwartete er, das Haus leer vorzufinden. Doch im Flur kam ihm bereits sein Bruder Leon entgegen, die Augen erwartungsvoll auf ihn geheftet. „Und?“, wollte er ungeduldig wissen. „Hallo auch“, sagte Zigfried. „Nun erzähl schon, hattest du Erfolg?“, bohrte Leon gleich weiter nach, ohne sich mit Begrüßungen aufzuhalten. Zigfried nickte ernst. „Ja, das könnte man so sagen. Ich habe beides: Die Schriftrolle und ein Investment von Industrial Illusions.“
 

Leon legte den Kopf schief und blickte ihn nachdenklich an. „Und warum wirkst du dann so, als ob dich das alles gar nicht zufriedenstellt?“, wollte er wissen. „Tue ich das?“, fragte Zigfried ertappt, „das ist nicht so! Im Gegenteil: Ich bin mehr als zufrieden! Der Weg ist jetzt geebnet für eine bessere Zeit. Glaub mir, das hier ist der Neuanfang, den ich brauche – den wir brauchen.“ „Wenn du meinst“, Leon zuckte mit den Schultern, „ich dachte nur, so ein Neuanfang würde dich irgendwie … mehr motivieren.“ „Wahrscheinlich bin ich einfach nur erschöpft vom Flug“, seufzte Zigfried, hängte seinen Mantel auf und lockerte die Schleife an seinem Hemd. Eine heiße Dusche würde ihm jetzt guttun.
 

Als er unter dem wohltuenden Wasserstrahl stand, schloss er erschöpft die Augen. Leon hatte Recht. Ganz wohl fühlte er sich mit seinem gewinnbringenden Deal nicht. Obwohl das hier doch der Strohhalm war, nach dem er sich schon so lange streckte. Er begriff nicht, wieso er sich so schuldig fühlte, als hätte er diesen Vertrag nicht auf rechtschaffenem Weg erlangt. Einen vagen Verdacht konnte er einfach nicht aus dem Weg räumen: War Pegasus Investition in sein Produkt vielleicht nichts als Schweigegeld? Hatte er ihn manipuliert wie eine Marionette? Statt nach einem Schritt in die Freiheit fühlte es sich an wie eine neue Abhängigkeit. Er war es so satt, nach der Pfeife anderer zu tanzen. Verdammt, das war nicht das, was er gewollt hatte!
 

Er stellte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Als er sich einen fliederfarbenen Morgenmantel überstreifte und zuband, hielt er inne. Von seinen Fingerspitzen aufwärts kroch etwas Kaltes, Dunkles, das sich schnell einen Weg seine Arme hinaufsuchte. In seinem Inneren wurde es mit einem Mal eiskalt. Seine Gedanken waren wie eingefroren und hatten sich festgehängt, wie das leiernde Band einer Tonkassette.
 

Als die Badezimmertür sich öffnete und Leon seinen Bruder erblickte, trat Verunsicherung in seine Augen. „Zigfried? Was ist mit dir?“, fragte er leise, „geht es dir nicht gut?“ Zigfried wandte ihm leicht den Kopf zu, die Augen glasig, doch eine Reaktion blieb aus. „Zigfried?“ wiederholte Leon verwundert, trat auf seinen Bruder zu und berührte ihn sachte am Arm. Wieder keine Reaktion. „Zigfried, so rede doch mit mir!“, nun packte der jüngere von Schroeder den älteren panisch an beiden Armen und rüttelte ihn hilflos. Wieder ohne Erfolg. Leon machte zwei Schritte rückwärts. Tränen traten in seine Augen vor Aufregung und Angst. Was wurde hier gespielt? Eben war sein Bruder doch noch normal gewesen und jetzt war er nicht mehr ansprechbar!
 

Was sollte er denn jetzt tun? Er musste versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren. Er musste Hilfe für seinen Bruder holen. Aber wo? Einen Krankenwagen! Aber war Zigfried denn krank? Er wirkte jedenfalls nicht so, als habe er einen Herzinfarkt oder Schlaganfall oder etwas in der Art erlitten. Er schien vielmehr … wie in Trance. Vielleicht standen die Dinge auch ganz anders und er hatte es hier mit etwas zu tun, das sich seiner Kenntnis entzog. In seiner Verzweiflung wählte er die einzige Nummer, die ihm für einen solchen Fall in den Sinn kam: Die von Yugi Muto.


 


 


 


 


 


 

XX


 

XX

Yugi und Ryou bewegten sich zügig durch die Straßen. Dennoch fiel es ihnen schwer, nicht permanent stehenzubleiben und sich das Schauspiel anzusehen, das sich ihnen überall in der Stadt bot. Nach ihrem kleinen Krisenstab hatten sich Seto und Mokuba Kaiba sofort an die Arbeit gemacht. Eine Mitarbeiterin, die sich noch im Gebäude befand, hatten sie dazu bewogen, eine eigens für die Situation ausgelegte Hypnose einzusprechen. Mokuba hatte sich im Internet schlau gemacht, welche Elemente dafür nötig waren. Seto hatte derweil mit der Implementierung begonnen und die wichtigsten Systeme der Stadt angezapft.
 

Das alles war gerade einmal anderthalb Stunden her. Und schon jetzt war auf mehr und mehr Monitoren überall auf den Straßen und Plätzen, in Kneipen und Friseursalons, Gamecentern, Kinos und sogar im Museum dasselbe Bild zu sehen. Ein träumerisches Idyll mit bunten Wiesen, Seen und Feldern, das von der einschläfernden, freundlichen Stimme der Mitarbeiterin untermalt wurde. Überall, wo Yugi und Ryou vorbeikamen, blieben die Menschen stehen und waren in den Bann des Videos gezogen. Einige, die sich zuvor in einem tranceartigen Zustand befunden hatten, blickten nun auf und ihre Züge schienen sich leicht zu entspannen. Andere reckten bereits die zuvor regungslosen Glieder.
 

„Das ist mal ein Video, das viral geht“, kommentierte Ryou beeindruckt. „Ja, auf Kaiba ist eben Verlass. Er macht keine halben Sachen!“, stimmte Yugi zu, „aber wir sollten uns trotzdem beeilen. Leon klang sehr dringlich am Telefon.“ Vor einer halben Stunde hatte Yugi aus heiterem Himmel einen Anruf von Leon von Schroeder bekommen. Offenbar war auch sein Bruder Zigfried den Schatten zum Opfer gefallen. Natürlich begriff der jüngere Schroeder ganz und gar nicht, was da gespielt wurde, und erhoffte sich von Yugi Antworten.
 

„Beruhige dich erst mal“, hatte dieser ihn zu beschwichtigen versucht, „so viel wir bisher wissen schwebt dein Bruder nicht in unmittelbarer Gefahr. Hast du eine Möglichkeit, ihn zu uns zu bringen? Ich werde sehen, was ich für ihn tun kann.“ So waren sie nun auf dem Weg, um sich mit Leon und Zigfried zu treffen.
 

„Ich weiß nicht. Denkt ihr, es ist gut, wenn wir uns schon wieder trennen?“, hatte Téa ihre Bedenken geäußert. „Auf jeden Fall sollten immer zwei von uns zusammen unterwegs sein“, schlug Tristan vor, „nur als Absicherung, falls doch einer mal wieder auf dunkle Gedanken kommt.“ So waren sie letztlich alle ausgeschwärmt. Téa und Joey wollten erneut kontrollieren, wie es allen Familien ging, Tristan und Mokuba besorgten für alle etwas zu Essen. Seto war in der KaibaCorp zurückgeblieben und kümmerte sich darum, die Reichweite des Videos zu erhöhen – wenn möglich auf ganz Japan. Dafür hackte er sich nun auch in die Instagram-Kanäle sämtlicher landesweit bekannter Persönlichkeiten und teilte die Hypnose über deren Profile.
 

„Yugi, hör mal“, sagte Ryou jetzt, während sie sich durch eine Ansammlung von Menschen am Ufer des Flusses Halma durchschlängelten, „ich wollte dir nochmal danken. Du weißt schon, dafür, dass du mich vorhin aus diesem düsteren Loch geholt hast. Es ist mir wirklich peinlich, dass ich so schwach rüberkam.“ „Das muss es doch nicht“, beruhigte ihn Yugi, „weißt du … ich hatte ganz ähnliche Gedanken wie du, als Atem damals plötzlich fort war. Ehrlichgesagt, selbst jetzt fühle ich mich in manchen Momenten noch … schwach, einfach irgendwie zu wenig. Ähnlich wie du vorhin. Ich weiß, dass das nicht die Wahrheit ist, aber es ist schwer, aus diesem Muster auszubrechen.“ Ryou fiel eine zentnerschwere Last von den Schultern. „Das beruhigt mich jetzt schon etwas. Ich dachte, es ginge nur mir so.“
 

Yugi wurde langsamer und schüttelte entschieden den Kopf. „Als Atem vor ein paar Tagen wieder zurückgekehrt ist … ich kann gar nicht beschreiben, was das mit mir gemacht hat. Es war wie nach Hause kommen … aber ich muss wohl einsehen, dass der Atem, den ich kennenlernen durfte, nie mehr zurückkommen wird.“ Ryou blickte ihn verständnisvoll an. „Ja, ich verstehe, was du meinst. Ich stand zwar Bakura nicht auf dieselbe Art nahe, wie es bei euch der Fall war, aber … dennoch kannten wir uns irgendwie, waren uns vertraut. Dieses Gefühl hat dieses Mal gefehlt. Trotzdem gibt Bakura mir auch jetzt noch Sicherheit. Und ich schäme mich dafür. Aber ich kann es nicht ändern.“
 

Yugi nickte abermals, aber nun wirkte er abwesend, in seinen eigenen Gedanken verstrickt. „Ja, Sicherheit. Das ist es. Alle erwarten immer von mir, dass ich schon weiß, was das Richtige ist. Aber die Wahrheit ist … ich fühle mich oft hilflos. Alleine.“ „Hey, Yugi!“, unterbrach Ryou Yugis Monolog, „wir müssen doch hier abbiegen, oder nicht?!“ Aber Yugi trottete einfach weiter die Straße entlang.“ „Yugi?“, hakte Ryou noch einmal nach, „wollten wir uns nicht mit Leon am Spielela … verdammt.“ Eilig hechtete er seinem kleineren Freund hinterher, überholte ihn und packte ihn an beiden Schultern. Als er ihm in die Augen blickte, sah Ryou darin nichts als Resignation und Antriebslosigkeit. Sie befanden sich mittlerweile in einem Wohngebiet und weit und breit keine Leinwand in Sicht. „Hach Yugi. Du bist immer so sehr mit den Problemen anderer beschäftigt, dass man oft vergisst, dass du selbst auch mal Sorgen hast. Na toll, Kaiba. Solange du diese Hypnose nicht auch auf die privaten Fernsehbildschirme werfen kannst, haben wir ein echtes Problem … Mist, was mache ich jetzt?“
 

Erst jetzt nahm Ryou wahr, wie ausgestorben die Straße war, auf der er stand. Außer ihnen befand sich niemand vor der Haustür. Ryou fühlte sich an eine Geisterstadt erinnert. Ihm sank das Herz und er begann, sich unwohl zu fühlen. „Klasse, wenn es Yugi schon erwischt hat, wie soll ich das hier durchstehen?“ Ein klaustrophobisches Gefühl bemächtigte sich seiner, er hatte den Eindruck, die Düsternis um ihn herum wurde immer drückender. Dann war da noch eine andere Empfindung. Es war vollkommen anders als vor ein paar Stunden, als die Schatten von seinen Gedanken Besitz ergriffen hatten. Es war vielmehr, als verschmelze er vollkommen mit der Dunkelheit über ihnen, als würde er zu einem Teil von ihr. Da waren keine depressiven Gedanken, die seine Sinne trübten. Er nahm alles ganz bewusst wahr.
 

Als er ein Glühen aus dem Augenwinkel erhaschte, blickte er an sich herab. Da, um seinen Hals hing der Milleniumsring. Golden schimmernd, als wäre er nie fortgewesen. „Wo … kommt der her?“, fragte er nach Luft schnappend, „der sollte doch im Milleniumsstein ruhen! Für immer!“ Der Gegenstand leuchtete jetzt stärker und Ryous Körper fühlte sich leicht an, Energiewellen pulsierten durch seine Glieder. Dann war es vorbei, so schnell es begonnen hatte. Das Licht erlosch, der Ring hörte auf zu glühen und lag nun weglos um seinen Hals. Ryou blickte sich um. Er wollte nur noch hier weg.
 

***

„Endlich!“, atmete Seto auf, als Atem sich schließlich bei ihm meldete, „ich hab mir schon Sorgen gemacht. Du kannst doch nicht einfach so auflegen, ohne mir zu sagen, was bei dir los ist!“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich der Pharao zerknirscht, „ich hab mich eben erschrocken. Stell dir vor: Zigfried von Schroeder ist wahrscheinlich mit der Schriftrolle auf und davon!“ „Er … was? Dieser Halsabschneider, ich weiß doch, warum ich ihn meide wie die Pest!“ „Ja, aber ganz sicher sind wir uns noch nicht“, ruderte Atem zurück. „Sind wir doch!“, kommentierte Bakura aus dem Off. „Jedenfalls: Bakura hat einen Plan und Uyeda …“ „Atem, jetzt mal langsam: Du arbeitest mit Bakura und Uyeda zusammen?“ „Ja“, sagte Atem nur knapp. „Schön … ich denke, du weißt, was du tust. Aber es wäre mir lieber, wenn du allein agieren würdest.“ „Oder mit dir zusammen?“, schmunzelte der Pharao. „Richtig“, stimmte Seto sachlich zu, „apropos: Jetzt, da die Chancen ohnehin gering sind, dieses Papyrus noch aufzutreiben, halte ich es für das Beste, wenn ich Roland zu dir schicke, um dich einzusammeln. Zigfried und sein Bruder sind schon auf dem Weg hierher. Vielleicht bekommen wir etwas aus ihm heraus, sobald er wieder bei Verstand ist – falls er das je war oder sein wird.“ „Seto, das ist nett, ehrlich. Aber ich habe hier noch etwas zu erledigen. Ich kann hier nicht weg.“
 

Seto seufzte. „Warum dachte ich mir, dass du das sagst?“ „Weil es der Grund ist, warum du so fasziniert von mir bist?“, lächelte Atem. „Ich versuche nicht, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Aber … ich hätte dich gerne hier. Du … fehlst mir.“ „Du fehlst mir auch“, sagte Atem leise. „Seid ihr bald mal fertig mit dem Gesülze?“, mäkelte Bakura, „wir haben hier Wichtigeres zu tun!“
 

Ein mulmiges Gefühl befiel Seto. Warum war ihnen so wenig Zeit alleine miteinander vergönnt? „Atem hör mal“, begann er etwas ungelenk, „wird das jetzt immer so sein?“ „Was meinst du?“, wollte der Pharao wissen. „Na, ich meine: Wirst du immer auf dem Sprung sein? Werden wir immer nur einige kurze Worte miteinander wechseln können? Bis alles überstanden ist? Und was ist danach? Hast du darüber schon mal nachgedacht?“ „Nein …“, gestand Atem verunsichert. „Gehst du dann wieder zurück?“ „Ich kann doch noch etwas bleiben“, sagte der Pharao sanft, „wenn alles vorbei ist. Also, falls wir es schaffen. Wir können …“
 

„Aber zurückgehen wirst du doch, nicht wahr?“ Seto spürte, wie Atem sich am anderen Ende der Leitung begann, unwohl zu fühlen. „Ich … ja. Ich sehe da keine andere Möglichkeit“, gestand er, „aber du weißt, dass ich … wenn ich die Wahl hätte …“ „Vielleicht gibt es ja eine Wahl!“, begehrte Seto auf, „warum bist du so regeltreu? Wie hat dich dein Pflichtgefühl jemals weitergebracht, kannst du mir das mal sagen? Ich wünsche mir nur wenigstens noch einen Tag mit dir. Einen Tag, in dem ich dich besser kennenlernen darf. Ohne diesen Mist hier.“
 

„Seto, bitte lass uns das vertagen. Ich möchte das lieber von Angesicht zu Angesicht mit dir besprechen. Nicht durch ein Rechteck mit Metallschlangen drin, in dem deine Stimme gefangen ist.“ „Ja, na wunderbar. Dann eben nicht.“ Voller Bitterkeit legte er schließlich auf.
 

Seto konnte nicht sagen, weshalb plötzlich eine solche Wut in ihm brodelte. Eine Wut auf das Universum, das all seinen Aktionismus zerschlug, eine Wut auf Atem, der einfach nicht zu begreifen schien. Der so kurzsichtig war. Als wäre er keine Person, sondern nichts weiter als ein Ideal, ein gutes Prinzip. Als wäre er nur hergekommen, um eine einzige Mission zu erfüllen, die er mit aller Macht verfolgte, nun, da er sie kannte. Seto fühlte sich so weit von ihm entfernt. Er hatte keinerlei Macht über ihn oder seine Gedanken. „Verdammt“, wütend pfefferte er seine Duel Disk auf den Boden. Dann musste er unwillkürlich lächeln. Noch vor wenigen Tagen hatte er Atem für ebendiese Handlung gerügt. Wie war das alles nur so schnell passiert?
 

„Alles okay, großer Bruder?”, fragte Mokuba, der gerade mit einer Portion Essen in Setos Büro trat. „Ja … nein … ach, ich weiß nicht“, gab Seto verwirrt zu. „Es ist wegen Atem, nicht wahr?“, hakte der jüngere Kaiba vorsichtig nach. „Ja“, gestand Seto, „ich hätte ihn nicht dort alleine lassen sollen. Wir hätten zusammenbleiben sollen. Und jetzt … habe ich den Eindruck, er entfernt sich weiter und weiter von mir.“
 

Mokuba sah nachdenklich aus. „Mach dir keine Gedanken. So wie ich den Pharao von früher kenne, weiß er, was er tut. Und wenn er etwas tut, hat das seinen Sinn“, versuchte er, seinen großen Bruder zu beschwichtigen. Dieser lächelte matt. „Ja … du hast Recht. Danke dir, Moki. Trotzdem. Wenn ich es geschafft habe, mich in die lokalen Fernsehsender einzuwählen und auch dort das Hypnoseprogramm zu senden, mache ich mich auf den Weg zurück zu Pegasus.“ Mokuba nickte. „Aber … denkst du nicht, du wirst hier weiterhin gebraucht?“ Seto schüttelte grimmig den Kopf „Alles, was ich hier tun konnte, ist, die Symptome dessen, was da freigesetzt wurde, ein wenig aufzuhalten. Und dabei bin ich jetzt am Ende meiner Möglichkeiten. Aber Atem … er kümmert sich um die Ursache. Und ich habe das Gefühl, ich sollte ebenfalls dort sein.“
 

***

„Endlich!“, seufzte Bakura erleichtert, „nun, da ihr euer unwichtiges Geturtel beendet habt, können wir ja endlich zur Agende zurückkehren.“ Atem nickte befangen. Das Gespräch hatte ihn aufgewühlt. Seto hatte ja Recht: Bisher hatte er sich wenig Gedanken darum gemacht, was nach alldem hier passieren würde. Er hatte es erfolgreich versucht zu verdrängen. Seto hatte wütend gewirkt, vielleicht enttäuscht. Es war so schwer, jemandes Gefühle zu absorbieren und zu deuten, wenn man sich dabei nicht in die Augen sah. Wer immer diese Technik erfunden hatte, musste vollkommen fehlgeleitet und verrückt gewesen sein.
 

Bakura stand neben Uyeda und wartete darauf, dass Atem zu ihnen aufschloss. Seufzend setzte dieser sich in Bewegung. Uyeda blickte ihn besorgt an. „Vielleicht muntert dich das etwas auf“, sagte er, „hier ist der Schlüssel.“ Nun lächelte Atem. „Großartig, du hast es tatsächlich geschafft!“ „Klar“, Uyeda grinste, „es war nicht meine einfachste Übung, aber es war machbar. Während Pegasus Untersuchung im medizinischen Flügel hat mein Kumpel Yujiro einen Anruf vorgetäuscht, den Raum verlassen und mich in den Vorraum gelassen, wo Pegasus seine Jacke liegenlassen hat. Ich habe sie durchsucht und den Schlüssel in der Tasche gefunden. Ich hoffe, es ist der richtige, aber der Größe nach müsste er passen.“ „Danke! Ehrlich, vielen Dank, Uyeda!“, sagte der Pharao dankbar. „Jaja, er ist ganz toll. Aber jetzt sollten wir zur Tat schreiten, bevor Pegasus mitbekommt, dass sein Kleinod fehlt“, mahnte Bakura.
 

Atem nickte. „Also dann, Uyeda, danke nochmal. Wir haben wirklich was gut bei dir.“ „Ein Date werde ich mir wohl kaum wünschen dürfen“, schmunzelte der Sanitäter, „obwohl: Nach diesem Streitgespräch mit deinem Macker eben am Telefon sollte ich diese Hoffnung vielleicht noch nicht abschreiben.“ Atems Blick trübte sich etwas. Wenn der Sanitäter wüsste, was ihn und Seto womöglich wirklich entzweien würde, würde er nicht so locker daherreden. „Ich komme noch mit euch zur Tür. Mich interessiert jetzt doch, ob der Schlüssel tatsächlich passt“, verkündete Uyeda.
 

Vor dem unsichtbaren Eingang prüften sie kurz, ob die Luft rein war. Dann steckte Uyeda den Schlüssel in die winzige Öffnung. Ein leises Klicken ertönte. „Bingo!“, sagte der junge Sanitäter triumphierend. Der Pharao zog die Tür auf und er und Bakura steckten die Köpfe in die Dunkelheit dahinter. Einen Lichtschalter gab es nicht, lediglich an der Treppe in höhe ihrer Füße waren kleine LEDs angebracht, die die einzelnen Stufen auswiesen. „Dann los, das hier ist dein Fachgebiet“, raunte Atem Bakura zu. Dieser nickte grinsend und ging voran.
 

Plötzlich fiel dem Pharao noch etwas ein und er wandte sich um. „Uyeda, den Schlüssel kannst du mir jetzt geben. Wir werden …“ Als er den Blick des Sanitäters suchte, wurde er gerade noch Zeuge davon, wie die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Dann war ein erneutes Klicken des Schlosses zu hören. Alarmiert fuhr auch Bakura herum und beide stürzten zurück zur Tür. Der Pharao rüttelte an der Klinke, aber wie erwartet, tat sich nichts. „Uyeda, was soll das!? Mach schon auf!“, rief er panisch nach draußen. Zuerst war es still, kein Laut war von der anderen Seite der Tür zu vernehmen. „Uyeda!“, versuchte es Atem noch einmal. „Tut mir leid, Atem, ehrlich“, vernahmen sie jetzt die leise Stimme des Sanitäters, „ich wollte das nicht, aber … ich hatte keine Wahl.“
 

„Pharao, du bist ein Idiot!“, machte Bakura lautstark seinem Frust gegenüber Atem Luft, „wieso hast du den Schlüssel nicht gleich an dich genommen!?“ „Wieso hast du's nicht getan?“, fauchte Atem zurück. „Ich hätte wissen müssen, dass es eine Falle ist! Der Typ war nicht ganz sauber!“ „Ach ja? Das sagt ja genau der Richtige. Und warum hast du es nicht gewusst?“ „Alles nur wegen irgend so nem Kerl, dem du den Kopf verdreht hast!“ „Wenn ich ihm so sehr den Kopf verdreht hätte, hätte er mich wohl kaum hier eingesperrt!“, gab Atem zu bedenken, „und dass wir uns hier zanken bringt uns nicht im Geringsten weiter!"
 

„Uyeda?!“, startete er einen letzten Versuch, mit ihrem Wächter Kontakt aufzunehmen. Doch es kam keine Antwort . Schließlich vernahmen sie Schritte, die sich schnell entfernten. Der Pharao seufzte und ließ sich mit dem Rücken an der Tür hinabgleiten. „Klasse“, sagte Bakura, „wieso hab ich mich überhaupt mit dir eingelassen?“ „Sieh’s doch einfach als Buße. Für das, was du damals mit mir gemacht hast“, schlug Atem müde vor. Plötzlich stieß sich Bakura ruckartig von der Wand ab. „Pharao! Jetzt fällts mir ein! Das Fernsprech-Gerät, das dir Seto gegeben hat! Damit können wir deinen kleinen Freunden Bescheid geben, dass wir hier versauern!“ „Ach, stimmt ja!“, atmete Atem erleichtert auf und zog das Smartphone aus seiner Hosentasche. Er drückte eifrig auf den Home-Button. Dann hielt er es verwundert an sein Ohr und schüttelte es.
 

„Was? Was ist los?“, wollte Bakura wissen. „Ich weiß nicht, es tut sich nichts!“, gab Atem verunsichert zurück. „Oh nein. Sag mal, kann es sein, dass es keine Magie … oder ... Energie hat, oder wie das heißt?“ „Keine Ahnung“, Atem zuckte mit den Schultern. „Ich habe bei Ryou gesehen, wie er nachts immer so eine schwarze Schlange dranhängt, damit es morgens weder einsatzbereit ist“, erläuterte der Dieb. „Dieses Wissen hilft uns jetzt auch nicht!“, jammerte der Pharao frustriert, „was machen wir denn jetzt?“ Wenn Seto wüsste, in was für eine Klemme er sich da befördert hatte, würde er toben und ihm Vorträge darüber halten, dass er vorsichtiger hätte sein müssen.
 

***

Uyeda setzte zügig einen Fuß vor den anderen, weiter und weiter fort von seinen beiden Gefangenen. Er wollte einfach nur weg. Raus aus dieser Situation. Raus aus dieser misslichen Lage und aus seinen Gewissensbissen. Nie in seinem Leben hatte er etwas so Niederträchtiges getan, und er wusste nicht einmal, was es seinem Auftraggeber nutzte. Wenn er es wüsste, würde er sich sicher noch schlechter fühlen.
 

Natürlich hatte es nie einen Freund Yujiro gegeben, der ihm beim Diebstahl des Schlüssels geholfen hatte. Genauso wenig hatte ein medizinischer Checkup für Pegasus stattgefunden. Der Burgherr hatte ihm den Schlüssel selbst ausgehändigt und ihm diktiert, was er zu tun hatte. Und Uyeda alle Anweisungen befolgt, obwohl ihm das Herz dabei bis zum Hals geschlagen hatte. Nie hätte er gedacht, dass es so einfach sein würde, Atem und seinen merkwürdigen, blassen Gespenster-Freund hinters Licht zu führen. Es war geradezu ein Kinderspiel gewesen, ihnen den Bluff zu verkaufen. Sie hatten noch nicht einmal selbst nach dem Schlüssel verlangt. Hätten sie das getan, hätte er wesentlich tiefer in die Trickkiste greifen müssen. Aber dazu war es nicht gekommen.
 

Nun war es vollbracht. Keuchend und atemlos von seinem Sprint die Treppe hinauf bis zu seinem Quartier lehnte er sich an die Innenseite der Tür. Alle Anspannung fiel jetzt von ihm ab und als sein Körper erschlaffte, löste sich auch in seinem Inneren eine Lawine und Tränen stiegen ihm in die Augen. Schließlich wurde er von Weinen so heftig geschüttelt, dass er sich kraftlos zu Boden sinken ließ.


 


 


 


 


 


 


 


 

XXI


 

XXI

„Und was jetzt?“, fragte Atem tonlos in die Dunkelheit hinein. „Was weiß ich“, antwortete Bakura, jede Aggression war aus seiner Stimme gewichen, „wenn wir nun schon mal hier sind, lass und wenigstens nachsehen, ob die Schrift tatsächlich hier unten ist.“ „Wie sollen wir das ohne Licht bewerkstelligen?“ Statt einer Antwort hörte Atem ein Klicken und eine kleine Flamme tanzte nun vor Bakuras Gesicht. Er holte eine Kerze aus seiner Tasche und entzündete sie mit dem Feuerzeug in seiner Hand. „Wieso hast du die denn bei dir?“, wunderte sich der Pharao. „Wie schon gesagt, hab einige davon samt diesem praktischen Wundergerät, das Feuer zaubert, aus Ryous Haus mitgehen lassen. Hatte sie in meiner Hosentasche.“
 

Mit der Kerze voran tasteten sie sich ihren Weg durch ihr Verließ. Der kleine Keller bestand lediglich aus seinem einzigen Raum, deshalb dauerte ihre Suche nicht lang. Wo sie auch hin leuchteten, überall standen oder lehnten etliche Gemälde auf Leinwand. „Das ist es also“, stellte Atem ernüchtert fest, „dieser Keller ist nichts weiter als ein wohltemperierter Raum, in dem Pegasus seine Kunst aufbewahrt, damit sie sich lange hält.“ Schweigend ließen sie diese Erkenntnis auf sich wirken. „Könnte es denn das gewesen sein, was Pegasus hier heruntergetragen hat, als du ihn nachts gesehen hast? Kein Päckchen, sondern eine kleine Leinwand oder so?“ „Möglich ist es schon“, gab Bakura zu, „und es wäre sicher auch nicht ungewöhnlich, dass er bis spät in die Nacht an einem Bild malt.“ „Jedenfalls sollten wir einsehen, dass sich die Schrift sicher bereits weit weg von hier befindet.“ „Ja, ich schätze, du hattest Recht mit deiner Vermutung“, gestand der Pharao.
 

Stumm ließ er sich auf dem Boden neben einer Leinwand nieder und legte den Kopf auf die Knie. „Warum mache ich eigentlich immer alles falsch? Egal, wie ich es angehe? Kannst du mir das mal verraten?“, sprach er seine Gedanken offen aus. „Vielleicht, weil du so verkrampft versuchst, alles richtig zu machen“, gab Bakura zu bedenken und ließ sich neben Atem nieder, „ich meine, sieh mich an: Ich mache auch viele falsche Dinge, aber mich kümmert es nicht. Mach’s dir nicht selbst so schwer.“ Der Pharao seufzte. „Ich denke, du hast es ganz gut erfasst. Ich kann einfach nicht aus meiner Haut.“ „Redest du jetzt von deiner aufkeimenden Beziehung mit dem futuristischen Hohepriester?“, wollte Bakura in gespielter Langeweile wissen. „Vielleicht. Auch“, gestand Atem ein.
 

„Warum? Was will er denn von dir? Weshalb habt ihr euch gestritten?“, fragte Bakura weiter nach. „Er möchte nicht, dass ich zurückgehe.“ „Und was willst du?“ „Natürlich möchte ich in Setos Nähe bleiben und herausfinden, wo das hinführen kann, das ist klar. Aber ich … ich denke, ich habe keine andere Wahl als …“ „Was willst du?“, unterbrach ihn Bakura scharf, „ich habe nicht gefragt, was du denkst, dass das Richtige wäre, sondern was du selbst tun würdest, wenn du es dir aussuchen könntest.“ Atem schwieg. „Ich weiß nicht“, sagte er, „weißt du denn, was du tun würdest, wenn du entscheiden könntest? Hierbleiben oder zurückgehen?“ „Ja, ich wüsste es“, entgegnete der Dieb, wie aus der Pistole geschossen, „aber ich sag‘s dir nicht. Du brauchst nicht noch mehr Menschen, die dich beeinflussen. Weißt du noch, als ich dir den Handel angeboten hab? Und alle wollten dich zu etwas drängen? Am Ende hast du ganz alleine für dich entschieden.“ Atem nickte. „Und wie hat sich das angefühlt?“ „Im ersten Moment gut“, flüsterte der Pharao, „das richtig schlechte Gewissen kam erst hinterher, als du …“ „Jaja, überspringen wir dein Teil.“ „Trotzdem gibt es Dinge, die zu groß sind, als dass man sie selbst entscheiden kann“, sagte der Pharao ernst, „das hast du selbst gespürt, sonst würdest du mir jetzt nicht helfen.“ „Sonst würde ich jetzt nicht mit dir hier festsitzen“, sagte Bakura amüsiert.
 

Wieder schwiegen sie. Die kleine Flamme der Kerze flackerte schwach und hypnotisch. Sie wussten nicht, wie viel Zeit verstrich und was draußen vor sich ging. Vollkommene Stille umfing sie.
 

Schließlich hörte Atem, wie Bakura sich erhob. „Weißt du was?“, sagte er bitter, „mich nervt es tierisch, dass wir hier tatenlos herumsitzen. Dabei können wir doch etwas tun!“ „Was denn?“, Atem blickte in sein Gesicht, in das die Flamme flackernde Schatten warf. „Wir können zu Ende bringen, was wir vorhin begonnen haben, bevor dieser Gunther oder wie auch immer uns unterbrochen hat. Wir können den Erinnerungszauber durchführen.“
 

***Uyedas Geschichte***

„Ja, das klingt toll. Ich freu mich für dich“, Uyeda lächelte, während er sein Handy ans Ohr hielt und an seinem Kaffee nippte. In Gedanken war er nicht im dem kleinen, urigen Coffeeshop, in dem er sich gerade befand, sondern im Heimatland seiner Mutter. „Du wirst es lieben!“, schwärmte sein Bruder Toya jetzt in den Hörer, „hier gibt es überall Spielecenter und Bildschirme auf den Straßen. Alles ist bunt und laut und voll – Tokyo ist echt die Stadt meiner Träume! Ich gehe nie wieder zurück! Auch wenn meine Bude hier noch klein ist, das ist mir egal. Jeder lebt hier so.“
 

Uyeda nickte, obwohl Toya es nicht sehen konnte. „Uyeda? Bist du noch da?“, drang die Frage schließlich zu ihm durch. „Äh ja, klar. Das hört sich wirklich toll an. Ich bin schon gespannt, wie du wohnst, wenn ich nachkomme.“ „Und wann wird das genau sein?“, erkundigte sich sein Bruder jetzt inquisitiv. Uyeda knirschte mit den Zähnen. „Ich weiß noch nicht, Toya, ehrlich.“ „Du bist doch mit der Schule fertig, also worauf wartest du noch?“, ließ der ältere der beiden nicht locker. „Schon, aber du weißt doch, dass das Geld recht knapp ist. Mama und Papa können uns erst mal nicht beiden eine Ausbildung in Japan finanzieren. Und momentan habe ich ehrlichgesagt nicht mal genug für den Flug zusammen.“ „Nicht so lukrativ, dein Job an der Kinokasse, hm?“, fragte sein Bruder nun mitleidsvoll. „Es geht. Nicht so schlimm, ehrlich. Ich komme schon noch nach Japan, wart’s ab. Auf ein paar Monate kommt es nicht an.“ „Schön. Und deine Ausbildung als Rettungssanitäter wird sicherlich auch nicht so teuer wie mein Studium. Dann musst du dir kein Geld vom Staat leihen.“ „Ja, das hoffe ich.“ „Also, halt solange die Ohren steif.“ „Du auch.“
 

Als er auflegte, schwappte eine Welle der Enttäuschung über Uyeda hinweg. So gerne wäre er seinem Bruder gefolgt in das Land, an das er von Verwandtenbesuchen in seiner Kindheit so schillernde Erinnerungen hatte. Er gab es ungerne zu und hätte es ihm nie zum Vorwurf gemacht, aber er fühlte sich zurückgelassen. Seit Toya und er Kinder waren, träumten sie davon, gemeinsam in Japan zu leben. In den beiden Malen, in denen sie dort waren, wollten sie die Insel kaum wieder verlassen. Deshalb hatten sie immer dafür gesorgt, ihre Sprachkenntnisse zu schulen und sich im Lesen von Kanji, Hiragana und Katakana zu üben. Rational betrachtet wusste Uyeda, dass er der jüngere war und auch Toya nach der Schule bereits ein Jahr hatte warten müssen, bis ihre Eltern ihm endlich die Reise finanzieren konnten. Auch für sein Informatikstudium hatte er bereits einen Studienkredit aufgenommen und ständig gejobbt.
 

All das leuchtete ihm ein und dennoch fragte er sich jetzt deprimiert, ob er ihm jemals würde folgen können. Er hatte nicht mal die Hälfte des Flugtickets erspart. Frustriert krallte er die Hände in die Tischdecke.
 

„Schlechte Laune?“, riss ihn plötzlich eine Stimme aus seinen trüben Gedanken. Er schreckte hoch und blickte überrascht in das Gesicht eines großen, schlanken Mannes mit langem, silbrig-schimmerndem Haar, der neben seinem Tisch stand, eine Hand lässig in die Hosentasche gesteckt. Er lächelte, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Uyeda blinzelte zu dieser imposanten Erscheinung empor.
 

„Entschuldige, wenn ich dein Gespräch belauscht habe. Ich saß am Nachbartisch“, erklärte sich der Mann auf Japanisch. „Sind Sie Japaner? Sie sehen nicht so aus“, war das Einzige, was Uyeda auf die Schnelle einfiel. „Du ja auch nicht“, entgegnete der Mann amüsiert, „Nein, ich bin kein Japaner. Aber ich lebe teilweise in Japan. Mein Name ist Maximilian Pegasus“, erläuterte er dann höflich. „Und was wollen Sie von mir?“, wollte Uyeda skeptisch wissen.
 

„Dir ein Angebot unterbreiten. Mir ist nicht entgangen, dass du nach einer Möglichkeit suchst, nach Japan zu gelangen.“ „Ja“, gab der junge Ägypter zu, „ich will dort eine Ausbildung machen und arbeiten. Aber es ist nicht so wichtig. Das hat Zeit.“ „Schön, schön, Geduld ist eine Tugend“, nickte Pegasus, „aber was wäre, wenn ich dir sage, dass ich dir eine Möglichkeit biete, schon in wenigen Tagen dorthin zu gelangen.“ „In wenigen Tagen … aber … wie?!“ Uyeda schwirrte der Kopf. Die Gedanken rasten nur so durch seine Synapsen. Wer war dieser Kerl? War ihm zu trauen? Was hatte er davon, ihm zu helfen?
 

„Ich leite ein Unternehmen in Japan und Amerika. Zurzeit habe ich einige Stellen im medizinischen Bereich ausgeschrieben. Eine davon beinhaltet zum Beispiel eine vollständige Ausbildung zum Rettungssanitäter, inklusive Kost und Logie und natürlich die Anreise zum Arbeitsort.“ Uyeda zog die Augenbrauen zusammen. „Okay … und wo ist der Haken an der Sache?“
 

Pegasus brach in schallendes Gelächter aus, sodass die anderen Gäste neugierig zu ihnen herüberblickten. „Cleverer Junge, hm? Das gefällt mir. Nun, da du so offen mit mir bist, will ich es auch mit dir sein“, nun senkte Pegasus seine Stimme etwas, „ich suche aktuell jemanden, der auch gewisse kleinere Erledigungen diskret für mich bewerkstelligt. Ich gebe dir ein Beispiel, damit du nicht in die falsche Richtung denkst: Ich suche zum Beispiel konkret jemanden, der einen kleinen Botendienst für mich verrichtet.“ „Sie meinen, einfach nur etwas von jemandem annehmen?“ „Genauso ist es. Und dieses Etwas dann jemand anderem bringen. Das ist alles. Betrachte diese kleine Aufgabe als dein Initiationsritual. Wenn du dich zuverlässig erweist, bekommst du all das, was ich dir eben in Aussicht gestellt habe. Und sogar eine kleine Zusatzprämie von meinem privaten Konto.“
 

Uyeda war noch immer nicht überzeugt. „Ich weiß nicht. Ich kenne Sie doch gar nicht.“ Pegasus schob eine Karte über die Tischplatte zu ihm herüber. „Wir machen es so“, schlug er vor, „hier ist meine Karte. Google mich, recherchiere über mich, was immer du willst. Morgen um die gleiche Zeit trinke ich hier wieder meinen Tee. Solltest du dich für das Leben, das ich dir biete, entscheiden, komm ebenfalls wieder her.“
 

Am Abend gab Uyeda den Namen seines mysteriösen Gönners in eine Suchmaschine ein und las viele positive Schlagzeilen über den berühmten amerikanischen Geschäftsmann. In dieser Nacht wälzte er sich unruhig in seinem Bett hin und her. Nüchtern betrachtet wusste er, dass dieses Angebot nicht Gold sein konnte, auch wenn es glänzte und schillerte. Aber die Frage war: Wollte er es trotzdem riskieren? Jetzt, wo sein Ziel so zum Greifen nah war … Bis zum darauffolgenden Nachmittag saß er hauptsächlich da und zermarterte sich den Kopf. Und als der Zeitpunkt nahte, den Pegasus ihm genannt hatte, hatte er sich nach wie vor nicht entschieden.
 

Dennoch stand er, wie von Zauberhand geführt, um Punkt 16 Uhr vor dem Coffeeshop. Pegasus lächelte ihm bereits von Weitem zu. „Nun, ich schätze, du hast dich entschieden.“ „Ja“, nickte Uyeda, „ich schätze auch. Also, wo ist dieser Ort, wo ich etwas im Empfang nehmen soll?“
 

Der Ort war das Museum in Kairo. Nahe einem Hintereingang sollte er warten, bis ein schwarz gekleideter Mann ihm ein kleines, schmales Päckchen in die Hand drückte. Dann sollte er unauffällig weiter dem Gehweg folgen. Er tat wie ihm geheißen, obwohl sein Herz ihm bis zum Hals schlug, besonders als er sah, dass besagter Mann eine Strumpfmaske abstreifte, als er auf ihn zukam, und sich dann zügig davonmachte und in ein Auto stieg, das mit laufendem Motor auf ihn wartete. Das Päckchen brachte Uyeda noch am selben Tag zu der Adresse, die Pegasus ihm gegeben hatte. Ein schrulliger älterer Herr nahm es in Empfang und er war froh, dass er es los war. Er hatte sich nicht getraut, nachzusehen, was in dem länglichen Paket war, aber als er in den Nachrichten davon hörte, dass aus dem Museum eine wertvolle antike Schrift entwendet worden war, wurde er bleich.
 

Pegasus zeigte sich zufrieden und so saß Uyeda eine Woche später im Flieger. Anfangs lief alles gut. Er absolvierte seine Ausbildung in Tokyo und alles wurde von Industrial Illusions finanziert. Er traf Toya wieder und sie hatten eine wirklich gute Zeit. Als er jedoch seine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hatte, beorderte Pegasus ihn ins Königreich der Duellanten. Das alles war so gar nicht, was er sich vorgestellt hatte. Das Leben im Trubel der Stadt lag ihm viel mehr, als hier mit sich alleine in Abgeschiedenheit zu hausen.
 

Als er dieses Thema bei seinem Arbeitgeber versuchte, anzuschneiden, schnalzte dieser nur pikiert mit der Zunge. „Na na, ich hätte ein wenig mehr Dankbarkeit von dir erwartet. Ich habe dir schließlich viele Wünsche erfüllt. Und abgesehen davon: Deine Position hier ist ja nicht für die Ewigkeit. Irgendwann wirst du wieder an einem anderen Standort arbeiten können.“ Ihm blieb nichts anderes übrig als sich wohl oder übel damit zufriedenzugeben.
 

Doch auch nach sechs Monaten hatte sich nichts an seiner Situation geändert. Also suchte er erneut das Gespräch mit Pegasus konfrontierte ihn damit, dass er sich wegbewerben und woanders Arbeit finden würde. „Das steht dir natürlich vollkommen frei“, erwiderte Pegasus leichthin, „du solltest aber auch wissen, dass alle potenziellen Arbeitgeber natürlich zuerst bei einem renommierten Unternehmen wie meinem nachfragen werden, wie du dich so gemacht hast. Und da ich noch nicht wünsche, dass du weggehst, werde ich ihnen sagen, was mir beliebt. Sobald ich dich aber nicht mehr brauche, verspreche ich dir, dass ich dir ein herausragendes Arbeitszeugnis schreiben werde, das dir alle Türen öffnen wird. Du hast mein Wort.“
 

Uyeda wusste nicht mehr weiter ohne seinen Bruder und ohne die Möglichkeit, ein normales Sozialleben zu führen. Dabei hatte er sich von seinem Aufenthalt in Japan auch gewünscht, endlich einen Partner zu finden und sich zu verlieben. Diesen Wunsch konnte er auf dieser einsamen Insel wohl endgültig zu den Akten legen.
 

Pegasus trug ihm in seiner Zeit im Königreich der Duellanten wenig auf. Einmal bekam Pegasus Besuch von Zigfried von Schroeder, der gestern nochmals angereist war. Uyeda hörte nicht, was die beiden zu bereden hatten, aber er erhaschte einen Blick auf Pegasus, als er nach seiner Abreise eilig eine kleine Vitrine in seinen persönlichen Flügel trug. Im Inneren erkannte er die gestohlene Schrift. Uyeda wunderte sich, weshalb sie letztlich zu Pegasus zurückgekehrt war. Danach zeichnete Pegasus wie ein Besessener immer neue Entwürfe von zwei DuelMonsters-Karten. Auf all das wusste sich der Sanitäter keinen Reim zu machen.
 

Vor wenigen Tagen dann kam Leben in das stille Dasein auf der Burg, als Seto Kaiba und Atem und kurz darauf ihre Freunde eintrafen. Uyeda spürte, dass sich hier etwas Wichtiges abspielte, aber er hatte keine Ahnung, was das sein konnte – er wusste nur, dass Atems hübsches Gesicht und seine herrschaftliche und zugleich sanfte Art es ihm von Anfang an angetan hatten. Und nun – nun hatte er diesen durch und durch schönen Menschen eigenhändig in einen Keller gesperrt. Nur weil er glaubte, dass Pegasus, dieser manipulative Tyrann, ihn in der Hand hatte! Wie konnte er es nur zulassen, dass jemand so viel Macht über ihn ausübte? Dass jemand sich anmaßte über seine Existenz zu entscheiden? Ein heißes Gefühl der Scham hatte jetzt von ihm Besitz ergriffen. Was hatte er da nur getan? Ihm wurde schlecht, wenn er nur daran dachte. Warum hatte er nicht gewartet und das Geld für seinen Flug gespart? Dann wäre er jetzt ein freier Mann. Er hielt es keine Sekunde länger aus. Er musste das irgendwie wiedergutmachen!
 

***

Erneut saßen Atem und Bakura einander gegenüber. „Schau mich jetzt an, konzentrier dich ganz auf mich“, wies Bakura den Pharao an. Dieser starrte angestrengt in das Gesicht des Diebes. Dann jedoch musste er unwillkürlich lachen. „Was soll das, du Nervensäge!“, beschwerte sich Bakura. „Entschuldigung, aber das ist irgendwie zu komisch. Schon gut, schon gut, ich bin ganz ernst“, kicherte Atem.
 

Und tatsächlich konnte er sich nun vollkommen auf die Person vor sich konzentrieren. Auch Bakura war jetzt ganz fokussiert und souverän. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung. Der Pharao konnte nicht sagen, warum, doch er vertraute darauf, dass der Grabräuber wusste, was er da tat, und er ließ sich gedanklich in die Situation sinken.
 

Alles um sie herum verschwand. Die Gemälde, der Keller, Uyedas Verrat. Es war, als befänden sie sich jenseits von Zeit und Raum. Da war nichts als die zitternde Flamme und Bakuras warme Augen in seinem Blickfeld und nun begriff er, wieso der Dieb darauf beharrt hatte, dass die Kerze wichtig war. Atem schien durch sie in sich zu ruhen. „Also gut. Öffne jetzt deinen Geist“, sagte Bakuras dunkle, ruhige Stimme, „geh zurück zu dem Tag, als wir in das Grab gegangen sind. Ich werde ebenfalls zurückgehen. Wir sind jetzt beide dort.“ Atem spürte augenblicklich die Kühle der Grabkammer und den Staub von Erinnerungen auf seiner Haut, die unmittelbare Nähe zu dieser feinen Membran zwischen Leben und Tod. „Du hältst nun die Schriftrolle in Händen. Du blickst darauf“, fuhr Bakura fort. Seine Stimme existierte nun bereits mehr in Atems Kopf als dass sie ein äußerer Einfluss gewesen wäre.
 

„Halte diesen Augenblick ganz fest. Und nun öffne deine Gedanken für mich. Lass es zu, dass sie mit meinen Gedanken ein feines Gewebe spinnen, dass unsere Geister sich berühren.“ Atem versuchte, diese letzte Blockade, die er um sein Inneres spürte, herunterzufahren. Es war mehr eine Angst. Eine Furcht davor, was passieren würde, was Bakura gleich von ihm sehen und ob er sich selbst verlieren würde. Ob er die Teile, die er jetzt verstreute, jemals wieder würde zusammenpuzzeln können.
 

Aber dann schoben sich Bilder in seinen Kopf und er war zu abgelenkt von all den Eindrücken, um diese Mauer noch aufrechtzuerhalten. Er nahm Dinge wahr, von denen er wusste, dass er sie nicht selbst wahrgenommen hatte, dass sie zu Bakura gehörten. Er sah Bakuras Gedanken vielmehr als dass er sie hörte. Doch bald schon gab es kein „bekannt“ und „fremd“ mehr, konnte er seine eigenen Empfindungen nicht mehr von denen Bakuras unterscheiden. Alles schien miteinander zu verschmelzen. Alles wurde eins. Ein großes Bild, das sich weiter und weiter zusammenfügte und erhellte. Ein einziges Bewusstsein, ein Gedanke, in zwei Körpern. Sie waren eine Person, ein Subjekt, das die Welt um sich herum einsaugte.
 

Plötzlich war ihnen beiden klar, dass dies genau der Ort und der Augenblick war, an dem sie sein mussten, zu dem eine höhere Macht sie hingelenkt hatte. Es war seltsam für Atem, zu denken, wie Bakura dachte, zu empfinden, wie er empfand. Eine Neugierde erwachte in ihm, diese Gedankenwelt zu durchwühlen, aber da ihre Verbindung sich ganz und gar auf diese eine Erinnerung beschränkte, blieb alles drumherum dunkel.
 

Dann waren da Zeichen vor ihrem geistigen Auge. 'Ring' konnten sie lesen. Und ein Wort, das ihm sehr viel sagte: 'Millennium'. Und dann ein böses, hart klingendes Wort, das ihm nichts sagte. Es lautete 'Zorc'. „Zorc, der auch den Namen ‚der große Schatten‘ trägt“, murmelten Atem und Bakura wie aus einem Mund und plötzlich wussten sie, dass dies der Name des Schattens war, den Pegasus durch das Ritual beschworen hatte, „Dieser alles verschlingende Schatten kann nur zerstört werden, wenn …“
 

Atem stockte der Atem. Er spürte jetzt, wie der Zauber ihm alles abverlangte, um den Text aus seinen und Bakuras Erinnerungen ans Licht zu zerren wie durch einen viel zu engen Tunnel. Aber endlich war es, als umfange ihn Licht und die Schrift stand gestochen scharf vor seinem geistigen Auge, so, als hätte sie gerade frisch die Hand des Schreibers verlassen. Da waren sie endlich, die Worte, denen sie so begierig hinterhergejagt hatten.
 

Bleierne Erschöpfung legte sich über den Pharao, als sein Geist sich Stück für Stück wieder von dem des Grabräubers löste. Als er die Pyramide verließ und wieder in dem kleinen Keller ankam. Er und Bakura blickten sich an. Nun kannten sie das volle Ausmaß der Bedrohung. Und sie ahnten, was zu tun war.


 


 


 


 


 

XXII


 

XXII

„Yugi? Ryou?“ Die Stimme drang so unerwartet zu Ryou durch, dass er zusammenzuckte. Die seltsame Atmosphäre, die ihn eben noch absorbiert hatte, rückte von ihm ab. „Oh … hey, Leon.“ „Was ist denn los? Ich hab euch überall gesucht!“, beschwerte sich der kleinere von Schroeder, „wollten wir uns denn nicht am Spieleladen treffen?“ „Doch, tut mir echt leid. Aber die Dinge sind hier etwas aus dem Ruder gelaufen.“ Er deutete auf Yugi, der apathisch neben ihm stand.
 

Leon riss erschrocken die Augen auf. „Er … hat er etwa dasselbe wie mein Bruder?“ Ryou nickte ernst. „Leon, wo ist dein Bruder jetzt?“ „Er wartet am Spieleladen“, gab Leon verunsichert zurück. „Dann lass uns ihn schnell einsammeln. Ich schätze, jetzt liegt es an uns, den beiden zu helfen.“ „Kannst du das denn?“, fragte Leon hoffnungsvoll.
 

Eine halbe Stunde später hatten sie es tatsächlich geschafft, Yugi und Zigfried aus ihrer Trance zu holen. Ryou fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Er hatte mächtig Angst gehabt, dass er es vielleicht nicht schaffen könnte und Leon und Yugi im Stich lassen würde. Doch nachdem Ryou Leon erklärt hatte, dass sie den beiden lediglich Mut zusprechen und ihre belastenden Gedanken nehmen mussten, und ihm versichert hatte, dass alles schon gutgehen würde, hatte er sich nahezu selbst geglaubt. Und wirklich hatte er es danach geschafft, zu Yugi durchzudringen. Das hatte zur Folge, dass Ryou sich selbst wieder etwas besser fühlte und ein wenig stolz auf sich war, auch wenn es ihm nach wie vor Sorgen bereitete, dass der Milleniumsring so plötzlich wieder aufgetaucht war.
 

Als Yugi orientierungslos um sich schaute, fiel sein Blick ebenfalls als erstes auf den goldenen Gegenstand um Ryous Hals. „Was … macht der denn hier?“, fragte er alarmiert. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich hatte so ein merkwürdiges Gefühl und dann … war er einfach da.“ Yugi zog besorgt die Brauen zusammen, sagte aber nichts mehr. „Hast du mir geholfen?“ Ryou nickte lediglich. „Danke dir vielmals! Und tut mir leid, dass ich so dämlich war, in diese Falle zu tappen.“ „Und auch Zigfried ist wieder ganz der Alte!“, machte Ryou Yugi nun auf die beiden Neuankömmlinge aufmerksam. Erst jetzt schien er sie wahrzunehmen und wandte sich überrascht um. „Wunderbar, das freut mich!“
 

„Ich wüsste mal gerne, was hier eigentlich gespielt wird“, fiel Zigfried gleich mit der Tür ins Haus, „könnt ihr mir das erklären? Ich weiß nur noch, dass ich zu Hause ankam nachdem ... naja, und plötzlich … bin ich hier.“ „Du warst ganz seltsam, großer Bruder“, sagte Leon, „da habe ich Yugi angerufen. Ich wusste doch nicht, was ich sonst tun sollte.“ Zigfried lächelte, milder gestimmt. „Danke dir, Leon. Du hast richtig gehandelt.“
 

„Zigfried, du bist also bereits aus dem Königreich der Duellanten aufgebrochen? Kannst du mir denn etwas darüber sagen, wie es Atem geht?“ „Du meinst den Kleinen mit der gesunden Bräune, der so aussieht wie du?“, fragte Zigfried, „ich … also … ich weiß lediglich, dass er und dieser … na, der Typ, der so aussieht wie der da“, er zeigte auf Ryou, „auf der Suche nach der Schrift waren, wie ich auch.“ „Und? Wart ihr erfolgreich?“ Zigfried sah jetzt unbehaglich auf seine Fußspitzen. Was sollte er Yugi sagen? „Ich ja. Ich habe sie … gefunden und bin dann aufgebrochen.“ „Aber nicht ohne einen Deal mit Pegasus!“, platzte Leon stolz heraus. Yugi und Ryou sahen einander an. „Du hast einen Deal mit Pegasus abgeschlossen?“, fragte Ryou misstrauisch. Auch Yugi war sich sicher, dass Zigfried nicht alles sagte, was er wusste. „Wie ist das denn so schnell passiert? Kann es sein, dass du uns was verschweigst?“ Leon blickte verwirrt von einem zum anderen.
 

„Ich … also …“ Yugi blickte ernst drein. „Geht es Atem denn gut?“, unterbrach er den Firmeninhaber. „Soweit ich weiß, ja“, sagte Zigfried etwas gehemmt. „Gut, dann kommt erst mal mit. Es gibt noch einige andere, die deine Geschichte brennend interessiert.
 

***

Interessiert sah sich Zigfried um, während die vier das Gebäude der KaibaCorp betraten. Als sie im obersten Stock aus dem Fahrstuhl stiegen, lief ihnen Mokuba bereits entgegen. „Hey Yugi! Gott sei Dank ist bei euch alles okay!“ „Was gibt es Neues?“, fragte Yugi ihn lächelnd. „Mein Bruder hat es endlich geschafft!“, berichtete Mokuba stolz, „auf allen Fernsehern in Japan läuft jetzt unser Hypnose-Programm!“ „Das ist toll!“, nickte Yugi, „wo ist Kaiba jetzt?“ „Er bereitet sich darauf vor, zurück zu Pegasus zu fliegen“, wurde Mokuba nun ernst, „er sagt, es gibt für ihn hier nichts mehr zu tun.“
 

In diesem Augenblick trat Seto aus seinem Büro. Sein Blick fiel sofort auf Zigfried und nahm einen herablassenden Ausdruck an. „Sieh mal an, wolltest du dir mal ansehen, wie eine erfolgreiche Firma von innen aussieht ?“, fragte er. Zigfrieds Augenbraue zuckte gefährlich. „Ist weniger eindrucksvoll, als ich es mir vorgestellt habe. Herr Kaiba. Wie wär‘s? Ich könnte mich ja mal schnell in deine Systeme hacken und alle Daten verändern?“ „Das würdest du nicht wagen.“ „Kommt drauf an. Wenn du mich weiter so provozierst, kann ich für nichts garantieren.“
 

Ein weiteres Pling ertönte und auch Joey und Téa traten nun aus dem Lift. „Hey, was soll das?“, ging Joey sofort zwischen die beiden Streithähne, die sich wütend anfunkelten, „mit Kaiba zu streiten ist allein mein Privileg!“ „Zigfried hat uns eben etwas Interessantes erzählt“, erklärte Yugi, „das dürfte dich auch interessieren, Kaiba. Er hat auf Pegasus Burg mit Atem zusammengearbeitet.“ Sofort wurde Setos Gesicht noch finsterer. „Dann rück mal raus mit der Sprache. Und lass bloß kein Detail aus.“
 

Zehn Minuten später hatte Zigfried der Gruppe seine Geschichte erzählt. Er biss sich auf die Lippe und blickte zu den anderen auf. „Ich habe das Gefühl, Pegasus hat mich gelinkt und ich bin genau in seine Falle getappt. Naja … ihr müsst verstehen, dass ich so lange auf diesen Moment hingearbeitet habe. Ich konnte einfach nicht anders. Aber jetzt habe ich den Verdacht, dass ich nicht ihm, sondern eurem Freund mit der Trendfrisur und seinem stylingresistenten Gespensterfreund hätte trauen sollen. Deshalb glaube ich, es ist richtig, dass ihr wisst, wie es wirklich abgelaufen ist.“ „Niemand kann dir Vorwürfe machen!“, bekräftigte Leon von Schroeder seinen Bruder aufmunternd. „Schön und gut“, sagte Joey nachdenklich und kratzte sich am Kopf, „du bist also getürmt, nachdem du die Rolle und den Deal mit Pegasus hattest. Er wollte uns Glauben machen, dass die Schrift verschwunden ist, während er in Wirklichkeit dich auf die Insel gelockt hat, um sie unbemerkt wegzubringen. Aber was machen wir jetzt daraus?“ „Wir wissen jetzt, dass Pegasus ein mieser Hund ist, dem man nicht trauen kann. Eigentlich haben wir das doch immer schon geahnt, oder nicht? Wisst ihr nicht mehr, als er Yugis Großvater entführt hat, um Yugi auf seine Insel zu locken?“
 

Yugi sah nachdenklich aus. „Aber trotzdem … so kennen wir Pegasus doch gar nicht. Er hat damals aus Verzweiflung gehandelt und war nicht so eiskalt und berechnend.“ Dann wandte er sich an Téa. „Wie geht es meinem Großvater?“ „Ihm geht’s gut. Wir haben ihn vor den Fernseher gesetzt. Da läuft jetzt rund um die Uhr Kaibas Anti-Gehirnwäsche.“ „Gut“, entschied Yugi, „dann gibt es für uns hier auch keine Aufgabe mehr. Ich denke, wir sollten Kaiba begleiten. Und mit der Schriftrolle, die du hoffentlich mitgebracht hast, Zigfried, haben wir einen Grund mehr, zur Burg zurückzukehren.“ „Ich möchte auch mitkommen!“, meldete sich Zigfried zu Wort, „ich will euch helfen. Immerhin habe ich einiges wiedergutzumachen.“ Kaiba knurrte unwillig. „Schon gut, Herr Kaiba, ich habe nicht das geringste Interesse daran, stundenlang mit dir in einem Flugzeug zu sitzen und deiner eisigen Attitüde ausgesetzt zu sein. Ich fliege selbst.“
 

Als sie vor das Gebäude traten, empfing sie eine drückende Atmosphäre. „Leute, bilde ich mir das nur ein, oder ist es noch düsterer geworden?“, blinzelte Joey in den fast nachtschwarzen Himmel. Blitze zuckten jetzt erneut über das Firmament, und in einer höheren Frequenz als zuvor. „Das wird definitiv kein Spazierflug“, stellte Mokuba etwas beklommen fest. „Und wenn schon. Das nehme ich in Kauf“, sagte Seto kalt und entschlossen, „aber für euch“, er deutete auf Yugi und die anderen, „übernehme ich keinerlei Verantwortung. Wenn ihr also doch hierbleiben wollt, ist jetzt die Gelegenheit. Mokuba, dich wüsste ich allerdings lieber hier in Sicherheit. Ich hätte gern, dass du hier in der Firma bleibst.“ Mokuba zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. „Als ob ich hier sicherer wäre! Kommt gar nicht in Frage!“ „Also schön“, Seto ging zu Roland und besprach einige Dinge mit ihm. Dann kletterte er ins Flugzeug, gefolgt von den anderen. Zigfried telefonierte seinen eigenen Piloten herbei und wollte mit Leon nachkommen.
 

***

Atem musste um seine Besinnung kämpfen. Jetzt, wo der Zauber abklang, spürte er deutlich, wie dieser ihn physisch erschöpft hatte. Es fühlte sich ein bisschen an, als habe er eine körperliche Ertüchtigung hinter sich, die ihn an seine Grenzen gebracht hatte. Bakura, dem all das weniger zusetzte, wartete geduldig, bis er sich wieder gefasst hatte. „Ungünstig, dass wir hier unten kein Wasser haben“, bemerkte er mit einer Spur von Mitleid in der Stimme.
 

„Es geht schon wieder“, Atem wollte vor Bakura nicht schon wieder schwach wirken, deshalb biss er die Zähne zusammen. „In Ordnung“, sagte dieser lediglich. Beide wussten nicht so wirklich, wie sie das gesehene ansprechen sollten. Jedes Wort war hier überflüssig. Trotzdem begann Atem schließlich: „Du hattest Recht. Auf der zweiten Seite des Textes ging es tatsächlich um die Milleniumsgegenstände. Und zwar im Zusammenhang mit der Aufhebung des Rituals. Ich hatte dir nicht geglaubt. Ich dachte, du hättest mich auch diesbezüglich belogen." Es war keine Entschuldigung, nur eine Feststellung. Bakura seufzte. „Hab’s dir doch gesagt, ich hab dir genau das weitergegeben, was ich von meinem Informanten erfahren habe. Aber schwamm drüber. Ich hätte mir selbst auch nicht geglaubt.“
 

„Also ... Zorc, hm?“, machte der Pharao jetzt, „Ich … habe diesen Namen bisher nur einmal von Yugi gehört. Weißt du Genaueres darüber, mit wem wir es hier zu tun haben?“ „Auch nur aus Ryous Erzählungen“, gab der Grabräuber zu, „aber er hat mir die ganze Geschichte ziemlich genau berichtet, kurz bevor wir hergekommen sind. Mit diesem Zorc ist wohl nicht zu spaßen. Er wird in unserer Gegenwart die mächtigste Bedrohung für Ägypten sein. Und ich werde wohl nicht ganz unschuldig daran sein.“ Atem lauschte aufmerksam, während Bakura ihm weitergab, was er von seinem zukünftigen Wirt erfahren hatte.
 

„Wie konnte er damals zerstört werden?“, fragte der Pharao und blickte Bakura gebannt mit seinen großen, violetten Augen an. „Du hast ihn wohl beim ersten Mal weggesperrt und deinen Geist dabei im Milleniumspuzzle eingeschlossen. Aber Zorc lebte ebenfalls weiter, im Milleniumsring.“ „Der Ring wurde im Text ebenfalls genannt! Aber der Ring gehört zu Mahad!“ „Gehörte“, korrigierte ihn der Dieb, „jedenfalls, als du zurück in die Welt deiner Erinnerungen gekehrt bist, hast du Zorc – und mich, denn Zorc und ich, wir waren zu der Zeit miteinander verschmolzen – durch die Magie deines Namens endgültig vernichtet.“ Atem sah nachdenklich aus. „Im Text hieß der letzte Satz: ‚Dieser alles verschlingende Schatten kann nur zerstört werden durch den Namen des Pharaos.‘ War das damit gemeint?“ „Das wäre naheliegend.“ „Aber das alles ist für uns beide noch nicht passiert. Es liegt noch in unserer Zukunft. Wie kommt es dann, dass Zorc plötzlich wieder hier in dieser Zeit auftaucht?“ „Vielleicht“, mutmaßte Bakura, „findet er immer wieder einen Weg im Raum-Zeit-Kontinuum, sich zu manifestieren und Chaos über diese Welt zu bringen. So wie ein böses Prinzip.“ Der Pharao nickte bedächtig.
 

„Aber etwas anderes beschäftigt mich“, lenkte Bakura ein, „wenn dein Name der einzige Weg ist, Zorc zu zerstören, wie es auch geschehen ist, bevor diese Ereignisse die Zeitlinie verändert haben – dann haben wir hier nicht die geringste Chance gegen ihn.“ „Wieso nicht?“, wollte Atem wissen, „ich bin doch hier. Und ich weiß meinen Namen.“ „Das ist es ja gerade!“, sagte Bakura ungeduldig, „Du bist hier. In dieser Zeit hat unser altägyptische Namenmagie gar keine Wirkung. Hier haben Namen nicht dieselbe Bedeutung wie damals. Und abgesehen davon weißt du doch deinen Namen noch. Also wie kann er dann dieselbe magische Wirkung entfalten? Außerdem haben wir hier weder Exodia noch die drei ägyptischen Götter noch sonst irgendwelche echten Kreaturen, die dir damals geholfen haben, gegen ihn zu bestehen. Wie sollen wir da gegen ihn ankommen?“ „Willst du damit etwa sagen …“, fragte Atem leise, „die einzige Möglichkeit ihn zu besiegen ist in unserer Zeit?“
 

***

Uyeda legte auf. Er hatte es nicht mehr alleine mit seinen Gedanken ausgehalten und hatte deshalb seinen Bruder Toya angerufen. Dieser war aus allen Wolken gefallen, als er erfahren hatte, in was für eine Sache Uyeda da hineingeraten war. Bisher hatte sein kleinerer Bruder ihm nur gesagt, dass er eine Art Stipendium von Industrial Illusions für seine Ausbildung bekommen hatte, für das er ab und zu auch den Arbeitsplatz wechseln musste. „Aber – warum hast du denn nicht schon eher mit mir darüber gesprochen?“, fragte Toya perplex . „Ich … es war mir einfach peinlich. Ich hatte Angst, dass du mich verurteilst und mir sagst, wie dumm und naiv ich war“, gab Uyeda leise zu.
 

„Uyeda, du bist mein Bruder. Sowas würde ich dir doch nie sagen! Okay … wir müssen einfach zusehen, dass wir dich aus der Sache wieder rausbekommen. Es ist doch alles halb so wild. Es ist noch nicht zu spät. Versuch einfach, den Schaden wiedergutzumachen, den du angerichtet hast. Danach kommst du zu mir und wohnst so lange bei mir, bis du nen neuen Job gefunden hast. Lass dich von dem kranken Typen nicht einschüchtern! Der kann unmöglich so viel Einfluss haben! Es gibt auch noch Arbeitgeber, die sich ein eigenes Bild von den Bewerbern machen!“
 

„Okay“, Uyeda wischte sich einige Tränen weg, wie salzig auf seinen Wangen brannten, „du hast Recht. Danke, Toya. Ich versuche, so schnell wie möglich nach Tokyo zu kommen. Aber vorher muss ich noch was erledigen.“ Er legte auf. Dann ballte sich seine Faust entschlossen um den kleinen Schlüssel in seiner Hand, den er noch immer bei sich hatte. Er atmete tief ein und aus. Dann verließ er sein Zimmer und schritt die Treppe hinunter, bis er vor der geheimen Tür stand. Er holte den Schlüssel hervor und wollte gerade aufschließen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. „Na, was haben wir denn da?“, sagte Pegasus sanfte Stimme leise, aber bedrohlich, „das hier war aber nicht Teil unserer Abmachung. Du hattest doch nicht etwa vor, sie zu brechen?“ Uyeda machte einen Schritt rückwärts. „Du hast da etwas, das mir gehört“, sagte der Burgherr mit stoischer Ruhe, „gib mir jetzt den Schlüssel zurück.“
 

„Nein!“, stieß Uyeda hervor, obwohl sein Herz wie verrückt gegen seine Brust schlug. „Ich denke, ich habe mich verhört.“ „Nein, haben Sie nicht! Ich habe genug von Ihrem Spiel! Und ich will auch nicht mehr für Sie arbeiten. Es ist mir auch vollkommen egal, was die Konsequenzen sind! Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe hier einiges, was ich geradebiegen muss!“ Erneut schritt er zur Tür und steckte hastig den Schlüssel ins Schloss. „Atem! Bakura! Schnell, ihr müsst sofort fliehen! Ich öffne jetzt die Tür!“, wollte er die beiden Gefangenen warnen. Doch er kam nicht mehr dazu, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Kaum hatte der Ausruf seine Lippen verlassen, packte ihn Croquet, Pegasus rechte Hand und Leibwächter, bog seinen Arm nach hinten und zerrte ihn unsanft von der Tür weg. Uyeda strampelte und wehrte sich mit Händen und Füßen, aber Croquet legte eine erstaunliche Muskelkraft an den Tag.
 

Inzwischen war Pegasus seelenruhig zu ihm getreten, hatte ihm den Schlüssel entwendet und öffnete nun seinerseits die kleine Tür. „Ich bin ja kein Unmensch. Ich denke, es wird dich freuen, dass du deine kleinen Freunde schneller wiedersehen wirst als erwartet“, lächelte er, „Croquet, darf ich bitten?“ Der treue Angestellte gab Uyeda einen kräftigen Stoß und dieser wäre beinahe die Treppe hinabgestürzt, als ihm nichts anderes übrigblieb, als in den dunklen Keller zu stolpern. Die Tür hinter ihm flog laut ins Schloss und sofort hörte er erneut das Drehen des Schlüssels. Dem Sanitäter sank das Herz. Würde er Toya jemals wieder sehen? Würde er jemals diese Insel verlassen können?
 

***

„In unserer Zeit, ja … das ist gut möglich“, sagte Bakura und strich sich nachdenklich übers Kinn, „das könnte bedeuten, wir sind nicht nur hierhergebracht worden, um uns an den Text auf dem Papyrus zu erinnern, sondern auch …“ „… sondern auch, um Zorc zurück in unsere Zeit zu bringen?“, beendete Atem vorsichtig und fragend den Satz. Doch kaum hatte er ausgesprochen, horchte er auf. „Hast du das gehört?“, fragte er und erhob sich. „Nein, was denn?“ „Ich dachte da hätte jemand gerufen … war wohl nur Einbildung.“ Bakura seufzte, denn just in diesem Moment flackerte die kleine Kerze ein letztes Mal auf und erlosch dann. Sie war heruntergebrannt und es war wieder stockfinster. „Ich mag es ja dunkel, aber so langsam werde ich hier drin wahnsinnig. Ich hoffe, dass dein Loverboy bald seine grauen Zellen anstrengt, nachdem du ja nicht auf diesem Sprechkästchen erreichbar bist, und herkommt, um dich zu suchen." Beim Gedanken an Seto wurde Atem erneut beklommen zu Mute. Noch wusste er nicht sicher, was der Text auf der Schriftrolle zu bedeuten hatte, aber er ahnte nichts Gutes.
 

Mit einem Mal ließ ein mächtiges Gepolter die beiden alten Seelen erneut aufschrecken. Alarmiert richteten sie sich auf und machten sich auf alles gefasst, als im nächsten Augenblick auch schon Uyeda direkt vor ihre Füße stolperte. Atem und Bakura blinzelten ihn verwundert an und er sah beschämt zurück.
 

***

Am Himmel tobte der reinste Orkan. Joey saß kreidebleich auf seinem Sitz, seine Brechtüte fest in der Hand für den Fall, dass er sie brauchen sollte. „Ich halt das nicht aus“, brabbelte er immer wieder vor sich hin. Yugi hatte Kaibas Gesicht noch nie so angespannt gesehen. Zwar zeigte es keine Regung, doch man sah ihm den Ernst der Situation nur zu gut an. Das Flugzeug der KaibaCorporation wurde hoch- und niedergeworfen und schien nur mehr ein Spielball der Lüfte zu sein. Immer wieder verspürten sie ein starkes Ziehen im Bauch. „Können wir noch umkehren?“, fragte Téa zaghaft. „Das hat keinen Zweck“, sagte Seto, der sich gerade mit dem Piloten besprochen hatte, „wir sind schon zu weit. In welche Richtung wir fliegen ist jetzt egal.“ Fast in der Hälfte ihrer Strecke war der Wind heftiger geworden und die Turbulenzen hatten begonnen.
 

„Mein Pilot ist erfahren“, sprach Seto den anderen und vielleicht auch sich selbst Mut zu, „der macht das schon. Das Problem ist, dass wir sicher gut 50 Knoten Seitenwind haben. Und das wird nicht einfach, wenn wir tiefer gehen und vor allem wenn wir landen. Stellt euch also drauf ein, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht.“ Joey wurde grün im Gesicht und schnappte nach Luft, bevor er vorsichtshalber die Nase in seine Tüte steckte.
 

Seto sollte Recht behalten. Als das Flugzeug tiefer ging, hatten sie den Eindruck, sie würden nur so durch die Luft gewirbelt. „Hat der Pilot noch die Kontrolle?“, rief Tristan besorgt. „Ja!“, versicherte Mokuba ihm, „wir müssen jetzt versuchen, gegen den Wind zu landen.“ Téa, Yugi und Ryou bevorzugten es, einfach die Augen zu schließen, bis alles vorbei war – egal, wie es ausgehen würde. Nach einem quälend langen Sinkflug setzte das Fluggerät endlich unsanft auf dem Boden am Fuße von Pegasus‘ Burg auf. Téa atmete auf. „Ich fliege nie wieder!“, verkündete sie, ein paar Tränen der Erleichterung in den Augen. „Wolltest du nicht nach New York?“, hakte Tristan vorsichtig nach. Téa war nicht die einzige, der die Tränen in den Augen standen., auch Tristan und Ryou hatte alles ziemlich zugesetzt. Yugi war blass, aber sehr still. Und als sie schließlich an die frische Luft traten, verschwand Joey schnurstracks, um seinen flauen Magen zu erleichtern.
 

„Gute Arbeit“, sagte Seto zu seinem Piloten. Auch er war sichtlich erleichtert, dass er nicht die Verantwortung für ein verunglücktes Flugzeug tragen musste. „Ja, wirklich ein Meisterstück!“, lobte ihn auch Mokuba. „Also gut, Leute“, knurrte Joey, der gerade wieder zur Gruppe stieß, „dann lasst uns mal auf Burg Pegasus Ordnung schaffen!“


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

XXIII


 

XXIII

„Uyeda“, stellte Atem sachlich fest, als der Sanitäter förmlich vor seinen Füßen landete. „Ist das nicht ironisch?“, bemerkte Bakura kühl, „erst ein Wärter, jetzt selbst ein Gefangener.“ „Ja, ich weiß selbst nur zu gut, dass ich nicht richtig gehandelt hab! Du kannst also ruhig aufhören, darauf rumzureiten!“, schnappte Uyeda etwas gekränkt. Atem blickte ihn nachdenklich an. „Du hattest keine Wahl, hab ich Recht?“ „Woher weißt du das?“, verblüfft hob der Angestellte den Kopf. „Naja, sagen wir einfach: Ich kenne das Gefühl sehr gut.“
 

„Ja, so war es. Pegasus hat mich zu diesen Sachen gezwungen und mich erpresst. Ich wollte mich aber jetzt endlich gegen ihn durchsetzen und euch befreien – tja, das ging scheinbar nach hinten los. Tut mir echt leid. Ich wünschte, ich hätte früher mehr Durchblick und vor allem mehr Mut gehabt. Ich versteh, wenn ihr mir das nicht so einfach verzeiht.“ „Spielt jetzt auch keine Rolle mehr“, bemerkte Bakura, „hilf uns lieber künftig bei dem, was wir tun müssen.“ „Und was ist das?“, wollte Uyeda wissen. „Tja, so genau wissen wir das selbst noch nicht. In erster Linie müssen wir aber hier aus. Hast du zufällig so ein Tele-dingsda dabei?“ „Das hat Pegasus mit natürlich abgenommen“, entgegnete Uyeda geknickt. „So ein Mist, sieht so aus, als könnten wir nur noch auf Seto hoffen“, seufzte Atem resigniert.
 

***

Dieser befand sich zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zur Burg. Immer wieder hatte er während des Flugs versucht, Atems Smartphone anzurufen, doch es blieb tot. Dieser Umstand beunruhigte ihn mehr, als er zugeben wollte.
 

Mit großem Gepolter und Getöse hämmerte die Gruppe schließlich an das Tor. „Pegasus, mach auf, du Halunke!“, brüllte Joey theatralisch. Um die Gruppe herum tobte der Wind so laut, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstanden. „Zigfried scheint schon hier zu sein“, bemerkte Ryou und zeigte auf ein Flugzeug der Schroeder-Corporation, das ebenfalls bereits vor der Burg stand. Noch während Joey auf das Tor einschlug, als ginge es um sein Leben, öffnete sich dieses ganz plötzlich. Dahinter stand Croquet und bat sie mit einer dezenten Geste herein. Alle warfen sich argwöhnische Blicke zu. Doch sie hatten keine andere Wahl, als ihm zu folgen, wenn sie Atem und Bakura finden wollten. Wortlos führte der Angestellte sie in den großen Salon, wo sie noch vorgestern ihre erste Krisensitzung abgehalten hatten.
 

„Hallo, meine Freunde!“, begrüßte sie nun auch Pegasus mit einer wesentlich ausladenderen Geste, während er hinter der großen Tafel hervortrat „ihr seid ja schnell wieder zurückgekehrt. Hat es euch bei mir so gut gefallen oder was verschafft mir diese Ehre?“ „Tu nicht so scheinheilig!“, zischte Seto ihm zu, „Spar die ein einziges Mal deine schwülstigen Reden und lass uns zur Sache kommen! Wir wissen, dass du Zigfried gelinkt hast. Du hattest die Schriftrolle die ganze Zeit über bei dir, sie war nie verschwunden! Also, warum wolltest du verhindern, dass wir sie bekommen und das Ergebnis des Rituals rückgängig machen?“ Pegasus schloss die Augen und lachte leise und erhaben. „Nun gut, jedes Katz- und Mausspiel hat ein Ende. Ich habe euch ziemlich an der Nase herumgeführt und wie meine geliebten Toons habe ich euch eine spaßige Jagd beschert, das müsst ihr schon zugeben. Aber nun ist wohl der Moment der Wahrheit gekommen. Du hast Recht mit dem, was du sagst, Kaiba-Boy. Und wie ich feststellen musste, hat sich nun sogar der sonst so handzahme von Schroeder gegen mich verschworen. Das hat mir so gar nicht gefallen.“ Bei diesen Worten brachte Croquet Zigfried und Leon herbei, die beide an den Armen gefesselt waren. „Passt bloß auf, Pegasus schreckt vor nichts zurück!“, rief Leon ihnen zu, während er sich in seiner Schlinge wand.
 

„Sag uns jetzt sofort, wo Atem ist!“, verlangte Seto von Pegasus zu wissen. „Oh, wo der kleine Pharao sich aufhält, weiß ich leider nicht. Ich dachte, er wäre längst wieder bei euch“, Pegasus zuckte ahnungslos mit den Schultern, „er ist bereits vor Stunden fluchtartig abgereist.“ „Du miese Schlange lügst doch schon wieder!“, blaffte Joey ihn an, „das kann unmöglich sein!“ „Denkt, was ihr wollt“, sagte Pegasus leichthin, „wenn ihr so sehr davon überzeugt seid, dass ich etwas mit eurem antiken Freund angestellt habe, dann sagt mir ruhig, wo ich ihn versteckt halte. Nur zu!“
 

Yugi wandte sich Kaiba zu. „Es nützt nichts, sich weiter mit ihm herumzuärgern. Lass uns ihn einfach suchen!“ „Nicht nötig“, entgegnete Seto kühl und holte seinen Laptop hervor, „Pegasus, du magst zwar ein genialer Kopf sein, aber technisch warst du noch nie besonders versiert. Ich kann Atems Smartphone auch orten, wenn es nicht eingeschaltet ist. Natürlich habe ich mich abgesichert, bevor ich hier abgereist bin, und die entsprechende Software darauf installiert. So konnte ich bereits auf dem Flug hierher sehen, dass sich das Gerät noch immer hier in der Burg befindet. Nun wollen wir doch mal rausfinden, wo genau es uns hinführt.“ Pegasus seufzte. „Richtig. Uyeda, dieser Amateur hat natürlich vergessen, ihm das Ding wegzunehmen, als er sich um die beiden gekümmert hat. Was erwartet man auch von solch unfähigem Personal, das einem in den Rücken fällt? Aber sei’s drum! Das ist nun ohnehin alles bedeutungslos!“ „Was meint er damit?“, fragte Tristan an die Gruppe gewandt.
 

Von einem auf den anderen Moment brach Pegasus in schallendes Gelächter aus. Er warf den Kopf in den Nacken und schien in einen Zustand der boshaften Ekstase zu versinken. Dann sah er die Gruppe wieder an und in seinen sonst so warmen, rotbraunen Augen leuchtete nun etwas äußerst Bedrohliches. Etwas Fremdes, das nicht zu ihm zu gehören schien. „Ich meine damit, dass es bereits zu spät ist. Der große Schatten ist längst eingetroffen und hat genug Kraft aus den düsteren Gedanken der Menschen gezogen, um sich zu manifestieren. Denkt ihr allen Ernstes, eure erbärmlichen, niedlichen Bemühungen, ihn aufzuhalten, könnten irgendwas bewirken?“ „Sie haben etwas bewirkt, ob du es glaubst oder nicht!“, spie nun Yugi mit bebender Stimme aus. „Vielleicht temporär. Aber was denkt ihr passiert, wenn es keine Plattform mehr für euren kleinen cleveren Hypnose-Hokuspokus gibt?“, sagte Pegasus nun vollkommen ruhig. „Er spricht in Rätseln“, Joey kratzte sich verwirrt am Kopf.
 

„Die Gegenwart, die Vergangenheit, die Zukunft – all das ist bedeutungslos in der alles verschlingenden Dunkelheit! Wo nur noch Schatten ist, ist kein Platz mehr für etwas anderes!“ Seto starrte fassungslos auf seinen Laptop, auf dem er gerade das Programm geöffnet hatte, um den Standort von Atems Smartphone einzusehen. Mit einem Mal flackerte das Bild auf dem Monitor und wurde blasser und blasser. Und nicht nur das. Auch die Tastatur des Computers fühlte sich … brüchig an, porös, die Buchstaben darauf tanzten unstet vor Setos Augen. Er biss die Zähne zusammen. „Verdammt!“, fluchte er und rüttelte ungeduldig an dem Gerät, doch der Bildschirm war bereits pechschwarz und leblos.
 

„Ich schätze, ich weiß, was er meint!“, knurrte er, „Alles scheint zu verschwinden! Alle technischen Errungenschaften dieser Zeit! Vielleicht alles, was unsere Gegenwart ausmacht!“ Auch Tristan und Téa zogen ihre Handys aus den Taschen. Auch sie flackerten eine Zeit lang, bis sie sich schließlich einfach aufzulösen schienen. „Das ist ja total abgefahren!“, rief Mokuba schockiert, „das bedeutet ja, unsere schöne Hypnose kann jetzt nicht mehr gesendet werden. Die Menschen sind wieder vollkommen der Dunkelheit ausgeliefert! Und … wie soll überhaupt unsere Firma weiterlaufen, wenn wir keine Technik mehr haben, Seto?“ Wieder lachte Pegasus auf. „Ihr werdet größere Probleme haben als eure niedliche Firma. Seht nur dort, dieses wunderschöne, faszinierende Schauspiel!“ Er deutete überschwänglich in Richtung Fenster. Alle wandten den Blick zu der großen Glasfront –
 

Und allen stockte der Atem. Der Anblick, der sich ihnen draußen bot, jagte ihnen eine Gänsehaut über den Rücken. Von allen Seiten kroch eine dunkle Masse, ein wabernder Schatten, näher und näher auf die Burg zu. Die hohe Treppe, die zum Eingang hinaufführte, war bereits fast gänzlich in Finsternis gehüllt. Pegasus Domizil war einer Insel gleich, die von einer düsteren Flut überschwemmt wurde. Das Schwarz des Himmels war nicht mehr von dem auf der Erde zu unterscheiden. Schlichtweg alles versank in Dunkelheit.
 

Téa ließ ein ersticktes Geräusch vernehmen. Sonst getraute sich niemand etwas zu sagen. Es gab keine Worte für die Ausweglosigkeit, die sich ihnen plötzlich bot. Dabei hatten sie doch nur den Pharao einsammeln und wieder verschwinden wollen. Und nun – sollten sie hier ihr einsames Ende finden? In der Gewalt eines Irren und in einem alles verschlingenden Schatten?
 

***

„Was ist denn nun los?“, sagte Atem und starrte alarmiert auf das kleine Gerät, das ihm Seto zum gegeben hatte, um Kontakt mit ihm zu halten. Es schien sich in seiner Hand aufzulösen, all seine Partikel schienen instabil und zuckten in unregelmäßigen Abständen. „Ich habe den Eindruck, hier geht etwas ganz Mieses vor“, entgegnete Bakura ernst, „ich glaube, Zorc ist bereits übermächtig. Hach, bei der Schnauze von Anubis, wenn wir doch nur wüssten, wie wir hier rauskommen?!“
 

***

„Wie bereits gesagt: Es ist nun endlich soweit“, fuhr Pegasus fort, während er nun begann, im Raum auf und abzuschreiten, „nun, da alles so glatt gelaufen ist, da ein Zahnrad ins andere gegriffen hat, steht der endlosen Dunkelheit nichts mehr im Wege. Ich bin vor 3000 Jahren entstanden, doch das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn jetzt bin ich ewig. Kausalität, Chronologie, das alles gibt es nun nicht mehr.“ „Moment mal“, sagte Yugi, „was meinst du denn mit ‚ich‘? Was hast du mit der ganzen Sache zu tun, Pegasus?“
 

„Hast du es denn noch nicht bemerkt?“, fragte der Burgherr völlig gelassen, „Pegasus war nur mein Lakai, in dessen Händen es lag, dass mein Aufstieg reibungslos funktioniert, und der euch daran gehindert hat, das Ritual wieder rückgängig zu machen, bevor ich meine volle Kraft erlangt habe. Er hatte die nötige List dazu und hat alles darangesetzt, meinem Befehl Folge zu leisten. Er war ‚derjenige, der dem Tod ins Auge geblickt hat und dann erblindet ist‘. Aber sein Part in diesem Stück ist nun vorbei. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Nachdem das letzte Wort verklungen war, begann Pegasus augenblicklich auf seinen Füßen zu schwanken und seine Augenlider flatterten. Er taumelte nach vorn und fiel schließlich einfach vornüber auf den Boden. „Mr. Pegasus!“, rief Croquet schockiert und kniete neben seinem Arbeitgeber. „Er hat Puls, das ist gut“, murmelte er, mehr zu sich selbst.
 

Im nächsten Augenblick begann sich ihr Gastgeber auch bereits zu regen. Erschöpft hob er den Kopf und blinzelte orientierungslos in den Raum. „Was … was war denn? Was ist los? Was … macht ihr alle hier? Gibt es denn etwas zu feiern?“ Die Gruppe warf sich untereinander ratlose Blicke zu. „Pegasus, was ist das nun wieder für ein neuer Trick! Hör endlich auf mit deinen Spielchen, wir sind es alle überdrüssig!“, knurrte Zigfried. Pegasus Blick schweifte zu ihm und Leon hinüber. „Wer … hat dich denn gefesselt, kleiner Schroeder?“, wollte er erschrocken wissen. „Begreift ihr das?“, fragte Ryou an die anderen gewandt. Es war Yugi, der ihm zuerst antwortete. „Ich glaube fast … Pegasus wurde einer Gehirnwäsche unterzogen. Das, was er getan hat, das war nicht wirklich er. Er stand unter dem Einfluss von jemand anderem.“
 

„Genau richtig“, ertönte nun eine dunkle, zischende Stimme. Sie schien überall und nirgendwo herzukommen und alle sahen sich suchend im Raum um, „er stand unter meinem Einfluss, war meine Marionette.“ Yugi nickte. „Ich wusste doch, dass Pegasus nicht derart widerlich und skrupellos ist. Und wer? Wer bist du? Los, sag schon!“ Nun lachte die Stimme ein kehliges, kaltes Lachen. „Weißt du es denn nicht längst?“ Yugis Miene verfinsterte sich und er nickte kaum merklich. „Du bist Zorc.“ Wieder ein Lachen. „Korrekt.“
 

Der Rest der Gruppe blickte die kleinere Version des Pharaos schockiert an. „Zorc? Aber … wie kann das sein. Wir haben ihn doch in den Erinnerungen des Pharaos endgültig geschlagen!“ „Ich weiß es nicht“, gab Yugi zu, „aber diese starke dunkle Energie habe ich damals auch gespürt. Es gibt keinen Zweifel.“ „Ist … das der Grund, weshalb der Pharao wieder hergebracht worden ist?“, wollte nun Téa wissen. „Vielleicht, unter anderem“, Yugi zuckte mit den Schultern.
 

„Heißt das“, kam es nun verunsichert aus Pegasus Richtung. Der Burgherr saß noch immer auf den Knien auf dem Fußboden. „Heißt das denn, dass ich für all das hier verantwortlich bin? Dafür, dass Zorc wieder erwacht ist?“ Er war sehr blass und besah sich seine zitternden Hände. Die anderen blickten betroffen zu ihm herab. „Mach dir keine Vorwürfe“, sagte Yugi, „Ryou und ich wissen am besten, wie es ist, von einer dunklen Macht kontrolliert zu werden und die eigenen Handlungen nicht steuern zu können.“ Ryou nickte. „An was erinnerst du dich denn?“, wollte Joey neugierig wissen. „Naja …“, Pegasus zog die Brauen zusammen und schien zu überlegen, „ich weiß noch, dass ich nach altägyptischen Mythen und Legenden recherchiert habe, um neue Karten zu entwerfen. Dabei bin ich schließlich auf das Ritual der Schatten gestoßen. Oder nein … ich bin eigentlich nicht direkt darauf gestoßen. Es hat sich mir mehr … förmlich aufgedrängt.“
 

***Pegasus' Geschichte***

Für Maximilian Pegasus war Ägypten mittlerweile eine Art Rückzugsort geworden. Seit er seinerzeit dorthin gefahren war, um seine Trauer über den Tod seiner Frau zu bewältigen, zog es ihn wieder und wieder hierher. Das Geheimnis der Götterkarten hatte es ihm nicht ohne Grund angetan. Es waren alle die vergessenen Zauber und Legenden der antiken Hochkultur, die ihn in ihren Bann zogen. Noch heute erinnerte er sich an den kühlen Luftzug, den er verspürt hatte, als ihn Shadi gewährt hatte, zum Geheimnis der drei mächtigsten Kreaturen, der drei ägyptischen Gottwesen, vorzudringen. Ein Luftzug, der ein Echo vergangener Zeiten und zugleich ein Wink aus der Zukunft war.
 

Nachdem er die Wandzeichnungen der drei Götter fotografiert hatte, wollte er sich bereits abwenden, als ein anderes Bildnis seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Fasziniert trat er näher heran, wurde wie an Fäden dorthin gezogen. Das Wandbild zeigte eine Kreatur, die von vollkommenem Schwarz war. Mit ihren langen, gefährlich wirkenden Armen umfing sie ein winziges Abbild von Ras Sonnenbarke, die die strahlende Sonne aufgeladen hatte – ein Sinnbild für alles Licht. „Und … was genau ist das?“, fragte Pegasus und seine brüchige Stimme hallte in dem unterirdischen Raum. „Das“, sagte Shadi, „ist nichts, über das du dir den Kopf zerbrechen solltest. Es ist eine uralte Geschichte, die es immer gab und die sich immer auf die ein oder andere Weise wiederholt.“
 

Pegasus konnte sich keinen Reim auf die Worte des Ägypters machen, deshalb vergaß er sie rasch wieder. Ohnehin waren all seine Gedanken und sein Streben auf die drei Götterwesen gerichtet. Und eine innere Unruhe hatte ihn befallen, die ihn erst verließ, als er diese drei Kreaturen auf Leinwand und schließlich in Karten gebannt hatte. Danach hatte das das Gefühl, ein unbeständiger Geist, eine Art Dämon habe ihn verlassen. Aber diese tiefe innere Erschöpfung und Ruhe währte nicht ewig.
 

Eines Nachts erwachte er, weil er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Benommen setzte er sich im Bett auf. „Du bist derjenige, der dem Tod ins Auge geblickt hat und erblindet ist“, sagte eine unmenschliche Stimme, die mehr in seinem Kopf war als dass er sie im Raum lokalisieren konnte, „du hast gesehen, was war und was sein wird. Und nun wirst du mir helfen, dass es wieder geschieht.“ Die Worte erfüllten Pegasus mit Schrecken und er konnte sich nicht erinnern, wann er sich in seinem Leben zum letzten Mal so sehr gefürchtet hatte. Nie hatte etwas in ihm eine solche Angst ausgelöst wie diese so kryptische Aussage.
 

Erst jetzt, nachdem alles vorüber war, begriff er, was die Stimme damals gemeint hatte. Dass ihr Urheber von einem immerwährenden Streben ergriffen war, dass sich die Ereignisse zu Pharao Atems Regentschaft wieder und wieder abspielten, egal auf welche Art und Weise und in welcher Zeit. Und schon vor 3000 Jahren war er, Pegasus, dazu bestimmt, dies zu gewährleisten.
 

Als er am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich nicht an die Ereignisse dieser Nacht. Seine Angst war einem unbändigen Tatendrang gewichen. Scheinbar zufällig, so schien es ihm, erinnerte er sich just an diesem Tag an das Wandbild mit der Schattenkreatur. Und ebenso zufällig hatte er gerade keine anderen Inspirationen für neue Karten. Und so begann er, darüber zu recherchieren und erfuhr vom Ritual der Schatten. Er reiste abermals nach Ägypten und ließ sich nur zu gerne entführen in diese neue, faszinierende Legende.
 

Natürlich hatte er Atem und Seto bei ihrem ersten Besuch in der Burg nicht die Wahrheit gesagt. Natürlich war die Schrift nicht von ungefähr aus dem Museum gestohlen worden. Nachdem Pegasus erfahren hatte, dass sie sich dort befand, überkam ihn eine abgrundtiefe Gier. Er musste wissen, was in der Schrift geschrieben stand, musste sie einfach besitzen! Deshalb aktivierte er all seine Kontakte zum Untergrund und ließ die Rolle aus dem Museum stehlen. Uyeda engagierte er als Mittelsmann. Er sollte ihm auch später noch von Nutzen sein, damit er sich selbst die Finger nicht schmutzig machen musste. Um die Spur dieser brisanten Artefakte zu seiner eigenen Person zu verwischen, sollte Zigfried von Schroeder sie für ihn auf dem Schwarzmarkt beschaffen, ahnungslos darüber, dass die Händler, die ihm einen fairen Preis dafür machten, diejenigen waren, die Pegasus selbst mit dem Diebstahl beauftragt hatte. Schließlich kaufte Pegasus die Schrift von Zigfried. Nachdem er nun das ganze Geheimnis kannte, erging es ihm wie zuvor mit den Götterkarten. Ein Wahn befiel ihn, der erst endete, als die beiden Karten erschaffen und auf Leinwand gebannt waren.
 

Doch tief in seinem Inneren war ihm bereits bewusst, dass er etwas kreiert hatte, das er nicht kontrollieren konnte. Deshalb stoppte er auch hier wieder die Produktion nach den Prototypen. Es war die letzte Entscheidung, die er traf, bevor sein eigenes Bewusstsein vollends der Dunkelheit erlag. Was danach kam, war für ihn wie ein tiefer, finsterer Schlummer.
 

Von diesem Moment an war jede Faser seines Körpers auf das Glücken des Rituals ausgerichtet, wartete er Tag ein, Tag aus auf den richtigen Augenblick, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen. Doch wann dieser langersehnte Moment kommen sollte, das war ihm selbst schleierhaft.
 

Ins Wanken kam er lediglich, als er eines Morgens feststellen musste, dass die beiden Karten, die für die Vollendung des Rituals nötig waren, spurlos verschwunden waren. Er empfand eine tiefgreifende Unruhe, da er nicht wusste, ob und wann sie zu ihm zurückkehren würden. Doch als Atem und Seto schließlich in der Burg auftauchten, mit den beiden Karten im Gepäck, da spürte er mehr als dass er wusste, dass nun endlich das Warten nun ein Ende hatte.
 

Ein höherer Wille hatte die Karten dem Pharao in die Hände gespielt, hatte dafür gesorgt, dass er sie vollkommen unwissend in dem Kartenstapel aufgefunden hatte, den Seto ihm gegeben hatte. Dass sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn gezogen hatten. Und dass Seto Pegasus als erste Anlaufstelle in den Sinn gekommen war. Dass sie letztlich zusammen mit den Karten genau zu dem Ort gereist waren, an dem ein höheres Prinzip sie haben wollte. Dieses mächtige Prinzip schien zu wollen, dass Atem erneut Zeuge von Zorcs Geburt wurde. Ihrer beider Schicksale waren so stark miteinander verwoben, dass es sie stets zum selben Punkt in Zeit und Raum zog. Die Fäden, die zwischen ihren Leben gespannt waren, wurden straffgezogen und trafen sich an einem Schnittpunkt. In dem Augenblick, als Pegasus das Ritual ausführte. Die enorme Energie, die freigesetzt wurde, als Atem losgestürmt war, um dies zu verhindern, und auf Zorcs Präsenz prallte, traf ihn als heftiger Stoß.
 

Und nun, da Pegasus Aufgabe erfüllt war, da Zorcs Aufstieg vollbracht war und es für ihn nichts mehr zu tun gab, verließ ihn dieser dunkle Wille. Nun war er wieder Herr seiner eigenen Gedanken. Alleine in der Stille seiner Gedanken. Und das Gewesene verblasste und war nichts weiter als ein auf die Leinwand seiner Erinnerung gebannte Bilder.
 

***

„Hach, verdammt!“, machte nun auch Seto seinem Frust Luft, „aber wo zur Hölle ist denn Atem nun?“ Mit dem Fuß trat er seinen Laptop quer durch den Raum. Ausgerechnet jetzt erinnerte er sich ironischerweise an den Vormittag, als der Pharao ihn danach gefragt hatte, wie ein Monitor funktionierte. Als er ihm erklärt hatte, dass das Bild darauf durch Licht erzeugt werde. Nun war das alles hinfällig. Der Bildschirm war schwarz, ihre Worte verklungen. Die wenigen Worte, die sie miteinander hatten wechseln dürfen. War das alles überhaupt jemals passiert? Er starrte auf den toten Computer, der nun vor seinen Augen blasser wurde und schließlich nicht mehr war als ein grauer Schleier auf dem Fußboden, der ebenfalls zu Nichts wurde. Die von ihm sonst so hochgeschätzte Technik war für ihn nutzlos geworden. Er fühlte sich ohne sie blind, ohne Orientierung in der Dunkelheit, und er wusste nicht, wie er hier weiterkommen sollte. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er überhaupt in diese Situation gekommen war.
 

Alles, was er gewollt hatte – seit sehr, sehr langer Zeit – war, den Pharao zurückzuholen. Auch wenn er nie wirklich gewusst hatte, warum. Auch wenn er es vielleicht noch immer nicht wusste. Und trotzdem hatte er ihn kennenlernen dürfen. Und etwas in seinem Inneren war geschmolzen. Oder in Bewegung gesetzt worden. Doch nun war es wieder stillgelegt und erkaltet. Nun war seine gesamte Welt aus den Angeln gehoben. Vielleicht würden sie das Ganze hier auch nicht überleben und all seine Bedenken bezüglich Atems Rückkehr waren bedeutungslos geworden. Im Grunde war ihm alles gleich. Alles, was er jetzt noch wollte, war Atem zu finden. Ihn noch einmal zu sehen, ihn zu berühren.
 

„Es wird jetzt Zeit“, sagte die bedrohliche Stimme, „auch ihr sollt nun in dem Schatten versinken, der ich bin. Das, was mir zur vollkommenen Macht verhilft, befindet sich hier im Raum.“ „Was heißt das nun wi …“ In diesem Augenblick stieß Ryou einen markerschütternden Schrei aus. Er warf den Kopf in den Nacken und ballte die Hände zu Fäusten. Auf seiner Brust leuchtete der Milleniumsring auf und dessen Kegel schlugen wild aus. „Was macht der Ring denn hier?“, fragte Tristan bang, der seit seiner Begegnung mit dem Gegenstand im Königreich der Duellanten höllischen Respekt davor hatte.
 

„Der Ring gehört zu mir, deshalb ist er zu mir zurückgekommen“, zischte Zorc. Ryou sank auf die Knie und hielt sich seinen dröhnenden Kopf. Schließlich erlosch das Leuchten und der Milleniumsgegenstand schien wieder so leblos wie zuvor. Vorsichtig nahm Ryou die Hände von den Ohren. „Was passiert jetzt?“, fragte er mit bebender Stimme. Er wünschte sich insgeheim, der Ring wäre nicht zu ihm, sondern zu Bakura gekommen. Er begriff nicht, was er noch damit zu schaffen hatte. Er hatte das Ding nie gewollt. Er hatte sich nie stark genug gefühlt, um ihm standzuhalten. Wenn er doch nur wüsste, wo sich Bakura befand …
 

„Hey!“, plötzlich jedoch durchzuckte ihn ein Geistesblitz, „Leute, nun, da der Ring schon einmal hier ist: Warum verwenden wir ihn nicht, um Bakura und den Pharao zu finden!“ Noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, hielt er das Artefakt vor seine Brust und schloss konzentriert die Augen. Sofort leuchtete einer der Kegel auf und pendelte sich auf eine Richtung ein. Ryou stürmte los und die anderen, nach einem perplexen Moment des Erstaunens, setzten ihm nach. Unter der großen Treppe zum Obergeschoß blieb Ryou stehen. „Hier schlägt der Kegel aus wie verrückt“, informierte er die anderen.
 

Mit einem Mal war das Inneres des Kellers in helles Licht getaucht. Das Milleniumspuzzle um Atems Hals erstrahlte und blendete ihre Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten. „Was geht denn nun ab?“, fragte Uyeda ängstlich, „ich versteh gar nichts mehr. Was … in was seid ihr da nur verwickelt? Wer seid ihr bloß?“
 

„Da sind Rillen in der Wand“, stellte Seto fest, „ich schätze, wir haben es hier mit der Tür zu tun, von der Atem mir erzählt hat. Bakura hat Pegasus dabei beobachtet, wie er nachts in einen geheimen Kellerraum gegangen ist.“ „Also hat Pegasus, dieser Fiesling, die beiden da eingesperrt? … Äh, nichts für ungut“, wiegelte Joey ab, als der Burgherr, von Croquet gestützt, ebenfalls die Gruppe erreichte. „Gibt es dafür einen Schlüssel?“, fragte Seto ihn ungeduldig in rauem Ton. „Natürlich“, entgegnete Pegasus überfordert, „dieser Raum ist überhaupt nicht geheim. Ich nutze ihn, um meine Bilder zu lagern. Hier ist der Schlüssel, ich habe ihn immer bei mir.“ Grob entriss Seto den Schlüssel aus Pegasus Hand und steckte ihn in das Schlüsselloch.
 

„Die Tür“, horchte Uyeda auf, „da ist jemand an der Tür!“ Alle drei stürmten sie die Treppe hinauf. Atems Blick wurde warm und weich, als die Tür sich öffnete und er an ihrem Ende Seto erblickte. Erschöpft und erleichtert stürzte er auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Setos Muskeln entspannten sich etwas und er legte seine Arme fest um den Pharao. Endlich zu wissen, wo er sich befand und dass er wohlauf war, machte ihn viel ruhiger, auch wenn ihre Lage noch immer aussichtslos schien. Plötzlich wurde ihm klar, dass er außer um seinen kleinen Bruder schon lange nicht mehr solche Angst um einen anderen Menschen verspürt hatte. Das alles war so neu für ihn und dennoch war er froh, dass es passierte, bevor jetzt alles endete. „Ra sei Dank!“, flüsterte Atem „Ich hatte ehrlichgesagt Angst, dass ich dich nicht mehr zu Gesicht bekomme“, gestand Seto, „Noch beschissener, als dass du wieder zurückmusst, wäre es gewesen, wenn ich mich nicht einmal von dir hätte verabschieden können.“ Atem zog ihn wortlos zu sich herab und küsste ihn. Dann legte er beide Hände an seine Wangen und lächelte ihn glücklich an. Beide versanken im Blick des anderen und für einen Moment schien die Bedrohung um sie herum vergessen.


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

XXIV


 

XXIV

„Wie schmalzig“, sagte Bakura und schritt an Atem und Seto vorbei, die noch immer eng umschlungen dastanden. Sein Blick blieb an Ryou hängen, der noch immer dastand, den Ring in der Hand. „Hast du uns hier aufgespürt?“, wollte er amüsiert wissen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, „alle Achtung. Hätt ich dir gar nicht zugetraut.“ „Ich mir auch nicht“, gab Ryou offen zu. „Nicht übel, diese dunkle Energie, die dadrin pulsiert“, fuhr Bakura fort, während er die Kraft des Ringes förmlich in seinen eigenen Fingerspitzen vibrieren spürte, „und das hast du unter Kontrolle gebracht? Respekt, Kleiner.“ Nun lächelte Ryou leicht. „Du wirkst – verändert“, bemerkte er dann, „hat es vielleicht was damit zu tun, was ich dir am Abend vor unserer Abreise gesagt hab?“ „Ach, red nicht so nen Stuss!“, raunzte der Dieb angesäuert.
 

Joey löste derweil Zigfrieds und Leons Fesseln. Auch Uyeda trat nun hinter Atemu aus dem Keller und zeigte sich irritiert darüber, dass es draußen nicht wesentlich heller war als dort unten. „Huch, was ist denn hier nur los? Ich verstehe jetzt gar nichts mehr.“ „Du bist da leider in eine ziemlich üble Sache reingeraten“, erklärte ihm Téa freundlich, „passiert uns ständig. Zumindest seit wir mit Yugi befreundet sind.“ Yugi warf ihr einen amüsierten Blick zu, wenn das in dieser Situation überhaupt möglich war. „Tut mir ja leid“, sagte er.
 

Atem und Seto traten nun zu den anderen, noch immer hatte Seto den Arm um den Pharao gelegt. „Vielen Dank, dass ihr so viel auf euch genommen habt, um uns zu helfen“, sagte Atem höflich. „Naja, um ehrlich zu sein wollten wir dir helfen, dem Schreckgespenst da nicht so sehr“, lachte Joey. Der Pharao und Bakura tauschten amüsierte Blicke. „Bakura hat den entscheidenden Teil dazu beigetragen, den Text auf der zweiten Schriftrolle zurückzuholen“, erklärte der ehemalige Herrscher, „ich schulde ihm großen Dank.“ Wer nun genau hinsah, konnte eine leichte Röte auf das Gesicht des Grabräubers treten sehen. „Hör schon auf! Es wird immer schwülstiger!“, beschwerte er sich ruppig.
 

„Atem, wir haben es mit Zorc zu tun. Leider hat er schon ziemlich viel Energie gesammelt“, informierte Yugi den Pharao knapp. Dieser nickte bedrückt. „Ich weiß es bereits. Aber dass es schon so aussichtslos ist, hätte ich nicht gedacht!“ Setos Griff um Atems Taille verstärkte sich. Egal, was nun mit ihnen passieren würde, er würde ihm sicher nicht noch einmal von der Seite weichen. Auch wenn er nicht viel ausrichten konnte und er ahnte, dass seine DuelDisc hier nutzlos war – dieser Zorc hatte es schon einmal mit ihm zu tun bekommen, und er würde auch dieses Mal wieder alles tun, was ihn seiner begrenzten Macht stand.
 

„Genug jetzt!“, erschallte nun die dröhnende Stimme Zorcs, „ich habe euch erlaubt, den Pharao zu befreien, da er meinen Untergang mit eigenen Augen sehen soll! Außerdem kann er mich nun durch nichts mehr daran hindern, die Grenzen meiner Macht zu sprengen. Es wird Zeit, die Quelle und den Ursprung meiner Kraft zu nutzen.“ Noch bevor sich die Gruppe fragen konnte, was damit gemeint war, erstrahlte der Milleniumsring wieder und Ryou krümmte sich erneut vor Schmerzen. Eine Energie pulsierte durch seinen gesamten Körper, die ihm die Luft raubte und seine Glieder lähmte. Auch das Puzzle reagierte und leuchtete auf. Der Pharao legte verwundert eine Hand darum.
 

„Was passiert hier mit mir? Was … willst du von mir?“, wimmerte Ryou verzweifelt, „was habe ich mit alldem zu tun? Der Ring gehört mir längst nicht mehr!“ Ein erneutes über alles erhabenes Lachen ertönte und ging ihnen allen durch Mark und Bein. „Du hast dich bereits vorher als brauchbares Gefäß für mich erwiesen. Zwar hattest du neben meinem eigenen auch noch einen anderen Geist inne, mit dem ich verschmolzen war. Dennoch hoffe ich, dass du stark genug bist, nun auch meine Energie in Reinform zu beherbergen.“ Ryou wurde blass und der blanke Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben.
 

„Nein“, bat er mit schwacher Stimme, „ich will das nicht, bitte. Nicht schon wieder.“ „Ryou, du kannst dem Stand halten!“, rief Yugi ihm mit entschlossener Miene zu, „du musst ihm nicht nachgeben. Lass ihn nicht deinen Körper übernehmen!“ Zorc lachte grollend. „Ihr Narren! Glaubt ihr etwa, ihr könntet mir auch nur eine Sekunde widerstehen? Was seid ihr für einfältige Wesen!“
 

„Genug jetzt!“, ging plötzlich Bakura dazwischen und trat vor Ryou, „Ryou wird nicht dein Wirt sein.“ „Ach nein? Und wie kommst du darauf, du kleine Made?“, fragte Zorcs Stimme. „Weil ich es sein werde! Diese Ehre gebührt allein mir!“, erwiderte der Grabräuber entschlossen. „An dir bin ich nicht interessiert. Du solltest etwas demütiger sein.“ Ohne Zorc zu beachten, wandte Bakura sich an Ryou. „Ryou, gib mir jetzt sofort den Ring.“ Der Angesprochene blickte ihn unschlüssig an. „Es ist in Ordnung, wirklich. Lass ihn jetzt einfach los. Du musst es nicht tun.“ „Aber … aber du …“ „Gib ihn her, wird’s bald?!“ Nun duldete Bakuras Ton keine Widerrede und Ryou nickte schließlich und zog den Milleniumsgegenstand über seinen Kopf. Er streckte die Hand aus, um ihn seinem zukünftigen Alter Ego zu reichen.
 

„NEIN!“, grollte Zorc unvermittelt und eine schwarz-pulsierende Energiewelle schoss durch die Fensterscheibe auf Bakura zu. Das Glas zersplitterte in tausend Scherben und der Energiestoß schwappte als Druckwelle in den Raum. Wie ein schwarzer Pfeil raste Zorcs konzentrierte dunkle Energie auf Bakura zu. Dieser ballte die Hände zu Fäusten, in grimmiger Erwartung dessen, was kommen würde, doch da wurde er im letzten Moment grob zur Seite gestoßen. Alle hielten die Luft an. Eine schwarze Wolke umhüllte die Gruppe für einen Augenblick.
 

Als sie sich wieder lichtete, stand Ryou dort, wo zuvor Bakura gestanden hatte. Er hielt sich auf wackligen Beinen und kämpfte mit dem Bewusstsein. Zorcs Angriff hatte ihn direkt getroffen. Für einen kurzen Augenblick wankte er hin und her, dann fiel er bewusstlos zu Boden wie ein nasser Sack. „Das war ein Fehler“, knurrte Bakura bedrohlich. „Wie schade, da habe ich mir doch tatsächlich meine Hülle beschädigt. Naja, was solls“, bemerkte Zorc.
 

„Ryou!“, Yugi war sofort bei seinem Freund und blickte besorgt auf ihn herab. Auch Uyeda kniete sich neben Ryou und fühlte routiniert seinen Puls. „Schwach“, sagte er alarmiert, „ich muss ihn sofort ins Krankenzimmer bringen. Jemand muss mir helfen, ihn zu tragen!“ „Das mache ich!“, meldete sich nun Zigfried zu Wort. Uyeda nickte und jeder von ihnen hängte sich einen Arm über die Schulter. „Los, hier lang!“, dirigierte Uyeda den eleganten Firmenchef die Treppe hinauf, „schnell, bevor dieses Ungeheuer wieder angreift!“
 

***

„Was geht hier nur vor?“, fragte Zigfried, während sie Ryou keuchend durch die Gänge schleppten. „Ich hab nicht den geringsten Schimmer“, gab Uyeda zu, „aber ich weiß, dass ich Atem helfen will. Ich habe einige Dinge wiedergutzumachen, auf die ich nicht stolz bin!“ Er stieß die Tür zum Krankenflügel auf und zusammen hievten sie Ryou auf eine Liege. „Tja, das habe ich ebenfalls, Herr Sanitäter“, gestand Zigfried, „deshalb bin ich froh, wenn ich helfen kann.“ „Das musst du vielleicht auch, denn außer uns ist heute niemand im Dienst“, sagte Uyeda, während er sich die Hände desinfizierte. Er sah Zigfried nachdenklich an, während er eine Braunüle vorbereitete. „Sag bloß, du bist auch auf Pegasus reingefallen?“ Zigfried senkte den Kopf. „Ja, und wie. Leider war ich zu sehr von mir eingenommen, um zu sehen, was hier abgeht.“ „Hätte ich von einer starken Persönlichkeit wie dir gar nicht gedacht“, gestand der Sanitäter, „ich muss ihm jetzt Infusionen geben“, erklärte er dann. Zigfried sah im interessiert, aber etwas unbehaglich zu.
 

„Hol mir doch mal ein nasses Tuch“, wies Uyeda ihn an, der bemerkte, dass der CEO sich nutzlos vorkam und nicht so recht wohlfühlte. Als dieser mit dem Gewünschten zurückkehrte, nahm er es ihm ab. „Altes Hausmittelchen“, zwinkerte der Sanitäter und legte es auf Ryous Stirn. „Ich hätte ja gesagt, pass auf seine Haare auf – aber er hat ohnehin keine ordentliche Frisur“, bemerkte Zigfried. Uyeda lachte etwas gequält. „Da kenne ich mich leider auch wenig aus – auch wenn es im Haus von jemandem wie Pegasus, wo so stilsichere Personen wie du ein- und ausgehen, fast unmöglich sein sollte, schlecht gestylt zu sein. Ich bin da wohl die Ausnahme.“ Zigfried blickte ihn erstaunt an. „Das sehe ich aber ganz anders, Herr Sanitäter“, wandte er entschieden, aber etwas zaghaft und gehemmt ein, „ich finde deinen Stil echt stark. Klassisch, aber ziemlich gut.“ „Ehrlich?“, Uyeda wurde leicht rot, „ich dachte, ich wäre in dieser Hinsicht echt einfallslos. „Ja, definitiv!“, nickte Zigfried, „an der Redensart ist wohl was dran: Attraktive Menschen können durch wenig entstellt werden. Außerdem mag ich den wenig auffälligen Typ ohnehin am liebsten. Neben zu schillernden Personen würde meine Extravaganz nämlich nur untergehen.“ „Jetzt werde ich aber wirklich rot“, lächelte Uyeda. Die beiden sahen sich verlegen an.
 

In diesem Augenblick begann Ryou, sich zu regen. Seine Augenlider zuckten und er schlug die Augen auf. Nur widerwillig wandten ihm Uyeda und Zigfried ihre Blicke wieder zu. „Wie schön, dass er wach ist!“, atmete Uyeda auf.
 

***

Im Salon blickten derweil alle erwartungsvoll und bang auf Bakura, der sich mittlerweile wieder aufgerichtete hatte, den Milleniumsring in der Hand. „Ich bin es“, sagte er erneut zu Zorc, „ich bin dein Wirt. Na los, tu, was du nicht lassen kannst! Ich steh dir zur Verfügung!“ Mit herausfordernd funkelnden Augen blickte er in die Schwärze draußen. Einen anderen Weg sah er nicht, mit dem körperlosen Wesen zu interagieren. Atem trat mit zusammengezogenen Augenbrauen zu ihm. „Was hast du vor?“, fragte er skeptisch, „ist das dein Ernst? Willst du wirklich … Zorc in dir aufnehmen?“ Bakura nickte entschlossen. „Darauf könnt Ihr wetten, Euer Begriffsstutzigkeit.“ Fassungslos machte der Pharao zwei Schritte zurück. „Das … kannst du nicht wirklich wollen … “, sagte er mit matter Stimme, „Also … also war alles doch … doch nur ein großer Schwindel.“ Der Grabräuber antwortete ihm nicht, sondern blickte ihm nur fest in die Augen.
 

„Also hattest du die ganze Zeit über vor, Zorc zu einem Körper zu verhelfen?“, fragte Atem noch einmal, „und ich hatte geglaubt, dass … was hier passiert ist, dass das etwas geändert hat. Sollte ich schon wieder so dumm gewesen sein, darauf reinzufallen?“ Eine schwache Hoffnung glitzerte in den offenen Augen des Pharaos, aber Seto trat zu ihm und wischte mit seinen Worten diesen letzten Schimmer weg. „Lass ihn zufrieden“, knurrte er, wobei er Bakura mit seinem eisigsten Blick ansah, „er wird sich nie ändern. Und im Grunde hast du es doch auch immer gewusst.“
 

Atems Schultern sackten zusammen und er wandte sich grimmig von dem Menschen ab, in dem er sich nun zum zweiten Mal so heftig getäuscht hatte, zu dem er in den letzten Stunden geglaubt hatte, irgendeine Art von Verbindung zu spüren. Der ihm dort unten im Keller Mut gemacht hatte.
 

„Genug geschwafelt!“, erklang nun wieder Bakuras kalte Stimme, „was ist nun, Zorc? Willst du mich nun als Wirt oder nicht?!“ „So sei es denn!“, erklang nun die dröhnende Stimme, „du wirst mein Gefäß, ungeachtet dessen, dass du mich bereits ein Mal enttäuscht und meine Vernichtung nicht verhindert hast.“ „Nein!“, schrie jetzt unvermittelt Yugi und preschte nach vorn. „Ich werde das nicht zulassen! Nicht, nachdem wir alle bereits so viel durchgestanden haben! Du wirst diese Welt nicht in Dunkelheit versinken lassen!“ In seiner Verzweiflung stürzte er sich auf Bakura und griff nach dem Milleniumsring um seinen Hals.
 

Kaum hatte er den Gegenstand berührt, da warf ihn ein dunkler Energiestoß, der aus dem Ring kam, auch bereits wieder zurück und schleuderte ihn quer durch den Raum. Er prallte gegen die Wand und blieb reglos auf dem Fußboden liegen. „Yugi!“, rief Joey und hechtete sofort zu seinem besten Freund. Dieser hob erschöpft den Kopf. Von seiner Schläfe rann Blut. „Scheiße, du hast da ne böse Platzwunde!“ „Ich bin okay“, versicherte Atems Ebenbild. „Begreift das endlich“, sagte Bakura, „ihr kommt nicht gegen Zorc an, egal, was ihr mit bloßer Kraft oder starkem Willen auch versucht!“
 

Plötzlich zog ein mächtiger Wind auf und umwehte lediglich Bakuras Körper. Seine Haare wurden ihm wild um den Kopf gejagt und der Ring zuckte ekstatisch in alle Richtungen. Bakura biss die Zähne aufeinander und es sah so aus, als würde es um sie herum noch etwas düsterer, wenn das überhaupt möglich war. „Was passiert hier?“, rief Tristan ängstlich. „Zorc verschafft sich Zutritt zu Bakuras Körper!“, erklärte Téa besorgt. Dann senkte sich ein riesiger schwarzer Schatten auf den Grabräuber nieder. Als er Kontakt mit Bakuras Brust hatte, schien sein kompletter Körper schwarz zu glühen. Seine Hände und Beine begannen, unkontrolliert zu zucken. Doch so schnell, wie es gekommen war, war auch das vorbei.
 

Erneut kehrte Stille ein. Keiner der Anwesenden getraute sich, etwas zu sagen oder auch nur einen Laut von sich zu geben. Noch immer waren Bakuras Augen geschlossen, er schnaufte leicht. Schließlich begann er sich zu regen und seine Augen öffneten sich langsam. Wie in Trance schritt er geradewegs auf Atem zu. „Das könnte dir so passen!“, knurrte Seto und schob den Pharao hinter sich. Der ehemalige Herrscher wich verunsichert etwas zurück, aber erneut leuchtete der Ring auf und Bakura fegte Seto einfach mit einem Schwung seiner Hand zur Seite.
 

Als Atem sich wieder gefasst hatte, hatte der Grabräuber ihm bereits eine Hand auf die Schulter gelegt. Er beugte sich nah zu seinem Ohr, dann sagte er: „Erinnere dich daran, was in der Schrift stand. Du bist doch ein cleverer Kopf, ich weiß, dass du das hinbekommst.“ Dann sah er ihm erneut fest in die Augen. Plötzlich zeigte sich eine Regung in Atems Zügen. Seine Augen hellten sich auf und ein Ruck ging durch seinen Körper. „Du bist nicht Zorc“, stellte er fest. „Noch nicht“, nickte Bakura, „noch habe ich ihn in meinem Kopf unter Kontrolle. Aber das kann sich jede Sekunde ändern.“ „Also habe ich mich doch nicht in dir getäuscht!“, stieß Atem erleichtert hervor. „Zumindest nicht heute!“, sagte der Dieb ungeduldig, „jetzt denk nach! Was stand in der Schrift?“
 

Nun begann es in Atem zu arbeiten. „Im Text stand, dass wir Zorc nur mit der Magie meines Namens vernichten können.“ „Richtig“, bestätigte Bakura, „und was haben wir vorhin besprochen, wie das zu bewerkstelligen ist?“ „Nur, indem wir Zorc zurück in unsere Zeit bringen“, wiederholte der Pharao tonlos ihre Erkenntnisse von vor einigen Stunden. „Wieder korrekt. Und genau das werde ich auch tun! Ich habe mich vorhin daran erinnert, dass da auch etwas anderes stand. Etwas von einem goldenen Ring, weißt du noch?“ „Ja, das stimmt“, fiel es Atem ein, „und du denkst, damit ist der Milleniumsring gemeint.“ „Ich habe jetzt Gewissheit: Mit der Hilfe des Ringes kann ich Zorc zurückbringen und dafür sorgen, dass die Ereignisse wieder ihren geregelten Gang gehen!“, erklärte er verbissen, bevor seine Worte ihn einem Ächzen untergingen. Er krallte seine Hand in sein Hemd und sah gequält aus. „Zorc versucht bereits aggressiv, sich in meinem Kopf auszubreiten“, keuchte er, „aber ich lasse das nicht zu, bis ich wieder zurück bin!“ Atems Blick, der zuvor noch skeptisch und kritisch gewesen war, wurde nun seltsam weich und klar. Dann suchte er Bakuras Blick und beide nickten sich kaum merklich zu. „Ich verstehe“, sagte der Pharao, „dann lass es uns tun.“
 

„Moment mal!“, erhob nun Seto jetzt seine Stimme, und wer genau hinhörte, konnte wahrnehmen, wie sie vor Aufregung bebte, „was soll das heißen? Was … was passiert hier grade? Erklärt mir das mal jemand?“ Atem drehte sich langsam zu ihm um, doch getraute sich nicht, ihn anzusehen. „Bakura und ich haben dort unten im Keller den Text auf der Schriftrolle entschlüsselt“, erklärte er mit leiser Stimme, „darin steht, dass wir Zorc nur zur Strecke bringen können, wie wir es schon einmal getan haben – oder wie wir es noch tun werden, wie man’s nimmt. Wir müssen diese Zeitlinie also wieder in die ursprüngliche überführen.“ Alle starrten die beiden fassungslos an. „Das ist also der Grund, wieso du noch einmal hierhergeschickt wurdest“, stellte Yugi fest. „Das glauben wir zumindest“, nickte der Pharao, „Bakura und ich sind die einzigen, die die Schrift gesehen haben. Wir sind hier, um gemeinsam den Text aus unserer Erinnerung zurückzubefördern – und letztlich, um Zorc wieder dahin zurückzubringen, wo er hergekommen ist und wo wir eine Chance gegen ihn haben.“
 

„Sekunde“, meldete sich nun Seto wieder zu Wort, „aber … wenn Bakura geht, wieso musst du es dann ebenfalls?“ Seine Gedanken schlugen wild nach allen Seiten aus. Wäre er bei klarem Verstand gewesen, hätte er die Tatsachen unumstößlich vor sich gesehen, doch jetzt gerade war alles wirr. Nun brachte Atem endlich die Kraft auf, ihn anzusehen. Stumm und mit schuldbewusstem Blick schüttelte er den Kopf. „Nur ich kann Zorc in meiner eigenen Zeit aufhalten. Mit der Magie meines Namens und der aller Milleniumsgegenstände.“ Eine Weile schwiegen sie alle. „Seto“, setzte Atem dann wieder an, „es … es tut mir leid.“
 

„Bullshit!“, platzte es aus Seto heraus, „so ein Blödsinn! Wenn es dir wirklich leidtun würde, wenn dir etwas daran liegen würde, zu bleiben, dann würdest du nicht …“ Er brach ab und ging ein paar Schritte auf Abstand, wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über die Stirn, obwohl er nicht wusste, weshalb. Atem näherte sich ihm vorsichtig. „Auch wenn du es jetzt nicht sehen willst“, sagte er ruhig, „es ist nicht, wie du denkst. Es fällt mir nichts schwerer. Es schmerzt nichts mehr, als dass unsere Wege sich hier trennen müssen.“ „So ein Quatsch!“, zischte der Chef der KaibaCorporation, „du hängst doch viel zu sehr an deinem alten Leben! An diesem Amt, an deinem Palast, an deinem komischen Hohepriester!“ Er war außer sich vor Zorn und Verzweiflung und wusste nicht mehr, was er überhaupt sagte. Atem schien das zu spüren und blieb ganz ruhig. Doch unerwartet meldete sich nun Bakura zu Wort.
 

„Nun mach mal nen Punkt, du aufgeblasener Windbeutel!“, knurrte er Seto bedrohlich an, „wir haben jetzt alle genug von deinem Selbstmitleid gehört! Der einzige Grund, warum Atem geht, ist, weil er spürt, dass er es muss! Das ist auch der Grund, weshalb ich euch Witzfiguren überhaupt helfe, obwohl ich‘s mir nicht erklären kann! Deshalb weiß ich, wovon ich spreche! Aber das einzige, woran du dabei denkst, bist du selbst! Statt ‚ich, ich, ich‘ zu schreien wie ein Kleinkind, solltest du lieber mal kapieren, dass Atem derjenige ist, der alles aufgibt, damit du und alle anderen hier weiterleben können!“
 

Nun schwieg Seto und blickte ihn fassungslos und verstört an. Heiße Scham breitete sich in ihm aus und er senkte betreten den Kopf. Wie hatte er sich so vergessen können? Sein Ärger und das Unverständnis wichen nun einer Ausweglosigkeit und Traurigkeit. Mitten in dieses Gefühl trat Atem, der sich ihm nun erneut näherte, seine Hand ausstreckte und Setos Wange damit umrahmte. Seto wusste nicht, ob er überhaupt etwas spürte oder einfach nur taub war für diese Berührung.
 

„Ich habe einen Fehler gemacht“, gestand der Pharao bedrückt, „ich hätte vorher wissen müssen, wie das hier endet. Ich hätte diese Sache mit uns von Anfang an vermeiden sollen.“ Der Größere sah ihn jetzt betroffen an. „Das meinst du doch nicht etwa im Ernst, oder? Wenn du das wirklich als Fehler betrachtest, dann sollte ich es vielleicht auch tun. Denn ich bedauere keine Sekunde, was zwischen uns war. Egal, wie beschissen es letztlich auch ausgeht. Und es das einzige, was es besser gemacht hätte, wäre gewesen, wenn es dir da genauso gegangen wäre.“ Atem seufzte und es klang fast erleichtert. „Ich bin wirklich froh, dass du das sagst“, gestand er, „natürlich empfinde ich das genauso wie du! Ich dachte nur, dass es dir vielleicht lieber gewesen wäre, wenn das alles nie passiert wäre.“ Nun trat Seto auf ihn zu und zog ihn fest an sich.
 

Atem vergrub sein Gesicht in seinem Mantel und Seto strich durch sein Haar, über seinen Rücken. „Aber muss es denn wirklich sofort sein? Haben wir nicht wenigstens noch ein bisschen Zeit? “, fragte er dann, obwohl er die Antwort bereits kannte. Der Pharao schüttelte stumm den Kopf gegen seine Brust. Dann hob er den Blick und Setos Finger glitten über seine Stirn. Er beugte sich zu ihm hinab und berührte mit seinen Lippen federleicht die des Pharaos. „Vielleicht habe ich es immer schon geahnt“, seufzte er.
 

„Sagst du mir nun endlich, weshalb du mich in Wirklichkeit so unbedingt zurückholen wolltest?“, fragte Atem mit belegter Stimme. „Ich denke“, sagte der Firmenchef nachdenklich, „um nach Strich und Faden aus meiner üblichen Bahn geworfen zu werden. Um etwas erleben zu dürfen, das mir etwas bedeutet, auch wenn es nur einen Wimpernschlag gedauert hat … und natürlich um die Entdeckung zu machen, wie ich für dich fühle. Um rauszufinden, dass ich dich liebe.“ Er sagte es so nüchtern und selbstverständlich, dass niemand im Raum daran zweifelte. Atem nickte nur und zog Seto noch einmal zu sich, sodass seine Stirn die Setos berührte. Stumm perlten Tränen an seinen Wangen hinab. „Ich bin froh, dass du mir das noch gesagt hast, bevor ich gehe. Und dass ich dir noch sagen kann, dass ich dasselbe empfinde. Ich freue mich schon sehr darauf, dich wiederzusehen, dich wirklich kennenzulernen.“
 

Schmerz lag in Setos Blick, aber er sagte lediglich: „Das stimmt, du wirst mich wiedersehen, das ist richtig. Mein jüngeres Ich. Aber für mich ist das ein geringer Trost … Für mich war es das von heute an. Das ist für mich ein endgültiger Abschied.“ Atem nickte bekümmert. Dann drückte er Seto ein letztes Mal an sich. „Tut mir leid ... dass du nicht mehr deine Revanche in Duel Monsters bekommen hast.“ „Revanche?!“, entrüstete sich der Firmenchef, „du hast noch nicht mal gegen mich gewonnen!“ Atem schmunzelte verschmitzt, bevor er sich abwandte. Es war alles gesagt.
 

Die Gruppe hatte dem zweisamen Moment unbehaglich und stumm beigewohnt. Atem wandte sich ihnen nun wieder zu und blickte sein kleineres Ebenbild an. „Vielen Dank auch dir, Yugi. Für alles“, sagte er offen, „ich freue mich auch darauf, dich in ein paar Monaten endlich richtig kennenlernen zu dürfen.“ Yugi nickte dankbar und lächelte. „Ich wünsche dir Glück, Atem.“
 

Schließlich trat der Pharao wieder an Bakuras Seite. „Wie wollen wir das nun bewerkstelligen? Wie kommen wir zurück in unsere Zeit?“ Bakura schnaubte. „Ich schätze, wir müssen einfach darauf vertrauen, dass uns diese Reise ermöglicht wird. Dass irgendetwas dafür sorgt, dass alles wieder ins Gleichgewicht kommt.“ „In Ordnung“, gab der Pharao zu verstehen. Der Grabräuber legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Komm“, sagte er, zwar ohne eine Regung in der Stimme, aber Atem gab es dennoch den nötigen Mut, dem entgegenzusehen, was getan werden musste. In tiefem Vertrauen schlossen beide die Augen. Plötzlich umfing den Raum, ja, die ganze Burg ein gleißendes Licht, so hell, dass alle ihre Augen mit den Armen bedeckten. Atem stand vollkommen ruhig da und spürte in sich hinein.
 

***

In dem Augenblick, als das blendende Licht den Salon einhüllte, traten Ryou, Zigfried und Uyeda ein. Ryou wirkte noch immer schwach und wurde von den anderen beiden gestützt. Als die Augen aller sich etwas an die Helligkeit gewöhnt hatten, blieb Bakuras Blick an ihm hängen und Ryous Mund öffnete sich in stummem Erstaunen. Kaum sichtbar nickte Bakura ihm zu. Ryou lächelte zurück. „Halt die Ohren steif, Kleiner“, sagte der zukünftige Geist des Ringes. Wir seh’n uns noch!“
 

Dann fühlten sich Bakuras und Atems Körper plötzlich sehr leicht an. Die drückende Atmosphäre von Zorcs dunkler Zeitlosigkeit schien von ihnen genommen, obwohl die Bedrohung, die nun im Milleniumsring schlummerte, noch immer latent war. Beide fühlten sich emporgehoben, fortgetragen. Atem ergriff Bakuras Arm, um ihn nicht in dem schwerelosen Wirbel zu verlieren. Dann schwand er in eine schwindelnde Bewusstlosigkeit.


 


 


 


 


 


 


 


 

Epilog


 

Epilog

Der Pharao schlug die Augen auf. Alles, was ihn nun umgab, erschien ihm unwirklich, obwohl es ihm schmerzlich vertraut war. Die Wüste, der Palast, dessen Schemen aus der Ferne am Horizont zu sehen waren – das alles wirkte viel intensiver auf ihn als das neuzeitliche Domino, er fügte sich hier besser ein. Und dennoch war es jetzt wie ein Traum, den er einmal geträumt hatte.
 

Als er aufblickte, schob sich eine Hand in sein Blickfeld. Es war Bakura, der sie ihm hinhielt und ihm auf die Beine half. Sie blickten sich an. „Wie geht es nun weiter?“, fragte der Pharao etwas hilflos. Seine großen, müden Augen blickten den Dieb traurig an. „Na, du gehst zurück dorthin“, er zeigte in Richtung von Atems Residenz, „zurück in dein altes Leben.“ „Und du?“, hakte der Pharao mit gepresster Stimme nach. „Ich tue dasselbe“, entgegnete der König der Diebe und legte eine Hand an den Milleniumsring, „naja, nicht ganz, versteht sich. Wohl eher in mein neues Leben.“
 

„Ich schätze, dann sehen wir uns wieder“, stellte Atem fest. Bakura nickte. „Richtig, nur unter ganz anderen Umständen.“ Eine einsame Träne suchte sich ihren Weg über Atems Wange. „Kannst du denn nicht dagegen ankämpfen? Bitte lass nicht zu, dass ich dich irgendwann bekämpfen muss! Lass … mich nicht alleine.“ Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Im Grunde wusste er bereits, dass es sinnlos war. Er konnte nicht gegen das ankommen, was nun einmal durch ein höheres Prinzip vorherbestimmt war. Deshalb war er ja schließlich auch so bereitwillig zurückgegangen.
 

„Du machst das schon“, sagte Bakura aufmunternd, „alles wird gutgehen, du wirst sehen.“ Atem wusste, dass dem nicht so war. Dass der Grabräuber dafür über Kurz oder Lang sein Leben lassen musste. „Bakura … danke“, mehr fiel dem Pharao nicht ein. „Kopf hoch, Euer Trübseligkeit!“, mit diesen Worten ließ Bakura den Pharao stehen, dessen Gesicht nun erneut Tränen benetzten. Er sah dem Grabräuber nach, wie er im durch den Sand davonschlenderte und schließlich nur noch als kleine Gestalt am Horizont zu sehen war.
 

Es dauerte lange, bis Atem den Weg zu seinem Domizil antrat. Ja, er war alleine. War es immer gewesen und war es nun wieder. Er ließ sich die letzten Tage durch den Kopf gehen, schwelgte in den wenigen Momenten mit Seto. Alles schien ihm bereits jetzt unwirklich.
 

Als er zu Fuß im Vorhof des Palasts eintraf, eilten sogleich mehrere seiner Leibwächter auf ihn zu. „Pharao!“, rief Seth, der Seto so ähnlichsah und es doch nicht war. Atem musste schmunzeln, wenn er daran dachte, dass er über Seto anfangs dasselbe gedacht hatte – nur umgekehrt. Der Hohepriester schob sich vor die anderen Leibwächter und suchte sofort Blickkontakt mit ihm. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Ihr wart mehrere Stunden fort, ohne jemanden zu sagen, wohin Ihr geht!“, sagte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme. „Stunden? Nur?“, fragte Atem verblüfft. „Was soll das heißen, ‚nur‘!“, fragte nun Shada. „Oh … gar nichts“, winkte der Pharao ab.
 

„Nach dem Vorfall mit Bakura in dieser Pyramide konnten wir nur das Schlimmste befürchten!“, erklärte nun Isis. „Es tut mir leid“, sagte Atem leise, „ich habe wohl die Zeit vergessen. Entschuldigt, wenn ich Euch Sorgen bereitet habe.“ „Pharao, während Eurer Abwesenheit ist etwas geschehen“, ergriff nun Mahad das Wort, „der Milleniumsring ist verschwunden.“ Atem konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Aber Pharao … was ist daran so komisch?“, wollte der ehemalige Besitzer des Gegenstands irritiert wissen. „Ach, gar nichts. Ich bin wohl etwas durcheinander, verzeiht. Das … ist wirklich furchtbar. Ich bin sicher, der Ring taucht wieder auf – früher oder später.“
 

***

Die nächsten Tage vergingen zäh und quälend langsam. Atem fiel es schwer, sich wieder in seinen üblichen Alltag einzuleben. Er dachte oft an Seto und fragte sich, was er wohl gerade tat, ob er bereits einen Punkt hinter die ganze Sache gesetzt hatte. Er verspürte ein nervöses Ziehen im Magen, wenn er daran dachte, dass er ihn eines Tages wiedersehen würde. Zumindest seine jüngere Version, die all diese Erinnerungen, die sie in den letzten Tagen geteilt hatten, noch nicht gesammelt hatte. Würde dieser andere Seto ihn überhaupt wahrnehmen? Würde es schmerzhaft sein, ihn nicht berühren zu können, weil er von alldem noch nichts wusste? Oder würde er ihn vielleicht sogar für sich gewinnen können, wie es dieses Mal auch der Fall gewesen war? Doch der Pharao bezweifelte es. Dieser Seto war sicherlich noch nicht an dem Punkt, um zu begreifen, was seine ältere Version letztlich begriffen hatte. Es schien so, als würde die Zeit gegen sie arbeiten, als gäbe es keinen richtigen Zeitpunkt, zu dem sie beide zusammen Sinn ergaben. Ob hier oder da, ob früher oder später, immer war nur einer von ihnen zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
 

Insgeheim begann er sich zu fragen, ob es möglicherweise doch eine Möglichkeit gegeben hätte, Zorc zu bezwingen, ohne in seine Zeit zurückzukehren. Aber immer, wenn sich ihm diese unangenehme Frage aufdrängte, dachte er daran, dass auch sein Reich letztlich einen Herrscher brauchte. Es brauchte ihn. Er wusste, er hatte Seto enttäuscht. Er hatte sich selbst enttäuscht. Aber so waren nun mal die Gesetze der Welt. Seiner Welt.
 

So vergingen drei Wochen, in denen der Pharao sich von den Ereignissen in Domino abgeschottet und einsam gefühlt hatte. Von Bakura hatte er nichts mehr gehört oder gesehen. Das änderte sich eines Nachts, als Atem ein Geräusch auf seinem Balkon vernahm. Verunsichert richtete er sich in seinem Bett auf. Er war vollkommen allein in seinen Gemächern, Wachen waren lediglich draußen vor der Tür abgestellt. Deshalb hoffte er, es sei nur ein Tier gewesen, was er gehört hatte, oder der Wind. Doch es dauerte keine Minute, da machte er draußen auf dem Balkon eine Silhouette aus. Sein Herz begann wild gegen seine Brust zu schlagen. In diesem Augenblick streckte Bakura den Kopf zu ihm herein. „Wie geht’s denn so?“, fragte er augenzwinkernd.
 

„Hast du mich erschreckt!“, rügte Atem ihn erleichtert, doch noch nicht ganz ohne Skepsis, da er nicht sicher war, ob er es hier tatsächlich mit Bakura zu tun hatte oder bereits mit Zorc. „Du kannst dich entspannen“, sagte der Dieb, „ich bin noch Herr meiner Sinne.“
 

Kurze Zeit später saßen sie gemeinsam auf dem Balkon. Sie waren von vollkommener Stille umhüllt, lediglich der raue Nachtwind heulte ein wenig über die Weite der Wüste. „Wie ist es dir ergangen?“, wollte der Pharao wissen. „Wie man‘s nimmt“, sagte Bakura, „es scheint so zu sein, dass Zorc nicht einfach meinen Körper übernimmt, sondern es ist ein schleichender Prozess. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde sickert ein wenig von seiner Essenz in meinen Geist.“ Atem sah ihn bekümmert an. „Gibt es nichts, das wir tun können, um es aufzuhalten?“, wollte er wissen. Bakura schüttelte entschieden den Kopf. „Hey, es ist in Ordnung. Ich hab mich dafür entschieden, diese Suppe auszulöffeln. Und ich bereue es nicht.“ „Ich denke, du bist der eigentliche Held in dieser Geschichte“, lächelte der Pharao.
 

„Wie sieht es bei dir aus?“, fragte der Grabräuber. Atem zuckte die Schultern. „Gegen deine Probleme sind meine im Grunde nicht der Rede wert. Ich bin ein wenig wehmütig. Und ich fühle mich noch mehr allein als vor unserer Reise in die Zukunft.“ Bakura nickte. „Vielleicht ist das unser Schicksal. Allein zu sein. Als Preis dafür, dass wir dieser Welt ein bisschen Ruhe bringen.“ „Das will ich zumindest glauben“, nickte Atem.
 

In den nächsten Wochen besuchte Bakura Atem öfter in der Nacht und sie redeten lange. Atem hatte das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben, aber dieser kleine Lichtblick wurde fast komplett überschattet, wenn er an Bakuras und sein eigenes Schicksal dachte.
 

Eines Nachts, als Bakura wieder auf Atems Balkon erschien, legte der Pharao den Finger an den Mund, schob den Grabräuber hinaus und bedeutete ihm, leise zu sprechen. „Wieso bist du so nervös?“, Bakura zog eine Augenbraue nach oben. „Ich …“, Atem wandte sich fahrig um, „naja, die Sache ist die … ich bin nicht allein.“ Der Dieb spähte neugierig ins Innere von Atems Gemächern. In dem stattlichen Lager des Pharaos konnte er die schlafende Gestalt des Hohepriesters Seth ausmachen. Amüsiert sah Bakura den Pharao an. „Wie ist es denn dazu gekommen? Ich dachte, er hat dich abblitzen lassen.“ „Naja …“, begann Atem zögerlich.
 

***

Die Sache hatte sich so zugetragen: Eines Abends nach einer Besprechung mit seinen Leibwächtern war er mit Seth allein im Raum zurückgeblieben, während die anderen sich nach und nach zurückgezogen hatten. „Pharao, bitte nehmt Euch noch einen Augenblick Zeit. Ich möchte etwas mit Euch bereden“, machte der Hohepriester sich bemerkbar. „Was gibt es, Seth?“, fragte Atem und rieb sich müde die Schläfen. „Es ist mir nicht entgangen, dass Ihr in letzter Zeit … bedrückt wirkt. Bereitet Euch denn irgendetwas Sorgen?“ Atem wandte sich ihm zu und musterte ihn nachdenklich. „Merkt man mir das denn so sehr an?“, spielte er schließlich mit offenen Karten. „Nun ja … sagen wir mal, MIR ist es aufgefallen“, begann Seth zögerlich, „und es schmerzt mich sehr, Euch so zu sehen.“ „Ihr habt immer ein Auge auf mich. Vielen Dank, Seth. Aber es ist nichts, womit Ihr mir helfen könntet.“
 

Atem spürte, wie es in Seth zu brodeln begann. Statt die Sache auf sich beruhen zu lassen, widersprach er gekränkt: „Woher wollt Ihr das wissen, bevor Ihr mir überhaupt die Chance dazu gebt?! Ich beobachte Euch bereits die letzten Wochen. Und Ihr wirkt von Tag zu Tag zurückgezogener, geknickter. Ich wünschte nur … Ihr würdet mir mehr anvertrauen! Nicht als Euer Untergebener, sondern … als Euer Vertrauter.“ Atem spürte, dass der Priester nicht nachdachte, als er einige beherzte Schritte auf ihn zumachte und seine Hand ergriff. Mit der anderen Hand berührte er sachte Atems Wange. Dieser konnte Seths warmen, gefühlvollen Griff spüren, und seinen Atem, der seine eigenen Augenlider streifte. In Seths Blick lag so viel Fürsorge und Zuneigung, aber auch Schmerz. Ihre Gesichter waren sich nun ganz nah und Seth strich mit dem Daumen über die Lippen des Pharaos. Hitze stieg in Atem auf. War dies etwa der Moment, den er immer heimlich herbeigesehnt hatte? Von dem er gehofft hatte, dass er irgendwann seine Träumereien verlassen und Wirklichkeit werden würde?
 

„Seth“, wandte der Pharao verblüfft ein, „nun verwirrt Ihr mich. Ich bin nach Eurer klaren Ansage davon ausgegangen, dass Ihr keinerlei Interesse an dieser Art von Beziehung zu mir habt.“ Seth zog scharf die Luft ein. „Ich …“, er ließ von Atems Wange ab, senkte den Blick und atmete seufzend aus, „ich muss gestehen, das entsprach nicht der Wahrheit. Als ich das gesagt habe … ich hatte einfach solche Angst. Angst, wo uns das hinführen könnte. Dass wir damit unser gutes berufliches Verhältnis aufs Spiel setzen könnten. Und dass ich mich und vor allem Euch damit in Schwierigkeiten bringe. Aber jetzt … es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, es zu verbergen.“ „Verstehe“, sagte der Pharao leise. Dann schloss er die Augen, „ich muss zugeben, das habe ich nicht kommen sehen.“
 

Es war schön, diese Art von Bestätigung von Seth zu erhalten. Seit der Ablehnung durch ihn hatte er stets das nagende Gefühl gehabt, nicht gut genug zu sein, um diese Art von Nähe erfahren zu dürfen. Aber nun hatte ihm zuerst Setos Zuneigung und nun Seths Geständnis das Gegenteil gezeigt. Es war sicher nicht unangenehm, jemanden an seiner Seite zu haben. Jemanden, dem er schon lange zugetan war. Jemanden, dem er Dinge anvertrauen konnte, bei dem er sich öffnen und er selbst sein konnte. Er musste es wohl einsehen: Seto würde nie wieder dieser jemand sein können. Er war weit weg. Für immer.
 

„Atem, was habt Ihr? Ich habe Euch aufgewühlt. Das war nicht meine Absicht!“, sagte Seth, erschrocken über die einsame Träne, die ihren Weg über die Wange des Herrschers nahm. „Nein, schon gut“, sagte dieser und wischte sie weg, „ich … freue mich. Sehr.“ Dann nahm er Seths Hand und führte sie erneut zu seiner eigenen Wange. Offen lächelte er den Hohepriester an, der ihm nun durchs Haar strich. Dann küssten sie sich. Atem hatte nie so sehr wie in diesem Moment gespürt, dass Seth und Seto vollkommen verschieden waren.
 

***

„Naja“, sagte Bakura, „ich schätze, du hast ein bisschen andauerndes Glück verdient.“ Atem quittierte das mit einem zögerlichen Nicken. „Und etwas Gesellschaft zu haben, ist auch nicht verkehrt“, überlegte der Dieb, „vor allem, da du ja bald nicht mehr in den Genuss der meinen kommst.“ Atems Gesicht wurde nun von Sorge überschattet. „Mal nicht den Teufel an die Wand.“ „Der Teufel ist schon längst an der Wand, Euer Gutgläubigkeit. Klar und deutlich“, Bakura grinste schief, „nun dauert es nicht mehr lange.“
 

Er sollte Recht behalten. Schon bald wurden seine Besuche kürzer, dann seltener. Schließlich blieben sie ganz aus.
 

***

„Um ehrlich zu sein“, sagte Yugi, „ich wünsche mir sehr, du würdest nicht fliegen. Das kann ich nicht abstreiten. Aber … noch viel wichtiger ist mir, dass du dir deinen Traum erfüllen kannst. Ich freu mich so für dich!“ Er lächelte offen und ehrlich und Téa lächelte zurück. Ihr Gesichtsausdruck wurde weich. „Und genau das ist der Grund, warum du mir so ein guter Freund bist, Yugi.“ Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich hoffe, du kommst mich mal besuchen … ihr alle natürlich“, sagte sie, während Yugi rot anlief wie eine Tomate. „Darauf kannst du wetten!“, sagte Joey, obwohl er so gut wie die anderen wusste, wie teuer Flugtickets waren. Sie mussten schon im Lotto gewinnen, um sich das einfach mal so leisten zu können. Trotzdem tat es gut, für den Moment so zu tun, als würde ihre Verbindung nie abreißen.
 

Sie sahen dem Flugzeug vom Gate aus zu, wie es sich in die Lüfte erhob. Danach fuhren sie mit der U-Bahn nach Domino zurück. Yugi war schweigsam geworden, ihm schien die Situation aufs Gemüt zu schlagen. „Hey, Kumpel“, Joey, der es bemerkt hatte, legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter, „wie wär’s mit einem Besuch in Burgerworld? Wie in alten Zeiten! Na, was sagst du?“ Yugi nickte dankbar. „Klar, ich bin dabei.“
 

„Hey, Leute, seht ihr den Friseursalon da drüben?“, machte Tristan die anderen auf ein Geschäft auf der anderen Straßenseite aufmerksam, „schaut mal. Die benutzen jetzt auch das neue System der von Schroeders. Ist ne coole Sache. Ich hab's letztens selbst ausprobiert.“ „Ach ja? Und wie kommt es, dass du immer noch dieselbe lächerliche Frisur hast?“, zog Joey ihn auf. „Hat sich rausgestellt, dass mir nichts anderes steht“, sagte Tristan schulterzuckend, „meine Frisur ist halt mein Markenzeichen!“ „Frisur würde ich diesen Zipfel ja wohl nicht nennen“, frotzelte Joey und die beiden kabbelten sich auf ihre übliche Art freundschaftlich miteinander.
 

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Salons, begleitet von einem melodischen Klingeln, und Zigfried von Schroeder höchstpersönlich trat heraus. „Na, sowas! Hallo Zigfried!“, winkte Ryou ihm freundlich zu. Zigfried lächelte und kam zu ihnen herübergeschlendert. „Was verschlägt dich denn hierher?“, wollte Yugi wissen. „Na, ich muss doch überprüfen, ob mit meinem Equipment auch alles zufriedenstellend funktioniert. Besonders nachdem ich es auch Pegasus schuldig bin, dass sein Geld gut angelegt ist“, sagte der Firmenchef gewichtig. Zigfrieds Produkt hatte letztlich, wie zu erwarten, auch beim echten Pegasus viel Anklang gefunden, und so war er am Ende doch als Sponsor auf den Plan getreten und hatte Zigfried so seinen langgehegten Wunsch erfüllt. „Außerdem hab ich ohnehin einen Termin hier in Domino“, ergänzte der CEO schmunzelnd. „Ach so?“, wunderte sich Tristan, „was verschlägt dich denn in dieses Nest?“
 

Seine Frage wurde ihm auch sogleich beantwortet, als ein junger Mann mit schwarzem Haar sich auf die Gruppe zubewegte. „Hey, Leute, was für ne Überraschung. Lange nicht gesehen!“ „Uyeda!“, sagten alle unison. „Dann ist es wahr, was ich gehört hab“, ereiferte sich Joey, „du hast jetzt nen Job bei Kaiba?“ „Richtig“, lächelte der Sanitäter, „ich bin seit zwei Wochen im medizinischen Team der KaibaCorp angestellt. Ich komme gerade von dort.“ „So ist es“, sagte nun Zigfried stolz, „aber ich verzeihe ihm, dass er jetzt für meinen ärgsten Konkurrenten arbeitet, weil er wegen dieses Jobs nicht nach Tokyo zu seinem Bruder gezogen ist.“ „Aus diesem und aus weiteren Gründen“, lachte Uyeda, trat an Zigfrieds Seite, legte den Arm um ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.
 

„Wie schön! Wir wollten gerade zu Burgerworld. Ihr seid herzlich eingeladen, uns zu begleiten“, lächelte Yugi, „aber ich gehe davon aus, ihr habt bereits andere Pläne.“ „Richtig“, stimmte Zigfried zu, „Burgerworld ist nicht wirklich meine Art von Etablissement. Ich habe uns einen Tisch in einem gehobeneren Restaurant reserviert.“ „Kunststück. Alles ist gehobener als Burgerworld“, grinste Joey und die Gruppe lachte ausgelassen. Und selbst Yugi ließ sich von der Heiterkeit anstecken.
 

***

Jemand anders bekam von der fröhlichen Stimmung auf Dominos Straßen wenig mit. Seto Kaiba saß mit müden und strapazierten Augen in seinem abgedunkelten Büro in der Kaibavilla und stierte auf den Bildschirm vor sich. Das letzte Mal, als er sich so gefühlt hatte, müde und aufgekratzt zugleich, war, als er das Milleniumspuzzle ausfindig gemacht und den Algorithmus entwickelt hatte, um es zu lösen.
 

Es klopfte. Als Seto nicht reagierte, trat Mokuba kurzerhand ein. „Hi Seto, willst du nichts essen?“, fragte er, mit wenig Hoffnung, eine affirmative Antwort zu erhalten. „Später“, murmelte der Firmenchef abwesend. Sein jüngerer Bruder seufzte. „Seto, kann ich dich was fragen?“ Die Worte seines kleinen Bruders sorgten dafür, dass Setos Aufmerksamkeit kurz zu ihm schnellte. Er rieb sich die Stirn, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, registrierte er in diesem Moment, wie erschöpft er war. „Was gibt’s denn?“, fragte er tonlos.
 

„Stürzt du dich in Arbeit, weil du dich davor drückst, dich mit deinen Gefühlen auseinanderzusetzen?“, fragte Mokuba geradeheraus. „Nein“, antwortete Seto einsilbig. „Was ist dann mit dir los?“, bohrte der jüngere Kaiba weiter, „seit Wochen verkriechst du dich hinter deinem Bildschirm. Denkst du nicht, du musst diese Emotionen mal zulassen? Egal, wie schmerzhaft sie auch sind?“ „Nein, denke ich nicht“, sagte Seto erneut sachlich, „und wie ich schon sagte: Das ist nicht der Grund. Der Grund ist, dass ich mich nicht damit abfinden will, wie die Dinge jetzt sind.“ Mokuba seufzte und schenkte Seto einen besorgten Blick. „Seto, bitte versteh mich nicht falsch, aber … du solltest dir nicht ewig etwas vormachen.. Du musst damit aufhören, zu verdrängen, was passiert ist. Das wird nicht mehr lange gutgehen. Es gibt Dinge im Leben, die lassen sich nicht einfach mit ein bisschen Technik beheben.“ „Bisher habe ich noch immer das Gegenteil beweisen können“, widersprach der Ältere.
 

Anfangs hätte Seto die Wände hochgehen können. Er wusste einfach nicht, was er mit diesem Sturm an Gefühlen anfangen sollte, der so plötzlich in ihm losgetreten wurde und dort unbändig tobte. Nie zuvor hatte er so etwas erlebt oder gefühlt. Nachts lag er stundenlang wach und wälzte sich hin und her. Auf der Arbeit war er rastlos, wollte alles auf einmal erledigen und konnte sich kaum auf einzelne Dinge fokussieren. Manchmal war ihm elend zu Mute und er wollte nur dasitzen und Löcher in die Luft starren. Dann überrollten ihn Bilder der letzten Tage und er hätte all sein Leid einfach lauthals herausschreien können. Dann fehlte ihm Atem so sehr, dass er sich schwach und fiebrig fühlte. Ein anderes Mal überkam ihn ein unbändiger Tatendrang. Viele Wochen hatte er nicht gewusst, was er damit anfangen, wo er diesen Aktionismus hinlenken sollte.
 

Er hatte sich so sehr gewünscht, dass Atem aus alldem gelernt hatte, dass er sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen würde. Dass er begriffen hatte, dass er sich nicht in immer in vorgegebenen Bahnen bewegen musste. Aber letztlich hatte er sich doch für seine Pflicht und die Erfüllung seiner auferlegten Aufgabe entschieden. Ohne all das zu hinterfragen. Seto wusste nicht, ob es überhaupt eine Alternative dazu gegeben hätte. Aber das war nun ohnehin gleichgültig.
 

Eines Nachts, so etwa um drei Uhr, kam ihm dann dieser eine Gedanke, der ihn in der darauffolgenden Zeit nicht mehr loslassen sollte. Er hatte den Pharao bereits einmal zurückgeholt. Zumindest war er erschienen, das war es, was zählte. Warum sollte es nicht noch weitere Möglichkeiten geben, ihn auf die ein oder andere Art wiederzutreffen? Wo doch sogar Diva mit seinem Dimensionswürfel Zeit und Raum hatte überwinden können. Dann war ihm die entscheidende Eingebung gekommen: Was, wenn er selbst Divas Technologie für sich nutzen konnte? Er konnte damit vielleicht nicht durch die Zeit reisen, aber … er konnte Atem im Totenreich wiedersehen. In einer Dimension weit entfernt von seiner eigenen. Denn der Atem, den er dort treffen würde, würde sich an alles erinnern können, an all die gemeinsamen Erlebnisse dieser wenigen Tage.
 

„Das ist dein Plan?!“, fragte Mokuba nun fassungslos, „Daran hast du ernsthaft diese letzten Wochen gearbeitet?! An einer Technologie, die dich ins altägyptische Totenreich bringt?“ „So ist es“, nickte Seto geschäftig. Erneut seufzte Mokuba. „Seto, ich mache mir ehrlich Sorgen um dich. Hast du das ganze denn mal ordentlich durchdacht? Überleg doch mal: Du reist also ins Totenreich. Und was dann? Willst du dort denn dein gesamtes restliches Leben verbringen? Wenn das überhaupt noch ein Leben ist! Ich meine, wir sprechen hier vom Totenreich! Weißt du denn überhaupt, wie es dort ist? Ob es ... lebenswert ist? Und was ist mit deiner Existenz hier? Mit der Firma? Mit mir?“ „Das …“, Seto stockte, „ich muss ja nicht für immer dortbleiben. Ich kann Atem einfach aufgabeln und mit ihm hierher zurückkommen!“
 

„Einfach ‚aufgabeln‘? Und wenn das nicht geht? Du willst einen Toten ins Reich der Lebenden zurückholen? Nach allem, was man aus sämtlichen Horrorfilmen so weiß, gehen solche Ambitionen immer nach hinten los. Seto, das ist nicht natürlich.“ Der Ältere Kaiba blickte ihn mit stumpfem Blick an. „Du solltest für heute Schluss machen“, schlug Mokuba ihm nun wohlwollend vor, „morgen reden wir weiter, okay?“ „Ja, vielleicht hast du Recht.“ Seto schaltete den PC und das Licht aus, dann legte er sich in sein Bett. Alles in seinem Kopf drehte sich und wenn er seine Augen schloss, sah er Zahlen und Codes vor sich tanzen. Schließlich dämmerte er weg.
 

Als er am nächsten Morgen seinen PC hochfuhr, starrte er taten- und antriebslos auf den Monitor. Denselben Monitor, den Atem damals so faszinierend gefunden hatte. Er blickte ernüchtert auf die vielen Zahlen, die dort standen. Sie erschienen ihm wahllos. Alles, was er berechnet hatte, schien keinen Sinn mehr zu ergeben. Hatte er sich da in etwas verrannt? Er, Seto Kaiba? Hatte er sich verkalkuliert? Hatte Mokuba womöglich Recht? Wenn er jetzt an eine mögliche Reise ins Totenreich dachte, beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Würde er … sterben, sobald er diese Grenze überschritt? Und wollte er das? Mit seinen gerade mal 20 Jahren?
 

All der blinde Ehrgeiz, der ihn gestern noch unerbittlich getrieben hatte, war nun versiegt. Er saß auf seinem Schreibtischstuhl, seine Arme hingen schlaff zu beiden Seiten herab. Er erschrak sich selbst, als er feuchte Tränen auf seinem Gesicht spürte. Mit der Hand berührte er seine Wange. Er weinte. Erst nur stumm, dann begann er zu schluchzen. Immer lauter und lauter. Bald schüttelte es seinen ganzen Körper.
 

Mokuba, der seinem Bruder gerade einen Kaffee bringen wollte, hielt in der Bewegung inne und lauschte betroffen vom Flur aus. Er wusste nicht, ob ihn das Weinen seines Bruders bekümmern oder beruhigen sollte. Es hatte lange gedauert, bis sich Setos Gefühle Bahn brechen konnten.
 

***

Es war eine schwüle Nacht und Atem lag hellwach in seinem Bett. Unruhig wälzte er sich hin und her, schließlich entwand er sich Seths Griff, der im Schlaf den Arm um seine Taille gelegt hatte, und setzte sich auf. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. In diesem Augenblick gab es einen kleinen Knall. Etwas war vom Balkon her in seine Gemächer geflogen und auf dem Boden gelandet. Verwundert erhob er sich und spähte hinaus. „Bakura!“, entfuhr es ihm, vor lauter Freude etwas zu laut.
 

„Ja, ich bin es. Aber wir haben keine Zeit für lange Reden oder Geplauder“, kam der Dieb, der gekrümmt auf dem Boden des Balkons saß, sofort zur Sache. „Du siehst nicht gut aus“, bemerkte der Pharao besorgt, während der Grabräuber sich die Brust hielt, sein Gesicht schmerzverzerrt. „Gut erkannt. Ich hab nicht mehr allzu lange, bevor mein Geist vollkommen von Zorc begraben ist. Es erfordert große Anstrengung, bei Verstand zu bleiben, also hör mir einfach aufmerksam zu. Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.“ Atem kniete sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Unterarm, er lauschte.
 

„Da Zorc nun in meinem Kopf ist, habe ich auch Zugriff auf sein Wissen“, erklärte Bakura mit gepresster Stimme, „er will natürlich nicht, dass ich dir das sage, aber ich bin da auf etwas gestoßen, was dich interessieren dürfte: Nachdem du deinen Geist im Puzzle verschließt und in Domino wiedererwachst, gibt es offenbar eine Möglichkeit, zu verhindern, dass du ins Totenreich überwechseln musst, nachdem deine Mission erfüllt ist.“
 

„Bist du nur hergekommen, um mir das zu sagen?“, fragte der Herrscher unangenehm berührt. „Dachte, es würde dich etwas trösten, zu wissen, dass du noch ein wenig mehr Zeit in Domino verbringen könntest, vielleicht sogar dein ganzes Leben“, winkte Bakura ab. „Aber … wie ergibt das denn Sinn? Heißt das denn, dass ich nach ein paar Jahren auf mein jüngeres Ich treffen werde, wenn es nach dem Duell mit Diva in Domino ankommt?“, fragte der Pharao skeptisch. „Blödsinn!“, tat Bakura seine Bedenken ab, „es ist unmöglich, dass du dir selbst begegnest! Und es wird auch nicht passieren, weil wir nämlich verhindern werden, dass Zorc überhaupt jemals wieder in Domino erwachen kann.“
 

„Aber wie …?“ „Ganz einfach, wir werden noch in unserer Zeit die beiden Schriftrollen wiederfinden und zerstören!“, sagte Bakura und blickte Atem mit fiebrigem Blick an. „Du meinst, damit sie gar nicht erst in Pegasus Hände fallen?“ „Genau“, nickte Bakura, „es ist ein wenig suboptimal, dass mir diese Erkenntnis erst kommt, nachdem mich Zorc schon so sehr geschwächt hat, aber vorher hatte ich ja auch nicht diese grenzenlosen Einblicke in sein Denken. Wenn ich es nicht schaffen sollte, dir zu helfen, wirst du es eben alleine fertigbringen müssen. Ich werde dir alles sagen, was ich über den Aufenthaltsort der Schrift weiß und über die Leute, die sie mir damals abgejagt haben. Du wirst taff werden müssen, um im Untergrund zu bestehen, und wir werden dein Aussehen etwas verändern müssen, aber das kriegen wir hin.“
 

„Augenblick mal … Das ist ja alles schön und gut, aber wenn es keine Bedrohung durch Zorc im 21. Jahrhundert gibt, bedeutet das denn nicht auch, dass all das, was mir in Domino widerfahren ist, niemals passieren wird? Dass mein jüngeres Ich nie zurückgebracht wird? Dass dieses Ich niemals auf Seto treffen wird? Dass Uyeda niemals für Pegasus arbeiten und Zigfried niemals die Schrift für ihn beschaffen wird?“ „Richtig“, sagte Bakura, „und Diva wird gar nicht erst auf den Plan treten, weil er nie die Macht der Plana erhält. Denn du bist ja niemals gegangen. Also wird Kaiba auch nicht nach deinem Puzzle suchen, um dich zurückzubringen. Möglicherweise werden deine Erinnerungen an das Geschehene auch verblassen, da es ja dann nun mal nie passiert sein wird. Kurz gesagt: Wir werden die gesamte Zeitlinie ändern. Aber dafür bekommst du eine Chance, für immer in Domino zu bleiben und dem jüngeren Seto näherzukommen, ihn dein ganzes Leben lang kennenzulernen. Du hast die Wahl, welche dieser Optionen du bevorzugst.“ „Das ... könnte sie sein“, bemerkte der Pharao tonlos, „meine zweite Chance. Um alles selbst in die Hand zu nehmen. Um meine eigene Zukunft zu gestalten." Bakura nickte „Du hast es begriffen! Es liegt ganz bei dir.“
 

Atem senkte den Blick und schloss seine Augen. Ein rauer Nachtwind brauste über sie hinweg. Es fühlte sich an, als wären sie die einzigen beiden Menschen auf der Welt. Sie wussten Dinge, die keiner wusste. Nicht Seth, nicht seine Leibwächter. Niemand in ganz Ägypten. Die Erinnerungen an seine Zeit in Domino lagen plötzlich wieder kribbelnd auf seiner Haut, wie frische Regentropfen. Und Bakuras Worte lagen schwer auf Atems Gemüt.
 

~*~ENDE~*~


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Duchess
2022-04-10T18:23:58+00:00 10.04.2022 20:23
Wow was für eine Story.
Mir ist zwar am Anfang nicht ganz aufgegangen wie Yugi zu dem Schluss kommt Atemu auf Seto „abzuschieben“, weil ich meinen besten Freund dann doch lieber sogar in meinem eigenen Bett unterbringen würde, als dass ich ihn zu jemand anderen schiebe, nur weil dieser ein Gästebett hat.
Aber darüber kann man schnell hinwegsehen.
Das Verhalten der Charas untereinander war verständlich und kam echt gut rüber.
Selbst zum Schluss blieb Atemu distanziert zu Yugi, da er zu ihm einfach noch keine Freundschaft aufbauen konnte. Nur Seto und Bakura waren ihm noch bekannt. So hat er seine Zeit hauptsächlich mit ihnen verbracht.
Auf der anderen Seite finde ich es extrem cool, dass du die Truppe nicht außen vor gelassen hast und sie eine wertvolle und wichtige Aufgabe bekommen haben, auch wenn es hauptsächlich an Atemu und Bakura hängen geblieben ist, sich um das Problem zu kümmern.
Aber so richtig gut fand ich die verzwickte Story dahinter.
Letztlich hast du ja nicht einfach eine „Zork ist wieder da“ Geschichte geschrieben, sondern eine Art Vorgeschichte, die gewisse Umstände erklärt, wonach überhaupt erst die Hauptstory von Yugioh zustande kam. Zeitgleich war es so furchtbar herzzerreißend wie sich Atemu und Seto voneinander verabschieden. Für Atemu liegt die nächste Bekanntschaft in der Zukunft, aber für Seto war das ein endgültiger Abschied. Und dass er das erst so viel später realisiert war so unfassbar traurig. Aber das Ende im alten Ägypten hat im Bezug auf die Zukunft dann alles noch einmal herumgerissen.
Noch dazu hast du einen sehr angenehmen Schreibstil.
Ich freu mich schon drauf Suchhilfe die anderen Ffs von dir zu schauen ^^
Antwort von:  MizunaStardust
05.02.2024 19:58
Hallo,
ich entschuldige mich für die suuuuperspäte Rückmeldung. Ich hatte damals den Eindruck, die Geschichte findet nicht so richtig Anklang hier, deshalb habe ich über zwei Jahre versäumt, hier nochmal reinzuschauen. Umso erstaunter war ich jetzt, dass ich tatsächlich Rückmeldungen bekommen habe.
Auch wenn es jetzt schon lange her ist, möchte ich noch danke sagen für das ausführliche Review zu dieser Geschichte! Ich freue mich, dass dir die Handlung und das Storytelling gut gefallen haben. Ich muss auch gestehen, dass das meine beste und liebste FF ist, was das betrifft. Also die, mit der ich am zufriedensten bin. Vielleicht waren manche Enthüllungen auch etwas weit hergeholt, aber andererseits spielt es im Yu-Gi-Oh-Universum - da kann vieles passieren. :D
Dass Yugi Anfangs Atem nicht bei sich wohnen lässt - da hast du schon irgendwo Recht. Das war vielleicht auch ein bisschen Plot Convenience. Aber ich dachte damals einfach, er hat ja wirklich keinen Platz. Und noch dazu ist es ja nicht der Atem, der Yugi auch als seinen Freund und Verbündeten kennt.
Ja, stimmt, man kann nicht auf alle Figuren so viel Fokus legen. Aber ich habe mir damals Mühe gegeben, auch die anderen immer mal etwas zu beleuchten und ihre Charaktere glaubhaft rüberzubringen. Ich freue mich, dass das scheinbar so rüberkam. Aber irgendwo muss der Hauptfokus liegen - und das war eben bei meinem Lieblings-Dreiergespann. :)
Das Ende war für mich auch beim Schreiben ganz schlimm. Es hat mir wirklich das Herz gerrissen und ich habe mit Seto mitgelitten. Das letzte Kapitel wollte ich bewusst offen (und auch etwas hoffnungsvoll) halten.
Danke auch für das Kompliment zu meinem Stil. Darüber freue ich mich natürlich sehr und es gibt mir Motivation, mal wieder etwas zu schreiben.

Danke nochmals für deine tolle Rückmeldung!
Viele verspätete Grüße
Mizu
Von:  blackNunSadako
2022-04-10T02:25:35+00:00 10.04.2022 04:25
Ganz liebe Grüße an dich, Mizuna! ♥
Nun habe ich die letzten Tage damit verbracht, in deine wunderschöne Geschichte einzutauchen und möchte mich hier ganz herzlich bei dir bedanken. Es war eine unvergessliche Reise, auf die du uns Leser mitgenommen hast. Jede Minute war es wert, hat unfassbar viel Spaß gemacht, war absolut fesselnd und herzergreifend. Ich werde jedes Kapitel wertschätzend in Herzehren halten. ^-^
Hab vielen lieben Dank❣

Du wundervolle Wortkünstlerin.🌹
Du bist absolut unglaublich. ♥ Dir gebührt größte Anerkennung für solch ein Meisterwerk❣
Dein majestätischer Stil, angepasst an die Zeit und Sprechweisen der Charaktere, ist ungemein beeindruckend. Jede Figur hat ihren Wiedererkennungswert, ist ein Unikat und von dir liebevoll gestaltet. Du hast eine alte Fanliebe wieder entfacht; Es war, als würdest du die Originalhandlung der Serie erweitert erzählen, uns wertvolle Einblicke hinter die Kulissen geben und hast sogar eine alternative Zeitlinie mit offenem Ende erschaffen! Wahnsinn❣ Ich bin hellauf begeistert, wirklich! ^-^
Dein kreativer Einfallsreichtum und raffinierte Genialität glänzt herausragend. Wie du all die schmuckvollen Details und Handlungsstränge verknüpft hast, ist erstklassig clever! Wie viel Mühe, Liebe und Zeit in deinem Werk steckt - liebsten Dank, dass du all das mit uns teilst❣

Bakura, der sich als eigentlicher Held entpuppt, ist herzerwärmend. Dazu die Beziehung zwischen Atem und Seto, die eigentlich nicht sein darf und doch vorherbestimmt ist - Drama in schönster Form❣
Allgemein liebe ich die Schicksalsfäde, die du hier so wunderschön verflochten hast. Jede Char-Rolle, die ihren wichtigen Teil zum Ganzen beiträgt. So viele Lebenswege, die sich kreuzen. Der Wunsch nach Freiheit, nach Selbstbestimmung und eine schwere Entscheidung zwischen Pflicht und Liebe...
>Letzte Wiederkehr< ist wahrlich der hübscheste Titel, den du hierfür hättest erwählen können. ♥

Deine versteckten Botschaften hinter den Zeilen erreichen das Herz und heilen die Seele. Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie viele Gefühle du in mir ausgelöst hast - Das Lesen deiner Werke ist eine Wohltat und wird in Erinnerung bleiben. Was du geschaffen hast, ist etwas unermesslich Wertvolles. D♡A♡N♡K♡E

Und um hier nicht nur mit Glücksglitter und Lobeshymnen um mich zu werfen, merke ich noch an: Die Formatierung ist nach manchen Zeitsprüngen nicht korrekt übernommen worden. Auch in der Gegenwart war manches noch kursiv und damit leicht irritierend - das wäre aber auch mein einziger 'kritischer' Punkt. ^-^
Die Leichtigkeit deines Schreibflusses ist wunderbar wohltuend fürs Leser-Auge. Ich habe jede Zeile mit Begeisterung gelesen - mich hast du definitiv als Fan gewonnen! ♡(୨୧ ❛ᴗ❛)

Du bist wundervoll und ich wünsche dir alles Glück der Welt.🍀
Mögen all deine Wünsche in Erfüllung gehen! (ノ◕ヮ◕)ノ*:・゚✧

Alles Liebe und Gute dir,
Sawako (。・ᴗ・。)ノ♡
Antwort von:  MizunaStardust
04.02.2024 18:50
Liebe Sawako,

leider habe ich mich ewig nicht hier eingeloggt und mir ist deshalb dein wundervolles Review entgangen. Ich weiß, es ist ewig her, aber ich möchte jetzt dennoch kurz darauf antworten, weil es mich wirklich sprachlos zurückgelassen hat. Ich weiß gerade gar nicht, was ich zu so viel Lob sagen soll und bedanke mich ganz ganz herzlich für deine lieben Worte und das ausführliche Feedback. Das bedeutet mir wirklich viel und ermutigt mich, weiter an Dingen zu schreiben. Die Geschichte ist tatsächlich auch die FF, mit der ich am meisten zufrieden bin, und ich freue mich, dass ich dich damit mitreißen und deine Liebe zum YGO-Fandom neu entfachen konnte. Das mit der Formatierung kann durchaus sein, das hätte ich nochmal prüfen sollen.

Bitte entschuldige vielmals die späte Rückmeldung. Ich habe irgendwann aufgehört, hier reinzuschauen, weil zunächst nicht so wirklich Feedback kam.


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