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Selbstwiderspruch

von

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Entgegen jeder Art von Plan

„Lassen Sie mich sofort aussteigen!“

„Wir sind noch nicht da.“

„Genau deswegen! Was denken Sie sich eigentlich dabei?!“

„Wärst du lieber mit dem Zug gefahren? Die Verbindungen sind schlecht und außerdem, wenn man ein Auto hat, sollte man es auch benutzen.“

„Das meine ich nicht! Stellen Sie sich nicht dumm! Das meinte ich überhaupt nicht! Ich bedanke mich für Ihre Bemühungen, Ihre Intention reicht jedoch schon vollkommen. Dieser ganze Ausflug ist nicht nötig, deswegen möchte ich gerne wieder zurück nach Hause.“

„Abgelehnt. Das ist eine Anweisung deines Vorgesetzten.“

„Hören Sie auf, immer diese Karte zu spielen! Es ist Wochenende und ich möchte jetzt zurück nach Hause.“

„Hast du ein Date?“

„Eh… was?“

„Wenn dem nicht so ist, kannst du auch mit mir zu den heißen Quellen fahren. Das hilft auch deinem Sinn für Romantik auf die Sprünge, wenn du wieder einmal mit einer Mangaka zusammenarbeitest.“

„Wie bitte?! Wenn Sie Kritik an meiner Arbeit haben, dann sagen Sie mir das bitte im Büro und lauern mir gefälligst nicht Zuhause auf! Takano-san, lassen Sie mich jetzt sofort aussteigen!“

„Du könntest wirklich etwas mehr Dankbarkeit dafür aufbringen, dass ich mich um deinen beruflichen Werdegang sorge. Aus dir wird nie etwas in unserer Abteilung, wenn wir deine romantische Ader nicht ein bisschen zum Laufen bringen.“

„Das ging schon das letzte Mal nach hinten los, als Sie mich einfach überfallen haben! Nie im Leben werde ich in einem Doppelzimmer mit Ihnen in diesem Thermalbad bleiben!“

Das letzte Mal habe ich dir etwas über’s Flirten und Verführen beigebracht. Das Zimmer ist schon reserviert und bezahlt.“

„Wer’s glaubt! Halten Sie jetzt endlich den Wagen an, ich meine es ernst! “

„Es gab einmal eine Zeit, in der du mir überall hin gefolgt bist. Wie ein Stalker. Was wurde daraus?“

„Hören Sie schon auf, das ist über zehn Jahre her. Da war ich jung und dumm.“

„Willst du mir sagen, dass das ein Fehler war?“

„Zumindest wäre ich dann jetzt nicht in dieser Lage! Anhalten, sofort!“

„Onodera, willst du nicht mit mir zusammen sein?“

„…“

„…“

„Ich… ich…“

„Ja?“

„…möchte aussteigen.“
 

Endlich wurde der Wagen langsamer, bis er letztendlich am Straßenrand hielt. Auch, wenn der Preis dafür dieses seltsame Gefühl in der Magengegend war, das ihn plötzlich befallen hatte. Bis der Wagen zum Stehen gekommen war, war kein weiteres Wort zwischen ihnen gefallen. Onodera hatte kein gutes Gefühl dabei. Gerade eben war etwas zu Bruch gegangen, dass hatte er klar gespürt.

Wäre es besser gewesen, weiter zu diskutieren? Nein, bestimmt nicht. Er hatte schon zu viel gesagt, das er so nicht sagen wollte. Dennoch… Er musste hier raus. Raus aus diesem Wagen. Raus aus dieser Situation und weg von Takano. Sie waren vor Kurzem an der letzten Bahnstation vorbeigekommen, da würde er jetzt hinlaufen müssen, aber das war in Ordnung. Ohne seinen Kopf zur Fahrerseite zu drehen, umschlossen seine Finger den Türgriff, zogen leicht an dem Hebel.

„Gib doch endlich zu, dass du mich liebst.“ Takanos Stimme war nicht zornig, aber es schmerzte Onodera, die Enttäuschung und das Leid in Takanos Worten zu hören. Und es setzte ihn unter Druck. Es war nicht fair. Konnte das nicht endlich aufhören? Warum musste er nach so vielen Jahren ausgerechnet wieder auf Takano treffen?!
 

Egal, er musste seine Chance ergreifen und das Auto verlassen, bevor sein Vorgesetzter es sich anders überlegte und wieder auf’s Gas drücken konnte.

„Onodera!“

„Was bilden Sie sich überhaupt ein? Sie sind viel zu penetrant und außerdem, was soll das denn bringen? Außer, dass die Leute reden?!“

„Was interessiert mich, was die Leute denken?“

„Mich interessiert es aber! Bei mir hängt eben etwas mehr dran!“

„Eh? Was soll das denn heißen?“

„Dass mein Vater so etwas in der Geschäftsführung mit gutem Grund nicht billigen würde.“, er wollte schon aussteigen, als er merkte, wie er am Arm harsch zurückgezogen wurde. „Hey! Was machen Sie denn da?!“

„Bitte?! Onodera, was soll das heißen?“

„Was ich gesagt habe. Sie wussten doch von Anfang an, wie das in einem Familienbetrieb läuft.“

„Hör auf mit dem Mist und sag, was los ist!“

Er sollte nicht mehr sagen, er hatte ohnehin schon zu viel gesagt. Hätte Takano ihn nur nicht so bedrängt, dann wäre es nie so weit gekommen. Und sie hätten sich nicht anschreien müssen. Sie hätten nicht streiten müssen. Er hätte Takano nicht…

„Ich gehe jetzt!“, mit diesen Worten befreite er sich aus Takanos Griff und stieg aus dem Auto. Ohne zu zögern kehrte er dem Wagen den Rücken zu und begann zu laufen. Seinen Vorgesetzten, der ihm noch nachrief, ignorierte er. Zum Glück war es aufgrund der Enge der Straße unmöglich zu wenden und bis Takano eine Möglichkeit dafür finden würde, war er bestimmt schon abseits der Straße auf dem Weg zur Bahnstation oder hätte diese sogar schon erreicht.
 

Wenn er es recht verstanden hatte, dann lag ihr geschäftlicher Zwischenstopp auf dem Weg zu den Quellen und würde zeitlich keine unnötigen Umwege erlauben. Das kam ihm recht, Takano würde wegen so etwas keinen wichtigen Autor versetzen. Nicht, wenn sogar die Verkaufsabteilung mit Yokozawa vertreten war – dieses Treffen war ohne Frage wichtig. Takano war in dieser Hinsicht zu verantwortungsbewusst, als dass er riskieren würde, den Termin zu verpassen. Mit eiligen Schritten entfernte Onodera sich immer weiter, hatte jedoch noch nicht gehört, dass der Motor erneut gestartet wurde. Er musste sich beeilen und schnellstmöglich weg von Takano kommen. Allein sein. Wie schon die ganze Zeit über, er wollte nur allein sein und seinen Kopf frei bekommen. Doch das schien gar nicht so leicht zu sein.
 

~~~
 

Was war das eben? Wieso hatte er sich so leicht anstacheln lassen und sich so aggressiv gezeigt? So war er doch sonst nicht. Und was hatte Onodera so in Rage versetzt? Er war ihm gegenüber noch nie laut geworden. Onodera hatte zwar gesagt, dass er nicht mitkommen wollte, aber wie oft hatte er schon Unwillen bekundet und sich dann doch gefügt? Er wusste, dass Onodera es oft insgeheim genossen hatte, bei ihm zu sein. Zumindest hatte er das gedacht. War das nur Einbildung? Widerstrebte es Onodera so sehr, Zeit mit ihm zu verbringen und in seiner Nähe zu sein? Er konnte es sich nicht vorstellen, so oft hatte er ihn in seiner Nähe geduldet, sich von ihm berühren lassen und sich dann… das würde man doch nicht mit jemanden machen, den man nicht ausstehen konnte. Vor allem in letzter Zeit hatte er das Gefühl gehabt, Onodera würde es endlich zugeben. Dass er etwas für ihn empfand. Immer noch. Vielleicht sogar, dass er ihn liebte.
 

Er hatte ihn darum gebeten, ihn nahezu angefleht, es ihm endlich zu sagen. Dass er ihn auch liebte. Dann würde er endlich zu ihm gehören, ganz offiziell.
 

Doch seit einer Woche schien sich Onodera ihm regelrecht zu entziehen. Auf Arbeit mied er den Kontakt, beschränkte es auf das nötigste Minimum. Er war sogar eher ins Büro gekommen, um vor ihm nach Hause gehen zu können. Und auch wenn er klingelte oder versuchte, ihn auf dem Handy zu erreichen, erhielt er nie eine Rückmeldung.

Und jetzt das. Was sollte das? Wieso war er so aggressiv? Und das mit der Firma seines Vaters…? War er etwa in den Vorstand aufgenommen worden? So schnell? Das konnte er sich nicht vorstellen.

Takano nahm für einen Moment die Brille ab, schloss erschöpft die Augen und massierte sich mit schlanken Fingern den Nasenrücken. Er fühlte sich, als hätte ihm die Situation mit einem Schlag all seiner Kraft beraubt.
 

Onodera selbst hatte doch gesagt, dass er es aus eigenem Ansporn schaffen wollte, dass er nicht das behütete Söhnchen sein wollte, das sich auf dem Erbe der Eltern ausruhte. Abgesehen davon wäre es doch normal, wenn man den Sprössling erst noch Erfahrungen sammeln ließ, bevor man ihn in eine solch hohe Position beförderte. Auf der anderen Seite… vielleicht missfiel Onoderas Eltern die Tatsache, dass ihr einziger Sohn als Redakteur für Shojo-Manga arbeitete. Aber selbst wenn, dann hätte Onodera ihm doch bestimmt etwas gesagt, oder? Oder würde er wieder verschwinden?
 

„Ich gehe jetzt!“
 

Würde er wirklich einfach so gehen? So, wie er es auch damals getan hatte? Hatte er die Nase voll von ihm und würde sich nun aus dem Staub machen? Hatte er nur gespielt, wollte er deswegen nichts sagen?
 

Nein. Nein, das konnte er sich bei Onodera nicht vorstellen. So eine Person war er nicht, dafür hatte der Kleine ein zu großes Herz. Niemals hätte er ohne Ankündigung ihn oder die Redaktion verlassen. Das wusste er. Dennoch…
 

„Ich gehe jetzt!“
 

Er durfte nicht gehen und er würde ihn auch nicht gehen lassen. Nicht so einfach. Nicht, ohne es von Onodera selbst gehört zu haben. Nicht schon wieder.

Aber er konnte nicht weiter darüber nachdenken, er musste pünktlich zu diesem Termin erscheinen. Wenn er es richtig verstanden hatte, dann lag auch Yokozawa viel an dem Meeting, weshalb er ebenfalls anwesend sein würde.
 

~~~
 

Ein tiefes Seufzen mischte sich zu den Geräuschen seiner Schritte über den Kies. Irgendwie konnte Onodera sich nicht daran erinnern, dass sie bereits so weit an der letzten Bahnstation vorbeigefahren waren. Und dann hatte er auch noch all seine Sachen bei Takano im Wagen liegen lassen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er war hier irgendwo im Nirgendwo und wenn er es auf seinem Handy richtig erkannte, dann handelte es sich auch nur um eine sehr kleine Bahnstation in der Nähe eines kleinen Vorortes. Ob von dort heute überhaupt noch ein Zug zurück in die Stadt fahren würde?
 

Es war doch zum Haare raufen! Frustriert fuhr er sich durch seine nussbraunen Haare, spürte wie die Sorgenfalte auf seiner Stirn immer tiefer wurde. Wie hatte es nur so weit kommen können? Er hatte schon wieder so vieles gesagt, das er nicht sagen wollte. Wie damals, als er behauptet hatte, er würde Takano bestenfalls hassen. Das stimmte nicht und das wusste er auch. Dennoch, sobald er sich bedrängt fühlte, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Was sollte er jetzt machen? Er wollte sich nicht mit Takano streiten und am liebsten würde er jedes einzelne Wort zurücknehmen, das er im Auto gesagt hatte. Und dann noch diese Offenbarung über die Firma seines Vaters… war er blöd? Ach, es war zum verrückt werden! Was sollte er denn jetzt machen?! Und wie sollte er das alles Takano erklären? Er würde es irgendwie wieder gut machen müssen. Er hatte die Enttäuschung in dessen Worten gehört und zu allerletzt auch den Schmerz in dessen Zügen gesehen. Dabei erinnerte er sich gut daran, was Yokozawa ihm gesagt hatte. Wie sensibel Takano war, wie sehr er es sich schon damals zu Herzen genommen hatte. Aber das hatte ihm Takano ja schon selbst erzählt. Auch, wenn er im Büro immer harsch und kühl war, so wusste er doch, dass Takano auch eine ganz andere Seite hatte. Er wusste das, weil er es selbst erlebt hatte. Und wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann ging es ihm kein Stück anders. Eigentlich fühlte er doch genauso wie Takano. Dieses Gefühl, das ihn völlig einnahm, wann immer Takano ihm nahekam. Er hatte es immer wieder gespürt, jedes einzelne Mal als Takano sich von seiner anderen Seite zeigte. Sanft. Als er ihn küsste, als er ihn berührte, als er mit ihm… Nur das danach machte ihm Angst. Das, was nach dem Glücklichsein kam, wenn die Liebe vorbei war…
 

Was sollte er denn jetzt machen? Wie konnte er das wieder in Ordnung bringen?
 

Angefangen hatte alles vor etwa zehn Tagen...
 

~~~
 

„Was machst du denn hier?!“, damit hatte er nicht gerechnet.
 

Als Onodera sich auf den Weg zur Tür gemacht hatte, hatte er sich schon eine Ausrede zurechtgelegt, wie er Takano so schnell wie möglich wieder abwimmeln könnte. Seine Ausrede war zwar offensichtlich an den Haaren herbeigezogen, doch in der Not musste eine schnelle Lösung her. Immerhin konnte er sich nicht immer von Takano überwältigen lassen, wann immer es seinem Vorgesetzten gelegen kam. Onodera wusste aber auch, dass er sich Takano deutlich effektiver erwehren könnte. Dass er ihn klar abweisen könnte, doch… eigentlich konnte er es doch nicht. Dennoch, ein so penetrantes Klingeln so früh am Morgen verdiente auch keine Gelegenheit, wieder Späße mit ihm zu treiben. Das ging zu weit!
 

Doch in dem Moment, in dem er die Tür geöffnet und zur Abwehr bereits angesetzt hatte, war alles ganz anders gekommen.

„Vater?“

„Sohn.“

Es war dieser seltsame Moment der Stille. Onodera konnte seine Verwunderung nicht zurückhalten, hatte er doch als letztes mit seinem Vater gerechnet. Aber da stand er. Direkt vor ihm. In Fleisch und Blut. Und zwischen ihnen gab es nichts anderes als diese unangenehme Stille, aus der man es noch nie geschafft hatte zu fliehen. Außer…

„Schön, dass du anscheinend doch wohlauf bist. Nachdem du bis dato jegliche Kontaktaufnahme verweigert hast.“ … außer natürlich durch das Initiieren von noch viel unangenehmeren Situationen.
 

Ohne zu zögern oder gar um Einlass zu bitten, hatte sich sein Vater an ihm vorbei gedrängt und sich seinen Weg in das Innere der Wohnung gebahnt. „…Komm doch rein.“, murmelte Onodera verstimmt, holte tief Luft, bevor er die Haustür zurück ins Schloss fallen ließ und seinem Vater folgte.
 

Das konnte nichts Gutes verheißen.
 

„Du bist allein gekommen? Wo ist Mutter?“, langsam näherte er sich dem Wohnzimmer und sah seinen Vater am Fenster stehen. Seine übliche Position, wenn er eine Ankündigung verlauten lassen wollte.

„Interessiert dich das wirklich?“ Er verstand die Kritik seines Vaters und musste sich auf die Zunge beißen, um nichts zu erwidern. Es wäre besser, wenn er seine Worte noch einmal überdachte. Es war bisher noch nicht vorgekommen, dass seine Eltern ihn in seiner eigenen Wohnung aufgesucht hatten. Für gewöhnlich luden sie ihn in die Firma ein, sofern es etwas zu besprechen gab. Diese Situation erschien ihm zunehmend suspekt. Wenigstens hatte er es gestern geschafft, aufzuräumen und die Wohnung zu putzen. Ob sein Unterbewusstsein die Gefahr gerochen hatte?

„Natürlich interessiert es mich. Entschuldige, aufgrund der Arbeit schaffe ich es zurzeit nicht, mich regelmäßig zu melden.“

„Deine Mutter hat seit Wochen nichts mehr von dir gehört. Um genau zu sein, seit dieser Sache mit An.“ Onodera zog scharf die Luft ein. Ob daher der Wind wehte? Was sollte sonst Grund dieses Überfalls sein? Er wünschte, es wäre Takano gewesen, der seine Klingel so grob penetriert hatte.

„Doch deshalb bin ich nicht hier. Wie dem auch sei, melde dich bitte ab und zu bei deiner Mutter. Ihr zunehmender Unmut ist unerträglich.“

Nicht? Es ging seinem Vater nicht um die geplatzte Verlobung? Ging er also recht in der Annahme, dass dieses ganze Theater nur zwischen ihren beiden Müttern zustande gekommen war? Sollte dies der Fall sein, so würde ihn das wirklich erleichtern. Sein Verhältnis war ohnehin schon angespannt genug und die Verbindung zu seinem Vater sehr distanziert. Er hatte nicht die Absicht, dies zu verstärken.

„Warum bist du dann hier, Vater?“

„Ich bin hier, weil du meine Anrufe offensichtlich völlig ignorierst.“

Und wie Onodera merkte, war es ebenso wenig seine Absicht, diese Distanz zu seinem Vater auch nur um einen Millimeter zu verringern.

„Wie ich bereits gesagt hatte, ich bin im Büro stark eingebunden und kann daher -“ „Beschäftigst du dich noch immer mit diesem Schund?“

„W…wie bitte?“, mit einer so harschen Unterbrechung hatte er nicht gerechnet. Er wusste, dass sein Vater es mit Skepsis beäugte, dass er als Redakteur für Shojo Manga arbeitete. Doch Skepsis schien wohl nicht ganz zuzutreffen. Sein Vater hatte ihn anfangs gefragt, ob er nicht einfach die Abteilung wechseln könnte und deutlich darauf hingewiesen, dass im Onodera Verlag immer Platz für ihn sei. Doch er hatte keine Lust gehabt, diese Diskussion zu führen. Es hätte ohnehin zu nichts geführt, außer, dass er seinem Vater gegenüber den Respekt verloren hätte und letztendlich noch irgendein falsches Wort gefallen wäre.
 

Und bis jetzt hatte Onodera gedacht, diese Diskussion erfolgreich vermieden und für die nächsten Jahre aufgeschoben zu haben. Ein weiterer Irrtum, wie ihm jetzt mit Grauen bewusst wurde.
 

„Wir machen uns Sorgen um deine Zukunft.“ Sein Vater zögerte kurz, „Und wir denken, dass du in dieser Abteilung keinem guten Einfluss ausgesetzt bist. Deine Kompetenzen als Redakteur für Literatur werden darunter leiden.“

„Nein, ihr müsst euch keine Sorgen machen. Wirklich.“, die subtile Beleidigung seines Vaters schluckte Onodera mühsam herunter. Wie könnte er das Thema abwiegeln und diese Konversation so schnell wie möglich beenden? Wo war Takano nur, wenn man ihn brauchte? Ganz sicher hätte er zu diesem Zeitpunkt das Wort ergriffen. Rhetorisch war Takano wirklich brillant, sofern er nur wollte.

„Ich lerne im Büro viel und ich denke, dass die Erfahrung mit den Autoren wirklich sehr hilfreich für mich ist! Und mein Manager ist ein wirklich erfolgreicher Redakteur, von dem ich bestimmt noch viel lernen kann…“ Oh nein, das lief nicht gut. Seine Argumentation war seicht, die Meinung seines Vaters würde er so im Leben nicht ändern können. Was sollte er nur machen? Was konnte er noch sagen? Ihm lief es kalt den Rücken runter. Sein Vater war zwar nicht Takano, der ihn packte und ihm gegen seinen Willen einfach etwas aufbürdete. Dennoch war dies gewiss kein Besuch aus Fürsorge. Er hatte ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache und dieses Gefühl dachte noch lange nicht daran, ihn loszulassen. Trocken schluckte er, fixierte den Boden, während er den kritischen Blick seines Vaters auf sich spürte.
 

„Ich habe mir reichlich Gedanken über deine Situation gemacht und in der Firma bereits alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Es ist entschieden. Ritsu, ich sehe vor, dich in der Geschäftsführung des Verlags und in allen dazugehörigen Abteilungen eng einzubinden, um dich darauf vorzubereiten das Geschäft irgendwann weiterzuführen.“
 

~~~
 

Er seufzte. Er musste sich unbedingt bei Takano entschuldigen. Wie sollte er das nur wieder gut machen? Von allen hatte Takano es als Letzter verdient, dass er seinen Frust an ihm ausließ. Über diese Geschichte mit seinem Vater brütete er jetzt schon die ganze Woche, es hatte ihn seither nicht losgelassen. Und wahrscheinlich war er auch nur deswegen so leicht reizbar gewesen. Auch, wenn der Besuch seines Vaters unerwartet kam und auch genauso unerwartet endete, so plagten ihn jetzt Zweifel. Wegen seiner beruflichen Lage, vor allem aber auch wegen dem, was all dies für ihn privat bedeuten würde. Er fühlte sich, als würde er auf dünnem Eis balancieren und jeden Moment ausrutschen. Wahrscheinlich hätte er Takano nicht meiden sollen. Wahrscheinlich wäre es das Beste gewesen, ihn damit direkt aufzusuchen und die Lage zu erklären. Vielleicht hätte ihm das geholfen. Vielleicht hätte Takano seine Zweifel mit einem lässigen Kommentar wegfegen können. Obwohl Takano natürlich auch nur ihr Abteilungsleiter war und mit der Geschäftsleitung nur wenig zu tun hatte. Geschweige denn, dass er Isaka irgendwie hätte beeinflussen können. Isaka, den sich sein Vater ins Boot geholt hatte.
 

Jetzt im Nachhinein fühlte er sich wie der größte Idiot. Die ganze Zeit hatte er Takano aufs Äußerste gemieden, anstatt mit ihm zu reden. Und wie oft hatte sein Vorgesetzter ihm jetzt schon gesagt, er solle klar mit ihm kommunizieren? Damit er ihn verstehen konnte. Damit es nicht wieder zu Missverständnissen kam und sie aneinander vorbei redeten. Oder sich deswegen gar ihre Wege trennten, so wie damals… und jetzt vielleicht auch?
 

Nein, nein, nein! So durfte er gar nicht denken! Er war nur aus dem Auto gestiegen. Er hatte nur das Gespräch gemieden und war aus dem Wagen gestiegen. Und den Termin hatte er auch sausen lassen. Aber immerhin lagen seine Sachen noch im Auto, so hatte Takano zumindest auch alle nötigen Unterlagen für das Gespräch. Immerhin etwas. Oh je… der Termin mit dem Autor und… oh nein. Oh nein! Der Termin mit Yokozawa! Bestimmt hatte Takano ihm erzählt, dass er bei dem Termin auch anwesend sein würde. Bestimmt rechnete Yokozawa auch mit ihm. Und bestimmt würde er fragen, wo er denn geblieben war. Ob Takano es ihm erzählen würde? Alles? Immerhin verband sie eine enge Freundschaft, eine Vertrauensbasis, die er selbst offensichtlich noch nicht erreicht hatte. Die er bislang nicht erreichen wollte, vor der er sich gefürchtet hatte und es auch noch immer tat.
 

Da konnte er sich auf etwas gefasst machen, immerhin hatte Yokozawa ihm seine Position ganz klar und deutlich vor Augen geführt. Er schluckte hart. Yokozawa hatte ziemlich deutlich gemacht, was passieren würde, würde er es wagen, Takano noch einmal zu verletzen. Hatte er Takano verletzt? Wahrscheinlich…
 

Betrübt holte er sein Telefon aus der Jackentasche, prüfte den Weg bis zur Bahnstation. Es sollte wohl nicht mehr allzu weit sein. Er hoffte inständig, dass ein Zug kam. Ansonsten würde er ein Taxi rufen müssen, für welches er nicht ausreichend Geld mit sich trug. Oder er müsste Takano anrufen und ihn bitten, ihn abzuholen. Nein, das konnte er unmöglich tun. Er könnte ihm nicht in die Augen sehen und eine Idee, wie er sich entschuldigen und sich erklären sollte, hatte er auch noch nicht. Aber so wie es aussah, würde der Akku seines Telefons diese Option ohnehin nicht zulassen. Und seine Tasche lag immerhin auch noch in Takanos Wagen, also wohl oder übel auch sein Ladekabel. Selbst wenn er also eine Steckdose finden würde, es wäre zwecklos. Was hatte er da nur angerichtet? Wie kam er da nur wieder raus?
 

~~~
 

Die Ortschaft, in der der Termin stattfand und auch das Hotel gebucht war, lag fernab der Stadt in erhöhter Lage. Die Luft war klar und die Temperaturen frisch, es wäre alles perfekt gewesen, um mit Onodera die heißen Außenanlagen des Bades zu nutzen. Takanos Weg führte in Serpentinen bergauf, um ihn herum lag Wald. Die Aussicht, die sich bereits auf dieser Höhe bot, ebenso wie die unberührte Natur hier draußen, hätten auch seinem Partner gefallen.
 

Partner… ob Onodera das war? Noch immer konnte oder wollte sein junger Nachwuchsredakteur nicht zugeben, dass er ihn liebte. Dass er zu ihm gehörte. Waren sie also Partner? Oder waren sie nach wie vor nur Nachbarn, beziehungsweise Arbeitskollegen? Beide Optionen widerstrebten ihm. Er wollte mehr als das. Er wollte mit Onodera zusammen sein, immer. Er wollte, dass er ihm gehörte, dass er ihn küssen und berühren konnte, wann immer sich die Gelegenheit bot.
 

Er hätte es nicht forcieren sollen. Er hätte Onodera vorwarnen sollen, zumindest das Treffen mit dem Autor hätte er ankündigen sollen. Was er streng genommen auch getan hatte, nur hatte er dabei den eigentlichen Ort des Geschehens unter den Tisch fallen lassen. Und das hatte er davon. Jetzt fuhr er mutterseelenallein eine Serpentine nach der anderen, obwohl er die Chance hätte nutzen können, mehr über Onodera zu erfahren. Mit ihm zu reden, die letzten zehn Jahre aufzuarbeiten und die Vergangenheit endlich Vergangenheit sein zu lassen. Aber er hatte einmal mehr die Reihenfolge nicht eingehalten. Und noch dazu hatte er über Onoderas Kopf hinweg entschieden.
 

Resigniert atmete er aus. Es war Onodera selbst, der ihm erzählt hatte, wie sehr er es hasste, wenn über dessen Kopf hinweg entschieden wurde. Dass er zumindest gefragt werden wollte. Es war damals an seinem Geburtstag gewesen. Gleichermaßen war die Reihenfolge immer wieder Thema ihrer wenigen Konversationen, die sie abseits der Arbeit führten. Und dennoch hatte er weder das eine noch das andere berücksichtigt. Er hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Das Treffen mit dem Autor kam ihm gelegen und er wollte doch nur Zeit mit der Person verbringen, die er liebte. Was war so falsch daran?
 

Ob seine Liebe einfach nicht erwidert wurde? Diese kleine Stimme in seinem Kopf hatte ihn seit jeher nicht losgelassen. Was, wenn Onodera seine Liebe nicht erwidern konnte, weil er ihn schlichtweg nicht liebte? Doch dann hätte er ihn abgewiesen. Dann hätte er sich gewehrt, wirklich gewehrt. Mittlerweile ließ er ihn gewähren, erwiderte seine Küsse, Berührungen und auch den Sex genoss er. Um das zu sehen, brauchte es keinen Detektiv.
 

Ritsu Onodera, oder besser Ritsu Oda, hatte ihm damals gezeigt, dass es auch Menschen gab, die an seiner Seite sein wollten. Die ihn wohlauf und glücklich sehen wollten. Die ihn liebten. Bedingungslos. Das war etwas, dass es in seinem Leben zuvor nicht gab. Liebe hatte in seiner Welt nicht existiert, bis sein kleiner Stalker ihm in einer Welle aus Gefühlen das Gegenteil bewiesen hatte.
 

Und so wie Onodera ihm damals geholfen hatte, so wollte er jetzt auch bei ihm sein. Wie oft hatte er schon versucht, Onodera seine Unsicherheit zu nehmen? Ihm zu zeigen, dass er hinter ihm stand und ihm den Rücken freihielt. Dass er ihn liebte und Onodera es nur zulassen müsste, so wie er es damals auch getan hatte.
 

Sie waren beide verletzt worden. Und das alles nur aufgrund eines dummen Missverständnisses. Er selbst hatte das Herz der Person, die er so liebte, gebrochen, weil er im falschen Moment gelacht hatte. Und Ritsu hatte seines in zwei Hälften zerrissen, als er ohne ein Wort verschwunden war. Es wurde Zeit, dass sie diesen Schaden wieder in Ordnung brachten.
 

Wenn Onodera doch nur nicht so stur wäre...
 

Wenn er daran dachte, dass sie all das Theater jetzt nur hatten, weil dieser Trottel damals einfach weggelaufen war und ihrer beiden Leben bis heute unnötig verkomplizierte… Onodera hatte Hals über Kopf aufgrund eines Missverständnisses die Flucht ergriffen. Dieser Idiot.
 

Es war sein Handy, das ihn aus seinen Gedanken und zurück ins Hier und Jetzt brachte. Er konnte das Vibrieren am harten Plastik der Mittelkonsole hören, wo er das Telefon vor der Fahrt platziert hatte. Ob es Onodera war? Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und stand nun irgendwo im Nirgendwo. Was, wenn er ihn brauchte und wollte, dass er ihn wieder aufsammelte? Suchend wanderte sein Blick zu der Geräuschquelle und wurde schnell fündig. Das Gerät lag jedoch auf dem Display und er konnte nicht erkennen, wer ihn anrief. Mit nur halbem Auge auf dem Verkehr löste er hastig die Hand vom Lenkrad, um nach dem Telefon zu tasten und den Anruf nicht zu verpassen. Solche Situationen nervten ihn, weil sie ihn aus der Ruhe brachten. Er sollte sich voll und ganz auf den Verkehr konzentrieren, so war er sonst nicht.

Wehe, wenn das nicht Onodera ist…

Normalerweise war er ein verantwortungsvoller Fahrer, niemals hätte er sich von einem Anruf ablenken lassen. Wenn nur diese Sache mit Onodera nicht vorgefallen wäre, wenn er gedanklich nicht schon die ganze Zeit in seinem eigenen Chaos versinken würde…
 

Als ihm in der Kurve das Telefon auch noch zwischen den Fingern entglitt und auf den Boden der Beifahrerseite fiel, richtete er seinen Blick und seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.

„Verdammt!“ erschrocken drückte er das Bremspedal des Wagens durch, umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Mit quietschenden Reifen kam er gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Fast hätte er die rote Ampel übersehen. Im Grunde genommen hatte er sie bereits überfahren. Die komplette Vorderfront des Autos hatte die Haltelinie weit überschritten und er konnte das Verkehrslicht kaum noch sehen. Aber immerhin stand er, das war gerade nochmal gut gegangen.
 

„So ein Mist!“, knurrte er, ließ sich zurück in den Sitz fallen und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Das war knapp. Er war froh, dass die Straßen hier nur spärlich befahren wurden. Er hätte sich nicht ausmalen wollen, was passiert wäre, wenn…
 

Das Vibrieren hatte nicht aufgehört, sein Anrufer war hartnäckig. Jetzt, wo er ohnehin bereits stand, konnte er auch den Anruf entgegen nehmen. Dann könnte er danach die Fahrt in aller Ruhe wieder aufnehmen. Wenn das Gerät doch nur nicht auf den Boden des Beifahrersitzes gefallen wäre. Er knurrte genervt, als er den Sicherheitsgurt weitete und versuchte nach dem Telefon zu tasten. Immerhin konnte er jetzt das Display sehen, nur um noch verärgerter festzustellen, dass sein Anrufer nicht Onodera sondern Yokozawa war. Das konnte nur heißen, dass dieser schon ungeduldig auf ihn wartete – daher auch die Geduld ihn endlich an den Hörer zu bekommen. Doch so sehr er es auch versuchte und sich streckte, er bekam das Gerät einfach nicht zu greifen, immer erwischte er es nur mit den Fingerspitzen. Er hatte mittlerweile den Sicherheitsgurt vollständig gelöst und sich so weit wie möglich nach dem Telefon gestreckt. Das konnte doch nicht sein, er musste doch irgendwie an das Gerät kommen…!
 

Takano fuhr erschrocken auf, als er das dröhnende Hupen eines Fahrzeuges hörte. Er hatte das Geräusch sofort erkannt. Doch als er sich ruckartig aufsetzte, um der Geräuschquelle zu folgen, war es bereits zu spät.
 

Er hörte nur noch das ohrenbetäubende Geräusch von kreischendem Metall und spürte einen harten Stoß durch den Wagen gehen. Die Wucht des Aufpralls durchzog seinen ganzen Körper und katapultierte irgendetwas gegen seine Brust, das ihm gewaltsam sämtliche Luft aus den Lungen presste. Durch seine dunklen Strähnen hindurch konnte er nur noch das Aufblitzen von Glassplittern erkennen, die auf ihn stürzten. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und dann wurde alles schwarz.
 

~~~
 

Die Welt steht Kopf

Ein erschöpftes Seufzen glitt Onodera über die Lippen. Was für ein Ausflug! Er hatte doch tatsächlich noch die kleine Bahnstation erreicht und den einzigen Zug erwischt, der an diesem Tag noch zurück in die Stadt fuhr. Das war Glück im Unglück gewesen, immerhin war es keine Wohngegend und die Haltestelle befand sich mitten im Nirvana. Obwohl ‚zurück in die Stadt‘ auch sehr hochgegriffen war. Es war keine zentrale Linie, die so weit außerhalb des Wohngebietes fuhr und somit auch nicht die vielbefahrenen Strecken ansteuerte und nur in den Randgebieten hielt. Zu allem Übel musste er dann auch noch schwarzfahren! Er hatte weder Fahrkarte noch Kleingeld bei sich, so war ihm keine andere Wahl geblieben. Das war ihm jedoch erst aufgefallen, als der Zug direkt vor ihm zum Stehen gekommen war. Er fühlte sich wie ein Krimineller! Was für eine Art Erwachsener war da nur aus ihm geworden? Erst schlug seine Karriere unerwartete Bahnen ein, dann die Sache mit Takano und nun kamen noch Straftaten hinzu – denn rein theoretisch war Schwarzfahren nichts anderes. Auch, wenn es sich selbst für seine pflichtbewussten Ohren übertrieben anhörte... Zum Glück waren in den ländlichen Linien nur selten Kontrolleure an Bord.
 

Er war also bis in die Außenbezirke der Stadt gekommen und entschied sich von dort aus zu laufen. Geld für ein Taxi sowie seine Dauerfahrkarte waren immerhin in seiner Tasche zurückgeblieben. Und sein Glück wollte er an diesem Tag kein zweites Mal herausfordern.
 

Er hatte sich nach bestem Wissen an den Haltestellen entlang den Weg zurück ins Zentrum gebahnt, sein ungutes Bauchgefühl hatte ihn jedoch nicht verlassen. Nicht nur, weil er die meisten Stationen gar nicht gekannt hatte und daher raten musste, welche von ihnen ihn ins Zentrum führen würden, sondern auch, weil sich seine Gedanken immerzu um ein bestimmtes Thema drehten. Eher, um eine bestimmte Person.
 

Takano.
 

Er war zu keiner Lösung gekommen, hatte keine Idee, wie er seinem Partn-… wie er Takano, seinem Chef, gegenübertreten sollte. Wie er aus dieser verfahrenen Situation wieder rauskam. Es ging nicht nur um die Eskapade von heute, nein, sondern um diese ganze Sache, die da zwischen ihnen war. Der rosa Elefant, der im Raum stand und dem Takano zu gern Aufmerksamkeit schenkte. Er nicht. Sie waren keine Kinder mehr, die Schulzeit war vorbei. Man konnte sich nicht einfach verlieben, glücklich sein und dann… ja, dann was? Das Bilderbuch sah für gewöhnlich Heirat und eine glückliche Familie, sogar Kinder vor. Aber kein Bilderbuch hatte eine Storyline für zwei Männer gezeichnet.
 

Doch dann erinnerte er sich zurück an das Gespräch mit seinem Vater. Die Worte, die er gewählt und die Entscheidung, die er getroffen hatte… Wie war das noch gleich? Die Aussage, man sei naiv, war eigentlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Denn jemand, der sich und seine Handlungen als naiv bezeichnete, war es offensichtlich nicht – eine naive Person wäre sich ihrer Naivität nämlich gar nicht bewusst. Er hatte es damals in einem der Bücher gelesen, die Takano zu Schulzeiten ausgeliehen hatte. Nicht, dass sie es nicht im Unterricht behandelt hatten, doch dieser eine Satz, dieses Beispiel der Naivität war ihm hängen geblieben. Es hatte ihn die letzten zehn Jahre immer wieder heimgesucht, jedes Mal, wenn er wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Und gerade jetzt fühlte er sich wie die Verkörperung eines Oxymorons. Eines aus Fleisch und Blut und live in freier Wildbahn zu beobachten.
 

Erneut seufzte er erschöpft – denn das war er. Das letzte Mal hatte er sich so viel zu Schulzeiten bewegen müssen. Und auch das nicht freiwillig. Seit dem Berufseinstieg verbrachte er die meiste Zeit sitzend – im Büro, in der Bahn, in der Wohnung. Immerhin war er bald beim Verlag angekommen. Dieser lag nämlich von seiner jetzigen Position weitaus näher als seine Wohnung und zum Glück hatte er an seinem Schreibtisch ein bisschen Kleingeld für den Getränkeautomat parat. Das konnte er jetzt für ein Bahnticket nutzen. Und wenn er dann endlich zuhause angekommen wäre, würde er als erstes eine heiße Dusche nehmen und etwas essen – sein Magen hing ihm in den Kniekehlen. Kein Wunder, er hatte seit dem Morgen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen und seine unüberlegte Flucht hatte mehrere Stunden in Anspruch genommen. An der letzten Bahnstation hatte er an der Uhrzeit sehen können, dass sich der Nachmittag bereits dem Ende neigte. Er sollte sich wirklich beeilen, wollte er noch vor Anbruch der Dunkelheit Zuhause sein.
 

Als er vor dem hohen Verlagsgebäude stand und an den Stockwerken emporblickte überkam ihn ein Gefühl der Erleichterung. Es fühlte sich bereits so an, als wäre er fast zuhause angekommen, als wäre es nicht mehr weit. Vielleicht lag es auch daran, dass der Verlag sein zweites Zuhause geworden war – ein Gefühl, dass er in der alten Firma nicht gehabt hatte. Nie. Und das, obwohl er mit eben jener aufgewachsen war, obwohl sie seinen Namen trug. Oder er den Namen der Firma – wahrscheinlich war dies sogar treffender.
 

Die kalte Wand und das grelle Licht des Aufzugs brachten ihn zurück in die Realität. Er war noch nicht zuhause und seine Erschöpfung und Müdigkeit waren präsenter als je zuvor. Er spürte seine Füße, die sich mit Kräften dagegen sträubten, ihn weiter zu tragen und seine Augen, die unter der Beleuchtung anfingen zu brennen. Die angenehme Dunkelheit, die sich Onodera beim Öffnen der Türen erhofft hatte, trat jedoch nicht ein. Ihr ganzes Büro war nicht nur hell erleuchtet, er konnte auch das rege Treiben bereits aus der Entfernung wahrnehmen. Sie hatten doch alles rechtzeitig zum Druck gebracht? Und für gewöhnlich dachte die ersten Tage danach keiner von ihnen an Überstunden…?!
 

Neugierig bewegte er sich die letzten Schritte um die Ecke des Flurs, bis er freie Sicht auf ihren Arbeitsplatz hatte. Tatsächlich waren noch alle seine Kollegen an ihrem Schreibtisch. Doch irgendetwas war anders, irgendetwas stimmte nicht. Auch, wenn es ein gewohntes Bild war, so spürte er, dass etwas in diesem Bild nicht passte. Zum einen die unter Anbetracht der Abgabe späte Stunde, zum anderen wirkten sie auch gestresst oder gar gehetzt. Er konnte Minos besorgtes Gesicht erkennen, der - soweit Onodera die Bruchstücke verstand – mit seinem Sohn sprach und ihn vertröstete. Aber auch Kisa und Hatori hatten jeweils die Hörer in der Hand, einer wirkte angespannter als der andere.
 

„Sagt mal, was ist denn los? Was macht ihr denn noch alle hier?“ Kaum hatte er das ausgesprochen merkte Onodera wie alle abrupt innehielten, ihn ansahen. Die Stille, die sich augenblicklich im Raum ausbreitete, behagte ihm nicht. Hatte er etwas Falsches gesagt? Ob er etwas vergessen hatte und sie jetzt wütend auf ihn waren? Doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dies hätte sein können. Er hatte nicht das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Das hätte Takano ihn als Allererster spüren lassen.
 

„Ha- Hab ich ‘was Falsches gesagt?“ er lachte nervös, die Stille wurde ihm langsam unheimlich. Warum starrten sie ihn denn so an? Es war fast, als hätten sie einen Geist gesehen. Wahrscheinlich hatten sie nicht mit ihm gerechnet, immerhin sollte er in diesem Moment auch nicht im Büro sein… aber ob das alles war? Die Atmosphäre war irgendwie… komisch.
 

Verzweifelt wanderte sein Blick von Mino zu Hatori, in der Hoffnung, etwas in deren Gesichtern erkennen zu können. Doch beide waren so undurchschaubar wie sonst auch, Onodera konnte mit Nichten erraten, was in deren Köpfen vorging.
 

„Rit-chan!!“ Und noch bevor er reagieren konnte, spürte er bereits Kisas Arme um seinen Körper und den starken Aufprall, als sein Kollege sich ihm um den Hals warf. „Du lebst!!“ Überrascht und völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte er mit seinem Kollegen nach hinten, bis sie von der Wand aufgefangen wurden.
 

„Rit-chan, ich bin so froh!!“, Onodera spürte nicht nur, wie sein Kollege sich noch fester an ihn klammerte, sondern bemerkte auch wie erstickt sich dessen Stimme anhörte. So, als ob… als ob… weinte Kisa etwa?
 

„Kisa-san! Wa-was ist denn los?“

„Geht es dir gut?“ Er spürte Kisas Hände, die erst seinen Rücken, dann seine Seiten abtasteten und letztendlich in seinem Gesicht endeten. „Oder bist du ein Geist?“ Onodera konnte die verwischten Tränen in Kisas Augenwinkeln sehen.

„I-Ich verstehe nicht –“ „Du siehst so blass und völlig fertig aus, sag, geht es dir gut?“

„J-ja…“

„Bist du dir sicher? Sollen wir einen Arzt rufen? Wie bist du überhaupt hierhergekommen?“

„Mo-Moment mal! Was ist denn passiert?”, bestimmt nahm er die fremden Hände aus seinem Gesicht und drückte seinen älteren Kollegen ein Stück von sich. Sein Kollege wirkte so aufgebracht in seinen Händen noch zierlicher als sonst, irgendwie zerbrechlich. In dessen eichbraunen Augen hatten sich erneut Tränen gesammelt, auch die Rötung und tiefen Augenringe entgingen Onodera nicht. Er musste geweint haben, eindeutig. Was zum… ?

„Und was macht ihr alle noch hier?“ er blickte sich noch verwirrter als vorher im Raum um, beobachtete, wie sich auch Mino erleichtert eine Träne aus dem Augenwinkel wischte und Hatori sich kraftlos in die Stuhllehne sinken ließ, was so gar nicht zu seiner sonst so strengen und aufrechten Haltung passen wollte. Seine braunen Haare standen wild ab und auch seine Krawatte saß nicht mehr an ihrem gewohnten Platz. So sah Onodera ihn für gewöhnlich nur, wenn einer seiner Autoren ihn an den Rand der Verzweiflung trieb.
 

„Wir haben uns Sorgen gemacht.“

„Mino, das trifft es ja wohl nicht annähernd!“, tadelte ihn Kisa aufgebracht, hatte dieser noch immer damit zu kämpfen seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. „Bist du dir sicher, dass wir keinen Arzt rufen sollen?“

„Wieso sollte ich einen Arzt brauchen?“

„Du warst doch mit Takano unterwegs, oder nicht?“ Die Hellhörigkeit als auch die Skepsis in Hatoris tiefen und sonst ruhigen Stimme ließen ihn aufhorchen. Takano?

„Ja, war ich. Allerdings…“, wie sollte er das seinen Kollegen erklären? Dass er hier war, weil er und Takano sich gestritten hatten. Weil sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Weil es gar nicht um die Arbeit ging. Weil ihm Takanos Nähe zu viel wurde, „… ist Takano-san alleine weitergefahren.“
 

Und wieder. Wieder war es im Raum totenstill und wieder starrten ihn alle an. Wieder hatte er das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. „Dann bin ich zurückgefahren. Und weil ich etwas im Büro vergessen hatte, wollte ich noch kurz…“ Onodera verstummte. Seine Kollegen schwiegen noch immer. Starrten ihn an. Ihre stoischen Mienen waren gezeichnet von Unverständnis, Bedauern, Sorge und Schock. Beklemmung. Und nichts davon behagte ihm.

„Ach so. Dann weißt du es also gar nicht.“ Die Worte waren nicht mehr als ein gedämpftes Murmeln.

„Oh…“

„Onodera…“

„Weiß ich was nicht? Würde mir vielleicht endlich jemand erklären, was hier überhaupt los ist?!“

Es war Kisa, der als erstes den Mund öffnete, um zu einer Antwort anzusetzen. Doch anstelle einer solchen wurden dessen Augen erneut glasig, seine Lippen zitterten, bevor er sie wieder schloss und hart schluckte. Als er erneut ansetzte, war seine Stimme nicht mehr als ein Wispern, sie bebte regelrecht.
 

„Takano hatte einen Unfall.“ Kisa.
 

„Wir dachten, du wärst bei Takano.“ Mino.
 

„Ich gebe Kirishima Bescheid…“ Hatori.
 

Plötzlich war in seinem Kopf alles wie leergefegt. Was hatte Kisa gerade gesagt? Hatte er das wirklich gesagt? Was… ?
 

Mit einem Schlag fehlte ihm die Luft zu atmen. Er spürte, wie sich seine Lungen zuschnürten und es in seiner Brust immer enger wurde. Die Welt hatte für einen Moment aufgehört, sich zu drehen und die Zeit stand still. Er hörte sie alle, ihre Stimmen, wie sie sprachen und auf ihn einredeten. Und dennoch, es war alles leer. Kalt und leer. In seinem Kopf war nichts mehr, er spürte, wie die Kälte langsam sein Rückgrat entlang kroch. Es wirkte alles so surreal. Takano sollte…? Was… ?
 

… ein Unfall?
 

Takano war… „W-was?“. Er konnte sich nicht bewegen, fühlte sich gelähmt. Sein Körper gehorchte ihm nicht, seine Kehle war wie zugeschnürt, seine Eingeweide verkrampften sich, als hätte man ihm heftig in die Magengrube geschlagen. Was war das gerade eben? Was hatten sie gesagt?
 

Takano… einen Unfall?
 

Er konnte nicht atmen. Er hatte Takano doch vorhin noch gesehen. Es ging ihm gut. Er war wohlauf, er hatte mit ihm gesprochen. Er hatte ihn behandelt wie sonst auch, so, wie Takano ihn eben behandelte. Er war doch heute Morgen noch bei ihm gewesen, neben ihm gesessen, hatte ihn angesehen, heimlich aus den Augenwinkeln dessen lange Wimpern hinter den Brillengläsern bewundert und über sie beide nachgedacht. Wie er mit Takano reden, ins Gespräch kommen konnte. Wie er mit ihm umgehen sollte. Dann hatten sie sich gestritten. Aber es war ihm doch gut gegangen, Takano war wohlauf gewesen. Und jetzt sollte es das gewesen sein? War Takano…? Nein, das durfte nicht sein! Das konnte nicht das letzte Mal sein, dass sie sich gesehen, miteinander gesprochen hatten. Nicht im Streit…
 

„Hey, Rit-chan? Ist alles in… in… hm”, Kisa traute sich nicht die Frage zu beenden, natürlich war er nicht in Ordnung, keiner von ihnen war es. Sie alle schätzten Takano. Außerdem hatte Takano, soweit er es mitbekommen hatte, Onodera sehr bei der Einarbeitung unterstützt. Er hatte alle von ihnen unterstützt.
 

„I-ist Takano… ich meine, ist er… g-geht es ihm gut?“, Onoderas Stimme, nein, Onodera selbst bebte. Kisa konnte sehen, wie alles an ihm zitterte, um Fassung kämpfte und wie schwer es seinem Kollegen fiel, seine Frage zu formulieren. Wenn er ihm doch nur irgendwie helfen könnte! Doch selbst diese eine Frage konnte er ihm nicht beantworten.
 

„Das wissen wir nicht.“ Setzte Kisa behutsam an und konnte sich vorstellen, wie hart diese Worte für Onodera sein mussten. Auch, wenn er nicht genau wusste, wie er und Takano zueinanderstanden, so hatten sie alle mitbekommen, dass sie sich wohl noch von früher kannten und die Kollegen der Nachbarabteilung hatten sie des Öfteren gemeinsam pendeln sehen. Wenn er sich seinen Kollegen jetzt ansah, konnte er ihn kaum wiedererkennen „Vielleicht weiß Kirishima-san mittlerweile mehr. Hast du ihn erreicht, Hatori?“

„Er ist schon auf dem Weg. Er musste noch privat ein paar Anrufe erledigen.“

„Heißt das…?“, Kisa wandte sich fragend an seinen Kollegen.

„Ja, er fährt hin.“ Hatori richtete seinen Blick auf Onodera. Ihm war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Bestimmt kannst du mit ihm mitfahren, er fährt direkt zum Krankenhaus, in das Takano gebracht wurde.“
 

„Kirishima…?“ Onodera kam der Name bekannt vor und er konnte ihm auch ein Gesicht zuordnen, doch wie standen er und Takano in Verbindung? Was hatte Kirishima damit zu tun? Sein fragender Blick blieb nicht unbeantwortet und Hatori setzte seine Erklärung fort. Und auch, wenn man ihm seine Erschöpfung ansah, schien Hatori von allen am ruhigsten, bewahrte stoisch wie sonst auch seine Fassung.
 

„Yokozawa hat Kirishima angerufen und ihn ins Bild gesetzt. Auch darüber, dass von dir jede Spur fehlte und du nicht erreichbar warst. Da wir noch im Büro waren, hatte Kirishima uns gebeten, zu versuchen dich auf dem Handy zu erreichen, weil man bereits die Gegend der Unfallstelle nach dir absuchte. Die Polizei dachte, du wärst in den Unfall verwickelt gewesen.“
 

In Onoderas Kopf fügten sich mit Schrecken die Puzzleteile zusammen. Stimmt, sein Handy hatte keinen Akku mehr, seitdem er an der Bahnstation angekommen war. Und dann waren noch seine Sachen in Takanos Wagen, er hatte sie dort einfach liegen lassen. Und mit diesen auch all seine Unterlagen, die ihn als Ritsu Onodera auswiesen.
 

Takano… es musste ihm gut gehen. Onodera hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, nie hätte er aussteigen sollen. Er hätte ehrlich zu Takano sein sollen. Er hätte ihm alles erklären sollen. Er hätte bei ihm bleiben sollen. Er hätte, hätte, hätte – aber er hatte nicht. Das durfte alles einfach nicht wahr sein. Es konnte nur ein schlechter Traum sein und er müsste nur noch aufwachen.
 


 

~~~
 

Nur kurze Zeit später saß er mit Kirishima im Auto. Ein Mann, den er nur flüchtig vom Sehen kannte, ein paar Mal hatte er ihn im Gang und auf größeren Veranstaltungen des Verlags wahrgenommen. Auf einer der solchen war er ihm zum ersten Mal aufgefallen, da er die Aufmerksamkeit und Gunst der Damenwelt auf sich gezogen hatte. Genau wie Takano. Damals hatte Onodera nicht fassen können, wie Frauen sich so sehr von seinen Kollegen blenden lassen konnten, immerhin wusste er, wie sie tagtäglich den Alltag bestritten. Anfangs war es ihm unbegreiflich gewesen, doch mit der Zeit hatte er ehrlich mit sich sein müssen – letzten Endes war auch er Takano verfallen. Damals, so wie heute.
 

Und jetzt saß er neben Kirishima, der auf dem Weg ins Krankenhaus seinen Wagen am Limit der Geschwindigkeitsbegrenzung geschickt durch den Verkehr manövrierte. Onodera konnte sich nicht daran erinnern, wie er in den Wagen gekommen war. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was passiert war, nachdem er von Takanos Unfall erfuhr, doch es klappte nicht. Seine Konzentration ließ ihn im Stich. Seine Gedanken, seine Gefühle, sein ganzes Inneres drehte sich nur um Takano. Noch immer wussten sie nichts. Obwohl… stimmte das? Oder wusste Kirishima mehr als er bislang gesagt hatte?
 

„… ein gutes Zeichen, … oder?“

„Hm? Hast du was gesagt?“

„D-dass wir ins Krankenhaus fahren, ist doch ein gutes Zeichen, nicht wahr? D-dass Takano lebt…“

Kirishima schwieg und richtete seinen Blick starr auf den Verkehr. Onodera konnte sehen, wie die Miene des Fahrers sich mehr und mehr verhärtete und ihm seine Gedanken, seine Antwort nicht über die Lippen kommen wollten. Der junge Redakteur spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust immer fester zusammenzog, ihm die Kehle und das Herz abschnürte. Kirishima wusste mehr und er sagte es ihm nicht. Das konnte nur bedeuten, dass… dass… Das durfte nicht wahr sein. Völlig unmöglich, nein, das konnte einfach nicht wahr sein!
 

„Ich weiß es nicht.“

„Lügen Sie mich nicht an!“, entfuhr es Onodera harsch. Seine Nerven waren bis zum Anschlag gespannt, er wollte Antworten und keine Lügen. Keine Verharmlosungen. Was zur Hölle war hier los? Takano hatte einen Unfall und keiner sollte ihm sagen können, wie es ihm ging?! „Sagen Sie mir die Wahrheit! Sie wissen etwas, richtig?!“
 

„Nein.“ Der Fahrer atmete erschöpft aus, hielt inne. Auf seine harte Miene schlich sich eine unheimliche Sorge und Onodera erschrak über die Menschlichkeit, die er an seinem Gegenüber sehen konnte. Die ganze Zeit hatte er keine Miene verzogen, kühl und sachlich gewirkt. Etwas gestresst. Doch die Sorge und das Bedauern, dass er jetzt zeigte und der Schmerz, den seine braunen Augen zu Tage förderten, ließen auch Onodera verstummen. Er hätte ihn nicht so anfahren sollen. Doch gleichzeitig konnte er Kirishima nicht verzeihen, dass er ihm Informationen vorenthielt.
 

„Wie es Takano geht… weiß auch Yokozawa nicht. Es ist das Einzige, was wir nicht wissen.“

„Das glaube ich nicht! Ich habe Ihre Reaktion doch gesehen! Irgendetwas enthalten Sie mir vor!“

Und wieder Schweigen. Onodera sah, wie der Dienstältere überlegte, ob und was er ihm erzählen sollte und auch wollte. Dessen Zögern verunsicherte ihn, er spürte wie seine Fassade weiter ins Bröckeln geriet, seine Fassung verloren ging.
 

„Bitte… sagen Sie es mir.“ Onoderas Stimme wurde erneut brüchig, zitterte. „I-ich muss es wissen, weil ich ... weil…“, er verstummte. Wie sollte er ihm das erklären? Nein, eigentlich gab es keine Erklärung. Er konnte das einem Kollegen, der allein aufgrund seines Ranges ein indirekter Vorgesetzter war, nicht sagen. Er würde nicht nur sich, sondern vor allem Takano in Schwierigkeiten bringen.
 

„Schon gut, ich weiß, wie du zu Takano stehst. Deswegen habe ich dich mitgenommen.“, Kirishima blickte kurz zur Seite, direkt in Onoderas überraschtes Gesicht. Abgesehen von dessen Verwunderung, sah er auch dessen Blässe, die dunklen Augenringe und die leichte Rötung unter dessen Lidern. Müdigkeit und zurückgehaltene Tränen, er kannte diesen Blick von sich selbst, von seinem Partner und leider Gottes auch von seiner Tochter. Verzweiflung und Trauer zehrten schrecklich an den Kräften der Menschen. Onodera hatte recht, es war nicht fair, ihm Informationen vorzuenthalten, weder konnte er Onodera vor der Realität schützen, noch war es seine Aufgabe. Zu wissen, dass es einem geliebten Menschen schlecht ging, dass man um dessen Wohlergehen bangen musste und nicht wusste, ob man sich auf einen Abschied vorbereiten sollte… er konnte es selbst viel zu gut nachvollziehen, er war diesen Weg bereits gegangen.
 

„Ich weiß es von Takafumi.“
 

Takafumi. Ta – ka – fu – mi. Onodera stockte. Kirishima hatte es von Takafumi erfahren… von…von Yokozawa! Er brauchte einen Moment, bis er das, was er gerade gehört hatte, verarbeitet hatte. Bis die Information, die zwischen den Zeilen eingebunden war, und die dazugehörige Erkenntnis zu ihm durchgesickert waren. Deswegen hatte Yokozawa Kirishima angerufen. War es wegen Yokozawa, weshalb Kirishima sich bereiterklärt hatte, ins Krankenhaus zu fahren? Ob Yokozawa ihn angehalten hatte, nichts zu erzählen? Würde das Sinn ergeben? Würde Yokozawa Takano immer noch für sich beanspruchen? Nein, das konnte Onodera sich nicht vorstellen. Nicht, wenn er jetzt einen Partner hatte. Dennoch, auch wenn er ihn nicht als Partner beanspruchte, so würde Yokozawa alles tun, um Takano zu schützen. Um ihn vor ihm zu schützen. Und Onodera verstand es, er hatte Takano mehr als einmal hängen gelassen.
 

Kirishima war sich sicher, dass Onodera verstanden hatte, was er ihm sagen wollte. Er konnte sehen, wie es bei seinem Beifahrer einen Schalter umgelegt hatte. Das war gut so, er konnte es ruhig wissen. Er sollte wissen, dass das hier keine Formsache unter Kollegen, sondern für sie beide eine private Angelegenheit war. Eine Sache, die privater nicht sein konnte und bei der die Arbeit nichts verloren hatte. Nicht, wenn man um diejenigen Angst hatte, die man liebte. Kirishima hatte mit sich gehadert, ob und was er Onodera sagen sollte. Die Details zu wissen, würde ihn nur noch mehr verängstigen und wie es Takano ging, wusste tatsächlich noch niemand von ihnen. Er hatte gehört und gespürt, wie sehr all die Informationen Yokozawa mitgenommen hatten, wie fertig er war. Seine Stimme hatte gebebt, er war nicht wiederzuerkennen gewesen. Unter keinen Umständen würde er seinen Partner in diesem Zustand sich selbst überlassen. Deshalb hatte er sich sofort auf den Weg gemacht. Dass der vermisste Onodera im Büro aufgetaucht war, kam gelegen, aber er wäre auch allein gefahren. Kirishima wusste, dass seine Begleitung all die Einzelheiten des Unfalls genauso schlecht verkraften würde wie Yokozawa.
 

Resigniert schnaufte er, grummelte ein ‚Na schön‘. Kirishima erinnerte sich, dass auch er damals alles darüber wissen wollte, wie es seiner Frau ging. Was Sache war. Die Unsicherheit hatte ihn vor allem in den ersten Momenten fast erstickt. Außerdem hatte er kein Recht, Onodera etwas vorzuenthalten, das war nicht seine Entscheidung.
 

„Wie es Takano geht, wissen weder ich noch Tak-… Yokozawa. Die Person, mit der Yokozawa gesprochen hat, war vom Einsatzteam der Unfallstelle und hat ihm alles erzählt. Wie es dazu gekommen sein musste, was passiert und wie die Lage war. Takano war zu diesem Zeitpunkt bereits ins Krankenhaus gebracht worden und Yokozawa hat sich direkt dorthin auf den Weg gemacht. Das ist der letzte Stand.“
 

„… Was ist passiert?“ Innerlich seufzte Kirishima, natürlich hatte Onodera sich mit seiner groben Zusammenfassung nicht zufrieden gegeben.
 

„Takanos Wagen ist mit einem Transporter kollidiert.“ Es hörte sich an, als ob beide ineinander gefahren wären. Kirishima überlegte, er war nicht glücklich mit dieser Formulierung. Das war es, was man Yokozawa zuerst gesagt hatte. Im selben Wortlaut hatte er es an ihn weitergegeben. Aber in Anbetracht der darauffolgenden Aussagen stimmte das so nicht.
 

„Nun, vielmehr ist der Transporter in Takanos Wagen gerauscht und hat ihn so von der Kreuzung in den Wald geschleudert.“ Onoderas Herz setzte für einen Moment aus, als er Kirishimas Worte hörte. Er spürte, wie ihm das Herz bis in den Schoß sank und es ihm kalt den Rücken runterlief, bevor sein Herz stärker und schmerzhafter als je zuvor gegen seinen Brustkorb schlug. Was…? Takanos Wagen sollte mit einem Transporter zusammengestoßen sein? Aber dessen Wagen war doch nur ein Zweisitzer. Klein. Ohne Schutz. Es gab doch keinen Platz für einen Puffer, unmöglich hätte dieser kleine Wagen ausreichend Widerstand bieten können. Schon gar nicht gegen einen Transporter. Nein, das durfte nicht wahr sein! Das konnte nicht sein, es durfte einfach nicht … !

„In den Wald… ?“

„Ja, soweit ich weiß muss es eine sehr kurvige Strecke sein. Serpentinen, die durch den Wald direkt in die Berge hinaufführen.“
 

Das wusste Onodera. Er kannte die Serpentinen. Er kannte den Wald. Die Strecke kannte er. Hieß das etwa, dass er noch ganz in der Nähe gewesen war, als es passierte? Dass Takano noch auf dieser Straße war würde bedeuten, dass der Unfall unmittelbar nach ihrer Trennung geschehen sein musste… War das ganze etwa seine Schuld?! Hatte er Takano in sein Unglück fahren lassen? Hätte er sich ruhig verhalten, hätten sie nicht gestritten, wären sie nicht stehen geblieben, sondern einfach weitergefahren, dann wäre der Unfall nicht…
 

„Der andere Fahrer soll zugegeben haben, dass er kurz eingeschlafen sei und daher die Kontrolle über den Wagen für einen Augenblick verloren hatte. Er beteuerte wohl aber auch, dass Takanos Wagen viel zu sehr seine Spur einschnitt, als dass er noch hätte ausweichen können. Er hat die Front des Wagens ergriffen, ihn gegen die Leitplanke geschmettert, welche nachgab und das Auto letztendlich in den Wald geschleudert wurde. Der Wagen muss dabei völlig zerstört worden sein.“ Kirishima wollte so sachlich wie möglich bleiben, obwohl ihm bei der Beschreibung des Unfallhergangs ebenso ein ungutes Gefühl überkam. Manchmal war es besser, weniger zu wissen. Yokozawa musste einen Anfänger am Apparat gehabt haben, der all die Einzelheiten ausgeplaudert hatte. Einen, den Yokozawa mit seinem dominanten und forschen Auftreten selbst durch das Telefon zur Genüge eingeschüchtert hatte und dann wahrscheinlich mehr gesagt hatte, als ihm zustand. Kirishima kannte seinen Partner. Yokozawa wusste nicht, was gut für ihn war und es bestand kein Zweifel, dass er seine Panik und Angst mit einem gewissen Maß an Aggressivität und Einschüchterung überdecken wollte. Und natürlich hatte er weiter nachgefragt… dieser Idiot.
 

„Als Takano geborgen war, die Unfallstelle geklärt wurde und sich die erste Aufregung gelegt hatte, hatte einer der Rettungshelfer das Klingeln von Takanos Telefon bemerkt und Yokozawas Anruf entgegengenommen. So erfuhr er von dem Unfall. Da er davon ausging, dass Takano mit dir kommen würde, hatte er auch nach dir gefragt. Keiner hatte eine zweite Person gesehen, doch da unter anderem die Windschutzscheibe völlig zerschmettert wurde und etwas tiefer im Wald dein Portemonnaie gefunden wurde, schloss man nicht aus, dass du vielleicht aus dem Auto geschleudert wurdest.“
 

Onodera schluckte hart, seine Kehle war trocken. Ihm wurde schwindlig bei Kirishimas Schilderungen. War das alles wirklich passiert oder würde er gleich aufwachen? Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein. Es musste sich um eine Verwechslung handeln, es musste so sein. Es durfte nicht Takano sein, der den Unfall hatte. Aber er hatte seine Sachen bei Takano im Auto gelassen. Es war Yokozawa am Telefon. Und er saß hier bei Kirishima im Auto. Je tiefer die Erkenntnis in seine Glieder sickerte und qualvoll seine Knochen erreichte, desto mehr hatte er das Gefühl, dem Druck auf seiner Brust nicht standhalten, den Kloß in seinem Hals nicht herunterschlucken und das Stechen in seinem Herzen nicht ertragen zu können. Er brauchte die Gewissheit, dass es Takano gut ging. Er brauchte Takano. Er durfte Takano nicht verlieren!
 

„Ich habe Yokozawa und der Polizei Bescheid gegeben, dass es dir gut geht und wir auf dem Weg sind.“
 


 

~~~
 

Wie gewonnen, so zerronnen…?

Es war wie ein Eiszapfen, der sich von der Decke löste und beim Aufprall in tausend kleine Splitter zerschellte. Viele kleine Eissplitter, die wie Messer gewaltsam durch die Haut bis tief in seine Brust vordrangen und wie aus dem Nichts einen so schneidenden Schmerz hinterließen, dass ihm plötzlich jegliche Luft fehlte.
 

Was? Was hatte sein Vater da gerade gesagt? Das konnte nicht sein Ernst sein, so einfach konnte man das doch nicht entscheiden. Unmöglich.
 

Er konnte nicht atmen, wusste nicht was er sagen sollte. Seine Gedanken schwirrten wirr in alle Richtungen und es fiel ihm schwer, sich eine Meinung darüber zu bilden. Geschweige denn ein Wort zu formulieren und über die Lippen zu bringen. Er hatte den Onodera Verlag doch extra verlassen…
 

„W…Was?“, vielleicht hatte er sich ja verhört. Vielleicht meinte sein Vater das ganz anders.
 

„Wir sind ein Familienunternehmen. Das muss ich dir wohl nicht erklären.“
 

„A…Aber… das kannst du doch nicht einfach so entscheiden?“
 

„Was denkst du, was ich von Anfang an von dir erwartet habe?“
 

„Aber Vater! Ich habe doch gerade erst im Marukawa Verlag angefangen und noch kaum Erfahrungen gesammelt! Außerdem kann ich meine Arbeit doch nicht einfach so verlassen!“
 

„Sei unbesorgt. Ich habe letztens Isaka beim Golf getroffen und bereits alles mit ihm besprochen. Bezüglich deiner Erf-“ „Du hast was?!“, Onodera erschrak selbst angesichts seiner harschen Art, aber viel mehr schockierte ihn diese arrogante Bevormundung seines Vaters.
 

„Ritsu! Ich verbitte mir diesen Ton!“
 

„Du kannst doch nicht einfach Entscheidungen für mich treffen, ohne mich wenigstens vorher mit einzubeziehen!“

„Ich beziehe dich jetzt mit ein. Es hat keinen Zweck, über Eventualitäten zu sprechen, ohne konkrete Fakten zu wissen.“

„Konkret? Wie bitte?! Was hast du mit Isaka-san besprochen? Ich bin erwachsen, Vater, und kein Kind mehr, das deine Bevormundung braucht. Ich treffe meine Entscheidungen selbst! Das geht nicht!“
 

„Und wie sollen diese Entscheidungen dann aussehen? Willst du dein restliches Leben einen solchen Schund produzieren? Ich hatte immer gedacht, dass du wirkliche Literatur liebst. Und willst du mit diesen Erfahrungen dann den Betrieb übernehmen? Ich denke doch eher nicht, Ritsu.“
 

Onodera biss sich auf die Lippe, ballte die Fäuste. Oh Mann, da hatte er sich ganz schön im Ton vergriffen. Er musste sich zusammenreißen, wieder zur Ruhe kommen. Andererseits, in keinem Alternativszenario, an das er denken konnte, hätte er anders reagiert. Das konnte sein Vater doch nicht tun! Wo war sein Mitspracherecht?! Sie lebten doch nicht mehr im Mittelalter. Und dennoch konnte er nicht leugnen, dass er die Hintergründe und Motive seines Vaters gut verstand. Es ging um die Zukunft des Verlags, der von seiner Familie gegründet und mühsam zu dem gemacht wurde, was er jetzt war. Verstehen war jedoch nur die eine Seite der Medaille, es gutzuheißen die andere.
 

„Ich…ich habe keine Antworten auf deine Fragen, Vater. Aber ich… ich kann jetzt nicht in den Verlag zurück.“
 

„Was willst du dann, Ritsu?“
 


 

~~~
 


 

Ich will Takano nicht verlieren!
 

Ich will Takano nicht verlieren!
 

Ich will Takano nicht verlieren!
 

Er hatte nicht gewartet; kaum dass sie an der Notaufnahme angekommen waren, hatte er die Tür aufgerissen und war aus dem Auto gesprungen. So schnell er konnte sprintete er die Gänge entlang, er durfte und wollte nicht noch mehr Zeit verlieren. Er musste zu Takano. Er musste ihn sehen. Er musste wissen, dass es ihm gut ging. Dass alles wieder gut werden würde.
 

Fast wäre er in eine Krankenschwester gelaufen, doch noch bevor diese ihn ermahnen konnte, hatte er sie nach dem Unfall gefragt. Wo er hingebracht wurde, wo Takano war. Der Mann, der in dem Verkehrsunfall verwickelt war. Ihr strenger Blick wurde sanft und sie hatte ihm die Richtung gezeigt. Und nun rannte er. Er rannte so schnell er nur konnte die kahlen, leblosen Gänge entlang. Auf dem Weg zu der Person, die ihm alles bedeutete. Er war ein Narr. Er hatte so viel Zeit damit verschwendet vor Takano wegzulaufen, weil er Angst vor dem Danach hatte. Wenn das Glück vorbei war, was kam, wenn man nicht mehr glücklich sein konnte. Nach der Liebe.
 

Was für ein Idiot er war.
 

Es war nicht vorbei, es war nie vorbei gewesen, seit ihrer Schulzeit nicht. Und nichts hatte es ihnen gebracht, außer Schmerz. Einen Schmerz, der so tief saß, dass er Angst vor Takano hatte. Vor dem, was er für ihn fühlte. Davor, dass er diesen Schmerz noch einmal durchleben musste. Wenn die Liebe vorbei war.
 

Und jetzt erst merkte er, wie lächerlich das war. Er hatte Takano einmal mehr weh getan, sich selbst das Leben zur Hölle gemacht und sich der wichtigsten Person in seinem Leben entzogen. Obwohl er sie so vermisst hatte. Obwohl er sich so nach Takano gesehnt hatte. All die Jahre.
 

Für was?
 

Nur, um jetzt festzustellen, was für ein Idiot er war. Dass er Takano heute verloren haben könnte. Dass er in nie wiedersehen könnte, nie wieder mit ihm sprechen, mit ihm streiten, ihm zuhören, mit ihm Zeit verbringen könnte… ihn nie wieder zu küssen, ihn zu fühlen, dessen Geruch in sich aufzunehmen. Alles. Weil er Angst davor hatte, was nach dem Glück kam, wenn die Liebe vorbei war. Wenn Liebe selbst nicht ausgereicht hatte. So, wie er damals gedacht hatte. Als er dachte, dass seine Liebe für seinen Senpai einfach nicht ausgereicht hatte, um zusammen zu sein.
 

Idiot… jetzt musste er lernen, dass es bereits vor dem Anfang vorbei sein könnte. Wenn die Liebe noch da war. Es konnte bereits vorbei sein, obwohl ihre Gefühle noch da waren. Und er hatte es nicht gemerkt. Er hatte es für selbstverständlich genommen, dass Takano da war. Dass sich nichts ändern würde. Dass er sie nur vor erneutem Leid bewahrte, wenn er sich nur vor Takano distanzieren und seine Gefühle nicht zulassen würde.
 

Und jetzt? Genau das Gegenteil war der Fall gewesen.
 

Ich will Takano nicht verlieren!
 

Onodera merkte auf, als er am Ende des Ganges Yokozawa sitzen sah. Zu dessen Linken war ein Behandlungszimmer. Er wirkte erschöpft, seine sonst so straffe und aufrechte Haltung war gebrochen. Je näher er kam, desto besser konnte er Yokozawa erkennen. Dessen blasses Gesicht, die tiefen Augenringe, die Sorgenfalten und die Kraftlosigkeit, die von ihm ausging. Wieso saß er dort? Wieso war er nicht bei Takano? Doch irgendwie beruhigte ihn das. Yokozawas Anwesenheit bereitete ihm nach wie vor Unbehagen und dessen Worte hingen ihm immer noch nach. Yokozawa würde Takano mehr lieben, dass er ihm Takano rigoros entreißen würde, wenn er ihn schlecht behandelte oder gar verletzte… und jetzt? Jetzt befanden sie sich in einem Krankenhaus und er wusste nicht einmal, wie es Takano ging.
 

Yokozawa schien ihn bemerkt zu haben, richtete seinen Blick auf ihn und noch bevor Onodera sich versehen konnte, stand vor ihm der alte Yokozawa. Von dessen Erschöpfung zeugten nur noch die geröteten Augenlider. Nun stand er aufrecht und groß vor ihm, stierte ihn mit seine eisigen grauen Iriden wütend an und rief Onodera deutlich ins Gedächtnis, warum man ihn als den wilden Bären des Marukawa-Verlags bezeichnete.
 

„Wo ist Takano?“, Onoderas Stimme war genauso gehetzt, wie er sich fühlte. Er hatte keine Lust, sich jetzt mit Yokozawa anzulegen.
 

Ich will Takano nicht verlieren!
 

„Was hast du hier verloren?!“
 

„Wo ist Takano?“
 

Ich will Takano nicht verlieren!
 

„Tauchst jetzt einfach hier auf! Was willst du hier? Wo warst du? Und warum warst du nicht wie geplant bei Masamune?! Wenn das Ganze hier irgendetwas mit dir-“
 

Nein, ich darf Takano nicht verlieren!
 

„ICH MUSS ZU TAKANO!“
 

„Meine jungen Herren! Ich muss doch sehr bitten, das hier ist ein Krankenhaus. Unsere Patienten brauchen dringend Ruhe, wenn Sie streiten möchten, dann tun Sie dies bitte außerhalb dieser Einrichtung.“ Behutsam schloss der ältere Herr die Tür des Behandlungszimmers, aus dem er gerade kam. Beide hatten sie ihre Aufmerksamkeit sofort auf ihn gerichtet und sich ihm ganz zugewandt. Ob er Takanos Arzt war? Onodera wusste es nicht, seinem Auftreten und Alter nach zu folgen, musste er jedoch eine höhere Position innehaben – sicher konnte er ihm Auskunft geben.
 

„Verzeihen Sie…“, beide schwiegen, peinlich berührt und gescholten wie zwei kleine Kinder.
 

„Sind Sie Takanos Arzt? Haben Sie ihn behandelt? Wie geht es ihm? K-kann ich zu ihm?“ Onodera konnte nicht die Konzentration aufbringen, um seine Gedanken zu ordnen. Er war zu durcheinander und der Drang, Takano zu sehen, zu wissen, dass es ihm gut ging, war einfach zu groß.
 

„Nun mal langsam. Ja, der bin ich. Und wer sind Sie? Über meine Patienten kann ich nur mit Angehörigen sprechen und als solcher hat sich bereits der Herr neben Ihnen identifiziert.“
 

Onodera fühlte sich wie vor dem Kopf gestoßen. Natürlich. Er sollte doch wissen, dass nur Angehörige… aber war er das? Was war er für Takano? Konnte er es sich wirklich erlauben, sich als dessen Angehöriger zu verkaufen? Yokozawa hatte es getan, aber zurecht – das wusste auch Onodera. Auch wenn es ihn schmerzte. Er wusste, dass Yokozawa sich all die Jahre wirklich um Takano gekümmert hatte, dass sie sich nahestanden. Also, was war er?
 

„Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander und die Unannehmlichkeiten, Doktor.“ Erschrocken fuhren Onodera und Yokozawa herum, als sie die Stimme hinter sich vernahmen. Keiner von beiden hatte bemerkt, dass Kirishima zu ihnen gestoßen war. „Wie Sie gewiss nachvollziehen können, kann man es ihnen in Anbetracht der Umstände nicht verübeln. Mein Name ist Kirishima Zen, ich habe gerade noch die Formalitäten am Empfang geregelt, beide als Angehörige und gleichzeitig Besucher angemeldet.“ Lächelnd hatte die beiden Besuchspässe hochgehalten, bevor er diese jeweils an Onodera und Yokozawa verteilte. „Seien Sie bitte unbesorgt, beide sind enge Angehörige und Familie von Takano, Masamune.“
 

Kirishima spürte die verwunderten Blicke seiner Kollegen auf sich, konnte aber sehen wie auch sein Gegenüber eine entspanntere Haltung einnahm. An der Rezeption hatte man ihn darüber ins Bild gesetzt, dass er der hiesige Oberarzt war und sich in besonderen Fällen immer selbst den Patienten widmete. Takano musste einer dieser sein. Gleichzeitig hatte er erfahren, dass sich sein Partner noch nicht mit den Formalitäten befasst hatte, womit die junge Empfangsdame ihre Chance genutzt und ihn dafür eingespannt hatte. Im Nachhinein war es wohl auch besser so, er konnte verstehen, dass Yokozawa nicht den Kopf dafür hatte. Er konnte sehen und spüren wie dessen Verwunderung in Dankbarkeit überging.
 

Und Onodera war vorhin einfach nur losgerannt. Den hätte er, selbst wenn er gewollt hätte, nicht aufhalten können. Und somit hatte die Empfangsdame auch Onodera nur wütend nachsehen können. Kirishima bereute keineswegs hergekommen zu sein, es war gut, dass die beiden Chaoten jemanden hatten, der sich um den Rest kümmerte. Jemand, der nicht vor Sorge fast umkam.
 

Einwilligend hatte der Arzt sich Onodera geschnappt und ihn etwas weggeführt, Yokozawa hatte er ja bereits in Bild gesetzt. Kirishima konnte nur hoffen, dass es Takano gut ging. Nicht nur für ihn selbst, sondern auch für Yokozawa. Er brauchte Takano, vielleicht nicht mehr als Liebhaber, aber als Freund. Als wichtige und essenzielle Person in dessen Leben. Die Situation hatte Yokozawa zugesetzt, man sah ihm an, wie kräftezehrend die letzten Stunden gewesen sein mussten. Kirishima konnte deutlich sehen, dass dessen Fassade langsam zu bröckeln begann.
 

„Oh Mann, euch kann man keine Minute aus den Augen lassen.“ Seufzend lockerte er seine Haltung, gegenüber seinem Partner konnte er sich ruhig entspannen. Zumindest äußerlich. Und vielleicht würde Yokozawa es ihm gleichtun.
 

„Und demzufolge, was ich an der Rezeption gerade alles gefragt und gebeten wurde zu bestätigen, musst du genau wie Onodera hier einfach wild reingerannt sein, ohne nach links und rechts zu schauen.“ Der leichte Rotschimmer auf Yokozawas Wangen, ebenso wie sein betrübter Blick waren auch ohne dessen Antwort Bestätigung genug. Doch so gar kein Wort… ?
 

„Yokozawa?“
 

„Bist du wütend?“ Kirishima verstand die Frage nicht. Die Worte, ja. Was Yokozawa wissen wollte eigentlich auch, nur… wieso sollte er wütend sein? Sein Blick ruhte auf Yokozawa, hegte die Hoffnung, etwas in dessen Mimik herausfinden zu können. Wütend… ? Er meinte doch nicht etwa… ?
 

„Du meinst, ob ich eifersüchtig bin?“
 

Das Gefühl der Hilflosigkeit trieb Yokozawa fast in den Wahnsinn. Zum einen die Sache mit Masamune und dann stand auf einmal Kirishima hinter ihnen und erklärte dem Arzt sie seien enge Angehörige, Familie. Derselbe Kirishima, der sich auf seine eigene und oft überspielte Art von Unsicherheit immer irgendwie Gewissheit über ihre Beziehung einholte. Und dann kam er hier an und fand ihn so fertig vor, mit den Gedanken bei niemand anderem als seinem besten Freund. Seiner unerwiderten Liebe, die trotz allem einen anderen ihm vorgezogen hatte. Seine Gedanken, Gefühle, sein Herz, alles konnte sich nur darauf konzentrieren, dass es Masamune gut ging. Und genau dann musste Kirishima ihn so sehen. Das war nicht fair. Das war nicht das, was er Kirishima zeigen wollte, weil es nicht das war, wonach es aussah.
 

Und jetzt stand er ihm gegenüber, ganz locker, mit diesem ausdruckslosen Gesicht und dem schon fast sachlichem Tonfall. Oh Mann, er konnte seinen Partner gerade überhaupt nicht einschätzen. Ob er sauer war? Eifersüchtig hatte er nicht sagen wollen, aber ja, Yokozawa konnte verstehen, wenn Kirishima nicht gerade erfreut war. Wenn er wütend wäre. Sei es aus Eifersucht, oder dem Gefühl des Verrats. Aber er hatte in nicht verraten, er… er… wie sollte er ihm das erklären? Er fühlte sich hilflos und erst jetzt merkte er, wie kalt ihm war. Wie es ihm eisig den Rücken hinablief, die Kälte tief in seinem Inneren saß und er seine Finger eigentlich kaum noch spürte.
 

„… auch.“ Yokozawa fühlte sich zurück in seine Kindheit versetzt. Er, der es verbockt hatte und nur darauf wartete gescholten zu werden. Er spürte den Kloß in seinem Hals und sein Magen, der sich vor lauter Sorge schon völlig verkrampft hatte.
 

„Mach dich nicht lächerlich!“ Noch bevor Yokozawa reagieren konnte hatte Kirishima ihn bereits zu sich gezogen und hielt ihn eng an sich gedrückt. Er spürte dessen lockiges Haar an seinem Gesicht, dessen Wärme und den vertrauten Duft seines Partners. „Mir würde es nicht anders gehen. Ich habe mir furchtbar Sorgen um dich gemacht!“
 

Kirishima wartete kurz, merkte wie Yokozawa sich an ihm anlehnte und Halt suchte. Er wollte gar nicht wissen, wo Yokozawas Fantasie ihn hingeführt hatte – so ein Blödsinn, er wäre der Letzte, der ihn nicht verstehen und dessen Gefühle voll und ganz nachvollziehen konnte.
 

„Und, wie geht es nun Takano?“ Damit brach Kirishima in Yokozawa den letzten Widerstand und er konnte spüren, wie dieser in seinen Armen haltsuchend zusammensackte.
 


 

~~~
 

Er konnte nicht glauben, was er hörte.
 

Diese Worte wirkten so unwirklich, so surreal. Er konnte kein Wort von dem glauben, was ihm der Arzt gesagt hatte. Er spürte, wie seine Knie weich wurden und seine Beine an Stabilität verloren. Wie unter ihm alles drohte nachzugeben und eine schwere Last von oben auf ihn hereinbrach.
 

Doch er hielt stand. Er konnte jetzt nicht nachgeben, noch nicht. Denn irgendetwas in ihm wehrte sich, es zu glauben. Nicht, bis er es mit eigenen Augen gesehen hatte. Bis er ihn nicht gesehen hatte.
 

Dass er lebte. Dass es ein Morgen geben würde. Dass es noch nicht vorbei war.
 

Er durfte jetzt nicht nachgeben, er musste auf den Beinen bleiben, irgendwie. Wenn jetzt seine Knie einknickten und er sich setzte… würde er wieder aufstehen können? Diese ganze Situation zehrte im Moment dermaßen an seinen Kräften, dass er es nicht wagte, dieses Risiko einzugehen. Er musste weiterfunktionieren. Bis er Gewissheit hatte. Bis er es mit eigenen Augen gesehen hatte.
 

Er musste Takano sehen, er musste sich selbst ein Bild von dessen Zustand machen. Erst dann könnte er wirklich realisieren, was der Arzt ihm gerade geschildert hatte.
 

„Bitte lassen Sie mich zu ihm. Ich muss ihn sehen.“
 

Onodera sah den strengen Blick, mit dem er begutachtet wurde. Hörte das schwere, unzufriedene Seufzen des Arztes und konnte dessen Bedenken regelrecht greifen. Er war der Einzige, der darüber entscheiden würde, was jetzt passieren würde. Der Letzte, der zwischen ihm und Takano stand.
 

Er wusste, dass es dem Arzt gewiss nicht an Einwänden mangelte. Onodera konnte es nachvollziehen, er hatte ihm immerhin zugehört, jedes einzelne Wort in sich aufgenommen und hörte sie nach wie vor in seinem Inneren widerhallen. Dennoch, er würde keine Ruhe finden, bis er Takano nicht mit eigenen Augen gesehen hatte.
 

Onodera beobachtete, wie der Widerstand des Mannes vor ihm abebbte und er zur Seite trat. Er sprach kein Wort, richtete einfach nur seine flache Hand auf die Tür hinter ihm. Onodera erkannte die einladende Geste, auch wenn sie gezwungen wirkte. Wie von selbst hatten sich seine Beine in Bewegung gesetzt und die letzten Meter überbrückt.
 

Er hatte seine Hand bereits nach der Tür ausgestreckt, als er innehielt und sich selbst ermahnte. Er konnte hier nicht einfach so reinmarschieren. Er konnte weder seiner Angst noch dieser kleinen Stimme der Hoffnung in seinem Kopf diesen Freiraum geben. Die Tür aufzureißen und in den Raum zu platzen war egoistisch und rücksichtlos. Und es war gewiss nicht das, was der Arzt von ihm erwartete. Er musste sich zusammenreißen, durfte jetzt nichts überstürzen.
 

Seine Finger berührten das kalte Material und holten ihn zurück ins Hier und Jetzt. Er war in einem Krankenhaus, es war bereits spät, um nicht zu sagen mitten in der Nacht. Takano hatte einen Unfall gehabt… und er hatte überlebt.
 

Onodera nahm einen tiefen Atemzug, füllte seine Lungen mit Sauerstoff und zählte langsam bis zehn, als er die Luft langsam durch seine Nase aus seinem Brustkorb gleiten ließ.

Mit gestrafften Schultern verweilte er noch ein paar Sekunden, bis er sich ruhiger, sicherer fühlte.

Doch hätte er gewusst, was ihn erwartete und mit was er konfrontiert wurde, kaum dass er das Zimmer betreten hatte, dann hätte er mit Sicherheit nicht die Kraft dazu gehabt. Die Realität peitschte ihm hart ins Gesicht und er erkannte erneut, was für ein entsetzlicher Idiot er gewesen war.
 

Was hatte er erwartet? Dass er hier reinkam und Takano ihn mit seinem typischen genervten Ausdruck betrachtete und ihm mit irgendeinem Spruch seine Nerven strapazierte? Er ärgerte sich über seine eigene Naivität. Er hatte dem Arzt doch zugehört! Und dennoch fühlte er, wie erst jetzt die Realität gnadenlos über ihn hereinbrach. Sein Herz fühlte sich an, als würde es von dem Druck auf seiner Brust zerquetscht werden. Langsam und qualvoll.
 

Nur ein paar Schritte entfernt war Takano. Und irgendwie war er es nicht. Er war nicht der Takano, den er kannte. Dem er damals in der Schule nachgelaufen war, ihn beobachtet hatte und alles über in wissen wollte – auch, wenn er es nie geschafft hatte, ihn danach zu fragen. Der Takano, der plötzlich vor ihm aufgetaucht war, sich als sein Vorgesetzter entpuppt und die Dreistigkeit besessen hatte, ihn an seinem ersten Arbeitstag vor einer Autorin zu küssen. Der große, hochgewachsene Takano, mit seinen breiten Schultern und den großen warmen Händen, die er so oft auf seinem Körper gespürt hatte. Der Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken über ihn herfiel, wann immer es ihm beliebte. Der Takano, in dessen Armen er sich wohl fühlte und dessen Worte immer direkt zu ihm durchdrangen, ohne darauf zu achten, was für eine Lawine sie in ihm auslösten.
 

Sein Takano.
 

Der gleiche Mann, der nun vor ihm in diesem weißen Bett in einem weißen Zimmer lag. In einer dieser weißen Krankenhauskluften. Er wirkte so leblos, wie er regungslos dalag. Onodera hatte ganz genau hinsehen müssen, um das leichte Heben und Senken dessen Brustkorbs erkennen zu können.
 

An seinen Armen konnte er die Zugänge sehen, die sie gelegt hatten. Nadeln, die seine Haut durchdrangen, um ihn mit Flüssigkeit und wer weiß was noch allem zu versorgen. Die unzähligen Bandagen, die unter dem weißen Stoff hervorlugten.
 

Doch was ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt hatte, waren all die Blutergüsse, die Verletzungen, die jeden entblößten Fleck von Takanos Körper zierten und im harten Kontrast zu dem makellosem weiß standen. Und das, obwohl nur das Wenigste sichtbar war.
 

Er schluckte hart, seine Kehle war staubtrocken. Langsam näherte er sich dem Krankenbett, setzte sich bedacht auf den nebenstehenden Hocker.

Onodera betrachtete den Mann vor sich, musterte dessen Züge und prägte sich jedes Detail seines Anblicks ein. Takanos geschlossene Augen, die langen Wimpern, die feinen dunklen Strähnen die ihm in die Stirn hingen, die geschwungenen Lippen und die gleichmäßigen, schönen Züge.

Nur, dass sie nicht gleichmäßig waren. Weil Takanos schöne Züge von grässlichen Prellungen übersäht waren. Er konnte die geschwollenen Stellen deutlich sehen, die lädierte Haut und die Rötung, die ihr finales Stadium noch lange nicht erreicht hatte. Mit zitternden Händen strich Onodera vorsichtig die fast schwarzen Strähnen zur Seite. Er konnte sehen, wie die ganze Partie um dessen Schläfe bis hin zum Auge geschwollen und die Haut von tiefroten Blutergüssen verfärbt war und so wie es aussah noch viel dunklere Töne annehmen würde. Er konnte den Abdruck von Takanos Brille sehen, das Gestell, das sich in dessen Gesicht gedrückt hatte und nun in Form von dunklen Striemen zurückgeblieben war.
 

„Die Airbags haben ihm das Leben gerettet.“
 

Ob das die Airbags waren, die Takano so getroffen hatten? Zaghaft und so vorsichtig wie nur möglich strich er über die blauen und roten Hämatome, über Takanos Wange bis hin zu dessen Kinn. Auf der anderen Seite konnte er die Schnitte sehen, die weitestgehend gesäubert und versorgt worden waren. Und dennoch waren sie gezeichnet von getrocknetem Blut, umrahmt von Schürfwunden und unterwandert von tiefem rot, das sich grausam von Takanos leichenblassen Zügen abhob. Dabei war er doch sonst schon so blass…
 

Er wirkte so schwach und zerbrechlich. Nicht so stark und tough wie sonst.
 

Onodera hatte Angst, Takano Schmerzen zuzufügen und alles nur noch schlimmer zu machen, als es schon war.

Seine Augen lösten sich schwerfällig von Takanos Gesicht, wanderten langsam dessen Oberkörper entlang, versicherten sich, dass er wirklich noch atmete.

Unter dem weißen Hemd, dass sie Takano angelegt hatten, konnte er an seinem Schlüsselbein die Rötung sehen, das Blau, das langsam hervorkroch und nur erahnen ließ, was sich unter dem Stoff befand, wie Takanos Schulter und Brust aussehen mussten. Und dennoch…
 

„Keine Knochenbrüche und keine inneren Blutungen. Keine lebensbedrohlichen Verletzungen.“
 

Dafür alles andere, stieß es Onodera bitter auf. Takanos Körper war durch und durch geschunden, erschüttert vom Unfall und nur, weil seine Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren, so waren sie nicht weniger ernst.
 

Onodera versuchte sich daran zu erinnern, was der Arzt ihm noch gesagt hatte. Doch schon jetzt fiel es ihm schwer, sich vollständig an die Liste zu erinnern. Die Lunge war erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden und neben dem Schleudertrauma wären da noch etliche Prellungen, tiefe Schnittwunden und auch, wenn sie soweit keine Brüche feststellen konnten, schließe das keine Zerrungen, Kapsel- und Gelenkschäden aus. Und wenn Onodera das Ausmaß sah, dass all dies angenommen hatte…
 

Er schloss die Augen, presste seine Lider mit aller Macht aufeinander und schluckte in der Hoffnung, die Magensäure, die in ihm emporkroch, unterdrücken zu können.
 

„Die Chancen auf eine vollständige Erholung stehen sehr gut.“
 

Und dennoch half ihm die Aussage des Arztes nicht, seine Übelkeit und die Säure in seiner Kehle in den Griff zu bekommen. Er spürte die Schauer, die seinen Körper durchfuhren, den kalten Schweiß an seiner Stirn. Er musste sich zusammenreißen, er konnte sich jetzt nicht übergeben. Er war nicht der Patient, ihm sollte es gut gehen. Auch, wenn diese kleine Stimme in seinem Hinterkopf ihm zuflüsterte, dass er sich genau dafür schämen sollte. Dass er allen Grund hatte, sich schlecht zu fühlen. Dass er bei Takano hätte bleiben sollen. Dass es seine Schuld war. Wenn er doch nur geblieben wäre…
 

Doch damit wäre nichts gewonnen. Vielleicht würden sie dann gemeinsam hier liegen. Vielleicht wäre es viel schlimmer gekommen. Vielleicht hätten sie nicht Glück im Unglück gehabt. Vielleicht wären sie nicht mit dem Leben und jeder Menge kaputtem Blech davongekommen.
 

Er spürte, wie er sich beruhigte, mit tiefen Atemzügen seinen inneren Kampf allmählich für sich entschied, seinen Mageninhalt – der ohnehin nur aus Säure bestehen konnte – wieder zurückdrängte.
 

Vorsichtig öffnete er die Augen wieder, musste ein paar Mal blinzeln, bis sich seine Sicht wieder klärte. Er sah, wie die Zahlen auf dem kleinen Monitor neben Takanos Bett an Schärfe gewannen. Zahlen, von denen er keine Ahnung hatte, was sie bedeuteten, die er nicht verstand und nur hoffte, dass sie genau das anzeigten, was sie anzeigen sollten.
 

Sein Blick wanderte zurück zu Takano. Es wirkte, als würde er nur schlafen, als könnte er jeden Moment aufwachen. Sie hatten ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, um ihn zu entspannen, den Schockzustand zu mildern. Doch Takano sah keineswegs entspannt aus. Im Gegenteil.

Er wirkte noch immer unruhig, seine Lider flackerten und seine Muskeln wirkten angespannt. Onodera hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen, dass er mit Takano reden sollte, ihm beruhigende Worte zusprechen sollte. Doch was? Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Was er ihm sagen könnte. Wie immer, wenn er mit Takano zusammen war. Nur, dass diese Situation um einiges erdrückender war.
 

Onoderas Kiefer verspannte sich bei dem Gedanken, dass er im entscheidenden Moment noch nie den Mund aufgebracht hatte. Nicht, wenn es Takano war mit dem er sprach. Und jedes Mal hatte er Takano damit verletzt. Er biss die Zähne so fest zusammen, bis er den Schmerz in seinem Kiefer bis hoch zu seinen Schläfen spürte.

Es gab zahlreiche Situationen, in denen er anders hätte reagieren können. Doch stattdessen hatte er immer wieder Takanos Unsicherheit vergrößert, ihm weh getan, den falschen Eindruck vermittelt und nicht zu vergessen, als er vor dessen Haustür lautstark verkündet hatte, er würde ihn hassen.
 

Einst war er es gewesen, der seinem Senpai seine Gefühle offenbart und ihn damit überrumpelt hatte. Er war es auch gewesen, der Takano damals im Kurzschluss erst von sich gestoßen und getreten und danach die Flucht ergriffen hatte.

Und er war es, der diese ganze Sache mit Takano erst zum Problem hatte werden lassen. Weil er nicht in dessen Nähe sein wollte, weil er keine Zeit mit ihm verbringen wollte, weil er keine Gefühle für ihn hegen wollte. Weil er wusste, dass er sich Hals über Kopf in Takanos Tiefen verlieren würde. Weil er sich nach Takano sehnte, wie nach keinem anderen.
 

Weil er Angst davor hatte.
 

Und dann noch die ganze Sache mit An-chan und der Verlobung, die richtigen Worte hatte er hier auch nicht gefunden. Er hatte Takano lediglich erklären können, dass das alles nur von An-chans und seinen Eltern arrangiert worden war, dass er selbst das alles gar nicht wollte. Aber weder konnte er Takano sagen, dass er ihn wollte, noch An-chan, dass er sie nicht wollte. Immerhin hatte er die Sache mit An-chan klären und diese ganze Verlobungssache auflösen können. Aber bei Takano waren ihm wie immer die Worte im Mund stecken geblieben und drohten ihn zu ersticken. Im Endeffekt hatte An-chan ihm diese Worte abgenommen, weil selbst sie gesehen hatte, was er für Takano empfand. Und genau in dem Moment hatte sein dreister Vorgesetzter wieder mal seine Privatgespräche belauscht.
 

Onodera schürzte die Lippen, Takano war schon auch ein ganzes Stück Arbeit, nicht nur er selbst – sie schenkten sich nichts! Es war fast so, als hätten sie es sich gegenseitig beigebracht.
 

Ich erlaube niemals, dass du wieder einfach so weggehst, wie damals.
 

Ich warte solange, bis deine Gefühle wieder so werden wie früher. Deshalb gib endlich auf und sag mir, dass du mich auch liebst.
 

Wenn Takano wüsste, wie sehr sich jedes einzelne seiner Worte in sein Hirn gebrannt hatte, wie oft sie ihn heimsuchten.
 

Takano wirkte immer forsch und als ob er mit der ganzen Situation gut leben konnte, als würde es ihm nichts ausmachen. Als hätte er sich darauf eingestellt, ihn immer überrumpeln zu müssen, sich selbst in seine Wohnung zu lassen, sich ihm aufzudrängen, ihn zu gemeinsamen Mahlzeiten zu zwingen und für all das keine Gegenleistung zu bekommen – zumindest nicht die, die er sich erhoffte.
 

Doch Onodera merkte zunehmend, wie schwer es Takano fiel, mit der Situation umzugehen und wie sehr es ihn mitnahm. Seit nun über zehn Jahren litt Takano unter der ganzen Geschichte und nun wurde er auch noch tagtäglich damit konfrontiert, mit ihm konfrontiert. Takano hatte in angefleht, sich ihm zu öffnen, sich ihm anzuvertrauen, ihm zu sagen was er dachte– sowohl die guten als auch die schlechten Dinge. Er solle sich entscheiden, ihn abweisen, wenn das alles für ihn nicht möglich war, wenn er nicht mit ihm zusammen sein wollte. Doch wie um alles in der Welt hätte er Takano abweisen sollen? Wie, wenn er doch wusste, dass er sehr wohl mit Takano zusammen sein wollte.
 

Nur gesagt hatte er es nie. Naja… eigentlich nur Takano nicht.
 

Denn Yokozawa konnte er es sagen. Die Frage, ob er ihn liebte, hatte er klar beantworten können. An-chan konnte er ebenso wenig etwas vormachen und auch Haitani hätte er es gesagt, wenn Takano sie damals nicht unterbrochen hätte.

Und dann hatte er es indirekt sogar seinem Vater gesagt. Wenn dieser je herausfinden sollte, was hinter den Worten - dem ‚Unfug‘ wie sein Vater es genannt hatte - steckte, dann konnte er sich warm anziehen. Die Sache mit der Distanz zwischen seinem Vater und ihm hätte sich dann von ganz allein erledigt.
 

Was war nur los mit ihm? Allen hatte er es gesagt, nur Takano konnte er es nicht gestehen. Der Person, die es als Erste hätte hören sollen. Die als Einzige ein Recht darauf hatte. Die es verdient hatte.
 

Zögerlich streckte er seine Hand nach Takanos aus, berührte die weiche Haut nur mit den Fingerkuppen und fuhr entlang des Handrückens vorsichtig bis zu den Fingerspitzen und zurück. Ob er Takanos Hand nehmen konnte, wenn er schon kein Wort über die Lippen bekam? Ob er ihm wehtun würde?
 

Leicht schüttelte er den Kopf, so, als wolle er den Gedanken abschütteln. Er wollte Takano zeigen, dass er für ihn da war, dass er nicht allein war. Dass er das nicht allein durchstehen musste. Er würde einfach vorsichtig sein müssen.
 

Sanft umfassten Onoderas Finger Takanos Hand, drückten sie ganz leicht und er spürte, wie seine Wärme langsam auf Takanos Haut überging. Er spürte das leichte, unterschwellige Zittern an seinen Fingern, die Anspannung der Muskeln. Onodera war sich nicht sicher, ob es nicht vielleicht seine eigene Anspannung war, die er wahrnahm und ob es nicht sogar seine Hände waren, die zitterten.

Wie ferngesteuert wanderte sein Arm über Takano und griff nach dessen anderer Hand, um sie sachte in die seine zu legen. Zärtlich streichelte er sie mit dem Daumen, mal fuhr er Linien, mal zog er kleine Kreise auf der Haut. Er konnte fühlen, wie bereitwillig Takano seine Wärme aufnahm – selbst, wenn es nur seine Hände waren.
 

Sag doch endlich, dass du mich auch liebst. Sag es, bitte. Bitte…
 

Er hörte Takanos Worte wie ein Echo in seinem Kopf. Wann immer er allein war und sich seine Gedanken zu seinem Vorgesetzten stahlen, waren es diese Worte, die er hörte. Die alles übertönten. Sie hatten ihn geprägt, sich in sein Fleisch gebrannt und würden vielleicht nie wieder verschwinden. Takano hatte ihn sehnlichst angefleht, ihm seine ganze Schwäche offenbart und seinem Leid damit Ausdruck gegeben. Ein Leid, für das er verantwortlich war. Eines, das auch ihn heimgesucht hatte und seit diesen Worten mehr als jemals zuvor. Damals hatte er es als unfair empfunden, dass Takano ihn mit dieser Bitte bedrängt hatte, seinen Schmerz auf ihm ablud. Er wusste, dass Takano ihm damit keine Vorwürfe machen wollte, doch es hatte unweigerlich dazu geführt, dass er sich diese Vorwürfe selbst gemacht hatte. Weil er sich seiner Gefühle bereits bewusst gewesen war.
 

Gedankenverloren beobachtete er seine Finger, die noch immer Takanos Hände umschlossen und sie sanft streichelten. Seine Aufregung hatte sich etwas gelegt und Onodera spürte, wie langsam jegliche Kraft aus seinen Muskeln wich. Er spürte das Gewicht seiner Gliedmaßen und die Erschöpfung in jeder Faser seines Körpers. Der Tag hatte seinen Tribut auch von ihm gefordert und er merkte, wie er sich immer weiter vorlehnte und auf dem Bett abstützte. Er versuchte noch, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen, doch seine Augenlider wurden immer schwerer, bis sie letztendlich zufielen.
 


 

~~~
 

„Was willst du dann, Ritsu?“
 

Meiner großen Liebe aus der Schule weiter nacheifern und wie sonst meine Gefühle leugnen, dachte er zynisch, konnte sich einen bitteren Ausdruck nicht verkneifen. Aber was sollte er seinem Vater schon sagen? Prinzipiell war es egal, was er sagte. Sein Vater hatte eine Entscheidung getroffen und kein Argument dieser Welt würde ihn umstimmen. Onodera hielt inne. Ging es denn überhaupt darum? Seinen Vater umzustimmen? Brauchte er dessen Zuspruch, dessen Unterstützung oder gar dessen Segen?
 

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr verstand er, was ihm eigentlich wichtig war. Was er wollte. Vielleicht war dieses Gespräch mit seinem Vater das Beste, das hätte passieren können. Es ging nicht darum, dass sein Vater zufrieden mit ihm war. Es ging darum, was ihm selbst wichtig war. Er musste nichts finden, was seinen Vater umstimmen könnte. Was er seinem Vater entgegnete musste der Situation und ihm selbst dienlich sein.
 

„Ich will mich nicht wieder verstecken. Ich werde nicht schon wieder weglaufen.“

„Was redest du da für einen Unfug? Ich verstehe kein Wort, Ritsu.“ Es war kein Unfug, es war etwas, das er auch Takano noch sagen würde. Das er ihm versprechen würde.

„Ich werde nicht zurück in die Firma kommen, Vater. Ich bleibe beim Marukawa Verlag.“ Auch, wenn es ihm schwerfiel sich auf Takano einzulassen, wenn er ihn unfreiwillig gewähren ließ, wenn er dessen Gefühle jedes Mal im Raum stehen ließ und nichts erwiderte… wortlos verlassen würde er ihn nie wieder. Denn das war weder ihm noch Takano dienlich. Und die Sache mit Takano war ihm wichtig.

„Das ist mein letztes Wort!“, wenn er doch nur wirklich so viel Selbstvertrauen hätte, wie er es gerade vorgab. Sein Vater hatte bislang keinerlei Reaktion gezeigt, ihn nur angesehen.
 

Onodera schluckte hart. Was auch immer jetzt von dessen Seite kommen würde, er könnte es nicht abwehren. Er hatte keine Gegenargumente, die er gegenüber seinem Vater noch vorbringen könnte. Er spürte die Anspannung seiner Muskeln, wie seine Atmung bebte. Wie lange konnte er dem undefinierbaren Blick seines Vaters noch standhalten?
 

„Heißt das, du willst unseren Familienbetrieb nicht übernehmen und aufgeben?“

„Nicht jetzt. …Vielleicht… irgendwann mal.“ Er wollte eigentlich nur die Distanz zu seinem Vater wahren, nicht die Türen für immer schließen. Nicht jetzt, wo er noch nicht bereit für das war, was da auf ihn zukam.

„Schön.“, sein Vater wandte sich und somit auch seinen strengen Blick von ihm ab und schritt in Richtung seiner Haustüre. „Vergiss nicht, dich bei deiner Mutter zu melden.“
 

Eh… was? Würde er nicht wütend werden und ihn auf seine Pflicht als Erbe hinweisen? Passierte das gerade wirklich, war es wirklich so einfach? Es fühlte sich fast zu einfach an. Onodera spürte den Luftzug in seinem Gesicht, als sein Vater die Tür öffnete und hörte nur noch das leise Klacken, als jene zurück ins Schloss fiel.
 

War… war das wirklich gerade passiert?
 

~~~

Entgegen der Vernunft

„Kommst du mit rein?“
 

„Ne, da braucht ihr mich nicht. Ich rufe in der Zwischenzeit Hiyori an und versichere mich, dass sie sich auch gut um Sorata kümmert.“ In den letzten Tagen hatte Kirishima seinen Umgang ausschließlich auf ihn begrenzt und sich aus allen Angelegenheiten, die mit Takano zu tun hatten, rausgehalten. Yokozawa wusste, dass auch dies wieder eine glatte Lüge war und Hiyori sich seit Langem von ganz allein mit größter Fürsorge um den Kater kümmerte, aber er konnte Kirishima verstehen. Yokozawa sah es als eine Art vornehme Notlüge an, nichts, das er seinem Partner nicht nachsehen konnte. Immerhin war er es gewesen, der ihn damals von Takano weg und aus diesem emotionalen Abgrund geholt hatte. Es war Kirishima, der ihn nach Takanos barscher Abfuhr wieder aufgebaut und ihm geholfen hatte, über seine seit Jahren unerwiderte Liebe hinwegzukommen. Es war Kirishima gewesen, der ihn in jener Nacht aufgefangen hatte, der für ihn hierher gekommen war und nicht einen Moment von seiner Seite gewichen war. Der ihm gezeigt hatte, dass er zu seinem Wort stand. Dass er für jemanden‚ der so viel seelischen Ballast mit sich herum trug, der richtige Partner war, dass er ihn bedingungslos annahm und niemals verlangte, dass er seine Gefühle für Takano vergessen sollte, dass er diese Gefühle wie einen Schatz bewahren konnte und sollte. Sie waren zu wertvoll, um sie zu leugnen, das hatte Kirishima ihm klar gemacht – und Yokozawa war ihm dafür dankbar. Letztendlich waren genau dieses Verständnis und die Geduld des Mannes der Grund dafür, dass sie sich so nahegekommen waren.
 

Doch trotz aller Nachsicht und allem Verständnis, es wäre dreist, von Kirishima zu verlangen, sich mit der Situation ebenso auseinanderzusetzen, wie der Knirps und er es jetzt machen mussten; der Termin mit dem Arzt, in dem jener sie über alle notwendigen Anschlusstermine und Nachbehandlungen aufklären würde, die Takano einzuhalten hatte. Und das nur, weil Takano nicht auf sie hören hatte wollen und alles daran setzte, schnellstmöglich entlassen zu werden. Onodera und er hatten nicht viel Wahl gehabt und kurzerhand darauf bestanden, dabei mit einbezogen zu werden. Die Sturheit und fehlende Einsicht ihres Freundes waren ihnen beiden bekannt, es war also nötig, dass Takano jemanden an seiner Seite hatte, der vernünftige Entscheidungen treffen konnte. Obwohl Takano eigentlich gut auf sich aufpassen konnte, hatte Yokozawa ihn auch anders erlebt, hatte gesehen, was passierte, wenn Takano den Boden unter den Füßen verlor. Und im Moment wusste Yokozawa nicht, wie stabil besagter Untergrund war.
 

Der Frischling und er würden Takano gemeinsam im Blick behalten.
 

Und Kirishima ihn, das hatte der Ältere klar und deutlich verlauten lassen, kurz bevor sie sich hier eingefunden hatten. Yokozawa spürte das warme, kribbelnde Gefühl, das sich in seiner Brust ausbreitete. Wie könnte er sich jemals bei Kirishima revanchieren und ihm all das zurückgeben?
 

„Unsinn! Sie kümmert sich um Sorata bestimmt besser, als ihr Vater es je könnte.“, neckte er den Älteren und schmunzelte, als sein Partner das Gesicht verzog und die Lippen schürzte „Wie kannst du nur so grausam sein!“ Kirishima war viel zu leicht aufzuziehen, wenn es um seine Vorbildfunktion als Vater ging. Yokozawas Schmunzeln wandelte sich mehr und mehr in ein breites Lächeln, er war wirklich froh, dass sein Partner hergekommen war. „Grüß Hiyo von mir und sag ihr, dass wir bald wieder da sind.“
 

„Mach ich.“ Kirishima winkte ihnen noch mit dem Handy in der Hand, bevor er sich entspannten Schrittes auf den Weg nach draußen machte.
 

Sorata? Das war doch Takanos Katze, auf die Yokozawa Acht gab… ? Dann hatte er richtig verstanden, was Kirishima ihm im Auto gesagt hatte. Verstohlen lugte Onodera zu dem großgewachsenen Mann neben sich, der noch immer seinem Gesprächspartner nachsah.
 

„Ist was?!“, raunte Yokozawa ihn verstimmt an und Onodera konnte den Rotschimmer auf dessen Wangen sehen. Onodera war verblüfft, wie schnell sich Yokozawas Laune, nein, dessen ganzen Aura, so schlagartig ändern konnte. Aber zu verdenken war es ihm nicht.
 

„N-nein…“
 

Nicht, dass die Atmosphäre zwischen ihnen nicht schon immer gelinde gesagt angespannt gewesen war, doch die letzten Tage hatten dem Ganzen ein völlig neues Paar Schuhe angezogen. Wenigstens einen kleinen Tropfen der Befriedigung hatte das Schicksal ihm gegönnt: Yokozawa war allem Anschein nach mit der Situation genauso unglücklich und überrannt wie er.
 

Angefangen hatte es in jener Nacht im Flur des Krankenhauses, als er sich sicher war, Yokozawa notfalls gewaltsam aus dem Weg zu schieben – woher auch immer er in diesem Moment den Mut dazu genommen hatte. Natürlich hatte Yokozawa dies nicht ungestraft einfach so hingenommen und ihn mit eiskalten Blicken auf seinen Platz verwiesen. Denn völlig egal, auf welcher Ebene sie es betrachteten, Yokozawa war ihm überlegen. Er war der Ranghöhere in der Redaktion und er war Takanos bester Freund. Er war ihm damals der treue Begleiter gewesen, der ihn nicht im Stich gelassen hatte, ganz egal wie tief Takano auch gesunken war.
 

Und er? Er war der Frischling in der Abteilung und, wie der Zufall es so wollte, der neue Nachbar. Der, der Takano damals das Herz gebrochen hatte und nach zehn Jahren einfach so wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht war. Zehn Jahre, die für sie beide so qualvoll und geprägt von Einsamkeit und Verzweiflung gewesen waren. Wie hätte er gegen Yokozawa ankommen können, was für Argumente hätte er schon gehabt?
 

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Onoderas Züge. Er hatte sich vorgenommen, nicht mehr wegzulaufen, bei Takano zu bleiben und endlich reinen Tisch zu machen. Doch was hatte er erwartet? Dass er plötzlich ein völlig neuer, anderer Mensch war und Takano so behandelte, wie er es verdient hatte? So, wie er selbst es eigentlich schon die ganze Zeit tun wollte?
 

In jener Nacht war er an Takanos Bett eingeschlafen, hatte dessen Hände gehalten und gehofft, dass es ihm einfach nur bald wieder gut gehen würde, dass Takano diesen Alptraum überstehen würde.
 

Und da es nicht die Krankenschwestern gewesen waren, die ihn in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen und aus dem Zimmer gebeten hatten, sondern Takano selbst ihn am nächsten Morgen geweckt hatte, musste er wohl die ganze Nacht bei ihm gesessen haben. Die Schwestern hatten Mitleid mit ihm gehabt und ihn sogar noch zugedeckt, als sie das Licht gelöscht hatten.
 

Nun… mit Yokozawa hatten sie diese Nachsicht nicht gehabt. Und Yokozawa mit ihm seither erst recht nicht. Sie hatten ihn zuvor nicht Takano sehen lassen und ihn auch in jener Nacht höflich, aber bestimmt auf die Besuchszeit verwiesen. Onodera konnte nicht anders, als sich dafür schlecht zu fühlen. Es war Yokozawa gewesen, der zuerst am Krankenhaus angekommen war, der die ganze Zeit in diesem Gang gewartet hatte und vor Sorge fast erstickt wäre. Er hatte ihn doch gesehen, wie er da saß… wie gebrochen Yokozawa gewirkt hatte. Er war egoistisch gewesen, hatte nur darauf bestanden Takano zu sehen und an Yokozawa gar nicht mehr gedacht.
 

Es war erst am nächsten Morgen gewesen, als Yokozawa endlich die Gelegenheit bekommen hatte, nach seinem Freund zu sehen. Doch wie das Schicksal es gewollt hatte, war auch dies nicht so verlaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten.
 

Onodera hatte gerade mal genug Zeit gehabt, um zu begreifen, dass es Takano selbst war, der ihn geweckt hatte, da wurde er auch schon freundlich auf den Wartebereich verwiesen - immerhin hatten die Ärzte und Schwestern noch allerhand mit ihrem neuen Patienten vor. Auch sie hatten dem Frieden noch nicht so ganz getraut. Dass Takano diesen Unfall in erster Linie überlebt und dann auch noch so glimpflich überstanden hatte, grenzte an ein Wunder – und das sah man für gewöhnlich nicht jeden Tag.
 

Onodera hatte die Chance genutzt, sich das Gesicht zu waschen, in der Hoffnung, dass das eiskalte Wasser seine Augenringe klären und die Erschöpfung hinfort spülen würde. Mit mäßigem Erfolg, wie er empfand. Anschließend hatte sein Weg in die Cafeteria geführt, hätten Kaffee und Zucker das ausgleichen sollen, was das kalte Wasser nicht geschafft hatte. Und dennoch hatten sich all seine Bewegungen schwerfällig, träge angefühlt.
 

Er hätte sich doch freuen sollen, immerhin ging es Takano gut. Er war wach, er hatte mit ihm geredet.
 

Aber genau das war der Punkt gewesen. Wieder einmal war es Takano, der das Wort ergriffen hatte. Es war Takano, der mit ihm gesprochen hatte. Und ihm waren wie immer die Worte im Hals stecken geblieben. Er war so überwältigt von der Situation gewesen, dass seine Gedanken sich überschlagen hatten und er einfach kein Wort über die Lippen bringen konnte. Auf seiner Zunge hatte sich einfach kein Laut bilden wollen.
 

Also hatte er den kleinen Geschenkeladen aufgesucht, hoffend, dass er etwas finden würde, mit dem er sich ausdrücken konnte. Etwas, das Takano eine Freude bereiten würde. Etwas, das seine Nervosität verstecken würde. Vielleicht hätte sich auf diese Weise der Kloß in seiner Kehle hinunterwürgen lassen.
 

Was musste Takano von ihm denken? Dass er ihm nichts zu sagen hatte? Er hatte ihm doch so viel zu sagen! Bedrückt war er zurück zu Takanos Zimmer gelaufen, ohne den geringsten Plan, wie er mit der Situation umgehen sollen. Er hatte nur ganz leise geklopft, da er Takano nicht wecken wollte, falls er wieder eingeschlafen war.
 

Mit eben diesem Gedanken hatte er auf keine Antwort gewartet, vorsichtig die Tür aufgezogen, den Raum betreten und es im gleichen Moment bereut.
 

Das Bild vor seinen Augen hatte ihn für einen Moment die Müdigkeit und Erschöpfung gänzlich ausblenden lassen. Für einen Moment war alles weg, leer. In diesem einen Moment hatte er sich so fehlplatziert gefühlt, wie damals an seinem ersten Arbeitstag im Marukawa Verlag – wenn nicht sogar schlimmer. Und es war auch offensichtlich, dass er im Moment nicht hier sein sollte. Mit der Schokolade und den Magazinen, die er für Takano gekauft hatte, in seiner Hand, stand er einfach nur da und wusste, dass er diesen Moment nicht hätte unterbrechen sollen. Dass er nicht hätte dort sein sollen.
 

Eigentlich hatte er im ersten Augenblick nur Yokozawas Rücken gesehen, der ihm die Sicht auf denjenigen nahm, den er eigentlich erwartet hatte. Yokozawas breiten Rücken, bedeckt von einem legeren Shirt, das die Sehnen- und Muskelstränge des Bären nur erahnen ließ. Erst dann hatte er erkannt was für einen unsäglich sensiblen Augenblick er gestört hatte. Yokozawas Arme, die sich fast verzweifelt um Takano schlangen, ihn an sich zogen, die langen, dünnen Finger in Takanos dunklem Haar, die ihn festhielten, nicht losließen. Yokozawas Gesicht eng an Takanos Halsbeuge, die Mischung aus Schmerz und Erleichterung auf seinen Zügen und ein so schmerzlicher Ausdruck in seinen Augen, dass selbst Onodera das Leid fühlen konnte, das den Bären seit gestern heimgesucht hatte. Yokozawa hatte in diesem einen Moment seine eigenen Abgründe, seine Verletzlichkeit preisgegeben.
 

Und Takano, der nach Kräften seine Hand an die Schulter des Mannes gelegt hatte, die Fingerspitzen, um nicht abzurutschen, in den Stoff gekrallt. Er hatte sich dem Halt, dem Schutz, den Yokozawas Arme ihm geboten hatten hingegeben, die Wange dicht an das dunkle Haar des Mannes geschmiegt und die Verängstigung, den Schock und die Erkenntnis, in Sicherheit zu sein auf seinen feinen blassen Zügen. Er hatte die Schwäche und Hilflosigkeit, die er fühlte und der er so wehrlos ausgesetzt war, offenbart, umrahmt von Blutergüssen und Verbänden.
 

Bis zu den Moment in dem er ihn gesehen hatte. Wie er dastand und sie stumm anstarrte. Verloren und fehl am Platz.
 

Onodera konnte nicht sagen, wie lange er wirklich dastand, bis sein Gehirn endlich wieder Signale an seine Glieder schicken und er sich in Bewegung setzen konnte. Raus aus diesem Raum, raus aus dieser Situation und weg von den beiden.
 

Takano hatte ihm im Nachhinein immer wieder versichert, dass es nicht das war, wonach es ausgesehen hatte. Doch das war gar nicht nötig gewesen. Er hatte es nicht in den falschen Hals bekommen. Es war genau das gewesen, wonach es auch ausgesehen hatte.
 

Er hatte einen Mann gesehen, der eine seiner wichtigsten Personen in den Arm nahm. Jemanden, der beinahe das, was ihm mitunter am meisten bedeutete, verloren hätte. Der seiner Erleichterung Ausdruck verlieh, sich nicht zurückhielt. Der seine Gefühle klar zeigen konnte. Dass Takano ihm wichtig war, dass sein Leben einen unbeschreiblichen Wert hatte. Yokozawa hatte in diesem Moment Takano einfach nur gezeigt, wie wichtig, wie lebensnotwendig dieser für ihn war. Wie froh er war.
 

Und Takano hatte das bekommen, was er so sehr gebraucht hatte, nachdem das Leben sich von seiner wohl erschütterndsten, brutalsten Seite gezeigt hatte. Zärtlichkeit, Wärme, Trost und vor allem Geborgenheit. Jemanden, der ihn in den Arm nahm und ihn für einen Moment vor der Welt schützte.
 

Es hatte Onodera einen Stich versetzt, die beiden Männer so zu sehen. Ja, er war eifersüchtig gewesen, aber nicht in dem Sinne, den Takano vermutete. Nicht im Geringsten, er wusste um Takanos Gefühle, er wusste, dass jedes einzelne seiner Worte wahr war. Niemals hätte er an ihm gezweifelt. Er war eifersüchtig auf Yokozawa gewesen. Es hatte ihn geschmerzt zu sehen, wie Yokozawa Takano mit einer Selbstverständlichkeit das geben konnte, wozu er selbst nicht in der Lage war. Wie selbstverständlich dessen Handlungen und Worte waren, wie einfach es ihm fiel.
 

Er war eifersüchtig auf das, was sie hatten – etwas, das er nicht über sich brachte. Wenn er genauer darüber nachdachte… eifersüchtig war vielleicht nicht das richtige Wort dafür.
 

Er beneidete Yokozawa.
 

Erst recht, wenn er bedachte, dass er noch immer nicht wirklich mit Takano hatte sprechen können. All die letzten Tage nicht. Es war nicht so, dass er gar nichts rausgebracht hatte, dass er Takano nicht geantwortet hatte – das hatte er – aber nie waren sie in solchen Momenten allein gewesen. Entweder waren es die Ärzte, die Schwestern oder Yokozawa, die die Stille füllten.
 

Sobald er mit Takano allein war, spürte er diesen harten, schweren Kloß in seinem Hals, der so groß war, dass nichts an ihm vorbeikam. Und dann war da noch dieser Druck auf seiner Brust, der ihm in diesen Momenten das Atmen so immens erschwerte.
 

Also hatte er, wenn überhaupt, immer nur wortkarg reagiert und versucht, die Provokationen Takanos so gut wie möglich zu ignorieren.
 

Und, nicht zu vergessen, das Gezanke, dass sie alle drei immer wieder hatten. Es drehte sich um ein und dasselbe Thema und auch, wenn er es nicht erwartet hätte, er und Yokozawa verfolgten das gleiche Ziel: Takano zur Vernunft zu bringen.
 

Was am Anfang jedoch nur in Bemerkungen Platz gefunden hatte, wurde zu einem so frequenten und unvermeidbaren Thema, das sie nun beide wider Willen hierher geführt hatte. Weder er selbst noch Yokozawa verspürten die Lust, sich gemeinsam in dem kleinen Besprechungsraum einzufinden. Erst recht nicht, da es um ein Thema ging, das sie beide so vehement versucht hatten, Takano auszureden.
 

Takano, der ihnen seit Tagen damit in den Ohren lag, das Krankenhaus zu verlassen und nach Hause zu fahren. Tests hätten sie zur Genüge durchgeführt, recht viel mehr gäbe es nicht zu beobachten, im Bett liegen könne er auch zuhause. Dabei handelte es sich doch nur um ein paar weitere Tage. Ein paar wenige Tage, die seinen Verletzungen Zeit geben würden zu heilen. Die ihn dazu zwangen, im Bett zu bleiben.
 

Onodera wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Yokozawa seine Position auf dem Stuhl wechselte und nach einem Blick auf seine Uhr schlechtgelaunt die Arme vor der Brust verschränkte.
 

Yokozawa war genervt, malmend biss er die Zähne aufeinander, verspannte den Kiefer. Was sollte das? Takano musste doch einsehen, dass es nach so einem Unfall in seinem Zustand unklug war, die Dinge zu überstürzen. Er sollte sich ausruhen und nicht in der Gegend herumgeistern. Als ob er sich zuhause ausruhen würde! Er konnte dessen Faxgerät direkt vor sich sehen, wie sich Takano die Arbeit nach Hause schicken ließ, Anrufe tätigte und sich selbst keinen Gefallen tat. Als er sich damals bei einer im Vergleich harmlosen Grippe nicht schonen wollte, hatte er gehofft, dass sein Freund zumindest seine Grenzen kennen würde.
 

Doch das tat er nicht. So viel stand nun fest.
 

Aus diesem Grund hatten sie beschlossen, alle Informationen seitens des Doktors einzuholen, die sie Für Takanos weitere Behandlung benötigen würden – ihr sturer Freund hätte sie freiwillig bestimmt nicht eingeweiht. Yokozawa konnte die Argumentation und Starrsinnigkeit lebhaft vor seinem inneren Auge beobachten und schon allein die Vorstellung daran frustrierte ihn.
 

Und genau deswegen durfte Takano nichts von diesem Termin erfahren, sonst würden sie schneller vor die Tür gesetzt werden, als ihnen lieb wäre.
 

„Du wirst ihn keine Sekunde aus den Augen lassen, hast du verstanden?“
 

„… Ja“, aus den Augenwinkeln lugte er zu Onodera, beobachtete, wie er nahezu verkrampft auf dem Stuhl saß und stoisch die Tischplatte fixierte. Einen selbstbewussten Eindruck machte er auf ihn noch immer nicht, das hatte sich seit ihrer ersten Begegnung nicht geändert.
 

„Und lass ihn bloß keine Dummheiten machen.“
 

„W-werde ich nicht.“ Diese unsichere, verklemmte Art, die der Kleine an sich hatte, machte ihn wütend. Mit einer solchen Haltung hätte er nicht die geringste Chance, sich gegen Takano durchzusetzen und letztendlich würde sein Freund machen, wonach ihm der Sinn stand. Außerdem hatte er schon die ganzen letzten Tage kaum einen Ton herausbekommen, wenn sie bei Takano waren. Zumindest nicht in den Momenten, in denen er dabei gewesen war.
 

„Schaffst du das überhaupt?“
 

„Ich werde mir Mühe geben!“, sagte er kleinlaut. Am liebsten hätte Onodera Yokozawa Kontra gegeben, ihn darauf hingewiesen, dass er doch genau deswegen hier war und man es ihm nicht noch einmal wie einem kleinen Kind extra sagen musste. Natürlich würde er Takano keinen Moment aus den Augen lassen, natürlich würde er auf ihn Acht geben und natürlich wollte er, dass es Takano gut ging. Deswegen saßen sie doch nun hier in diesem Zimmer, weil sie beide das gleiche Ziel verfolgten. Für einen Moment dachte Onodera sich, dass Yokozawa nicht fair mit ihm war. Doch fast zeitgleich wurde ihm bitter bewusst, dass Yokozawa jeden Grund hatte, an ihm zu zweifeln. In den letzten Tagen hatte er sich wirklich nicht für die Aufgabe des sorgenden Freundes qualifiziert. Er hatte kein Wort mit Takano wechseln können und vor Yokozawa konnte er sich auch nicht selbstbewusst zeigen – erst recht nicht, wenn Takano dabei war. Viel mehr musste Takano ihn sogar in Schutz nehmen. Die Enge, die ihn fast zerdrückte und die Schnur um seine Kehle hatten ihn immer wieder verstummen lassen und ihn bitteren Endes auch auf Abstand gehalten. Ein paar Mal hatten seine Lippen versucht, die Worte zu formen, doch kein Ton hatte seinen Mund verlassen. Dabei hätte er Takano auch gerne mal gezeigt, wie wichtig er ihm war, wie sehr er sich freute, ihn nicht verloren zu haben.
 

Doch wenigstens bei der Diskussion um Takanos Entlassung hatten seine Stimmbänder ihn nicht im Stich gelassen.
 

„Bitte?! Mühe? Wie lange willst du noch so unentschlossen dahin eiern?!“, schnappte Yokozawa.
 

Er hatte keine Lust sich mit Yokozawa zu streiten. Es würde zu nichts führen und viel Wahl hatten sie beide nicht. Er meinte es ernst, dass er sich Mühe geben würde und mehr konnte er ohnehin nicht tun. Yokozawa musste doch genauso gut wie er wissen, dass jegliches Diskutieren bei Takano ab einem gewissen Punkt nichts mehr brachte. Und wenn er sich recht erinnerte, dann hatte Takano damals Yokozawa rausgeworfen und nach Hause geschickt als er das letzte Mal krank war. Und auch, wenn er den Vorfall mit gemischten Gefühlen betrachtete, Onodera würde wetten, dass ihm das nicht passierte. Vermutlich war das jedoch kein Punkt, den er jetzt vorbringen sollte. Die Wogen glätten würde er damit ganz sicher nicht.
 

Er fühlte sich ausgelaugt, erschöpft und vor allem rastlos. Seit Tagen brachen die Dinge nur so auf ihn herein und raubten ihm den Schlaf. Erst diese Sache mit seinem Vater, die er nicht so recht zuzuordnen wusste, dann dieses schlechte Gewissen gegenüber Takano und dann noch dieser schreckliche Unfall. Er fühlte sich pausenlos unter Druck gesetzt, gestresst. Er wusste nicht, wie er mit Takano umgehen sollte und sein Verhältnis zu Yokozawa erschwerte die Situation zunehmend. Er hatte keine Möglichkeit, dem Ganzen zu entfliehen, nicht einmal für einen kurzen Augenblick. Überall waren Takano, Yokozawa und dieses erdrückende Krankenhaus. Wenn er doch nur einen kurzen Augenblick der Ruhe ganz für sich allein hätte…
 

Mit Erleichterung nahm Onodera ein Geräusch hinter sich wahr, als sich die Tür öffnete und dann mit einem gedämpften Klacken schloss.
 

„Entschuldigen Sie, ich wurde aufgehalten“, eilig schritt der Arzt an ihnen vorbei, nickte zum Gruß und ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf dem Stuhl nieder. Sein Blick wanderte über die Arbeitsfläche, als er seine Unterlagen suchte und sich in der Menge an Dokumenten zu orientieren versuchte.
 

„Danke, dass Sie sich extra die Zeit genommen haben!“ Onodera betrachtete den älteren Herren vor sich, der ihnen als Antwort nur zunickte. Doktor Taro Hakamada war der leitende Oberarzt. Hinter der dunkel umrahmten Brille, die er sich, in Gedanken versunken, auf den Nasenrücken setzte, blickten zwei dunkle Iriden auf die Unterlagen, die er zur Hand genommen hatte. Seine üppige Statur, die weißen Haare, die vollen Wangen, die bereits von Falten durchzogen waren, ließen ihn zwar alt wirken, doch seine wachen Augen und flinken Bewegungen zeugten davon, dass nur sein Erscheinungsbild, weder aber seinen Geist noch seine Agilität über die Jahre gealtert waren. Onodera mochte ihn, er war ihnen allen in den letzten Tagen immer herzlich und freundlich entgegengekommen und hatte sich immer Zeit genommen. Er war menschlich. Sein Wille, sich um seine Patienten zu kümmern und sie zu schützen, hatte Onodera bereits in jener Nacht hautnah mitbekommen. Ebenso wie dessen Güte und Verständnis für seine Patienten und deren Angehörige.
 

Nur wünschte der junge Redakteur sich, Doktor Hakamada wäre mit seinem Verständnis für Takanos Entlassungswünsche etwas bescheidener.
 

„Wo haben wir ihn denn, Masamune Takano…“, ein Blatt nach dem anderen wanderte auf den kleinen Stapel aus Unterlagen bis er gefunden hatte, wonach er suchte. „Ach hier. Da ist er ja.“ Kurz schwieg er, las sich die Informationen durch, die er dann auch gleich wieder zur Seite legte. Als er sich ihnen zuwandte und den Blick auf sie richtete, stützte er sich nachdenklich mit gefalteten Händen auf dem Tisch ab.
 

„Nun, wie ich höre möchte ihr Freund frühzeitig entlassen werden.“
 

„Können Sie ihn nicht irgendwie davon abbringen?“, Yokozawa klang ernsthaft besorgt und für gewöhnlich würde er nicht um Hilfe bitten. Aber sie hatten schon alles versucht, Takano wollte einfach nicht auf sie hören. Aber vielleicht könnte ein Arzt ihn umstimmen – und wenn nicht der Chefarzt, wer dann?
 

„Ich habe mit Takano-san gesprochen, ihm die Situation geschildert und auch meine Empfehlung abgegeben. Ich kann Ihre Bedenken und Ihre Sorge gut verstehen, aber ich kann keinen erwachsenen Mann gegen seinen Willen hierbehalten, der geistig gesund und zurechnungsfähig ist.“
 

Mit einem Grummeln lehnte der Bär sich gegen die Lehne seines Stuhls, sein Verdruss war ihm deutlich anzusehen. Onodera fühlte mit ihm, ihnen waren die Hände gebunden; aber eine wirkliche Überraschung war das nicht.
 

„Meine Herren, ich kann nicht oft genug wiederholen, dass Takano-sans Zustand einem wahren Wunder gleichkommt. Er hatte unglaubliches Glück, wenn man sich das Ausmaß des Unfalls vor Augen führt und dass der Unfallgegner auch noch ein größeres Fahrzeug war. Einen solchen Aufprall so glimpflich zu überstehen und dann nach ein paar Tagen wieder so gut wie auf den Beinen zu sein, ist erstaunlich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er nicht angeschnallt war, ist dies-“
 

„Was?!“ Synchron unterbrachen sie ihr Gegenüber, der sie völlig überrumpelt betrachtete. Beide hatten sich ruckartig aufgesetzt und wirkten so überrascht und fassungslos über das Gesagte, dass der Doktor sich entschied, kurz zu schweigen.
 

Keiner von beiden wollte seinen Ohren trauen. Was hatte er da gesagt? Ihre volle Aufmerksamkeit richtete sich mit allen Sinnen auf den Chefarzt. Es hatte ihnen aus Wut und Fassungslosigkeit die Sprache verschlagen.
 

Was hatte er da gesagt? Hatte er das wirklich gesagt?
 

„Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?“ Yokozawa starrte den Doktor ungläubig an, er musste es noch einmal hören, um sicherzugehen, sich nicht verhört zu haben.
 

Doch Onodera hatte das eine Mal gereicht, ein weiteres Mal musste er Doktor Hakamadas Worte nicht hören. Er hatte sie klar und deutlich verstanden, nur glauben konnte er sie nicht.
 

In seinem Inneren wüteten seine Gefühle und er kämpfte damit, das Chaos in seinem Kopf zu besänftigen. Nicht angeschnallt?!
 

Ohne die Antwort des Chefarztes abzuwarten war er abrupt aufgestanden und aus dem Zimmer gestürmt.
 

Was hatte sich Takano dabei gedacht?
 

Ausgerechnet Takano, der nicht müde wurde, ihm zu erzählen, dass er auf sich aufpassen musste. Der Takano, der ihn einst im Krankenhaus abgeholt und eigentlich sein ganzes Privatleben völlig auf den Kopf gestellt und ihm seither keine Ruhe mehr gelassen hatte, der ihn zwang mit ihm zu essen und die Dreistigkeit besessen hatte, ihn ins Bett schicken zu wollen. Damit er mehr auf sich selbst achtete, regelmäßig aß, ausreichend schlief und was ihm nicht noch alles eingefallen war!
 

Aber offensichtlich war es demselben Takano wichtiger, sich vorrangig in fremde Angelegenheiten einzumischen, als sich um seine eigenen zu kümmern.
 

Onodera schnaubte. Dieser Unfall hätte ganz anders ausgehen können, Doktor Hakamada hatte Recht gehabt, er hatte Glück gehabt. Nur Glück. Je mehr Onodera darüber nachdachte, desto mehr fachte es seine Wut an.
 

Mit schnellen großen Schritten eilte er die Gänge entlang, seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, seine Fingernägel bohrten sich in die Haut.
 

Onodera war so wütend, dass er keinen ruhigen, klaren Gedanken fassen konnte. Seine Gefühle übermannten ihn, als wäre das Gefäß, in dem sie zusammengepfercht wurden, geplatzt. Und jetzt strömten sie aus, um mit Gewalt nachzuholen, was ihnen die ganze Zeit verwehrt worden war.
 

An seinem Ziel angelangt, riss er ungestüm die Tür auf, wie weggefegt waren seine Bedenken und seine Zurückhaltung.
 

„Was hast du dir dabei gedacht?!“, er spürte, wie sich der Strick, der sich seit dem Unfall um seine Kehle geschnürt hatte, lockerte und schlagartig das Gefühl des Erstickens gewichen war, Luft in seine Lungen strömte. Der Knoten in seiner Brust hatte sich gelöst und ebnete all seiner Wut, seinem Zorn und diesem Chaos in ihm den Weg nach draußen.
 

„Dir hätte dabei sonst was passieren können! Du hättest draufgehen können! Du, der mir immer Moralpredigten hält, dass ich nicht auf mich aufpassen würde! Ausgerechnet du! Der große Masamune Takano, der immer das letzte Wort behalten muss!“ Onodera merkte, wie sich die Luft, die so frei in seine Lungen floss, die Worte, die nur so aus ihm heraussprudelten und der Druck auf seiner Brust wandelten. Wie der Widerstand in ihm brach und alles, wirklich alles über ihn hereinbrach. In ihm wallten all die Gefühle auf, die er seit Tagen in sich gefressen und unterdrückt hatte, um irgendwie weitermachen zu können, um nicht zusammenzubrechen. Er spürte, wie ihn das Chaos, das in ihm tobte und all die Emotionen, mit denen er nicht umzugehen wusste, überrannten. Wie seine Augen brannten und sein Brustkorb sich plötzlich schmerzhaft zusammenzog und die Luft aus seinen Lungen presste, als ihn ein so heftiges Schluchzen durchfuhr, das selbst seine Knie drohten nachzugeben.
 

„Nicht angeschnallt!“, er spie die Worte geradezu aus, der Hohn und die Fassungslosigkeit, die in jeder Silbe mitschwangen, waren unüberhörbar. „Was hast du dir dabei gedacht?! Ist dir dein Leben etwa nichts wert? Was sollte das?“, seine Stimme hörte sich selbst in seinen eigenen Ohren erstickt an, das Sprechen fiel ihm mit jeder Sekunde schwerer. Die Erleichterung, die er für einen Moment gespürt hatte, die ihn beflügelt und ihm Kraft gegeben hatte, war gewichen. Überrannt von einem Schwall aus Frust, Wut, Verzweiflung, Angst und so vielem, das Onodera nicht benennen konnte, fühlte sich seine Brust wie zum Zerreißen gespannt an. Das Atmen fiel ihm schwer, seine Schultern bebten mit jedem weiteren Schluchzen, das er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte.
 

„Bist du doof?!“, er benutzte genau die Worte, mit denen Takano ihn so oft angefahren hatte, wann immer er die Dinge unnötig verkompliziert und er ihren gemeinsamen Umgang so unsäglich erschwert hatte. Heiße Tränen liefen seine Wangen hinab und benetzten die Haut, er versuchte sein Gesicht und die Scham, die er fühlte, hinter seinen Händen zu verstecken.
 

„Onodera…“
 

„Halt die Klappe! Ich meine… Was hast du dir dabei gedacht? Fast wärst du… du hättest dabei ums Leben kommen können! Du hättest… du hättest sterben können!“, er hatte das Gefühl zu ersticken und schnappte unkontrolliert nach Luft, als ihn heftige Schluchzer fast krampfartig durchfuhren und seinen ganzen Körper zum Beben brachten. „Jetzt wo ich… wo ich… ich... jetzt wo ich dich…“, doch weiter kam er nicht, er hatte keine Kraft mehr, sein Schluchzen zu unterdrücken. Wie ein Erdbeben schüttelte es seinen zierlichen Körper. Verloren stand er im Raum, rang nach Luft und spürte die Tränen, die von seinem Gesicht tropften.
 

Er hatte das letzte bisschen Kraft, das ihn so mühsam zusammengehalten hatte, gänzlich verbraucht. Müde sanken seine Hände an seinen Seiten herunter, gaben seine nassen Wangen und die tränengefluteten Augen frei. Er hatte einfach nicht mehr an sich halten können, es war einfach so aus ihm herausgesprudelt und er hatte nicht einmal mehr die Energie sein Gesicht zu verdecken und seine Tränen vor Takano zu verstecken.
 

„Onodera…“, Takano, völlig überwältigt von Onoderas plötzlichem Gefühlsausbruch, sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. „Hey…“, weder wusste er, was er sagen, noch was er machen sollte. Er wusste nicht einmal so recht, was gerade passiert war. Nichtsdestotrotz wehrte sich alles in ihm, Onodera, seinen Onodera, so allein und verloren mitten im Raum stehen zu lassen.
 

„Onodera, komm her.“ Doch der Jüngere reagierte nicht, er stand einfach nur da, tränenüberströmt und von seinen Emotionen überwältigt. Onodera wirkte geschlagen, als hätte er einen Kampf verloren – einen Kampf gegen sich selbst. Seine grünen Augen waren auf ihn fixiert, aber so sehr, wie er weinte, bezweifelte Takano, dass der Jüngere irgendetwas erkennen konnte.
 

„Ritsu… mach schon, komm her“, Takanos Stimme war ruhig und sanft, seine Arme nach Onodera ausgestreckt, bereit ihn aufzunehmen, fest einzuschließen und alles daran zu setzen, ihn nicht auseinander fallen zu lassen. Denn genau so wirkte der Jüngere gerade, als wäre er kurz davor, zu zerbrechen.
 

Takano überlegte, ob er aufstehen und Onodera zu sich ziehen sollte. Nicht, dass er es nicht konnte, aber er hatte das ungute Gefühl, dass Onodera in seinen Armen zusammensacken und es ihm dann unmöglich sein würde, ihn aufzufangen. Wenn er doch nur reagieren würde, doch er stand einfach nur da und weinte bitterlich. Ihn so zu sehen quälte ihn, sein Herz fühlte sich an, als ob es in Fetzen gerissen wurde.
 

Er hatte bereits nach der Decke gegriffen, um diese zurückzuschlagen, als Onodera sich endlich regte. Zaghaft setzte der Jüngere einen Fuß vor den anderen, näherte sich ihm zögerlich. Und dennoch dauerte Takano das alles zu lange, er wollte ihn nicht so aufgelöst und schutzlos sehen. Er gehörte zu ihm und dort sollte er jetzt auch sein, bei ihm – und zwar so nah, wie nur irgendwie möglich.
 

Takano hatte sich nach vorne gelehnt und den Jüngeren gepackt und aufs Bett gezogen, als dieser für ihn endlich in Reichweite war. Onodera hatte sich nicht gewehrt und sich von ihm einfach vorwärts ziehen lassen, bis er stolpernd auf das Bett und ihm entgegengefallen war. Zwar war seine Landung unsanft und Takano konnte nicht leugnen, dass ihn bei dessen Aufprall ein stechender Schmerz durchzuckte, doch das war ihm tausend Mal lieber, als Onodera weiterhin so verloren im Raum stehen zu sehen.
 

Fest zog er ihn an sich, legte seine Arme um ihn und hielt ihn gedrückt, als seine Finger durch sein nussbraunes Haar fuhren, ihm die feinen Strähnen aus dem Gesicht schoben und den Blick auf dessen grüne Seelenspiegel freigaben. Noch immer quollen unzählige Tränen aus den sonst so lebhaften Augen und der zierliche Körper bebte unaufhörlich in seinen Armen. Er spürte, wie verzweifelt Onodera nach Luft rang und immer noch weit davon entfernt war, sich zu beruhigen.
 

„Du machst Sachen…“, mit sanfter Gewalt drückte er Onoderas Kopf an seine Brust und streichelte mit dem Daumen über seine Schläfe, während er mit der freien Hand bedächtig Onoderas Rücken auf und ab fuhr, in der Hoffnung ihn beruhigen zu können. Liebevoll küsste er seinen Scheitel, bevor er behutsam sein Kinn auf das Haar bettete.
 

Du musst gerade reden, schoss es Onodera durch den Kopf. Doch er schwieg, wusste er, wie seine Stimme ihn kolossal im Stich lassen und er bestenfalls ein paar krächzende Laute zustande bringen würde. Er hatte aufgehört gegen die Tränen und all die Gefühle anzukämpfen, die wie eine Armee über ihn hereingefallen waren. Es war, als wäre mit einem Schlag jegliche Kraft aus ihm gewichen, als würde er unter sich selbst begraben werden und unter all diesem Gewicht kaum mehr Luft bekommen.
 

Takanos Nähe fühlte sich so gut an, er wollte sich ganz von seiner Wärme umhüllen lassen, sie ganz in sich aufnehmen. Als könnte er ihn vor all dem beschützen, dem er sich so erbarmungslos ausgeliefert fühlte. Er brauchte Takano, brauchte seine großen Hände, die ihn liebkosten, die Arme, die ihn festhielten. Er nahm Takanos starken beständigen Herzschlag an seiner Wange wahr, als der Ältere ihn an sich drückte und endlich konnte er sich entspannen und an ihn lehnen. Onodera hatte sich so sehr nach dieser Nähe gesehnt, seine Berührungen zu spüren, seinen Geruch in sich aufzunehmen und Takanos sanfte Stimme zu hören.
 

Er hatte Takano so schrecklich vermisst und brauchte ihn so sehr. Die letzten Tage war das Einzige, das er gefühlt hatte, dieser Druck gewesen, der ihn gezwungen hatte, alle seine Emotionen, die ihn zu überfluten drohten, tief in sich zu verschließen. Weil es ihn fast umgebracht hatte, als er von Takanos Unfall erfuhr, weil er vor Angst fast erstickt wäre und weil es in diesem Moment nichts Schlimmeres gegeben hatte, als in seiner eigenen Haut zu stecken. Weil ihn der Schmerz fast innerlich zerfressen hätte.
 

Weil er Takano vielleicht nie wiedergesehen hätte.
 

Seinen Takano, der ihn nach zehn Jahren noch immer lieben konnte, der so um ihn kämpfte. Der Mensch, der ihm immer und immer wieder zeigte, wie wertvoll und wie wichtig er für ihn war. Sein Takano, der ihm so hartnäckig sagte, wie sehr er ihn liebte, wie er sich nach ihm sehnte, mit ihm zusammen sein wollte und dass er sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen wollte. Dass er es nicht ertragen würde, ihn noch einmal zu verlieren.
 

Onodera rang nach Luft und versuchte, sein Gesicht in Takanos Hemd zu verstecken, während sich seine Finger verzweifelt in den Stoff krallten. Er wollte Takano nicht verlieren, er durfte es nicht! Und dennoch, nie war er auf dessen Gefühle eingegangen, nie hatte er Takano eine Antwort gegeben. Immer hatte er geschwiegen, vom Thema abgelenkt und ihn damit allein gelassen. Er hatte es nicht verdient, dass Takano jederzeit für ihn da war, dass er ihn liebte. Und dennoch sehnte er sich nach nichts anderem als Takanos Nähe. Nichts wollte er mehr, als bei Takano zu sein.
 

„Ich“, er schluckte, versuchte seine Kehle und Lungen von der Schwere, die auf ihm lastete, zu verdrängen, um wieder frei atmen zu können, „Ich... Takano, ich…“, Onodera spürte, wie sich Takanos Umarmung verstärkte, ihn so fest hielt, dass er sich fast nicht mehr bewegen konnte. Es beruhigte ihn.
 

„Schon gut.“
 

„Ich… ich brauche dich auch.“
 

Dieser Dummkopf, dachte sich Takano im Stillen, doch insgeheim spürte er in sich das Feuerwerk aus Gefühlen, das Onoderas Worte in ihm ausgelöst hatten. Sein Gesicht wanderte an Onoderas Kopf hinunter, bis seine Lippen die des anderen fanden. Er küsste ihn erst sanft, doch wurde schnell immer verlangender, spürte Onoderas erhitzte Wangen und den leicht salzigen Geschmack der Tränen. Seine Sehnsucht nach dessen Nähe wurde dadurch nur umso mehr angefacht. Fordernd bewegte er seine Lippen gegen die des Jüngeren und ließ ihn durch seine unmissverständliche Begierde spüren, dass er ihn nie wieder gehen lassen würde. Takano konnte die Emotionen, die ihn wie eine gewaltige Welle mit sich rissen, nicht in Worte fassen und ließ sich einfach von ihnen tragen. Er küsste Onodera so unnachgiebig, nahm dessen Geruch in sich auf, schmeckte ihn und fühlte jede noch so kleine Berührung ihrer Körper. Als sich seine Lippen etwas öffneten, nutzte er sogleich die Gelegenheit, um mit seiner Zunge in die warme feuchte Mundhöhle vorzudringen und sie zu erkunden. Er hatte von Onodera ganz und gar Besitz ergriffen und ließ erst von ihm ab, als er aus Luftnot gezwungen war sich von ihm zu lösen.

„Ma…sa-…Takano…“, er spürte den hastigen Atem des jungen Redakteurs auf seinem Gesicht. Sanft hauchte er ihm einen weiteren Kuss auf den Mundwinkel als er mit den Fingern durch das weiche Haar strich und Onodera mit seinen dunklen Iriden musterte.
 

Es waren Onoderas leuchtend grüne Augen, die ihm sagten, dass sich sein inneres Chaos zu legen schien. Zwei Smaragde, die wie auch sonst eine so bunte Mischung aus Gefühlen reflektierten. Er konnte so viel in ihnen erkennen, Onoderas Dickköpfigkeit, seine Scham, die über das gesamte Antlitz des Jüngeren strahlte, die Erleichterung und das unglaublich große Herz, das in Onoderas Brust schlug. Doch ganz anders als sonst, zeigten sie nicht mehr den Widerwillen, die Abwehr gegen ihn. Im Gegenteil, Takano konnte seit so langer Zeit, nach über zehn Jahren, endlich wieder Onoderas bedingungslose Hingabe und Zuneigung sehen und auch spüren. Etwas, auf das er so lange gewartet und nach dem er sich so sehr verzehrt hatte, dass es ihn innerlich fast aufgefressen hätte.

„Ich liebe dich, Ritsu.“ Wisperte er gegen seine Lippen und beobachtete, wie sich eine weitere Träne aus Onoderas Augen löste. Er hoffte inständig, es würde die letzte sein. Zärtlich fing er das salzige Nass mit den Fingern ab, bevor er ihn wieder liebevoll an sich drückte und augenblicklich spüren konnte, wie sich Onodera an seine Brust schmiegte. Ritsus Nähe war wie Balsam auf seinem zerrütteten Gemüt.
 

Er seufzte im Stillen. Manchmal wünschte er sich, in Onoderas Kopf schauen zu können. Nein, eigentlich wünschte er sich das sogar immer. Damit er endlich herausfinden konnte, was für Gedanken den Jüngeren umtrieben, was ihm gefiel und was nicht. All die Dinge, die er ihm nicht sagte, die Dinge, über die sie es nicht schafften zu sprechen. Und warum Onodera ihm einfach nicht sagen konnte, dass auch er ihn liebte. All das würde er nur zu gerne wissen. Dann könnte er aus dem Weg schaffen, was Onodera die Distanz zwischen ihnen wahren ließ. Es war für ihn offensichtlich, dass irgendetwas Onodera umtrieb, etwas, das ihn immer wieder zwang, auf Abstand zu gehen.
 

Takano erinnerte sich daran, wie er nach dem Unfall im Krankenhaus zu sich gekommen war. Es waren das schonungslose, nahezu unerträgliche Pochen in seinem Kopf und das leise Rascheln des rauen Stoffes an seinem Kopf gewesen, die ihn geweckt hatten. Sein Körper hatte sich schwer angefühlt, auf seinen Gliedern spürte er diesen stumpfen Druck und nur langsam sickerte es zu ihm durch, dass dieses pulsierende Pochen nicht nur in seinem Kopf, sondern überall in seinem Körper gewesen war. Obwohl ihm all dies ungewohnt vorkam, hatte es doch einige Momente und letztendlich den Versuch, sich zu bewegen gebraucht, bis er realisiert hatte, dass irgendetwas definitiv nicht stimmte. Wie ein Blitz hatte ihn der Schmerz durchzogen, seine Bewegung jäh gestoppt und dieses unangenehme stechende Prickeln in seinen Gliedmaßen ausgelöst.
 

Als er vorsichtig die Augen geöffnet und sich seine Sicht allmählich geklärt hatte, hatte er im Licht der Dämmerung seine Umgebung gemustert; die weißen sterilen Wände, die grauen Fließen, die Geräte um ihn herum und die blanken Laken, in denen er lag. An seiner Seite herabblickend konnte mehrere Verbände sowie die Nadel in seinem Arm erkennen. Doch erst als er den feinen Schlauch, der mit der Kanüle in seinem Unterarm verbunden war, verfolgte und den transparenten Beutel mit Flüssigkeit sah, begriff er endlich, dass er sich in einem Krankenhaus befinden musste.
 

Der Unfall.
 

Kraftlos hatte versucht, trotz des Dröhnens in seinem Schädel einen klaren Gedanken zu fassen. Er erinnerte sich zwar an den Unfall, aber es war ihm schwergefallen, die Details in seinem Gedächtnis abzurufen. Seine Augen waren starr auf die Decke über ihm gerichtet, sein Blick in die Ferne gerückt. Er hatte beschlossen, für den Moment nicht über den Unfall nachzudenken, da er sich ohnehin nicht konzentrieren konnte und er es auch gar nicht gewollt hatte. Er war sich sicher, dass die Realität früh genug über ihn hereinbrechen würde. Also hatte er sich der Mischung aus Taubheit und dem Gefühl tausend quälender Nadelstiche in seinem Körper hingegeben und die Zeit verstreichen lassen. An Schlaf war nicht zu denken gewesen, blitzten doch immer wieder Bruchstücke des Vortages vor seinem inneren Auge auf.
 

Die Sonne war lange aufgegangen, als Takano durch eine Regung an seiner Seite unerwartet aus seiner Trance gerissen wurde. Mühsam hatte er sich vorgebeugt, um Blick auf die Stelle zu erhaschen, an der er die Bewegung wahrgenommen hatte.

Takano hatte seinen Augen nicht getraut, als Onodera in seinem Sichtfeld aufgetaucht war. War er etwa schon die ganze Zeit über da gewesen?

Er hatte den jungen Mann gemustert, der in einer sitzend-liegenden Haltung am Rande des Bettes schlief, den Oberkörper auf den weißen Stoff gebettet. Sein Gesicht war blass, die Ringe unter dessen Augen tief. Dem Schmerz zum Trotz hatte Takano es riskieren und die schlanke Gestalt an seiner Seite berühren wollen, als ihm die angenehme Wärme von Onoderas Hand an der seinen aufgefallen war.

Er wusste noch genau, wie erleichtert er sich in diesem Moment gefühlt hatte, als wäre ein Teil der Last von ihm abgefallen. Weil er nicht allein war, weil Onodera an seiner Seite war. Weil er ihn nicht verlassen hatte und einzig diese Tatsache hatte für einen Moment den qualvollen Schmerz in seinen Gliedern zu übertönen vermocht.

Sachte hatte er seinen Namen gerufen und den Kontakt ihrer Hände genutzt, um ihn zu wecken. Takano wollte Onoderas Gesicht sehen, mit ihm reden, seine Stimme hören und seine Wärme spüren. Er hatte nicht an diesen Unfall denken wollen ohne Onodera nahe bei sich zu haben, sich an ihn lehnen und von ihm Kraft zu schöpfen zu können.
 

Doch entgegen seiner Erwartung eines allmählich aufwachenden Onoderas, war er ruckartig in die Höhe gefahren und Takano hatte unverzüglich den beißenden Schmerz gespürt, als seine Muskeln sich vor Schreck anspannten. Das Überraschungsmoment und der Schmerz, der so plötzlich seinen ganzen Körper durchzuckt hatte, waren wie der letzte noch fehlende Auslöser gewesen, um die Lawine in seinem Inneren loszutreten.

Wie aus dem Nichts waren all seine Erinnerungen wie eine eiskalte Masse über ihn hereingebrochen. Das Dröhnen in seinem Kopf war synchron unerträglich geworden und da war nichts, was ihn aus dieser Lage hätte befreien können. Hilfesuchend hatte er nach Onoderas Hand gegriffen, als er ihn der Schock über die Geschehnisse und der Schmerz mit einer Wucht traf, die ihm qualvoll die Luft aus seinen Lungen presste.
 

Wie ein erschrockenes Reh hatte Onodera ihn aus zwei weit aufgerissenen und dunkel umrandeten Augen angesehen. Er hatte beobachten können, wie es in Onoderas Kopf arbeitete, wie sich Verwirrung, Unglaube, Angst und ein Hauch Erleichterung in dessen Ausdruck mischten, während seine Iriden sich nicht von ihm abwenden konnten. Onoderas Lippen hatten sich zwar bewegt – gezittert - doch letzten Endes hatte er kein Wort zustande gebracht und ihn einfach nur bestürzt angesehen. Damit hatte sicher keiner von ihnen gerechnet.

Doch noch bevor einer von ihnen hätte reagieren können, noch bevor sie überhaupt die Chance auf einen gemeinsamen Moment gehabt hatten, waren der Arzt, sowie zwei Schwestern hereingekommen und hatten Onodera aus dem Zimmer gebeten.
 

Es waren die Worte des Arztes gewesen, die trockenen und ebenso eindringlichen Details des Unfalls und seiner zahlreichen Verletzungen, die ihn endgültig in die Realität zurückgeholt hatten. Takano hatte mit jedem weiteren Wort des Mediziners gespürt, wie Onoderas Wärme mehr und mehr aus seiner Hand wich und die Stabilität, die ihm dessen Anwesenheit gegeben hatte, in sich zusammenfiel. Er hatte sich nur schutzlos ausgeliefert und verloren gefühlt, als wäre er im freien Fall und nichts würde ihn halten. Das ohrenbetäubende Kreischen des Metalls, der brutale Stoß, der seinen Körper erfasst hatte und das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren, das alles war mit einem Schlag so lebendig und ungestüm auf ihn eingeprasselt, dass er nichts anderes mehr mitbekommen hatte.

Und dann war da plötzlich Yokozawa, der ihn aufgefangen und fest in seine Arme geschlossen hatte. Der ihm den Schutz gegeben hatte, der für ihn in diesem Moment so essenziell gewesen war. Es hatte sich angefühlt, als wäre Yokozawa seine letzte Rettung gewesen und dankbar hatte er sich von dem großgewachsenen Mann auffangen und in den Arm nehmen lassen.
 

Es war nur ein ungutes unbeschreibbares Gefühl das Takano dazu veranlasst hatte, seine Augen wieder zu öffnen. Doch kaum dass er den Blick gehoben hatte, wurden all seine Gedanken beiseite gedrängt und ihn überkam die Erinnerung der berstenden Scheibe und des gleich darauffolgenden schneidenden, brennenden Schmerzes.
 

Onodera war direkt vor ihnen gestanden, hatte sie beobachtet.
 

Der Schmerz der scharfen, auf ihn einprasselnden Kristalle, die seine Haut zerfetzten und vor denen er nicht hatte fliehen können zwang sich in seinem Inneren penetrant in den Vordergrund, als er geradewegs in Onoderas entgleiste Züge blickte. Für einen Moment war die Zeit stillgestanden. Takano hatte es erklären wollen, hatte mit ihm reden wollen, doch noch bevor er überhaupt die Gelegenheit bekommen hatte zu reagieren, war Onodera bereits wieder verschwunden. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
 

Es war ihm schwergefallen, das wilde Durcheinander, das in seinem Inneren gewütet hatte, zu ordnen. Da waren Erinnerungen in seinem Kopf, die so greifbar und schmerzhaft waren, die Verletzungen des Unfalls und sein seelisches Leid, die Angst, Onodera enttäuscht zu haben.

Dabei hatte er einzig und allein in Onoderas Armen sein und ausschließlich dessen Nähe spüren wollen – nicht Yokozawas. Quälend langsam war diese Erkenntnis in sein Bewusstsein gesickert.

Und obwohl er sich hätte ausruhen sollen, hatte ihm das Thema keine Ruhe gelassen. Auch nicht, als Onodera später zurückgekommen war und ihm schweigend Gesellschaft geleistet hatte. Mit deutlich zu viel Abstand hatte er sich auf den kleinen Hocker gesetzt und beteuert, dass alles in Ordnung wäre und dann war es auch schon ganz genau so gelaufen, wie sonst auch. Onodera hatte betreten zu Boden geblickt und sie hatten sich, wie so oft, angeschwiegen, obwohl es tausende von Dingen gab, über die sie hätten reden können. Wenn Onodera doch wenigstens die Nähe, seine Nähe, nicht so gescheut hätte. Doch Takano hatte die Kraft gefehlt etwas aktiv dagegen zu unternehmen. Er war zu erschöpft gewesen, sodass er die meiste Zeit geschlafen hatte.
 

Rückblickend betrachtet war dieser Tag eine einzige Katastrophe gewesen. Zwar fühlte er sich unendlich dankbar gegenüber Onodera und Yokozawa, die die ganze Zeit über an seiner Seite gewesen waren - Takano wollte sich nicht ausmalen, wie er das überstanden hätte, hätte er nicht seine Familie um sich gehabt - doch schlimmer hätte der Tag damals gar nicht mehr laufen können, da war er sich sicher.
 

Zu seinem Verdruss, waren die darauffolgenden Tage nicht anders verlaufen. Yokozawa hatte einen unerwartet ausgeprägten Beschützerinstinkt an den Tag gelegt, war leicht reizbar gewesen und hatte sich übermäßig um alles gesorgt. Manchmal hatte er sich wie ein kleines Kind gefühlt, das bevormundet wurde. Doch er hatte ihn machen lassen, er konnte sich vorstellen, wie sehr sein Freund innerlich mit der Situation zu kämpfen hatte – vor allem, wenn Dinge aus dessen Kontrolle gerieten. Früher hatte er Yokozawas Drang, Dinge zu entscheiden, zu beeinflussen und zu kontrollieren als typische Macke ihrer gesamten Vertriebsabteilung abgestempelt. Aber er hatte gesehen, wie sehr Yokozawa diese ganze Sache mitgenommen hatte, von ihm selbst ganz zu schweigen.
 

Onodera hatte sein distanziertes und gedrücktes Verhalten beibehalten. Es war völlig unmöglich gewesen, mit ihm zu reden, Blickkontakt aufzubauen oder ihn gar zu berühren. Seine Verletzungen hatten es ihm vor allem anfangs völlig unmöglich gemacht, dem Jüngeren nahezukommen, da sein Bewegungsspielraum zu stark eingeschränkt war. Und obwohl Onodera die ganze Zeit bei ihm war, konnte Takano spüren, dass sich Onodera emotional immer weiter vor ihm zurückzog.

Takano hatte sich unermüdlich Gedanken über den jungen Redakteur gemacht. Weder hatte er einschätzen können, wie Onodera mit dem Unfall umging, noch was die etwas prekäre Situation mit Yokozawa in ihm ausgelöst hatte. Wenn er doch nur mit ihm gesprochen hätte!

Wie gerne hätte Takano ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er ausschließlich bei ihm sein wollte, dass das mit Yokozawa nichts zu bedeuten hatte. Diese Option war ihm jedoch verwehrt geblieben, also hatte er sich wohl oder übel damit zufriedengeben müssen Onodera wenigstens um sich zu haben.
 

Doch wie sich gerade herausgestellt hatte, waren all seine Bedenken und sein Unbehagen, das er bezüglich Onoderas Verfassung seit dem Unfall verspürt hatte, berechtigt gewesen und die Person, die er so sehr über alles liebte, lag nun völlig aufgelöst in seinen Armen. Es nervte ihn mindestens genau so sehr, wie es ihn freute.

Er war aus allen Wolken gefallen, als Onodera so unverhofft hier hereingeplatzt war und entgegen seiner sonst zurückhaltenden Art seine Gefühle lautstark und tränenreich kundgetan hatte. Er hatte beobachten können, wie Onodera selbst damit überfordert gewesen war, wie es ihn überrannt und er jegliche Kontrolle darüber, was als Nächstes passierte, verloren hatte.

Ihn so zu sehen war unerträglich gewesen. Es hatte Takano einen Stich versetzt, Onoderas Verwundbarkeit auf so grausame Art mitansehen zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass er der Grund dafür war. Erst in diesem Moment war ihm bewusst geworden, wie sehr der Jüngere die letzten Tage gelitten haben musste, als er all diese Emotionen im Stillen mit sich herumgetragen hatte, ohne seine Last mit jemandem zu teilen. Stattdessen hatte der Dummkopf die Distanz zu ihm gewahrt und kein Wort über die Lippen gebracht.

Doch wie hätte er jetzt wütend auf in sein können? Es hatte ihn zu sehr aus der Bahn geworfen, den zierlichen Körper in seinen Armen zu spüren, wie er bebte und nach Luft rang, Onoderas heiße Tränen, die nicht versiegten und die gepeinigten Laute, die über seine Lippen kamen.
 

Doch nichtsdestotrotz waren da auch noch diese ganz anderen Gefühle, die zweite Seite der Medaille. Takano wusste, dass er sich selbst dafür verurteilen und schämen sollte, denn alles daran war falsch. Aber so sehr es ihn auch schmerzte, Onodera so zu erleben, so sehr erfreute ihn auch der vehemente Zusammenbruch. All die Emotionen zu sehen, die so ehrlich und intensiv waren und Onodera den Boden unter den Füßen entrissen hatten, hatte ihn glücklich gemacht. Weil es Ausdruck seiner Zuneigung für ihn war. Onoderas Panik und Verzweiflung, ihn verlieren und nicht bei ihm sein zu können, ebenso wie sein zitternder Körper, der in seinen Armen Zuflucht und Schutz gesucht hatte, lösten in ihm, zusammen mit all den negativen Empfindungen, eine so angenehme Wärme aus, die ihn nur noch lächeln und ein Empfinden von Glück zurück ließ. Nüchtern betrachtet wusste Takano, dass das falsch und absolut verwerflich war. Dass er sich nicht über so etwas freuen sollte. Doch zum ersten Mal hatte Onodera seine Gefühle für ihn so offen und ehrlich gezeigt, dass ihnen keine Worte der Welt gerecht werden konnten. Er hatte ihm in gewisser Weise gezeigt, dass er seine Liebe doch erwiderte, dass er bei ihm sein und ihn unter keinen Umständen verlieren wollte.

Als er ihm dann auch noch gesagt hatte, dass er ihn brauchte, war es um ihn geschehen. Fast wäre er über ihn hergefallen, hatte er ihn in vollen Zügen lieben und ihn spüren lassen wollen, wie glücklich er war. Nur waren sie leider noch immer in einem Krankenhaus…
 

Takano spürte, wie das Beben des Jüngeren abebbte, sich seine Atmung normalisierte und auch dessen Hitze abklang. Onodera beruhigte sich und das war auch gut so. Behutsam strich Takano ihm den Rücken entlang und bettete erneut seinen Kopf auf dem nussbraunen Haarschopf und genoss die Zweisamkeit, die sie hatten. Endlich, er hatte so lange darauf warten müssen.
 

In seinem Kopf ließ er Onoderas Gefühlsausbruch Revue passieren, immer und immer wieder. Er hatte etwas gesagt, das sich Takano einfach nicht erklären konnte und je länger er darüber nachdachte, desto weniger konnte er dem Drang widerstehen, seiner Neugierde zu beruhigen. Ihn beschlich das Gefühl, dass er dem Jüngeren unbedingt auf den Zahn fühlen sollte.
 

Während er wie in Trance Onoderas Rücken ununterbrochen weiter entlangstrich, wandte er sich mit ruhiger, gesenkter Stimme an den Jüngeren. Er wollte so beiläufig wie möglich klingen.

„Sag mal, wie kommst du da eigentlich drauf? Nicht angeschnallt?“

Takano wartete beharrlich ab, konnte spüren, wie Onoderas Rücken sich unter seiner Hand verspannte und er seine Antwort hinauszögerte. Kurz wurde es still im Raum und keiner von ihnen sagte etwas, doch Takano hatte Zeit. Um die Antwort würde der junge Redakteur gewiss nicht herumkommen. Aber vor allem beschlich ihn die Vorahnung, dass er gleich ziemlich genervt sein würde.

Das Ganze war ihm bereits verdächtig vorgekommen, als Yokozawa und Onodera sein Zimmer zuvor gemeinsam mit einer schwammigen Ausrede verlassen hatte. Sie hatten doch nicht wirklich geglaubt ihm etwas vormachen zu können? Er hatte einen Unfall erlitten und nicht seinen Verstand verloren.

Leise hörte er, wie der Jüngere etwas Unverständliches gegen sein Hemd murmelte.
 

„Huh? Was hast du gesagt?“, die zierliche Gestalt in seinen Armen hatte sich in der Zwischenzeit zur Salzsäule verwandelt.

„… Doktor Hakamada.“

„Eeeehhh?!“, skeptisch hob er eine Augenbraue. Diese Beiden konnte man keinen Augenblick allein lassen! Wenn sie etwas mit dem Arzt besprechen wollten, dann konnten sie das auch mit ihm gemeinsam machen, oder nicht?

Doch Takano brauchte darauf keine Antwort. Immerhin war es schwer, geheime Abmachungen hinter seinem Rücken zu treffen, wenn er doch mitten im Raum saß.

„N-na ja…“, begann Onodera stotternd, „…weil… na weil…“, Takano musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Onodera mit ertappter Miene und seinem nervösen Lächeln verzweifelt nach einer guten Erklärung suchte, „w-weil wir uns Sorgen machen und du ja entlassen werden willst und weil… na ja, weil wir d-das am liebsten verhindern wollten.“

„Wie bitte?! Und wieso weiß ich davon nichts?“, entfuhr es ihm genervt. Er spürte wie Onodera unter seiner Hand zusammenzuckte. Der Jüngere war so nervös gewesen, dass er in seiner Erklärung immer schneller und hastiger wurde und seine letzten Worte letztendlich gerade noch so laut über die Lippen gebracht hatte, dass er sie fast nicht gehört hatte.

Doch ihm war auch das kleine Wörtchen ‚wir‘ in Onoderas Ausführungen nicht entgangen. Natürlich hatte Yokozawa es nicht gut sein lassen können… Takano konnte nicht leugnen, dass es ihn ärgerte.
 

Grimmig brummte er vor sich hin, ihm war klar, dass das kleine zu Stein erstarrte Häufchen Elend in seinen Armen ihm darauf keine Antwort geben würde. Angespannt hatte Onodera sich stattdessen verstärkt an ihn gelehnt, das Gesicht weiter dem hellen Stoff seines Oberteils zugedreht und es ihm somit unmöglich gemacht, ihn anzusehen.

Onodera und Yokozawa waren wirklich eine eigene Hausnummer. Takano fragte sich, inwieweit er die Sorge der beiden tolerieren sollte – nichtsdestotrotz waren sie seine Familie und als solche hatte er ihnen auch Zugeständnisse einräumen wollen. Aber seine Entlassung verhindern?! Er hatte gedacht, die Diskussion darüber wäre bereits beendet. Doch vermutlich hätte er Yokozawa besser kennen müssen. Yokozawa mit seiner forschen und bevormundenden Art war bestimmt die treibende Kraft bei diesem Plan gewesen.
 

Innerlich seufzte er. Sie machten sich wohl immer noch Sorgen, und zwar mehr, als er angenommen hatte. Takano hatte gehofft, dass sich ihre Bedenken über die Tage gelegt hatten. Er merkte, wie er innerlich nachgab und sein Zorn genauso schnell verflog, wie er gekommen war. Wenn er ehrlich mit sich war, dann war er kein Stück besser und gewiss auch nicht einfach in der Handhabung. Er erinnerte sich an all die Male, in denen er sich Onodera nahezu aufgezwungen hatte, nur, um ihm zu zeigen, wie sehr er ihn liebte, er hätte von Anfang an die Reihenfolge einhalten sollen. Und Onodera… er senkte den Blick auf das nussbraune Haar und sah innerlich die Bilder und Szenen in seinem Kopf aufblitzen, in denen Onodera sich jedes Mal vehement gegen ihn gewehrt hatte oder ihm gar aus dem Weg gegangen war. Nur, um ihn letztendlich doch gewähren zu lassen.
 

Ergeben schnaufte er und grummelte genervt, als er daran dachte, wohin ihn Onoderas Starrköpfigkeit schon wieder gebracht hatte – wohin sie sie beide gebracht hatte.
 

„Gut, meinetwegen. Wenn es dich glücklich macht, lasse ich mich eben nicht vorzeitig entlassen.“
 


 

~~~
 

Mit Wort und Reihenfolge

Takano hatte es kaum erwarten können, in den frühen Morgenstunden endlich seine wenigen Sachen zu packen, seinen Patientenstatus ein für alle Mal aufzugeben und in sein Apartment zurückzukehren.
 

Und so kam es, dass sie nun wieder zuhause waren und sich ihr Alltag trotz aller Umstände zum Greifen nah anfühlte. Obwohl das nicht ganz stimmte, denn Takano war zwar zurück zuhause, doch Onodera war bei ihm in der Wohnung geblieben und nun saßen sie sich am Esstisch schweigsam gegenüber. Auch wenn ihr Freund sich nicht vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen hatte, trauten Yokozawa und Onodera dem Frieden keineswegs und hielten weiterhin an dem Entschluss fest, Takano nicht aus den Augen zu lassen.
 

Insgeheim freute sich Onodera über alle Maßen für seinen Vorgesetzten, immerhin war es genau das, was er die ganze Zeit gewollt hatte: Heimkehren. Doch auch das war ohne ausgiebige Diskussion zwischen Yokozawa, Takano und ihm selbst nicht ganz so einfach gewesen. Yokozawa hatte mit Adleraugen auf ihn Acht geben wollen, da er ganz genau wusste, wie schnell Takano zu seiner Arbeit zurückkehren würde, wenn sie nicht da wären. Die Tatsache, dass Yokozawa ihm nicht zutraute, Takano von Dummheiten abzuhalten, hatte ihn getroffen. Nüchtern betrachtet, musste Onodera jedoch zugeben, dass die Vorbehalte des Älteren berechtigt waren. Doch Takano hatte seinen langjährigen Freund ohne Umschweife abgewiesen und seinen Mangel an Privatsphäre all die letzten Tage als Begründung vorgebracht - das war für Yokozawa wie eine unsichtbare Mauer gewesen, die er nicht überwinden konnte.
 

Und nach längerem Hin und Her mit Yokozawa, hatte letztendlich Kirishima ein Machtwort gesprochen, Yokozawa für sich beansprucht und dem Bären somit den Wind aus den Segeln genommen.
 

Das Resultat war, dass Takano und er sich nun gegenübersaßen und sich wie so oft anschwiegen. Doch diese Stille war anders. Sie schwiegen nicht, weil sie nicht wussten, wie sie miteinander ins Gespräch kommen sollten, sondern weil sie miteinander gesprochen hatten. Wieso musste es immer so anstrengend mit ihnen beiden sein?
 

Nervös rutschte Onodera auf seinem Stuhl hin und her. Er fühlte sich zwiegespalten. Auf der einen Seite hätte er nichts dagegen gehabt, wenn Yokozawa zumindest diesen ersten Tag bei Takano geblieben wäre. Yokozawa hatte recht, er könnte sich im Fall der Fälle gewiss effektiver gegen Takano durchsetzen. Auf der anderen Seite war es genau das, was er wollte: bei Takano sein. Auch, wenn es ihm schwer fiel, das Takano zu zeigen. Um seinem inneren Kampf entgegenzuwirken, war Onodera bei ihm geblieben, hatte sich um die Wohnung gekümmert, ihn nur kurz allein gelassen um einzukaufen, sich dann dem Mittagessen gewidmet und dabei stets jeglichen Augenkontakt vermieden.
 

Doch irgendwann hatte auch Takano gemerkt, dass ihm die Tätigkeiten und somit auch die Fluchtmöglichkeiten ausgegangen waren und seinem Kreuzverhör nichts weiter im Weg stand.
 

Entspannt, als wäre nichts gewesen, verweilte Takano ihm nun gegenüber und fixierte ihn mit seinen tiefbraunen Iriden. Ganz gelassen sog er an seiner Zigarette, als hätte Onodera die Sache mit seinem Vater mit keinem Wort erwähnt – dabei hatte Takano jedes Detail hören wollen. Onodera hatte sich wie ein in die Ecke gedrängtes Tier gefühlt, als er Takano alles gebeichtet hatte. Weder hatte er sich getraut, sich zu bewegen, noch gewagt Augenkontakt herzustellen.
 

Doch fast gelangweilt hatte sein Vorgesetzter die Lider gesenkt, als hätten sie über etwas völlig Belangloses wie den Wetterbericht gesprochen. Dabei war sich Onodera sicher gewesen, dass Takano ihm den Hals umdrehen würde, sollte er je die ganze Geschichte erfahren. Dem Jüngeren wurde einmal mehr klar, wie schwer es ihm fiel, seinen Vorgesetzten einzuschätzen, nie wusste er, was in dessen Kopf vorging.
 

Er spürte, wie er sich etwas entspannte, als Takano ganz gelassen die Glut seiner Zigarette löschte und das Wort ergriff und dabei weder genervt noch wütend klang. „Was hast du erwartet? Er sieht ab, dass du irgendwann die Firmenleitung übernimmst. Da sollte er dich auch als solche akzeptieren und respektieren. Und eine Führungskraft trifft Entscheidungen.“
 

Zu Onoderas Verwunderung hörte sich seine Stimme sogar genauso ruhig an, wie er wirkte. Wenn nicht gar etwas trocken. Ob die Bedrohung einer Strafpredigt oder gar Schlimmerem an ihm vorbeigezogen war?
 

„Aber ich bin keine Führungskraft und Entscheidungen…“ er seufzte angestrengt, Entscheidungen zählten wirklich nicht zu seinen Stärken. Als er nur einen Moment später Takanos Finger spürte, die zärtlich und wie gewohnt durch sein Haar wuschelten, zuckte er, von der sanften Berührung überrascht, ein wenig zurück. Verwundert blickte er auf und sah Takanos sanftes aufmunterndes Lächeln, sein Herz schlug ihm bei diesem Anblick bis zum Hals.
 

„Noch nicht. Aber das wirst du - wenn du das denn willst.“
 

Fast hätte er sich in Takanos Lächeln verloren, es war so ein seltener Anblick, wenn er ihn mit dieser Wärme in seinen Zügen ansah. Doch seine Worte hatten ihn zurück in die Realität geholt. Er zögerte kurz. Wollte er das? Wollte er eine Führungskraft sein? Eigentlich wollte er sich vorerst nur darauf konzentrieren, seine Arbeit gewissenhaft zu erledigen und beim Marukawa Verlag Erfahrungen sammeln – so, wie er es auch seinem Vater gesagt hatte. Und ganz davon abgesehen, hatte er denn überhaupt das Zeug zur Firmenleitung?
 

„Ich… ich weiß nicht.“
 

Doch als hätte er mit seinen Worten einen Schalter umgelegt, merkte Onodera augenblicklich, wie Takanos Züge gefroren, die sanfte Berührung ins Gegenteil umschwang und lange, filigrane Finger strafend seine Haare zerzausten.
 

„Argh! Es ist immer das Gleiche mit dir! Nie weißt du, was du willst, und hinterher verwirrst du alle um dich herum!“ So viel zu Takanos guter Laune. Innerhalb eines Sekundenbruchteils war Takanos warmes Lächeln seinem üblichen genervten Blick gewichen. Onodera hatte sich doch gedacht, dass der Ältere bislang viel zu friedlich gewesen war. Es wäre auch zu schön gewesen. Ganz wie der Vorgesetzte, den Onodera kannte, hielt Takano seine Verärgerung nicht zurück. „Echt! Unglaublich! Ich meine, es dir schon hundert Mal gesagt zu haben,-“
 

„Tut mir leid! Tut mir leid! Tut mir leid!“ Fantastisch, Takano war ganz der Alte… kleinlaut versuchte Onodera sich der Situation zu entwinden, obwohl er wusste, dass Takano recht hatte. Takanos strafende Worte, ebenso wie der Verdruss, über seine Unentschlossenheit waren gerechtfertigt. Diese Rüge würde er über sich ergehen lassen. Onodera hatte damit gerechnet, dass Takano ihn bereits viel eher wüst unterbrechen und seine Verärgerung zeigen würde. Nämlich als er ihm gebeichtet hatte, dass er ihn über eine Woche gemieden hatte, um über ein Gespräch mit seinem Vater zu grübeln, das im Grunde gut verlaufen war. Oh man… wie konnte Takano auch nicht verärgert sein? Aus seiner Sicht musste es so wirken, als hätte er sich wegen nichts und wieder nichts den Kopf zerbrochen, dabei hatte er bei seinem Vater doch genau das erreicht, was er gewollt hatte.
 

„Weißt du eigentlich, dass das, was du da tust, ein totaler Widerspruch ist?!“
 

„Ich sagte doch bereits - es tut mir leid!“
 

„Mann, jetzt bin ich sauer…“ Takano stöhnte entnervt auf, bevor er sich im Stuhl zurücklehnte und eine weitere Zigarette an seine Lippen führte. Für einen Moment war es still zwischen ihnen, man hörte nur das Schnalzen von Takanos Feuerzeug. Onodera konnte Takano ansehen, dass seine Stimmung drastisch gesunken war. Es war fast wie damals, als sie im Regen gewartet hatten und er Takano offenbart hatte, dass er über all die Jahre noch nicht einmal seinen richtigen Namen gekannt hatte. Er wollte gar nicht wissen, wie wütend Takano jetzt war. Doch irgendetwas musste er sagen, sonst würden sie sich wieder anschweigen, wie sonst auch.
 

„Takano-san?“
 

„Masamune.“
 

„Was?“
 

„Mein Name ist Masamune.“
 

„D-das weiß ich, aber-“
 

„Im Krankenhaus konntest du doch auch ganz normal mit mir reden.“ Takano hob abwartend eine Augenbraue und löschte seine Zigarette im Aschenbecher. Er wollte jetzt nicht streiten und vor allem wollte er nicht aus schlechter Laune heraus rauchen.
 

„Ja, das war eine Ausnahme. Ich habe mich aber inzwischen wieder daran erinnert, dass Sie mein Vorgesetzter sind und bitte um Entschuldigung. Es wird nicht wieder vorkommen.“
 

„Bist du doof?!“ Wollte Onodera ihn mit Absicht ärgern? Stocksteif und sachlich hatte er ihm das wie aus der Pistole geschossen vorgehalten. Wie konnte er nur so stur an dieser Formsache festhalten? Wie es ihn nervte, wenn sich Onodera so starrsinnig an seinen Formalitäten klammerte – da war ihm die unsichere, stotternde Variante schon fast lieber. Immerhin wusste er dann, dass er Onodera näherkam.
 

„Kann ich Ihnen noch auf irgendeine Weise hier behilflich sein?“
 

Definitiv. Es nervte ihn. Nur mit Mühe erinnerte Takano sich selbst daran, dass er jetzt nicht streiten wollte. Er wollte jede Sekunde mit Onodera voll und ganz ausnutzen. Unter seinen dunklen Haarsträhnen lugte er zu seinem Gegenüber und holte gedehnt Luft.
 

„Eigentlich will ich nach dem Ganzen einfach nur vernünftig duschen.“
 

„Das geht nicht! Ihre Wunden sollen trocken bleiben, Sie haben den Arzt doch gehört.“
 

„Dann wasch mich.“
 

„Bitte?! Waschen Sie sich gefälligst selbst!“
 

„Wolltest du mir nicht gerade eben noch helfen?“ Takano konnte sehen, wie sich sein Gegenüber innerlich auf die Zunge biss und sich im Geiste auf die Hinterbeine stemmte. Sie könnten es so einfach haben, wenn er sich nur nicht immer so zieren würde. Nach Onoderas Worten im Krankenhaus hatte er de facto gedacht, dass sie dies eigentlich hinter sich gelassen hatten.
 

„Na schön. Aber die Unterwäsche bleibt an.“
 

„Was hast du denn für ein Verständnis von Körperhygiene?“
 

„Den Teil können Sie schön selbst waschen!!“
 

„Als ob du ‚den Teil‘ nicht gut genug kennen würdest…“
 

„Ich meine es ernst, Takano-san!“
 

„Spielverderber.“
 

Es war Takano ein Rätsel. Wie konnte sich ein so liebreizendes unschuldiges Wesen innerhalb von Sekunden in die altgewohnte widerspenstige Zicke verwandeln, die er seit ihrem Wiedersehen kennenlernen durfte – musste. Doch er musste auch zugeben, dass es auf eine gewisse Weise beruhigend war. Es hatte etwas so Alltägliches an sich und das war etwas, das Takano seit dem Unfall bei Onodera vermisst hatte. Auch, wenn ihm der unschuldige Junge von damals, der ihm so offen seine Liebe gestanden hatte, die Sache wesentlich einfacher machen würde. Nichtsdestotrotz, er liebte Onoderas jetziges Ich, nicht das Ich von damals. Nicht mehr. Sein Herz schlug einzig und allein für den Onodera, der er heute war. Wenn er sich ihm nur endlich voll und ganz hingeben würde…
 

Und wieder schwiegen sie, wie so oft in den vergangenen Tagen. Es war schwierig mit ihnen. Dabei hätten sie sich so viel zu erzählen, es gab so vieles, das sie voneinander nicht wussten. Und nach allem, was passiert war, sollten sie doch jetzt erst recht die Chance nutzen sich richtig kennenzulernen.
 

„Sag mal, ist das nicht für gewöhnlich der Zeitpunkt, an dem du dich irgendwie aus der Affäre ziehen willst?“, Takano stützte den Kopf auf der Handfläche ab und ließ seinen Blick durch die Wohnung streifen. Er beabsichtige keineswegs, Onodera rauszuwerfen, im Gegenteil, er wollte, dass Onodera bei ihm blieb. Doch aus Erfahrung wusste er, dass der Jüngere die frühestmögliche Gelegenheit zur Flucht mit kalkulierbarer Sicherheit ergreifen würde.
 

Er hatte Onodera nicht aufhalten können, als dieser begann seine Wohnung auf den Kopf zu stellen und zu putzen, bis auch die letzte Ecke seiner Wohnung staub- und keimfrei war. Übertrieben, wie er fand – vor allem, wenn man an Onoderas eigenes Chaos dachte. Aber der Jüngere hatte ihm gar nicht zugehört und einfach weitergemacht, sogar eingekauft und gekocht hatte er. Irgendwie hatte es ihn auch gerührt, also hatte er ihm schweigend dabei zugesehen, bis er der Meinung war, dass es an der Zeit war, den Kleinen zur Rede zu stellen und ihm die Möglichkeit zu nehmen, Ausflüchte zu finden.
 

Und so hatte er endlich vom Besuch seines Vaters erfahren.
 

Onodera hatte es dabei möglichst vermieden, Takano in die Augen zu sehen. Er fühlte sich noch immer schuldig und mit Takano über die Sache mit seinem Vater zu sprechen, hatte nur Salz in die Wunde gerieben. Er hatte zwar den Unfall nicht verursacht, aber er hätte von Anfang nicht weggehen sollen. Er hätte bleiben sollen. So wie jetzt hätte er Takano gleich alles erzählen sollen. Er wusste nicht, wie Takano ihm so entspannt gegenübersitzen konnte, als würde ihm all das nichts ausmachen. Ganz so, als wäre er nicht vor ihm weggelaufen und hätte ihn nicht allein gelassen. Dabei hatte er Takano damals einfach so den Rücken gekehrt, als wäre es selbstverständlich ihn um sich zu haben – als hätte er eine Garantie auf Takanos Nähe. Er konnte sich gar nicht vorstellen, was Takano bei dem Unfall durchgemacht haben musste. Soweit Onodera es erkennen konnte, waren die Blutergüsse mittlerweile in ihrer ganzen Pracht zu sehen, allein Takanos Gesicht erstrahlte in tiefem Blau, der Stoff seiner Sachen konnte die Rötungen, Prellungen und blauen Flecke nicht verdecken.
 

Wie konnte sein Vorgesetzter damit so locker umgehen? Und wie konnte er selbst das jemals wieder gut machen?
 

„Hmmm?“, erinnerte Takano den Jüngeren an seine Frage, da er noch immer keine Antwort erhalten hatte. Abwartend beobachtete er ihn aus den Augenwinkeln.
 

„N-nein.“ Onodera mied möglichst jeden Blick zu seinem Gegenüber und Takano musste mit Unbehagen feststellen, dass es nicht Verlegenheit war, die er auf dem abgewandten Gesicht des jungen Redakteures sehen konnte. Stattdessen hatte sich auf Onoderas Miene etwas ganz anderes abgezeichnet, etwas, das ihm ganz und gar nicht gefiel - Reue.
 

Innerlich seufzte er. Natürlich, der Unfall. Takano hatte im Krankenhaus nur am Rande mitbekommen, dass Onodera ein schlechtes Gewissen umtrieb, er es ihm gegenüber jedoch nicht zugeben wollte. Aber er hatte Onodera die letzten Tage oft genug gesagt, dass er sich wegen nichts schlecht fühlen musste.
 

Das würde er unbedingt aus Onoderas Kopf streichen müssen, doch vielleicht war es dafür noch zu früh. Vielleicht wäre der richtige Zeitpunkt, wenn er nicht mehr aussah, als hätte ihn ein Bus überfahren. Takano verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, wie erschreckend nahe sein Vergleich der Realität kam. Eine solche Erfahrung würde er nicht zwingend wiederholen wollen… obwohl Onoderas Nähe seit dem Unfall sein Herz höher schlagen ließ.
 

„Ich habe versprochen, Ihnen zu helfen. Daher werde ich bleiben.“
 

Takanos umherschweifender Blick war augenblicklich zu Onodera zurückgekehrt und nun wachsam auf ihn gerichtet. Takano spürte, wie das Herz in seiner Brust einen Satz machte und sich sein Körper angesichts Onoderas Worte mit Wärme flutete.
 

„Ach?“, hungrig durchbohrten seine dunklen Iriden den jungen Redakteur und auch wenn sie indirekt waren - er wollte noch mehr solcher Geständnisse, die ihm Onoderas Gefühle offenbarten. Doch noch mehr als das wollte er Onodera nah sein. Noch näher.
 

„Vorerst.“
 

Schade, aber er würde sehen, was sich damit anfangen ließ. Takano hatte nicht vor, Onodera so schnell wieder gehen zu lassen, er wollte den Menschen, den er so sehr liebte, bei sich haben. Und wenn es nach ihm gehen würde: Für immer.
 

„Willst du mir nicht auch noch erzählen, was dich so beschäftigt?“
 

„H-habe ich doch schon.“ Die Sache mit seinem Vater, ja. Und auch, wenn Takano sich vorstellen konnte, dass dies den Jüngeren sehr beschäftigte, glaubte er ihm einfach nicht, dass das alles war. Natürlich musste dieser Besuch wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein und er konnte sich gut vorstellen, dass sich Onodera im ersten Moment ziemlich hilflos und überrannt gefühlt haben musste. Aber war das wirklich schon alles? Er hatte bereits eine ganze Weile darüber nachgedacht und jetzt, nachdem Onodera mit ihm gesprochen hatte, fügten sich die Teilchen langsam zu einem großen Ganzen. Ritsu war nicht wie er, der sich einfach nichts sagen ließ und trotzdem sein eigenes Ding machte. Dafür war er zu unschuldig, er war nicht verdorben genug und hatte diese Ehrfurcht vor Älteren. Nicht nur seinen Eltern gegenüber, auch gegenüber seinen Kollegen und nicht zu vergessen gegenüber ihm, doch das würde er dem Kleinen noch austreiben, dieses Formelle nervte ihn. Er hatte es schön gefunden, dass der Jüngere ihn im Krankenhaus so unerwartet beim Vornamen genannt und auf diese förmliche Anrede verzichtet hatte. Endlich hatte Onodera von sich aus den Abstand zwischen ihnen verringert.
 

Und dennoch, selbst wenn er all das berücksichtigte, so konnte er sich nur ihren damaligen Streit erklären. Doch es fehlten noch immer Teile im Gesamtbild - Teile, die erst seit dem Unfall fehlten.
 

„Ich meine, dass da noch etwas anderes ist.“ Und er konnte sich denken was. Er wartete kurz, schwieg und hoffte, dass der Jüngere sich ihm öffnen würde. Doch Onodera zeigte keine Reaktion. Wenigstens log er ihn nicht an, oder versuchte es abzustreiten.
 

„Es ist der Unfall, nicht wahr?“ Onodera, der merklich zusammenzuckte und etwas zurückwich, verkörperte durch und durch, dass er sich unwohl fühlte. Natürlich war es der Unfall. Und wieder schwiegen sie. Takano wusste nicht, was er Onodera sagen sollte, wie er ihm klar machen sollte, dass er ihm nicht böse war. In keinem Moment hatte er die Schuld bei Onodera gesucht, er wusste ganz genau, dass er selbst es war, der die rote Ampel fast überfahren hätte und bereits in der anderen Fahrbahn stand. Hinzu kam noch, dass er mit einem absolutem Tabu gebrochen hatte, als er sich während des Fahrens von dem Anruf ablenken ließ. Und dann hatte eins zum anderen geführt. Er war es, der sich schrecklich fühlte, wenn er mit ansehen musste, wie sehr Onodera und Yokozawa darunter litten.
 

Aber auf der anderen Seite freute er sich darüber, dass sie für ihn dagewesen waren. Es bedeutete ihm alles und war gewiss nicht selbstverständlich, diese beiden Personen in seinem Leben zu haben, ihnen wichtig zu sein und Teil ihrer Familie zu sein. Es erfüllte ihn mit einer unbeschreiblichen Wärme, nach so vielen Jahren endlich eine Familie zu haben, in der es ganz normal war, sich umeinander zu sorgen.
 

Takano nahm einen tiefen Atemzug und musterte Onodera eindringlich, bevor er aufgab. Er konnte ihn nicht dazu zwingen, über dieses Thema zu sprechen, oder – und das wäre ihm am liebsten – sich von der ganzen Sache zu distanzieren und nach vorne zu blicken. Doch zumindest solange ein Blick in sein Gesicht Onodera keine andere Wahl ließ, als an den Unfall zu denken, würde vor allem Letzteres keine Option sein.
 

„Also, steht das jetzt mit der gemeinsamen Dusche?“, er stützte sich an der Tischplatte ab, als er sich langsam erhob.
 

„Waschen! Wie ich bereits sagte. Und außerdem mit-“
 

„Unterwäsche, ja ja, schon klar. Mein ich ja. Du wirst noch alt und grau, wenn du dich immer gleich so aufregst.“
 

„Tak-“, weiter kam er nicht, denn Takano hatte seine Lippen mit den seinen verschlossen und ihm damit jeglichen Wind aus den Segeln genommen. Onodera spürte warme Finger an seinen Wangen und die großen Hände, die sanft sein Gesicht umschlossen. Als sich Takanos Lippen von den seinen lösten, trennten sie nur Millimeter. Er blickte direkt in Takanos Augen und versank in seinen tiefdunklen braunen Iriden, die im Licht bernsteinfarben glänzten und ihn ansahen, als ob sie durch ihn hindurchblicken konnten. Takano war ihm so nah…
 

„Ich freue mich, dass du dich so um mich sorgst.“, Takano hauchte ihm noch einen kurzen Kuss auf die Lippen, bevor er von dem Jüngeren abließ.
 

Da war er wieder, sein Onodera. Mit dem hochroten Kopf, seiner Unschuldsmiene und den glasigen grünen Augen, die mit der Röte seiner Wangen nicht stärker im Kontrast stehen könnten. Sein Onodera, der mit seiner Nähe völlig überfordert war.
 

„Irgendwer muss ja nach Ihnen sehen. Wer weiß, was Sie allein alles anstellen würden!“

„Duschen.“
 

„Takano-san!“
 

„Jetzt komm endlich, sonst werde ich noch alt.“
 


 

~~~
 

Gegen alle Zweifel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!

Es würde mich unglaublich darüber freuen, zu erfahren, wie das Kapitel bei euch ankam! :)

Frohes Weiterstöbern und bis zum nächsten Kapitel,
Komori Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo, endlich wieder ein bisschen TakanoxRitsu – wie fandet ihr es?
An diesem Teil der Ff saß ich ziemlich lange, weil es mir unglaublich wichtig war, die einzelnen Charaktere und ihre Gefühle anschaulich und nachvollziehbar rüberzubringen. Ob das geklappt hat, könnt allerdings nur ihr mir sagen! ;)

Es würde mich wirklich brennend interessieren, wie euch die Ff gefällt – erkennt ihr die Charaktere wieder und kommen die Gefühle gut rüber?

Lasst mir doch bitte kurz eure Meinung in einem Review da! :)

Liebe Grüße,
Eure Komori Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Uuuund? Wie fandet ihr es?
Ich würde mich unglaublich darüber freuen zu erfahren, wie ihr das Kapitel fandet! :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  NaschKatzi
2021-03-04T18:11:40+00:00 04.03.2021 19:11
Hello~

Q.Q Auch nach dem zweiten Lesen macht mein Herz doki o.o
Ich hoffe so sehr, dass Masa nicht allzu sehr kaputt ist. Oder eigentlich doch xD Argh xD Es ist so fies o.o
Was muss er auch beim Fahren am Handy spielen u.u
Wie wohl Ritsu reagieren wird?! Noooo Q.Q
Ich will es nicht wissen, doch will ich Q.Q
Mein Herz macht aus...*schnieft*
Antwort von:  Komori-666
04.03.2021 20:23
Huhuuu! :)

Vielen lieben Dank für dein Review! Wie schön, dass du die Ff hier gefunden und sogar nochmal gelesen hast! :)
Manchmal unterschätzt man solche Momente und lässt sich dann ablenken, das wurde auch für Masamune zum Verhängnis.
Wie es weitergeht erfährst du bald! Ich denke, dass ich am Samstag das nächste Kapitel hochladen werde :)

Ganz liebe Grüße und bis dahin,
Komori


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