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Gnädiges Gift

von

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Der Proband

Shiho betrat das provisorische Krankenzimmer, welches seit einigen Monaten ihren neuen Arbeitsplatz darstellte. „Guten Morgen“, sagte sie ohne eine Antwort zu erwarten. Wie immer gaben die Geräte den gleichen monotonen Ton von sich.

Shiho setzte sich an ihren Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und starrte anschließend auf den Bildschirm. Sie öffnete die Akte ihres Patienten und seufzte leise auf. Falsche Zeit – falscher Ort, sagte sie zu sich selbst. Allerdings gab es für das Leben oftmals nur eine Chance. Handlungen konnten nicht rückgängig gemacht werden und die Vergangenheit prägte die Zukunft. Vor einigen Jahren war auch sie voller Hoffnung. Mit Bestnote hatte sie ihr Studium abgeschlossen und sofort mit der Arbeit für die Organisation begonnen. Nichts von alle dem war ihre eigene Entscheidung, aber sie ließen sie dennoch in dem Glauben, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen konnte – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Und dann hörte sie von dem Einstieg ihrer Schwester. Der Einstieg fiel ihr schwer, obwohl Akemi auch in die Organisation hineingeboren wurde. Das Problem bestand allerdings darin, dass Akemi weniger gefördert wurde und somit ein ruhiges Leben führen konnte. Sie wurde lediglich von anderen Mitgliedern beobachtet, konnte aber tun und lassen was sie wollte. Bei Shiho sah es anders aus. Sie selbst wurde frühzeitig ins Ausland gebracht und besuchte die renommiertesten Schulen und Universitäten. Die Organisation hatte von Anfang an Pläne mit ihr und drängte sie in die Wissenschaft, wo sie in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten war.

Shihos Gefühle waren zwiegespalten. Einerseits freute sie sich, weil sie endlich offen mit ihrer Schwester reden und sie häufiger treffen konnte. Andererseits war sie geschockt und hatte Zweifel, ob Akemi diesen dunklen Weg tatsächlich gehen wollte. Sie machte sich Sorgen um ihre ältere Schwester, die nie die Brutalität der Organisation kennen lernte. Aber Akemi hatte alle Mitglieder überrascht, als sie einen Auftrag nach dem anderen ordnungsgemäß durchführte und der Organisation eine Menge Geld zuführte. Langsam schien es, als würden sie ihr Vertrauen entgegenbringen. Allerdings war es dann Shiho, die sie aus ihrem Leben in Tokyo riss.

Damals hatte sie geglaubt, dass die Welt für Akemi ein Stückchen Glück bereit hielt. Aber dann warf auch die Organisation ein Auge auf Dai und das potentielle Märchen platzte wie eine Seifenblase. Kurz darauf wurden ihre Forschungen nach Aomori transferiert. Und warum? Weil dort angeblich das Equipment besser war. Aber war das wirklich der Grund? Immerhin konnte sich die Organisation auch in Tokyo eine bessere Ausstattung leisten. Aber vielleicht steckte mehr dahinter? Vielleicht wollten sie einfach nur verhindern, dass sich Akemi und Dai näher kamen? Vielleicht hatten sie eine andere Partnerin für ihn im Kopf. Und dass Akemi mit nach Aomori reisen würde, war für die Organisation keine Überraschung. Allerdings verstärkte es Shihos schlechtes Gewissen ihrer Schwester gegenüber. Sie erinnerte sich noch sehr genau an ihre damalige Unterhaltung. So als hätte sie erst gestern stattgefunden.

„Ist alles in Ordnung? Du rufst sonst nie so früh an.“

„Mir geht’s gut“, begann Shiho. „Mach dir nicht immer so viele Sorgen um mich. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich habe da so ein Gerücht gehört.“

Akemi wurde hellhörig. „Was hast du gehört?“

„Nicht wirklich viel.“ Shiho seufzte leise auf. „Ich hab gehört, sie rekrutieren gerade jemand Neuen. Als ich mehr wissen wollte, verwies man mich auf dich.“

Akemi schwieg.

„Akemi?“, fragte Shiho leise. „Ist es Dai?“

Die junge Frau schluckte. Ihr kamen die Tränen. „Ja, sie finden wohl, dass er ganz gut zu ihnen passt…wir haben vorgestern zufällig Jodie getroffen“, erzählte sie. „Sie lud uns zu ihrem Geburtstag ein. Weil Dai nicht wusste, was ich weiß, hat er natürlich zugestimmt mich zu begleiten. Ich hatte gehofft, dass auch ein paar normale Menschen unter den Gästen sind, aber…“

„Aber was?“, wollte die Wissenschaftlerin wissen.

„Der Mann…ist sofort zu ihm gegangen und…sie waren draußen…danach saßen sie am Tresen zusammen und…das wars…ich habe Angst…“

„Ach Akemi“, murmelte Shiho. „Es tut mir so leid…“

„Was soll ich denn machen, Shiho? Ich hab mich in ihn verliebt, aber wenn er für sie arbeitet…und wahrscheinlich wird er mehr machen müssen, als ich…ich weiß nicht, ob das überhaupt eine Zukunft hat…Vielleicht darf er mich dann gar nicht mehr sehen…oder wenn ihm was passiert…ich…“

„Akemi“, wisperte die Wissenschaftlerin. „Ich wünschte…ich könnte dir helfen.“

„Ich bin froh…das du für mich da bist. Meinst du…wir könnten uns mal zum Essen treffen?“

Shiho schwieg.

„Schwester?“

„Akemi“, fing die Jüngere an. „Ich hab dir doch erzählt, dass sie überlegen meine Forschungen zu verlegen?“

Akemi schluckte. „Ja…“

„Die Pläne sind nun konkret geworden. Meine Forschungen werden nach Aomori verlegt.“

„Aomori…“, wiederholte Akemi. Aomori lag etwa neun Stunden Autofahrt oder sechs Stunden Bahnfahrt von Tokyo entfernt. Nur mit einem Flugzeug war die Reise erschwinglich und in kurzer Zeit machbar. Allerdings würde ihr die Organisation die vielen Reisen nicht gewähren. „Und wann…musst du dort sein?“

„Schon morgen.“

„Morgen?“, murmelte Akemi. „Aber…wieso schon morgen?“

„Sie wollen, dass ich so schnell wie möglich die Arbeit wieder aufnehme. Deswegen fliege ich morgen früh hin. Eine Wohnung haben sie mir bereits besorgt.“

Es herrschte Stille.

„Akemi?“

Akemi wischte sich die Tränen weg. „Entschuldige…das kommt nur so plötzlich…ich…“

„Es tut mir leid, Akemi, aber du weißt, dass ich nicht einfach absagen kann.“

„Meinst du…ich könnte mitkommen? Aomori hat schließlich auch Banken…die Organisation kann mir sicher da eine Stelle besorgen.“

„Bist du dir sicher, Akemi? Du müsstest dein Leben hier in Tokyo aufgeben und…Dai.“

„Du bist meine Familie, Shiho“, entgegnete sie. „Familie ist wichtiger.“

Letzen Endes war Shiho froh gewesen, dass sich Akemi für diesen Weg entschied und mit nach Aomori zog, vor allem nachdem sie wusste, dass Dai für den Feind – das FBI – arbeitete. Trotzdem wurde Akemi mehreren Befragungen unterzogen und musste versichern, nichts über das Doppelleben des Agenten gewusst zu haben. Es brauchte eine Weile, ehe die Organisation endlich glaubte. Dabei hatte Shiho keine einzige Sekunde an der Ehrlichkeit ihrer Schwester gezweifelt. Und trotzdem hatte diese jenen Mann nicht gänzlich aus ihrem Herzen verbannen können.

Zwei Jahre danach zogen sie wieder nach Tokyo, da man dort mit dem verbesserten Medikament weiterarbeiten wollte. Zumindest war dies die offizielle Begründung. Shiho glaubte allerdings, dass es an Dai – Shuichi Akai - und Jodie lag, die das Land verlassen und seit jeher in den Staaten auf der Hut sein mussten. Es würde nur eine Frage der Zeit werden, bis Beide das zeitliche segneten.

Shiho schüttelte den Kopf. „Hör auf an die Vergangenheit zu denken“, murmelte sie leise und widmete sich der Patientenakte. Eigentlich war sie Biochemikerin, aber ihr neuster Proband reagierte anders auf das von ihr entwickelte APTX 4869. Diese Reaktion machte ihn – Shinichi Kudo – zu einem wichtigen Forschungsobjekt.

Shiho synchronisierte die Angaben des Herzmonitors und des EEGs mit ihrem Computer und machte einen Haken hinter seinem Namen. Seit über einem halben Jahr hatten sich seine Werte weder verbessert noch verschlechtert. Obwohl er nach der Einnahme von APTX 4869 tot sein sollte, schlief er. Sein Überleben stellte am Anfang eine große Überraschung und einen ebenso großen Schock dar, aber letzten Endes handelte es sich nur um eine interessante und sehr reizvolle Nebenwirkung, die weiter untersucht werden musste.

Das war es, was Shiho an ihrer Arbeit reizte: Die unbekannte Konstante einer Reaktion. Allerdings hatten sich viele Mitglieder der Organisation ihre Arbeit leichter vorgestellt und glaubten, es würde ausreichen ein Mittel entwickelt zu haben. Doch es gab viele Faktoren die berücksichtigt werden mussten, ehe es bei Menschen verwendet werden konnte. Bis auf einen Probanden verstarb jedes Opfer innerhalb von wenigen Minuten – ohne Nachweis auf Fremdeinwirkung. Bei ihm war es anders. Er war etwas Besonderes.

Aus diesem Grund wurden sie auch hellhörig, als in der Zeitung von einem Überfall die Rede war und Zeugen gesucht wurden. Aufgrund der Beschaffenheit ihres neuen Giftes, konnte die Ärzte dieses im menschlichen Blutkreislauf nicht nachweisen, sodass die Polizei davon ausging, dass der Schlag auf den Hinterkopf seine momentane Situation auslöste und er lediglich ins Koma fiel. Da selbstverständlich seine Familie informiert wurde, war das Zeitfenster für ihr Handeln nur kurz. Aber wer hätte gedacht, dass ihnen das Glück ein weiteres Mal hold sein würde? Vermouth – die Frau die sie hasste und fürchtete – hatte den Jungen auf dem Foto erkannt und war einst sogar mit seiner Mutter befreundet gewesen.

Für Vermouth war es ein Einfaches gewesen als Chris Vineyard die Freundin ihrer Mutter zu überzeugen, den Jungen in eine private Einrichtung zu verlegen. Und so bekamen sie ihn in die Finger und konnten ihn in Ruhe überwachen und – sollte er je aufwachen – kontrollieren. Anfangs wollten seine Eltern und seine Freunde ihn regelmäßig besuchen, aber auch hierfür hatte die Organisation die passende Lösung parat: Vermouth schlüpfte einige Wochen später in die Rolle des genesenen Oberschülers und überzeugte jeden davon nach den Reha-Maßnahmen eine Auszeit zu brauchen. Daraufhin war der Schülerdetektiv offiziell von der Bildfläche verschwunden.

„Du warst leider ein wenig zu neugierig“, murmelte die Wissenschaftlerin und zog ein Buch mit dem Titel Gnädiges Gift aus ihrer Tasche – ein Geschenk von Akemi. „Na gut, wo waren wir gestern stehen geblieben?“, wollte sie wissen und blätterte bis zum Lesezeichen. „Ach genau…Allison und Kai waren im Restaurant und trafen dort auf Vanadium. Sie klärte Allison über ihre Herkunft auf und bedrohte beide mit einer Waffe“, erzählte sie und begann weiter vorzulesen.

„Spätestens wenn man euch identifiziert, werden Fragen aufkommen. Deswegen werdet ihr Beiden jetzt schön aufstehen und nach draußen gehen.“ Vanadium stand auf. „Oder soll ich ungemütlich werden?“

Allison stand ebenfalls auf. Kai tat es ihr gleich. Er suchte immer noch einen Ausweg.

„Und jetzt bitte raus. Ihr geht vor.“

Allison sah wieder zu Kai. „Tu was sie sagt“, entgegnete der Agent und ging langsam aus dem Restaurant.

„So ist es brav“, gab Vanadium von sich.

„Du hast einen Fehler gemacht, Vanadium“, sagte Kai ruhig.

„Hm? Ach wirklich? Das seh ich nicht so.“

„Die Fenster des Restaurants befinden sich auf der anderen Seite. Dein Schütze müsste die Position wechseln und das ist mit einem Scharfschützengewehr so schnell nicht möglich.“ Er lächelte, drehte sich dann um und schlug seinem Gegenüber mit der Faust ins Gesicht. „Normalerweise schlage ich keine Frauen, aber du siehst ja aus wie ein Mann“, fügte er hinzu. Kai nahm Allisons Hand und lief mit ihr zu seinem Wagen.

Sekunden später fing Vanadium an auf die Beiden zu schießen und ihnen nachzulaufen.

Kai öffnete die Wagentür und stieg ein. Als Allison neben ihm Platz nahm, fuhr er mit quietschenden Reifen los. Er sah zu ihr. „Alles in Ordnung? Bist du getroffen?“

„Nur ein Streifschuss“, murmelte Allison und schnallte sich an. „Wo fahren wir hin?“

„Weg“, antwortete der Agent, aber die Schüsse ertönten immer noch. „Verdammt…die werden nicht Ruhe geben, bis sie uns haben“, murmelte er.

„Fahr an den Hafen“, gab Allison von sich. „Sie haben dort…zwei Lagerräume, die unbewacht sind. Den Code…kennen nicht viele, aber ich hab ihn…mal mitbekommen. Wir können dort den Wagen wechseln und…bestimmt finden wir auch etwas, um unsere Identität zu verschleiern.“

Agent Benett nickte. „Und sie werden nicht auf die Idee kommen, dass wir direkt in ihre Arme fahren“, sprach er.

„Du musst deinem Boss Bescheid geben“, kam es von Allison. „Er muss ebenfalls verschwinden und vorsichtig sein.“

„Das mach ich gleich“, sagte Kai ruhig. „Seit zehn Minuten gaben sie keine Schüsse mehr auf uns ab.“

„Vielleicht haben sie uns verloren?“ Allison sah nach hinten. „Niemand hinter uns.“

„Wir sollten trotzdem aufmerksam bleiben. Sie könnten uns trotzdem hier vermuten.“ Agent Benett bog auf das Hafengelände. „Wo geht’s lang?“

„Du musst erst einmal links abbiegen, dann geradeaus und an der zweiten Lagerhalle rechts, danach an der dritten Halle nochmals rechts.“

„In Ordnung.“ Kai sah besorgt zu ihr rüber. „Hältst du durch?“

„Klar“, antwortete Allison.

Gerade als der Agent abbiegen wollte, wurde er von einem Wagen gerammt. Er driftete nach hinten und nahm den Weg geradeaus. Es fielen weitere Schüsse. Einer traf den hinteren Reifen. Kai krallte seine Hände ans Lenkrad und versuchte das Auto unter seiner Kontrolle zu halten. Als der zweite Schuss in den Reifen abgefeuert wurde, wurde es immer schwerer für den Agenten. Irgendwann verlor er doch die Kontrolle.

Der Wagen überschlug sich.

Shiho zuckte zusammen, als sich die Tür zum Patientenzimmer öffnete und ein ziemlich schlecht gelaunter Gin hereinkam. Er sah zu dem Oberschüler. „Was macht unser Gast?“

„Weiterhin schlafen“, antwortete die Wissenschaftlerin. Sie deponierte das Lesezeichen an die richtige Seite im Buch, schlug dieses zu und legte es auf ihren Schreibtisch.

„Dummer Schnüffler“, fing Gin an. „Was musste er sich auch einmischen.“

„Mhm…“, murmelte Shiho. „Was verschafft mir die Ehre deines Besuches?“

Nebenwirkung

Gin musterte die junge Wissenschaftlerin. Dennoch würde er nie zugeben, dass sie für ihr Alter bereits viel geschafft hatte und ihn damit irgendwie beeindruckte. Aber egal wie sehr sie sich auch anstrengte, sie würde immer und zu jeder Zeit der Organisation zur Verfügung stehen müssen. Sie und ihr Leben gehörten ihnen. Ein Ausstieg war undenkbar. „Muss ich einen Grund haben um hier nach dem Rechten zu sehen?“, wollte er wissen.

Shiho zuckte mit den Schultern. „In der Regel kommst du nicht einfach nur zum Plaudern vorbei.“

Er lächelte, als hätte sie ihn durchschaut. „Was für eine Auffassungsgabe du doch hast“, begann er. „Wie kommst du mit dem Schnüffler voran?“

Sie seufzte. Würde Gin die Berichte lesen, die sie regelmäßig einreichte, wüsste er den aktuellen Stand. „Alles wie immer. Er schläft“, fing sie an. „Aber es hätte auch anders enden können. Was wäre gewesen, wenn er nach der Einnahme des Giftes bei vollem Bewusstsein geblieben wäre? Ihr könnt den Menschen nicht einfach so das Mittel verabreichen und dann gehen. Ich hab es euch doch schon mehrfach erklärt: Es befindet sich immer noch in der Testphase“, zischte sie wütend.

„Bist du sicher, dass er den Schlaf nicht nur vortäuscht?“

Shiho biss sich auf die Unterlippe, als er ihre Anmerkung ignorierte. „Schlaf oder ein Koma können nicht einfach so vorgetäuscht werden. Aus diesem Grund ist er auch an ein EEG und ein EKG angeschlossen. Hirnaktivität, Herzfrequenz und sein Puls werden dauerhaft überwacht und sind – für seine Verhältnisse – im Normalbereich. Jeder einzelne Ausschlag wird gemeldet, sodass wir frühzeitig Handeln können, sollte sich sein Aufwachen langsam bemerkbar machen. Und selbst wenn er ein so guter Schauspieler wäre, wie seine Mutter, könnte er den Maschinen nicht entkommen.“

„Gut“, gab Gin von sich. „Irgendwelche Anzeichen, dass er bald wieder zu Bewusstsein kommen könnte?“

Shiho rollte mit den Augen. „Du kannst mich das auch gern die nächsten Tage noch fragen, meine Antwort bleibt gleich: Nein, es gibt keine Hinweise“, sagte sie. „Deswegen ist eine Schätzung nicht möglich.“

Gin überlegte. „Hast du schon herausgefunden, warum das Gift bei ihm nicht gewirkt hat?“

Shiho seufzte ein weiteres Mal. „Das ist nicht so einfach, wie ihr alle denkt. Ein Medikament zu entwickeln dauert Jahre. Unser Vorteil war, dass ich die Grundlagenforschung meiner Eltern verwendet habe, aber…“ Sie sah auf den Oberschüler. „…bevor ein Wirkstoff bei einem Menschen angewendet werden darf, muss er im Labor und in zahlreichen Untersuchungen mit Tieren, wie Ratten, eine ausreichende Wirkung zeigen. Normalerweise sollte ein solcher Wirkstoff nicht toxisch sein, weswegen verschiedene Faktoren untersucht werden müssen, unter anderem wie gut der Wirkstoff vom Körper aufgenommen, wie er sich im Blut und in den Organen verteilt und wie er ausgeschieden wird. Diese Untersuchung alleine dauert mindestens zwei Jahre. Da unser Ziel aber war, dass das Mittel nicht nachweisbar ist, haben wir erst einmal auf diesen Aspekt unser Augenmerk gelegt. In weiteren Versuchsreihen konnten wir dann erste Erkenntnisse über sein tödliches Potential gewinnen. Allerdings nur an Ratten“, erklärte sie. „Dennoch müssen wir weiterhin alle möglichen Nebenwirkungen über einen bestimmten Zeitraum beobachten und prüfen. Da wir aber nicht wissen, wodurch die Reaktion des Oberschülers ausgelöst wurde, konnten wir sie dementsprechend auch noch nicht reproduzieren. Gerade für die Art von Tests, die wir machen müssen, findest du keine Testpersonen. Und du kannst nicht jeden Menschen auf der Straße umbringen, ohne dass die Polizei Verdacht schöpft. Dennoch…“ Shiho runzelte die Stirn. „APTX 4869 basiert auf dem Mechanismus der Apoptose – einem programmiertem Zelltod. Dabei töten sich die Zellen im Körper selbst ab, was schließlich dazu führt, dass am Ende der Tod einsetzt. Dadurch sieht es so aus, als wäre der Tod ohne Fremdeinwirkung eintreten. Wird dieser Zelltod ab einem bestimmten Punkt aufgehalten, hätte ich maximal mit einer Verjüngung der Testperson gerechnet.“

„Verjüngung?“

Die Wissenschaftlerin nickte. „Während des Vorganges der Apoptose werden zunächst einmal die älteren Zellen abgetötet. Liegen keine oder nur wenig ältere Zellen vor und wird die Apoptose vorzeitig unterbrochen, halte ich diese Nebenwirkung für möglich. Allerdings kennen wir keine Faktoren, die für den Abbruch der Apoptose verantwortlich sein könnten. Um es einfacher auszudrücken: Wir fischen im Trüben.“

„Verstehe“, gab Gin von sich. „Wie lange dauert es, bis du eine genaue Aussage dazu treffen kannst.“

Shiho schüttelte den Kopf. „Ich hab es dir doch bereits erklärt. Es ist nicht einfach. Wir haben dem Jungen natürlich sofort Blut abgenommen und auch die Blutproben aus dem Krankenhaus angefordert. Aber wie du es dir denken kannst, war die Untersuchung nichts sagend. Wäre sie direkt nach der Einnahme von APTX 4869 und danach im halbstündlichen bis stündlichen Takt durchgeführt worden, hätten wir möglicherweise mehr Erkenntnisse gewonnen. Das ist aber nur reine Spekulation. Unsere Leute haben selbstverständlich versucht seinen Tagesablauf zu rekonstruieren und die Lücken zu füllen. Da wir den Einfluss noch nicht abschätzen konnten, sind wir einen ganzen Monat zurück gegangen. Allerdings fehlen uns noch zu viele Informationen und wir können schlecht seine Freunde befragen, was er wann gegessen, getrunken oder welche Medikamente er eingenommen hat. Seine Eltern diesbezüglich zu kontaktieren, wäre Zeitverschwendung, da der Junge seit geraumer Zeit alleine in Japan lebt, während sie in den Staaten ihrer Arbeit nachgehen. Sie kommen nur sehr selten zu Besuch…von daher haben wir die Eltern als Informationsquelle von Anfang an ausgeschlossen.“

„Du hast dich ja ziemlich gut über ihn informiert“, stellte Gin fest.

„Ein notwendiges Übel. Er ist mein derzeitiges Forschungsobjekt, weswegen ich alles über ihn wissen muss. Es reicht nicht nur, wenn man sein Blut analysiert, Proben nimmt und jemanden beobachtet. Wie ich schon vorher erklärt habe, können Nebenwirkungen nie ausgeschlossen werden, man braucht allerdings das Wissen, wie man ihnen entgegen wirkt. Und wenn ich zu wenig über den Jungen weiß, kann ich wenig weiter forschen. Alle bisherigen Versuche seinen Zustand an den Versuchstieren zu reproduzieren, schlug fehl. Allerdings kann ich schlecht weiter forschen, wenn ich jeden Tag an seinem Bett Wache halten muss. Meine Mitarbeiter versorgen mich zwar immer mit den notwendigen Informationen, aber manchmal muss man eben doch vor Ort sein um die Tests selbst durchzuführen.“

Gin grummelte nachdenklich.

„Ich weiß, was ihr denkt. Nachdem sich Dai als Spitzel herausstellte, hattet ihr lange Zeit meine Schwester im Verdacht gehabt, ihm geholfen zu haben. Aber mittlerweile müsstet auch ihr verstanden haben, dass sie nichts damit zu tun hatte. Sie hat ihn so kennen gelernt, wie sich Menschen eben kennen lernen. Und vergesst bitte nicht, dass ihr dafür gesorgt habt, dass mein Forschungsstandort nach Aomori verlegt wird. Akemi ist sofort mitgekommen und hatte seitdem keinen Kontakt mehr mit Dai. Sie ist unschuldig. Aber selbstverständlich vermutet ihr wegen diesem Verdachtsfall, dass ich APTX 4869 manipuliert oder euch ein anderes Mittel gegeben habe, nur um den Tod der Menschen zu verhindern. Deswegen wollt ihr mich hier lange genug beschäftigen, damit ihr eure Recherchen zu Ende betreiben könnt. Ich kann dir aber sagen, wie es ausgeht. Ihr werdet zu dem Schluss kommen, dass ich mit seiner Reaktion auf das Mittel nichts zu tun gehabt habe.“

„Ich wusste schon immer, dass du ein schlaues Köpfchen bist, Sherry“, entgegnete Gin und ging zu ihr. Er legte seine Hand auf ihr Kinn und zog ihr Gesicht nach oben. „Aber es bekommt dir nicht, schlauer zu sein, als unser Boss. Und solange er nicht entschieden hat, dass du unschuldig bist, wirst du hier schön brav weiter arbeiten und mit deinen Mitarbeitern nur telefonisch oder per E-Mail kommunizieren. Hast du das verstanden?“

Shiho sah das Funkeln in seinen Augen, welches ihr verriet, dass die falsche Antwort ihren Tod zur Folge haben würde. „Ja“, presste sie heraus.

„Gut.“ Gin ließ sie los und sein Blick fiel auf das Buch. „Du liest diesen Schund?“

Shiho zuckte zusammen. „Das hab ich geschenkt bekommen“, antwortete sie. Unter keinen Umständen würde sie zugeben, dass sie es von Akemi hatte. „Ist nicht uninteressant.“

„Und hat Ähnlichkeit mit unserer Organisation.“

„Du hast es gelesen?“, wollte die Wissenschaftlerin ungläubig wissen.

„Nein“, entgegnete Gin. „Ich hab davon gehört. Nach seinem Erscheinen hat es für Aufruhr bei uns gesorgt.“

„Aber es ist nur eine Geschichte. Ja, sie hat Ähnlichkeiten wie die Namen der Mitglieder auf Ebene des Periodensystems der Elemente, aber das muss nicht heißen. Da hatte jemand bestimmt nur viel Fantasie.“

„Soll ich dir sagen, wer sich unter diesem Pseudonym verbirgt? Du kennst sie. Sie war mal für uns tätig und hat sich dann von einem gewissen FBI Agenten einlullen lassen.“

Shiho weitete die Augen. „Jodie hat das Buch geschrieben?“

„Nach unseren Recherchen aufgrund der Ähnlichkeit, wurde dies bestätigt“, entgegnete Gin.

„Und wie könnt ihr dann so ruhig bleiben? Wenn sie in den Staaten ist, ist es dort doch schon viel länger bekannt. Die Übersetzung hat doch mindestens ein Jahr gedauert. Man könnte Rückschlüsse auf uns ziehen“, warf sie ein. „Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, wiederholte sie.

„Unterschätz uns nicht“, begann Gin. „Unsere Leute haben den Sachverhalt bereits geprüft und solange die Leser nur daran glauben, dass alles ausgedacht ist…“ Er zuckte mit den Schultern. „Und für uns kann das Buch auch ein Vorteil sein. Die ganzen Agenten, die hinter uns her sind, werden versuchen mit Jodie in Kontakt zu treten. Früher oder später machen sie alle einen Fehler und dann schlagen wir zu.“

„Mhm…“, murmelte die Wissenschaftlerin. „Ich bin besorgt. Jetzt wo ich weiß, dass Jodie die Geschichte geschrieben hat, seh ich die gesamte Handlung in einem ganz neuen Licht.“

„Mach dir nicht in die Hose. Vermouth kümmert sich darum. Laut ihr, wird in dem Buch nicht viel über die Organisation erzählt. Jodie schrieb lediglich ihre Geschichte der vergangenen zwei Jahre auf. Der Schachzug von Akai war damals wirklich gut…Sie haben sie beim FBI eingestellt, damit wir uns noch mehr Mühe geben müssen, um sie umzubringen. Am besten so, dass keiner Fremdeinwirkung vermutet. Und jetzt wurde das Buch veröffentlicht, was sie zusätzlich in den Fokus der Medien rückt. Nicht schlecht, Akai, nicht schlecht“, murmelte er.

Shiho sah ihn skeptisch an. „Ich kann nicht verstehen, wie ihr so ruhig bleiben könnt, aber wahrscheinlich geht es mich auch nichts an.“

Gin lächelte. „Da hast du Recht. Es geht dich nichts an. Deine Aufgabe ist es diesen Schnüffler weiter zu beobachten oder uns zu raten, ihn einfach abzuknallen.“

„Letzteres muss der Boss entscheiden“, antwortete die Wissenschaftlerin. „Und du weißt wie ich, dass er den Jungen zur Zeit noch lebend sehen will.“

Boss…leben…sterben…Jodie…Akai…Gift…Tod…

Shiho zuckte zusammen. „Das kann nicht…“ Sie sah auf den Ausschlag auf dem Monitor und stürzte sofort dorthin.

„Was hat das zu bedeuten?“, kam es von Gin.

„Die Gehirnaktivität…sie nimmt zu…“, wisperte Shiho.

„Und das heißt?“

„Es könnte nur ein Zufall sein oder eine Störung ausgelöst durch ein defektes Kabel, Staub oder einer lockeren Elektrode. Ich werde das sofort überprüfen.“

„Beeil dich.“

„Ich weiß, was ich tu“, gab sie leise von sich und beobachtete weiterhin die Werte. „Ich glaube…ich glaube, er…er wacht auf.“

„Was?“ Gin verengte die Augen zu Schlitzen und sah auf den Oberschüler.

„Hol einen Arzt.“

Gin verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich lass dich mit dem Schnüffler nicht allein, wenn er wach ist“, sagte er.

Shiho rollte mit den Augen. „Ich hau schon nicht mit ihm ab“, sprach sie ruhig.

„Das tust du wirklich nicht“, antwortete der Mann in Schwarz. „Aber wer weiß, welchen Einfluss er auf dich hat.“

„Du musst mir schon ein wenig Vertrauen entgegen bringen.“

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, antwortete Gin.

„Oh man…“, murmelte sie und lief zur Tür. Shiho riss diese auf und sah auf dem Flur. „Schnell. Wir brauchen einen Arzt“, rief sie der Krankenschwester zu und kam wieder zurück ins Zimmer. Sie ging zu Shinichi und beugte sich über ihn. „Hallo? Hörst du mich?“, fragte sie leise.

Shinichis Augenlider zuckten.

„Was für ein Aufstand“, murmelte Gin. „Wozu brauchst du jetzt noch einen Arzt, wenn du dich eh um alles kümmerst.“

„Ich bin Wissenschaftlerin, Gin, keine Ärztin“, konterte sie, während sie den Oberschüler nicht aus den Augen ließ. „Ganz ruhig…es ist alles in Ordnung…du bist in Sicherheit“, log sie.

Sofort schlug der Oberschüler die Augen auf. „Mhm…“, gab er stöhnend von sich.

Wo bin ich? Shinichi sah zunächst verschwommen, doch langsam wurde seine Sicht immer klarer. Er beobachtete Shiho. Meine Ärztin?

Aber dann blieb sein Blick bei Gin hängen. Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag. Gin – die letzte Person, die er damals sah. Ich wurde…niedergeschlagen…Gift…er hat mich vergiftet…

Shinichi bewegte seine Lippen, zuerst ganz hastig, aber als kein Ton von ihm kam, versuchte er es langsamer. Er wollte sie warnen und ärgerte sich, als sein Körper nicht mitmachte.

Shiho lächelte und nahm ein Taschentuch hervor. „Ganz ruhig“, sagte sie und holte ihre Wasserflasche vom Tisch. Sie tränkte das Taschentuch mit dem Wasser und ging wieder zu ihm. Ganz langsam tupfte sie seine Lippen ab. „Es ist alles gut.“

Wenige Sekunden später wurde die Zimmertür aufgerissen und ein Arzt kam rein. „Er ist wach?“

„Ja“, bestätigte Shiho.

„Na los, untersuchen Sie ihn“, sagte Gin, stellte sich an die Wand und beobachtete die Situation.

Aufgewacht

Dr. Sawada musterte den schwarz gekleideten Mann. Wann immer er auf diesen trat, hatte sich eine Gänsehaut auf seinen Körper gelegt. Sawada wusste, dass man sich mit Personen wie Gin nicht anlegte und vor allem das man mit Lügen nicht weiter kam.

Gin hatte einen ausgesprochen guten Riecher dafür gehabt, wann immer er hinters Licht geführt wurde. Zudem durchschaute er schnell die kompliziertesten Situationen und handelte schnell und instinktiv. Gin war wahrlich kein Mann, dem man in einer dunklen Gasse begegnen wollte – außer man legte es darauf an zu sterben oder man war Vermouth und machte sich einen Spaß daraus. Gins Vorteil war allerdings, dass er das Schauspiel der Amerikanerin immer durchschaute und wusste, wer vor ihm stand.

Sawada räusperte sich. „Selbstverständlich“, murmelte er und stellte seinen Arztkoffer auf den Stuhl neben dem Bett. Er öffnete ihn und nahm eine kleine Taschenlampe hervor. „Nicht erschrecken, das wird dich jetzt kurz blenden“, erklärte er und leuchtete in die Augen des Oberschülers. Er nickte sich selbst zu und steckte die Taschenlampe wieder zurück. Anschließend hielt er ihm seinen Finger vor das Gesicht und schwenkte diesen von einer Seite auf die andere. Shinichis Blick folgte ihm dabei. „Das sieht doch ganz gut aus“, murmelte der Arzt. „Weißt du wie du heißt?“

Shinichi versuchte seinen Namen zu sagen, doch stattdessen kam nur ein Krächzen aus seinem Mund. Er hustete.

„Hat er seine Zunge verschluckt oder warum redet er nicht?“, kam es genervt von Gin.

„Das ist ganz normal“, erklärte Sawada. „Er lag eine ganze Weile im Koma und hat gewisse Körperfunktionen eine ganze Weile nicht mehr nutzen können. Jetzt muss sich sein Körper wieder daran gewöhnen, dass er wach ist und wieder eigenständig agieren kann. Die Sprache kehrt auch bald zurück. Er wurde in der Zwischenzeit intravenös ernährt und beatmet, sodass sein Hals sicher sehr trocken ist. Desorientierung, Kreislaufprobleme, Albträume, aber auch Ein- und Durchschlafstörungen sind in diesem Zustand ebenfalls normal. Aber keine Sorge, in den nächsten Tagen werden die Nebenwirkungen nachlassen. Danach können wir anfangen rehabilitierende Maßnahmen einzuleiten, damit wieder sämtliche Bewegungsabläufe sowie sensorische und motorische Fähigkeiten einwandfrei funktionieren.“

„Wie lange wird das alles dauern?“, wollte Gin wissen.

„Das kann man nie so genau sagen“, begann der Arzt. „Es gibt Komapatienten die bereits nach einigen Wochen wieder fit waren, andere haben Jahre gebraucht. Bei dem Jungen wird sich noch zeigen, wie schnell wir mit seiner vollen Genesung rechnen müssen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass der Zeitraum kurz ist, aber ich kenne nicht die Nebenwirkung die das andere Medikament bei ihm verursacht hat.“ Sawada räusperte sich. „Das ist natürlich kein Vorwurf. Ich nehme ihm noch Blut ab und danach möchte ich ein CT machen lassen.“

„Wenn es unbedingt sein muss…“

„Ja, das muss sein“, bestätigte der Arzt. „Seine Genesung hat jetzt erst einmal hohe Priorität. Danach steht er Ihnen wieder zur vollen Verfügung.“

„Ich werde die ganze Zeit dabei sein. Sollten Sie irgendetwas machen, was nicht notwendig ist um seine Behandlung zu verlangsamen, werde ich es merken“, entgegnete Gin und sah zu Shiho. „Du bleibst hier und arbeitest weiter.“
 

Eine Woche später waren sie immer noch keinen Schritt weiter gekommen und langsam verzweifelte Shiho an dem Oberschüler. Selbstverständlich war ihr Boss nicht erfreut über das spontane Aufwachen des Jungen. Und viel schlimmer war, dass die Geräte die Situation vorher nicht einmal erfasst hatten. Akribisch hatten sie sich auf die Suche der letzten Opfer von APTX 4869 gemacht, heimlich die Gräber geöffnet, Proben genommen, Abgleiche durchgeführt und Untersuchungsergebnisse transferiert. Ein Fehler, wie er bei Shinichi Kudo auftrat, durfte sich nicht wiederholen.

Jetzt konnten sie nur noch das Beste aus der Situation machen und den Oberschüler zum Sprechen bringen. Wie gern hätte Gin ihm den Todesschuss verpasst, aber die wissenschaftliche Komponente ging vor. Und es war wichtig zu erfahren, wodurch die neue Nebenwirkung verursacht wurde und wie sie mit ihr umgehen konnten. Doch Shinichi lag den ganzen Tag im Bett und starrte die Decke an. Zusätzlich war er an eine Infusion angeschlossen, die den Ärzten, aber auch Shiho erlaubte ihm ein Sedativum zu verabreichen, sobald er transportiert werden oder ruhig gestellt werden musste. Zur weiteren Sicherheit aller Beteiligten wurde seine linke Hand mit Handschellen am Krankenbett gekettet.

Sobald er vom Arzt zur Untersuchung gebracht wurde oder mit einem der Physiotherapeuten seine Beweglichkeit in Angriff nahm, macht er mit und ließ alle Prozeduren über sich ergehen. Doch er sprach einfach nicht. Dr. Sawada schätzte dies als eine langfristige Nebenwirkung des Komas ein, aber Shiho ahnte, dass mehr dahinter steckte. Sie hatte sich ausgiebig mit der Vergangenheit des Schülerdetektivs beschäftigt und erkannte an seinem Blick, dass sich die Zahnräder in seinem Kopf drehten und er nur nach einer guten Möglichkeit der Flucht suchte. Leider hatte auch Gin geahnt, dass mehr dahinter steckte und das Zimmer so gut wie nie verlassen.

Shiho stand von ihrem Platz auf und ging in Richtung der Tür. Sie warf Gin einen Blick zu. „Wir müssen reden.“

„Mach keinen Unsinn“, raunte Gin dem Oberschüler zu. „Aber das kannst du ja auch nicht“, fügte er an und verließ mit Shiho das Krankenzimmer. „Was ist?“

„Ich glaube nicht, dass mir Kudo in deiner Gegenwart irgendwas erzählen wird“, gab sie zu. „Du weißt wie ich, dass der Boss mich damit beauftragte ihn zum Reden zu bringen.“

Gin beobachtete sie skeptisch.

„Was hast du zu verlieren, Gin?“, wollte sie wissen. „Die Organisation möchte viele Informationen haben, um APTX 4869 zu verbessern. Aber wir kriegen diese Informationen nicht, wenn du ihn mit deinem Blick durchbohrst und er schweigt. Meinetwegen verwanz mich, wenn du mir weiterhin nicht traust oder bleib vor der Tür stehen. Fakt ist aber, dass ich bestimmt mehr in Erfahrung bringen kann, wenn ich mit ihm alleine rede. Und sollte er versuchen trotz Handschellen abzuhauen, kannst du ihn hier draußen erschießen. Da er Schülerdetektiv ist und gewisse Moralvorstellungen besitzt, wird er mich da drinnen schon nicht als Geisel nehmen. Und wenn ich frühzeitig bemerke, dass er irgendwas vor hat, werde ich die Menge vom Sedativum an dem er angeschlossen ist, erhöhen. Und ich denke nicht, dass er eine Art MacGyver ist und seine Handschellen ohne Schlüssel öffnen kann. Du siehst, ich und unsere Forschungen sind in Sicherheit. Also? Was denkst du, Gin?“

Er leckte sich über die Lippen. „Beschwer dich dann aber nicht, wenn die Kugel zufällig dich treffen sollte“, antwortete er. „Du hast eine Stunde. Danach kommst du raus, mit oder ohne Antworten.“

Sie nickte. „Danke“, wisperte sie leise und ging alleine in das Zimmer. „Hey.“ Shiho bewegte sich auf ihn zu und setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett.

Der Oberschüler schwieg.

„Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht mit mir reden willst. Ich rate dir, überdenke noch einmal diese Entscheidung. Meine…Kollegen werden nicht so freundlich zu dir sein, wenn dein Verhalten weiterhin anhält. Und glaub mir, sie werden dich nicht töten, solange du von Bedeutung bist. Stattdessen werden sie nach deinen Liebsten schauen und…“

„Lasst sie in Ruhe“, kam es sofort von dem Schülerdetektiv. „Sie haben mit der ganzen Sache nichts zu tun. Und ihr werdet auch nicht damit durchkommen. Ich halte euch auf“, sprudelte es nur aus ihm heraus.

Shiho lächelte ihn mitleidig an. „Du bist nicht der Erste der das versucht. Und du wirst auch nicht der Letzte sein.“

„Was soll das heißen?“

„Das hast du doch bereits begriffen. Jeder, der sich mit ihnen anlegt, wird ausradiert. Sie kriegen das Gift und…sterben im Normalfall.“

Shinichi verengte die Augen. „Dann töte mich hier und jetzt.“

„Das geht nicht.“ Sie begann sachlicher zu werden. „Du hast das Gift überlebt und ich muss wissen, wie du das geschafft hast. Deswegen möchte ich wissen, was du noch vom 13. Januar weißt.“

Shinichi sah weiterhin an die Decke. Er erinnerte sich ganz klar an den Tag – vor allem an den Nachmittag. Er war mit Ran im Tropical Land. Sie fuhren mit der Achterbahn, als einem der Fahrgäste der Kopf abgetrennt wurde. Er hatte sofort gespürt, dass mit den beiden schwarz gekleideten Männern etwas nicht stimmte. Dennoch hatte sich eine andere Person als Täter herausgestellt und trotzdem beschlich den Oberschüler ein ungutes Gefühl. Schließlich folgte er einem der Männer und beobachtete ihn bei einem Deal mit einer weiteren Person. Als er versuchte Fotos zu machen, wurde er von hinten niedergeschlagen. Geschwächt bekam er eine Pille verabreicht und wachte anschließend im Krankenzimmer wieder auf.

Shinichi schluckte. Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war und was mit seinen Eltern und seiner Familie in der Zwischenzeit geschehen war. Waren sie in Sicherheit oder hatten die Männer sie in ihrer Gewalt?

„Kudo? Woran erinnerst du dich?“

Shinichi sah die Wissenschaftlerin an. Um selbst an Informationen zu kommen, würde er vorerst mit ihnen kooperieren und ihnen selbst wichtige Informationen entlocken. „Ich war im Tropical Land“, begann er widerwillig. „Der Mann von eben hat mich niedergeschlagen und mir etwas verabreicht. Danach bin ich hier aufgewacht.“

Shiho nickte verstehend. „Hast du an diesem Tag etwas Besonderes gegessen oder getrunken?“

„Nein. Nur das übliche. Frühstück, Mittagessen, Fast Food, Saft, Cola…“

„Hast du Medikamente genommen?“

„Nein.“

„Mhm…“, murmelte sie nachdenklich.

„Wie lange war ich weggetreten?“, wollte der Oberschüler wissen.

„Sechs Monate.“

Abrupt setzte er sich auf. „Was? Nein, das kann nicht…“, gab er von sich. „Was ist mit meinen Eltern? Was habt ihr mit Ran gemacht? Ihr miesen Verbrecher…“

„Bleib ruhig“, begann Shiho. „Deiner Familie geht es gut. Noch.“

„Was soll das heißen?“ Shinichi sah auf die Handschellen und rüttelte daran.

„Sie denken, du nimmst nur eine kleine Auszeit und leben ihr Leben fröhlich weiter. Selbstverständlich werden sie von unseren Leuten regelmäßig beobachtet. Du solltest keinen Versuch unternehmen zu fliegen. Zum einen bist du an ein Sedativum angeschlossen, zum anderen verhindern die Handschellen, dass du das Bett verlässt. Und sollte es dir doch gelingen, wartet draußen bereits jemand auf dich.“

„Ja…stimmt…“, murmelte er. „Das mit der Auszeit hattest du…irgendwann jemanden erzählt.“

„Hm?“ Shiho wurde hellhörig. „Hast du alles gehört, was gesprochen wurde, während du in diesem Zustand warst?“

Shinichi zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, wisperte er leise. „Ich erinnere mich…an Stimmen…es waren mehrere Menschen hier…und ich glaube…mir wurde etwas vorgelesen.“

„Interessant“, gab Shiho von sich. „Du hast also in deinem komatösem Zustand, der wahrscheinlich durch APTX 4869 ausgelöst wurde, jedes Wort mit angehört. Wenn wir jetzt nur wüssten, warum. Hast du in den Tagen vorher bestimmte Medikamente eingenommen?“

„Nein. Es war alles wie immer. Ich war nicht krank und ich habe mich wie immer verhalten“, antwortete der Oberschüler. „Wieso tust du das? Wieso hilfst du ihnen?“

Shiho seufzte, aber um der Wahrheit der Nebenwirkung auf die Spur zu kommen, musste sie zuerst sein Vertrauen gewinnen. Und das hieß, sie musste ihm bestimmte Dinge anvertrauen. „Meine Eltern waren zu Lebzeiten bereits für sie tätig. Ich bin also bei ihnen aufgewachsen und selbstverständlich habe ich den Weg meiner Eltern weiter geführt. Als Wissenschaftlerin, die die Pillen entwickelt hat, interessiert es mich natürlich welche Nebenwirkungen sie haben.“

„Du warst das? Du hast dieses Gift entwickelt? Ja, natürlich…das hab ich gehört…aber…warum? Du tötest Menschen damit.“

„Ich wurde nicht gefragt und wenn ich mich geweigert hätte, hätten sie mich umgebracht. Ich hab nur das notwendige Übel in Kauf genommen.“

Shinichi verengte die Augen. „Siehst du das wirklich so oder sagst du das nur, weil sie unser Gespräch mit anhören?“, wollte der Oberschüler wissen.

„Und wenn schon, das geht dich nichts an.“

„Und das Buch? Du hast mir doch daraus vorgelesen.“

„Ja und?“

„Ich erinner mich an euer Gespräch…er sagte, dass es um eure Organisation geht. Woher hast du das Buch? Wer hat es geschrieben? Ich muss die Person finden. Sie scheint nicht mehr für euch tätig zu sein. Sie kann uns vielleicht helfen.“

„Wieso kommst du auf die Idee, dass ich Hilfe bräuchte?“

„Ist nur so ein Gefühl“, gestand der Oberschüler. „Ich glaube, du wirst gezwungen für sie zu arbeiten…wegen deiner Schwester?“

Shiho schluckte. „Lass sie aus dem Spiel.“

„Das dachte ich mir bereits. Wenn du dich gegen sie stellst, tun sie deiner Schwester etwas an. Aber du kannst dich nicht immer so von ihnen unterdrücken lassen. Und wenn wir uns zusammen tun, können wir ihnen sicher das Handwerk legen. Ich habe gute Kontakte zur japanischen Polizei und meine Eltern haben viele Kontakte in den Staaten.“

„Das bringt nichts“, kam es sofort von Shiho. „Sie haben sie bereits infiltriert. Für uns gibt es keine Hoffnung mehr. Du wirst hier nicht mehr lebend rauskommen.“

„Das werden wir ja noch sehen. Ihr wisst nicht, mit wem ihr euch angelegt habt. Ich bin Shinichi Kudo, ein Detektiv.“

Vor einem Monat - Rückblende

Ohne zu Klopfen betrat Jodie das Büro ihres Freundes und beobachtete ihn bei der Arbeit. Shuichi war in eine Akte vertieft und hob nicht einmal den Blick. Allerdings wusste Jodie, dass er die langweilige Arbeit im Büro, das Akten wälzen und rumsitzen, nicht mochte. Shuichi war viel eher jemand, der nach draußen ging und sich aktiv um seine Fälle kümmerte, Zeugen befragte, Quellen ausfindig machte oder seine Schießfähigkeiten verbesserte. Aber manchmal konnte man sich seinen Fall nicht aussuchen und musste am Schreibtisch hocken. Von vielen Kollegen hatte sie einiges aus seiner Vergangenheit in Erfahrung gebracht. In dem Jahr, in dem sie verschwunden war, wohnte er nahezu im Büro und hatte seine Kollegen pausenlos bei ihrer Arbeit unterstützt. Und das nur um nicht in seine leere Wohnung fahren zu müssen. Es war eine schwere Zeit für ihn, aber er hatte sie überwunden und konnte wieder fröhlich sein – soweit es möglich war.

Sofort legte sich ein Lächeln auf Jodies Lippen und wieder einmal stellte sie fest, was für ein Glück sie doch gehabt hatte. Vor einigen Jahren sah ihre Zukunft viel düsterer aus und es gab keine Hoffnung auf ein normales Leben. Damals war es für sie in Ordnung, aber nachdem er in ihr Leben trat, hatte sie endlich das Gefühl, dass es mal nur um sie ging. Er hatte sie als eigenständigen Menschen gesehen und nicht nur als Ausländerin mit besonderen Reizen betrachtet. Sie war kein Objekt, dessen Weiblichkeit man für sich nutzen konnte. Und obwohl sie ihm am Anfang gar nicht vertraute und es eine Bettgeschichte war, hatte sie sehr schnell Gefühle für ihn entwickelt. Und dies hatte beinahe für eine Katastrophe gesorgt, nachdem die Organisation hinter seine wahre Identität kam. Sie hatten sich verloren, aber letzten Endes doch wieder zueinander gefunden. Eigentlich hatte sie in den letzten 16 Monaten mehr Glück als Verstand gehabt: Die Organisation ließ sie in Ruhe, sie arbeitete als Beraterin beim FBI und sie lebte mit dem Mann ihrer Träume zusammen.

Dennoch war es am Anfang komplizierter, da sie nicht nur von den neuen Kollegen kritisch beäugt wurde. Das Zusammenleben mit Shuichi musste sich auch erst einspielen und Beide hatten noch vieles zu lernen gehabt. Allerdings war es gut, dass sie nicht auch noch beim FBI dauerhaft aufeinander hockten und dementsprechend immer auf Abstand gehen konnten. Stritten sie sich gab es genug Freiraum für jeden. Dennoch gehörte dies zum Pärchen sein dazu und Jodie wollte diese Erfahrung nicht missen.

Auf Zehenspitzen bewegte sie sich auf den FBI Agenten zu. Jeder Schritt wurde sorgfältig geplant und das nur, um sein überraschtes Gesicht zu sehen, wenn sie vor ihm stand.

„Ich weiß, dass du da bist“, gab Shuichi von sich ohne den Blick zu heben.

„Aber ich war doch so leise“, murmelte Jodie schmunzelnd. „Einen FBI Agenten wie dich kann man wohl nicht so schnell erschrecken.“

Akai sah nun nach oben. „Würde man das können, hätte ich nicht FBI Agent werden sollen. In meinem Beruf muss ich stets auf der Hut sein“, antwortete er. „Vor allem in unserer derzeitigen Situation. Auch wenn die Organisation in den letzten Monaten ruhig gewesen ist, können sie immer noch aus dem Hinterhalt angreifen. Wenn man von der Wahrscheinlichkeit ausgeht, wäre dies die einzig logische Konsequenz.“

„Ja, ich weiß, was du meinst“, entgegnete Jodie und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Tisch. „Es gehört zu ihrer Taktik. Sie wägen den Feind in Sicherheit und schlagen anschließend zu. Hin und wieder stellen sie aber dieses Ziel hinten an, um ihre Priorität auf ein anderes Opfer zu lenken. Aber sobald sie dann wieder können… Du hast es ja selbst gesehen. Nach dem Unfall damals haben sie dir ein Jahr nach dem Leben getrachtet, aber nie wirkliche Anstrengungen unternommen. Erst als Amuro und ich auf den Plan treten sollten, wäre es für dich gefährlich geworden. Du hattest damals also Glück gehabt, dass wir vorher noch eine andere Person erledigen sollten.“

Shuichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Du meinst also, es gibt derzeit ein Opfer, welches höher als wir beide eingestuft wird?“

„Mhm…von ihrem Verhalten ausgehend, ja. Allerdings finde ich es sehr komisch, schließlich sind wir beide ehemalige Mitglieder, die jetzt für den Feind der Organisation arbeiten. Damit sind wir mehr als ein Risiko für sie. Und sie wissen ganz genau, dass wir weiter gegen sie ermitteln. Wahrscheinlich haben sie all ihre Stützpunkte und Codes gewechselt, damit sie vor mir nichts zu befürchten haben…“

„Mag sein“, fing Shuichi an. „Dein Buch wurde vor wenigen Wochen in Japan publiziert.“

Jodie verzog das Gesicht. „Meinst du, es war damals eine gute Idee?“, wollte sie wissen. Sie seufzte. „Hätte Black mir doch nie aufgetragen, alles niederzuschreiben, was ich in der Organisation erlebt habe. Ich kann ihn ja verstehen…als mein Vater beim FBI war, hat er alle Akten über die Organisation bei sich zu Hause gelagert. Mit dem Brand des Hauses sind alle Informationen zerstört worden.“

„Du hattest damals nicht wissen können, was deine Geschichte für Auswirkungen mit sich zieht. Black hätte dir von Anfang an reinen Wein einschenken sollen.“

„Kann man nicht ändern. Es war ja auch teilweise meine Schuld. Als ich alles runter geschrieben habe und Black und seine Vorgesetzten alles zu lesen bekamen, hätte ich wissen müssen, dass es Konsequenzen hat. An sich war die Idee ja auch nicht so schlecht gewesen. Aber ihre Umsetzung?. Mit Änderung der Namen, kleinen Begebenheiten und dem Zufügen aller Dialoge konnten sie meine Geschichte über einen bekannten Verleger veröffentlichen. Ich glaube aber, dass das FBI damit gerechnet hat, dass die Organisation sofort zuschlägt. Stattdessen ist aber schon ein Jahr vergangen. Vielleicht haben sie die Geschichte auch noch gar nicht gelesen, immerhin gibt es nicht allzu viele Mitglieder in den Staaten. Und wenn doch, bleibt die Frage, ob die, die sie gelesen haben, die Ähnlichkeiten bemerken. Andererseits haben wir mein Pseudonym so ausgewählt, dass die Organisation eigentlich dahinter kommen müsste…“

„Wie auch immer“, sagte Shuichi. „Es wurde jetzt in Japan veröffentlicht. Ich habe eine Version des Buches bereits bestellt und werde prüfen, welche Veränderungen vorgenommen wurden. Du weißt ja selbst, dass mit Übersetzungen bestimmte Abschnitte oftmals weggelassen oder abgeändert werden. Und wenn es weiterhin brisante Details beinhaltet, vermute ich, dass sie sehr bald schon zuschlagen werden.“

„Kann sein.“

„Mach dir nicht zu viele Sorgen. Was passiert, passiert. Wir sind darauf vorbereitet und werden dich beschützen. Ich werde dich beschützen“, betonte er. „Was damals passiert ist, wird sich nicht wiederholen. Das verspreche ich dir.“

Jodie lächelte. „Das weiß ich doch“, sagte sie. „Manchmal kommt es mir dennoch wie ein schlimmer Traum vor, aus dem ich endlich erwachen muss. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe und mein Leben endlich in geregelten Bahnen verläuft. Aber manchmal wünschte ich mir, dass sie mich nicht entführt hätten.“

„Mhm…“, murmelte Shuichi. „Das kann ich verstehen. Und ich wünschte auch, dass es damals anders gekommen wäre.“

„Ich kann trotzdem nicht glauben, dass es schon fast 16 Monate her ist, seit ich das Leben in den Staaten anfangen durfte.“

Shuichi sah sie überrascht an. „Hast du dich immer noch nicht daran gewöhnt?“

„Doch doch. Mittlerweile ist mein Leben hier nicht schlecht. Wenn ich zurück denke, wie es damals gewesen ist… Ich hab mich so unwohl hier gefühlt und gedacht, ich müsste mich andauernd beweisen, weil jeder eine Verbrecherin in mir sah. Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch mit dem Gedanken gespielt zurück nach Japan zu gehen oder den Bundesstaat zu wechseln.“

Shuichi nickte verstehend. „Das habe ich mitbekommen und es tut mir leid, dass es nicht einfach für dich gewesen ist. Mir war zwar klar, dass es nicht einfach werden würde, aber dass dich die Kollegen so lange für eine Spionin halten würden… Ich wünschte, sie hätten dir viel eher ihr Vertrauen geschenkt.“

„Es war ihnen ja auch nicht zu verdenken“, entgegnete Jodie. „Ich hab das gleiche ja auch bei dir gedacht, als du bei der Organisation anfingst. Außerdem solltet ihr FBI Agenten ja immer erst Sachen hinterfragen, ehe ihr jemanden vertraut. Denn auch wenn ich die Tochter eines FBI Agenten bin, ich wurde in jungen Jahren entführt und von der Organisation erzogen. Sie haben selbstverständlich dafür gesorgt, dass ich das FBI, aber auch andere Bundesbehörden als meinen Feind ansehe und entsprechend handel. Allerdings konnte keiner damit rechnen, dass ich einst selbst ein Feind der Organisation werde…auch wenn es damals stark hinterfragt wurde, schließlich gab es auch nur wenig Angriffe auf unser Leben.“

„Sie hätten es in der Zeit immer hinterfragt. Wären die Angriffe häufiger gewesen, hätten sie bestimmt gedacht, dass das Absicht ist“, sagte der Agent. „Du hast dir ihr Vertrauen hart verdient und gezeigt, was du kannst. Die anderen in der Niederlassung haben gesehen, dass sie sich auf dich verlassen können. Und du hattest in Camel schon von Anfang an einen Fan.“ Shuichi verzog das Gesicht. „Wobei ich sagen muss, manchmal war ich schon etwas eifersüchtig, wenn er dauernd um dich herum scharwenzelte.“

Jodie kicherte. „Das war doch nur, weil er immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, nachdem er damals deine Tarnung auffliegen ließ. Deswegen hat er oft versucht gute Stimmung zu machen…und mir zu helfen…naja…aber ich denke, es war auch hilfreich, dass ich nicht immer mit meinem tollen Freund geprahlt habe. So haben die anderen auch gesehen, dass ich alleine zurechtkomme und sie mussten auch keine Angst vor dir haben.“

„Du hättest ruhig mit mir angeben können.“ Akai grinste. „Bin ich denn so angsteinflößend?“

„Hin und wieder, ja. Manchmal schaust du recht grimmig, aber im Grunde deines Herzens bist du ganz anders“, entgegnete Jodie. „Ich bin froh gewesen, dass Black uns nicht die gleichen Fälle zugeteilt hat. Stell dir das mal vor…zu Hause und im Büro…wir wären uns an die Gurgel gegangen. Wahrscheinlich würde jetzt nur noch einer von uns hier sitzen.“

„Ich“, gaben beide gleichzeitig von sich und lachten los.

Shuichi beruhigte sich schnell. „Damals waren wir noch nicht aufeinander eingespielt“, gab er von sich. „Mittlerweile können wir wenigstens zusammen arbeiten.“

„Ja, das stimmt. Aber wir haben auch den Vorteil, dass wir das Büro nicht teilen. So hat jeder einen Rückzugsort…wenn du nicht gerade in der Schießhalle bist.“

„Stört dich das?“

„Gar nicht. Wenn du deine Schießkünste verbesserst, bringt es ja auch mir was.“

„Gut.“ Shuichi wurde wieder ernster. „Aber ich vermute, du bist nicht hier um mit mir über die Vergangenheit zu sprechen.“

„Richtig. Ich bin wegen dem Alvarez-Fall hier. Der Profiler hat mir das mögliche Profil unseres Täters geschickt. Ich wollte dieses mit dir durchgehen und alle Tatverdächtigen auf diese Gemeinsamkeiten überprüfen.“

Shuichi nickte. „Hast du mir das Profil gemailt?“

„Selbstverständlich“, lächelte Jodie. „Ich bin immer vorbereitet.“

Shuichi rief sein Mail-Programm auf und holte die Nachricht hervor. Er überflog es. „Gut“, begann er. Sofort drehten sich alle Rädchen in seinem Kopf und er hatte bereits die ersten Ideen um die Tatverdächtigen aus der Reserve zu locken.

„Lass mich an deinen Gedanken teilhaben“, entgegnete Jodie. „Ich kann noch keine Gedanken lesen, aber ich arbeite daran.“

„Hm? Ach ja…entschuldige. Ich bin es noch zu sehr gewohnt alleine zu arbeiten.“

„Schon gut. Dafür hast du ja mich“, schmunzelte sie. „Ich werde dich immer daran erinnern, dass du deine Informationen und Ideen mit den Anderen teilen musst.“

„Da bin ich gespannt“, sagte er und sah auf das klingelnde Telefon. „Mhm? Da muss ich ran gehen, es ist Black.“

„Ja, natürlich“, nickte Jodie verstehend.

Shuichi hob den Telefonhörer hoch und hielt diesen an sein Ohr. „Akai hier.“

„Akai, hier ist Agent Black“, begann er. „Ich habe es bereits bei Jodie versucht, aber sie war nicht am Platz. Ich nehme an, sie ist bei Ihnen?“

Shuichi sah irritiert auf Jodie. „Ja, ist sie.“

„Könnten Sie sie zu mir ins Büro schicken?“, wollte der Agent wissen.

Akai wirkte überrascht. „Natürlich. Sie macht sich auf den Weg“, antwortete er und legte auf. „Black bittet dich in sein Büro.“

Jodie schluckte „Hat er auch gesagt, was er von mir will?“

„Nein, aber ich hab auch nicht gefragt.“

„Alles klar“, murmelte Jodie und stand auf. „Vielleicht geht es ja um das Buch und die Veröffentlichung in Japan?“

„Ich kann leider auch noch keine Gedanken lesen“, scherzte er. „Es wird bestimmt nicht schlimm werden. Vielleicht kriegst du einen neuen Fall zugeteilt.“

„Ja, vielleicht“, sagte sie. „Dann geh ich mal rüber und hör mir an, was er will.“

Vor einem Monat - Fortsetzung

Stirnrunzelnd stand Jodie vor dem Büro von James Black und atmete tief durch. Hätte er Shuichi nur gesagt um was es ging, dann wäre sie bei weitem weniger nervös gewesen. Bereits in der Vergangenheit musste Jodie häufiger seinem Büro einen Besuch abstatten und jedes Mal hatte er die ein oder andere Hiobsbotschaft für sie.

Irgendwann hatte sie sich in den Kopf gesetzt ebenfalls eine Ausbildung zur FBI Agentin zu absolvieren, nur um besser ihre Arbeit als Beraterin zu machen und sich in die Gedanken der anderen Agenten hineinzuversetzen. Allerdings hatte James damals keine guten Nachrichten für sie. Zwar würde sie die Einstellungsvoraussetzungen erfüllen, da sie wieder die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, im richtigen Alter war, eine Hochschulbildung inklusive Berufserfahrung besaß und sportlich nicht unbegabt war. Sie würde auch die Gesundheits-, Drogen- und Lügendetektortests bestehen und hatte genügend Erfahrung mit den Feinden gesammelt, dennoch würde sie wohl nie zu den fünf Prozent zählen, die für die Grundausbildung in Frage kamen. Sie war eben beim Feind aufgewachsen, von ihm ausgebildet und jahrelang konditioniert worden. Somit war sie immer eine kritische Komponente für die anderen Agenten – möglicherweise sogar eine tickende Zeitbombe. Und keiner wusste, wie es mit ihr weiterging, sollten sie und Shuichi sich je trennen. Kam ihre Vergangenheit erst einmal heraus, hatte das FBI einiges zu erklären - vor der Presse, aber auch vor den Menschen, die sie beschützen mussten.

Selbstverständlich machten Anwälte häufiger Deals mit Verbrechern, aber sie hatten immer ein Ass im Ärmel und konnten denjenigen dennoch hinter Gittern bringen. Es gab immer ein Hintertürchen. Aber so einfach wäre es in Jodies Fall nicht geworden. Hätten sie die Organisation in den Fokus gerückt, wäre eine Massenpanik in allen Ländern entstanden. Und so blieb sie eben weiterhin als Beraterin tätig.

Da ihre Familie nicht mehr lebte und Shuichi wohlbehalten in seinem Büro war, konnte James ihr auch keine Todesnachricht mitteilen. Dennoch hatte Jodie kein gutes Gefühl bei der Sache gehabt. Jodie klopfte.

„Herein“, dröhnte es aus dem Büro und sie öffnete die Tür.

„Sie wollten mich sprechen.“

James sah nach oben und nickte. „Setzen Sie sich doch“, sprach er und wies auf die freien Plätze vor seinem Schreibtisch. Anders als Shuichis Büro war das von James von Anfang an als Einzelzimmer konzipiert und entsprechend ausgestattet worden.

Langsam begab sich Jodie dorthin und nahm Platz. „Muss ich mir wegen irgendetwas Sorgen machen?“, fragte sie.

„Hm? Nein, natürlich nicht“, entgegnete er. „Wie haben Sie den Ruhm um Ihr erstes Buch verkraftet?“

„Meinen Ruhm?“ Jodie sah ihn überrascht an. „Da gibt es doch kaum Ruhm. Ja, es verkauft sich gut und von dem Geld könnte ich mir ein kleines Häuschen leisten, aber aufgrund des Pseudonyms bekomme ich selbst kaum etwas mit.“

James nickte verstehend. „Ich muss sagen, wir haben uns damals mehr erhofft, als wir auf die Idee kamen, Ihre Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Leider hat sich die Organisation trotzdem nicht in die Karten sehen lassen.“

„Ich habe es Ihnen damals bereits gesagt“, fing Jodie an. „Sie haben zwar einige Mitglieder in den Staaten, sind aber eher in Japan aktiv. Ob jemand von ihnen das Originalbuch gelesen hat, ist fraglich. Nach meiner Recherche ist Chris immer noch in Japan.“

„Allerdings wissen wir beide, dass sie sehr gut darin ist, sich als jemand anderes zu verkleiden und in seine Rolle zu schlüpfen.“

Jodie nickte. „Natürlich, aber ich glaube, ich hätte sie erkannt…ich hoffe es…immerhin habe ich von ihr gelernt“, murmelte sie.

„Es kann sich viel verändert haben“, begann James ruhig. „Vermouth kann sich noch weiter verbessert haben und sie kann in Rollen schlüpfen, die selbst Ihnen unbekannt sind.“

„Ich glaube, um mir Angst zu machen, würde sie eine Rolle nehmen, die ich erkenne. Und selbst wenn nicht, es gibt Merkmale, die sie verraten. Sie trägt immer eine Waffe bei sich, also muss man nur auf Ausbeulungen achten, die auf ein Holster hinweisen. Wenn keine Gefahr im Verzug ist, trägt sie es gern am Knöchel. Außerdem kennt sie die Vita ihres Opfers sehr gut, damit könnte man sie aus der Reserve locken, wenn man gezielte Fragen stellt. Irgendwann muss auch sie unachtsam werden.“

„Das haben Sie uns bereits erzählt“, entgegnete James ruhig. „Wie dem auch sei. Ihr Buch wurde kürzlich in Japan veröffentlicht.“

„Das…hab ich auch mitbekommen“, murmelte die Amerikanerin. „Shuichi will die Übersetzung überprüfen und schauen, was an der Geschichte geändert wurde. Und ich würde das ehrlich gesagt auch machen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben unsere besten Übersetzer auf das Projekt angesetzt. Es sollte nichts schief gehen.“

„Das hab ich schon sehr oft im Zusammenhang mit der Organisation gehört“, entgegnete Jodie ruhig.

„Jodie, ich kann verstehen, dass Sie angespannt sind. Sie hatten uns bereits damals Ihre Sorgen mitgeteilt und wie Sie sehen, ist bisher nichts davon eingetreten.“

„Ich weiß“, kam es von Jodie. „Ich bin immer etwas nervös, wenn es um die Organisation geht. Ich hab damals einfach gehofft, dass ich nicht andauernd an meine Vergangenheit erinnert werde. Ich konnte ja verstehen, dass ich meine Geschichte aufschreiben sollte, aber…es verfolgt mich immer noch. Habe ich nicht auch einen Abschluss verdient?“

„Es wird Sie leider auch weiterhin verfolgen. Jodie, selbst wenn wir das mit dem Buch damals nicht gemacht hätten, Ihrer Vergangenheit wären Sie nie entkommen. Sie wissen schließlich wie ich, dass Sie jederzeit mit Anschlägen rechnen müssen. Erst wenn die Organisation vernichtet ist, können Sie mit ihrer Vergangenheit abschließen.“

„Natürlich“, nickte Jodie seufzend. „Aber es ist was anderes, wenn man es darauf anlegt. Naja, egal. Deswegen wollten Sie bestimmt nicht mit mir reden.“

„Ja und nein. Es geht tatsächlich um das Buch“, fing er an. „Jodie, wie gerade erwähnt wissen Sie, dass wir noch nicht den gewünschten Erfolg damit erzielt haben. Wie dem auch sei. Der Verlag hatte mich in den letzten Tagen kontaktiert und sein Interesse an einer Fortsetzung bekundet.“

Jodie schluckte. „Sie wollen, dass ich einen zweiten Teil schreibe?“

„Nun ja.“ James runzelte die Stirn. „Es ist nicht nur das. Normalerweise veröffentlich der Verlag Geschichten in Form einer Trilogie.“

„Trilogie“, wiederholte Jodie leise. „Das kann nicht…“

„Ich habe es mit meinen Vorgesetzten besprochen und sie fanden die Idee nicht schlecht. Momentan verhält sich die Organisation leider viel zu ruhig. Wenn es also noch einen weiteren Teil gibt, könnten wir sie vielleicht dieses Mal heraus locken.“

„Sie wollen mich zum Lockvogel machen.“

„Jodie, nein, so ist das nicht. Das verstehen Sie falsch. Selbstverständlich beschützen wir Sie, aber Sie müssen uns auch verstehen. Wenn wir die Organisation weiter machen lassen und aus der Ferne zu sehen, werden immer mehr Menschen leiden. Wenn Sie möchten, können Sie es auch mit Agent Akai besprechen.“ James lächelte. „Ich weiß, welcher Gefahr wir Sie aussetzen und wenn es nicht notwendig wäre, würde ich mich ebenfalls weigern.“

„Ich wüsste aber auch nicht, worüber ich schreiben sollte“, warf sie ein. „Die Geschichte ist zu Ende…sie hat damit geendet, dass der Hauptcharakter ihr Glück fand.“

„Ich weiß“, nickte der Agent. „Der Verlag würde sich wünschen, dass es einen Schicksalsschlag im Leben der Beiden gibt, der sie wieder auf die Spur der Organisation bringt. Der zweite Teil soll mit einem Cliffhanger enden. Im dritten Teil soll die Organisation schließlich vernichtet werden.“

„Friede, Freude, Eierkuchen“, murmelte Jodie. „So etwas lässt sich nicht in drei Teilen lösen.“

„Für die Leserschaft schon. Denken Sie darüber nach und bitte lassen Sie dabei außer Acht, dass es dem FBI nutzen würde. Wenn Sie feststellen, dass Sie partout nicht damit leben können, werden wir Sie nicht zwingen.“

„Und der Verlag?“

„Auch der kann Sie nicht dazu zwingen. Allerdings könnte es sein, dass sie Ihnen anbieten, die weitere Geschichte durch einen Ghostwriter schreiben zu lassen.“

„Mhm…“ Jodie dachte nach. „Bis wann...ich mein, beim letzten Mal war mein Text ja schon fertig, ehe Sie ihn an einen Verlag gegeben haben.“

James nickte. „Der Verlag möchte spätestens nächsten Monat Ihre Rückmeldung haben, am besten mit einem kurzen Exposé über die Geschichte. Für das Schreiben bekommen Sie dann ein Jahr Zeit. Natürlich werden wir Sie aufgrund der Wichtigkeit von einigen Aufgaben hier freistellen, sollten Sie sich dafür entscheiden.“

„Ich werde…darüber nachdenken“, wisperte sie.

„Gut. Danke. Jodie, da wäre noch etwas.“

Jodie schluckte. „Noch…etwas?“, wiederholte sie leise. „Und was?“ Konnte es noch schlimmer werden?

„Sie wissen ja, dass sich Ihr Buch hier in den Staaten gut verkauft. Aus diesem Grund möchte es der Verlag verfilmen.“

„Verfilmen?“ Jodie wirkte überrascht. „Lassen Sie mich raten, Sie halten das auch für eine gute Idee.“

James nickte ein weiteres Mal. „Wir möchten, dass Vermouth ihre eigene Rolle spielt.“

„Das…das dachte ich mir“, murmelte die Amerikanerin. „Möglich, dass Sie sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lässt. Aber eigentlich hat sie die Schauspielerei aufgegeben.“

„Eigentlich…“, sagte James. „Wir wissen, dass sie kleinere Rollen in japanischen Werbefilmen angenommen hat. Und wenn es sein muss, bieten wir ihr die Rolle selbst an.“

„Verstehe...“

„Wenn es soweit ist, möchte der Verlag, dass Sie bei den Castings dabei sind, immerhin können Sie am besten sagen, wer welche Rolle spielen könnte. Sie bekommen auch das Drehbuch zu lesen, aber es könnte sein, dass Sie sich mit gewissen Änderungen arrangieren müssen.“

„Oh“, gab Jodie leise von sich. „Also werde ich…mit ihr konfrontiert.“

„Es wäre gut möglich. Wir werden dem Verlag Vermouth als Schauspielerin vorschlagen. Vielleicht gibt es für ihre Rolle kein Casting. Aber vielleicht werden Sie bei einigen Dreharbeiten dabei sein. Ich weiß, was wir Ihnen damit zumuten, und wenn Sie sich dagegen entscheiden, können wir auch eine andere Agentin schicken.“

„Mhm…ich überleg es mir, ja?“

„Natürlich. Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt.“

Jodie stand auf. „Danke, dass Sie mich darüber informiert haben“, ratterte sie den Standardtext herunter. Jodie sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen. „Kann ich…jetzt gehen?“

„Natürlich“, antwortete James. „Wenn Sie noch Fragen haben…“

„Weiß ich, wo ich Sie finde.“ Jodie stand auf und ging aus dem Büro. Obwohl sie wusste, dass sie ihrer Vergangenheit nicht entkommen konnte, fühlte sie sich wieder von dieser eingeholt und gequält.

Langsam ging Jodie zurück zu Shuichis Büro. Sie öffnete die Tür und sah ihren Freund an.

Shuichi war sofort aufgestanden. „Jodie?! Was ist passiert?“

Jodie ging auf ihn zu und wurde sofort in seine Arme geschlossen. „Sie wollen…dass ich weiter schreibe…und es soll einen Film geben….ich soll beim Casting dabei sein…und Chris könnte auch…“

„Was? Das ist nicht Blacks ernst.“ Shuichi ballte die Faust. „Ich rede mit ihm.“

Jodie schüttelte den Kopf. „Er hat es mit seinen Vorgesetzten besprochen. Sie halten es für eine gute Idee um die Organisation aus der Reserve zu locken. Ich soll…überlegen, ob ich dazu bereit bin. Und wenn nicht…dann wird eine Agentin meinen Platz einnehmen.“

„Mhm…“, murmelte der FBI Agent. „Ich werde dich dabei nicht aus den Augen lassen.“ Er verengte die Augen. Mit James würde er trotzdem ein ernstes Wörtchen reden.

„Danke“, wisperte Jodie leise und schloss die Augen. „Ich war so dumm…ich hab wirklich gedacht, dass es irgendwann aufhört…“

„Jodie“, sagte Shuichi leise. „Irgendwann wird es vorbei sein. Du wirst sehen. Ich werde alles tun, damit sie keine Macht mehr haben. Du musst das nicht alleine durchstehen.“

Die junge Amerikanerin lächelte. „Ich bin froh, dass ich dich habe.“ Sie löste sich von ihm. „Komm…lass uns darüber heute Abend zu Hause sprechen. Wir haben…noch den Fall und…wir müssen bald Ergebnisse liefern.“ Ablenkung – sie brauchte jetzt Ablenkung.

„Bist du sicher, dass du jetzt arbeiten willst?“

„Bin ich. Ein Vorteil, wenn man für die Organisation tätig war, ist die Tatsache, dass man seine Befindlichkeiten nach hinten schieben kann und dem Auftrag oberste Priorität einräumt. Und jetzt schau mich nicht so an. Ich weiß, was ich tu“, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Wo waren wir?“

Shuichi nahm ebenfalls Platz. „Du wolltest mir gerade“, begann er, als das Telefon klingelte. Er seufzte. „Schon wieder.“

„Geh ruhig ran. Wieder Black?“

„Nein. Das ist jemand aus der Zentrale“, antwortete er skeptisch. „Was die wohl wollen?“

„Erfährst du nur, wenn du ran gehst.“

Shuichi nahm den Hörer ab. „Akai“, meldete er sich.

„Agent Akai, hier ist Agent Donovan. Es ging gerade ein Anruf für Sie ein.“

Shuichi runzelte die Stirn. „Von wem?“

„Eine junge Frau namens Elena Sera. Möchten Sie den Anruf annehmen?“

Shuichi gefror das Blut in den Adern. Jemand wollte ihn sprechen und benutzte dafür den Mädchennamen seiner Tante. Shuichi hatte keine Zeit um noch länger geschockt zu sein und öffnete am Computer ein Programm um den Anruf aufzuzeichnen, ohne dass der Anrufer davon etwas mitbekam. „Stellen Sie durch.“

„Einen Moment.“

Shuichi hörte das Klicken am anderen Ende der Leitung. „FBI Special Agent Akai. Sie wollten mich sprechen.“

„Dai...Dai? Bist du…dran? Dai?“

Shuichis Augen weiteten sich. „Akemi?“

„Dai, ich brauch deine Hilfe.“

Vor einem Monat - Zukunft

Shuichi verengte die Augen. „Akemi“, begann er leise, während sich die Erinnerungen der Vergangenheit manifestierten. Erst vor einigen Jahren hatte er durch den Hintergrundcheck des FBIs von seiner weiteren Familie erfahren. In der Hoffnung, mehr über das Verschwinden seines Vaters herauszufinden, sah er sich jene Berichte an und musste leider feststellen, dass seine Tante und sein Onkel im frühen Alter verstarben. Nur ihre Tochter Akemi blieb übrig. Das jüngste Kind – Shiho – ging sogar dem FBI durch die Lappen. Akemi hatte er nur wenige Wochen später kennengelernt und sie als Sprungbrett für seinen Auftrag innerhalb der Organisation benutzt. Selbstverständlich wollte er darauf achten, dass sie so schnell wie möglich aus der Schusslinie geriet, doch das Schicksal hatte diesen Part für ihn übernommen. Und Shuichi musste zugeben, dass er darüber sowohl froh als auch bestürzt gewesen war, da er seine Verwandtschaft gern näher kennen gelernt hätte. Andererseits hätte er wahrscheinlich Jodie nicht kennen und lieben gelernt. Er blickte kurz zu der jungen Frau und lächelte, wurde aber im nächsten Moment wieder ernst. „Weißt du eigentlich in welche Gefahr du dich mit diesem Anruf begibst?“, wollte er wissen.

„Das weiß ich“, antwortete Akemi. „Es ist trotzdem schön…deine Stimme wieder zu hören. Ich wollte…ich wollte schon die ganze…Zeit mit dir reden…aber…“

„Aber?“

„Sie haben mich die ganze Zeit unter Beobachtung gestellt. Deswegen konnte ich einen Anruf erst jetzt wagen.“

„Ist dir was passiert?“, kam es von dem Agenten. Er ballte die Faust und verfluchte sich für seine eigene Dummheit. Natürlich würden sie Akemi für alles verantwortlich machen, immerhin hatte sie die Aufmerksamkeit der Organisation auf ihn gelenkt. Sie mussten sie ebenfalls für eine Verräterin halten und obwohl er eigentlich damit rechnen musste, hatte er keine Sekunde mehr an sie gedacht. Sein eigenes Leben, aber auch das Leben von Jodie war wichtiger. Akai biss sich auf die Unterlippe. Wie konnte er sich jetzt noch FBI Special Agent nennen, wenn er doch wie alle anderen war?

„Nein, es geht mir gut“, fing sie an. „Nachdem sie hinter deine wahre…Identität gekommen sind, hielten sie mich allerdings für deine Komplizin. Sie glaubten, dass ich die ganze Zeit die Wahrheit kannte und mit dir zusammen gearbeitet habe. Deswegen ließen sie damals auch nicht zu, dass ich in Jodies Nähe kam. Es hat lange gedauert um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber jetzt vertrauen sie mir…mehr oder weniger…eigentlich genau so, wie sie es vorher auch getan haben. Ich glaube aber, wenn Shiho nicht wäre, hätten sie mich zur Sicherheit beseitigt.“ Akemi schluckte. „Aber ohne mich…haben sie kein Druckmittel gegen meine Schwester.“

„Akemi…“, murmelte Shuichi. „Es tut mir leid… Ich glaubte, du seist in Aomori in Sicherheit. Ich wollte dich nie dieser Gefahr aussetzen.

„Ist schon gut“, entgegnete Akemi. „Du hast es ja nicht mit Absicht getan.“

Shuichi schluckte ein weiteres Mal. Verdrängte sie die Wahrheit oder wollte sie ihm weiterhin glauben. „Akemi…“

„Ich weiß“, gab sie von sich. „Ich bin nicht dumm, Dai…nein Shuichi. Ich weiß, dass unser Treffen kein Zufall war, aber ich weiß, dass es nicht deine Absicht war, mich in Gefahr zu bringen. Und wenn die Umstände anders gewesen wären, vielleicht wären wir…“ Akemi schüttelte den Kopf. „Ist jetzt egal, du hast Jodie und bist mit ihr bestimmt glücklich, nicht wahr? Ich hab von den Ereignissen gehört und ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet sie die Organisation verrät.“

„Es war eine harte Zeit…für uns alle. Geht es dir denn gut? Ist die Organisation hinter dir her?“

Akemi seufzte leise. „Naja…den Umständen entsprechend. Wir sind vor einigen Monaten wieder nach Tokyo gezogen. Shiho arbeitet jetzt in einem Institut. Es gibt viele Tage an denen ich sie nicht sehen kann und ich glaube, dass sie schon beinahe Tag und Nacht arbeitet. Irgendwann rächt sich ihr Körper dafür“, erzählte sie.

„Lange arbeiten ist noch kein Grund um sich Sorgen zu machen. Wenn ich einen Fall auf dem Tisch habe, arbeite ich auch rund um die Uhr“, versuchte er sie zu beruhigen.

„Das ist was anderes“, gab Akemi sofort von sich. „Aber deswegen hab ich nicht angerufen. Ich mach mir wirklich große Sorgen um Shiho. Ich glaube, sie hat bei ihren Forschungen einen Durchbruch erreicht und…“ Akemi brach ab und rang mit den Worten.

„Und was? Solltest du dich nicht freuen, dass deine Schwester so erfolgreich ist…auch wenn sie für die Organisation arbeiten muss…?“

„Sollte ich wohl“, murmelte Akemi. „Aber sie verhält sich merkwürdig. Ich bin ihr einmal zum Institut gefolgt und dort waren auch andere von ihnen. Wir haben…sie damals bei der Geburtstagsfeier getroffen…im Blue Parrot.“

Shuichi kniff die Augen zusammen. Er erinnerte sich noch gut an den Tag. Vorher hatte Akemi ihm ein paar Informationen über Jodie und ihren Werdegang gegeben, danach versuchten sie sich unter das Volk zu mischen. Viele der Gäste trugen Schwarz, sodass man auf die Idee kommen konnte, auf einer Trauerfeier zu sein, doch in Wahrheit waren einige – ihm mittlerweile bekannten – Organisationsmitglieder vor Ort. Ausversehen hatte ihm Akemi erzählt, dass jeder der die Farbe Schwarz trug, etwas in der Organisation zu sagen hatte. Sie waren alle gefährlich.

Und dann kam Gin auf ihn zu. Er verscheuchte Jodie und Akemi und nahm ihn mit nach draußen. Aber Shuichi kannte keine Angst und sah direkt in den Lauf von Gins Waffe. Er hatte sich damals keinen Millimeter bewegt, obwohl die Gefahr bekannt war, in die er sich begab. Stattdessen erntete er eine Art Anerkennung von Gin und wurde für die Organisation rekrutiert.

Eigentlich war es eine Schande, dass die Organisation nicht auch Gin in die Mangel nahm, zumal dessen Intuition ihn im Stich ließ. „Ich ahne, welche Personen du meinst“, gab Akai von sich.

„Als ich sie ein anderes Mal von dort abholte, bekam ich ein Gespräch mit. Sie testen irgendwas an einem Probanden und Shiho überwacht ihn. Ich kann nicht…glauben, dass Shiho sowas Schreckliches…tun würde…“ Akemis Stimme brach ein.

„Es ist noch nicht bewiesen, dass deine Schwester aktiv in ihre Machenschaften eingebunden wird.“

„Doch“, antwortete Akemi. „Ich habe Beweise. Nachdem wir wieder in Tokyo waren, habe ich Shiho eine CD mit Fotos geliehen. Es sollte sie an die glückliche Zeit damals erinnern. Ein paar Tage später gab sie mir die CD zurück, allerdings hatte sie diese mit ihren Forschungen vertauscht. Shiho ist der Fehler sehr schnell aufgefallen und sie schrie mich am Telefon fast an, dass sie die CD dringend zurück braucht und ich keinem diese Ergebnisse zeigen darf…“

„Aber du warst neugierig?“, wollte der FBI Agent wissen.

„Ja“, wisperte Akemi. „Ich wollte wissen, warum sich meine Schwester so verhalten hat und hab mir den Inhalt angeschaut. Er war nicht verschlüsselt…ich glaube, es war ihre Sicherungskopie, falls doch etwas schief ging.“

„Was hast du mit der CD gemacht?“

„Ich hab den Inhalt kopiert“, gestand Akemi. „Und Shiho das Original wiedergegeben…ich hab sie angelogen und ihr gesagt, dass ich mir den Inhalt nicht angesehen habe. Aber ich weiß nicht, ob sie mir geglaubt hat.“

„Kopiert“, wiederholte Shuichi.

„Es sind viele kleine Dateien, aber auch eine große Datei ist dabei. Ich kann sie allerdings nicht per E-Mail verschicken. Und ich möchte sie auch nicht einfach in die Post geben…aber wenn ich sie vernichte…“

„Dann haben wir nichts gegen die Organisation in der Hand“, murmelte Shuichi. „Ich werde mit meinem Vorgesetzten darüber reden.“

„Da gibt es noch was…“

„Was?“

„Ich habe meine Kopie einem befreundeten Chemiker gezeigt.“

Shuichi schluckte.

„Er hat sich den Inhalt angesehen und recherchiert. Er kann nur Vermutungen anstellen, glaubt aber, dass das, woran meine Schwester arbeitet, ein Gift ist.

Shuichi wurde hellhörig. „Ein Gift…“ Er biss sich auf die Unterlippe. Bereits bei Jodie hatten sie eine unbekannte Pille eingesetzt und ihre Erinnerungen unterdrückt. „Hast du deinem Bekannten eingebläut, dass er die Ergebnisse vergessen soll? Bist du dir sicher, dass er nicht auch zu ihnen gehört?“

„Ja, er…er weiß nichts von der Gefahr, aber er weiß, dass er den Mund halten soll. Dai, meine Schwester darf nichts…entwickelt haben…was andere Menschen umbringt“, schluchzte Akemi. „Was soll ich denn jetzt machen? Sie machen sie zu einem Monster…und wenn der Proband im Institut das erste Opfer ist…ich will gar nicht daran denken.“

„Akemi, atmete erst einmal tief durch“, fing Shuichi an. „Ich möchte, dass du die CD versteckst und daran denkst, dass deine Schwester kein schlechter Mensch ist.“ Er überlegte und sah ein wenig hilflos zu Jodie.

„Zero“, flüsterte sie leise.

Shuichi runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, ob ein Mitarbeiter der japanischen Sicherheitspolizei die richtige Anlaufstelle für Akemi war. Zero oder Bourbon wie er sich in ihrer Mitte nannte, war schon damals jemand, der für sein Ziel alles tat. Und Shuichi wusste nicht, wie es dem Mann in den letzten Monaten erging. „Kennst du jemanden bei der Sicherheitspolizei?“, wollte er wissen.

„Sicher…heits…polizei?“, wiederholte Akemi. „Da kann ich nicht hin. Das ist viel zu gefährlich. Die Organisation hat jede Bundesbehörde infiltriert. Und ich kann auch nicht zur Polizei oder zur Sicherheitspolizei. Ich kann nur dir vertrauen. Bitte, du musst mir helfen.“

„Akemi, so schnell kann ich nicht…“

„Ich weiß, aber du musst mir helfen. Bitte…wenn du mir nicht hilfst, dann weiß ich nicht, was ich machen soll…Bitte…“

„Bitte beruhige dich“, entgegnete der FBI Agent. „Ich werde mit meinem Vorgesetzten sprechen. Tu nichts Unüberlegtes.“

Akemi wischte sich die Tränen weg.

„Akemi?“

„Ich bin noch dran“, wisperte die junge Frau.

„Ich werde dir helfen. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde dir helfen“, sagte er.

„Du musst nach Japan kommen.“

Shuichi schluckte. „Akemi, das geht nicht so einfach. Aber ich überleg mir was.“ Er sah auf seinen Computer. „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber kannst du mich zum Ende der Woche noch einmal anrufen?“

„Ich werds versuchen“, wisperte sie. „Danke, Dai.“

„Akemi? Bitte versprich mir, dass du nichts Unüberlegtes tust. Du musst so tun, als wüsstest du nichts von ihren Forschungsergebnissen. Kannst du das?“

„Ich werde es versuchen“, sagte sie leise. „Wenn es um meine Schwester geht, kann ich alles.“
 

Shuichi sah zu Jodie. „Das hörte sich gar nicht gut an“, murmelte er.

„Wie geht es Akemi?“, wollte sie wissen.

„Sie sind wieder in Tokyo. Es war eine harte Zeit für sie, da man dachte, sie sei meine Komplizin. Jetzt hat sich die Situation wohl beruhigt“, entgegnete er. „Sie hat durch einen Zufall die Forschungsergebnisse ihrer Schwester in die Hände bekommen und sich durch einen Bekannten bestätigen lassen, dass es sich um ein Gift handelt.“

Jodie schluckte. „Gift…“, murmelte sie. „Bist du sicher, dass es nicht die Zusammensetzung von der Pille ist, die ich damals bekam?“

„Nein. Das kann nur ihre Schwester beantworten. Wir haben zwar mittlerweile die Zusammensetzung deiner Pille durch unsere eigenen Labore bestätigen lassen, aber ohne den Abgleich zu Shihos Forschungsergebnissen stehen wir bei null. Und Akemi möchte sich nicht an die Sicherheitspolizei wenden. Sie vertraut nur mir.“ Shuichi seufzte. „Ich weiß aber nicht, wie ich ihr helfen kann.“

„Du willst nach Japan fliegen“, kam es leise von Jodie.

„Wenn es nicht anders geht…Allerdings muss ich dort sehr vorsichtig sein. Sobald ich einreise, werden sie mir sicher ihre Schergen auf den Hals hetzen und ohne Ermittlungsbefugnis darf ich offiziell nicht aktiv werden. Es wird nicht einfach sein ihr zu helfen.“ Shuichi sah sie an. „Aber egal was ich denke, ich muss vorher mit Black darüber reden.“

„Ich komm mit…nach Japan.“

Akai schüttelte den Kopf. „Das ist viel zu gefährlich. Sie warten doch nur darauf.“

„Und für dich ist es nicht gefährlich?“, konterte sie. „Und sag mir nicht, dass das was anderes ist.“

Shuichi biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab ein ungutes Gefühl bei der Sache.“

Jodie nickte zustimmend. „In Anbetracht, dass gerade das Buch in Japan erschienen und jetzt ein Film mit Vermouth geplant ist, könnte der Anruf fingiert worden sein. Du kannst nicht wissen, ob Akemi nicht bedroht wurde.“

Shuichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, sie hätte mir einen Hinweis gegeben, wenn dies der Fall wäre. Aber ich gebe dir Recht, es könnte alles miteinander im Zusammenhang stehen. Die Beweise der Organisation könnten auch manipuliert worden sein, um mich nach Japan zu locken.“ Shuichi stand auf. „Schauen wir mal, was James dazu sagt.“

„Dann geh ich zurück in mein Büro“, murmelte Jodie. „Kommst du danach rüber und hältst mich auf dem Laufenden? Shu, wir dürfen uns jetzt keinen Fehler erlauben.“

„Ich weiß“, antwortete der FBI Agent. „Dieser Fall wird größer als alles, was wir je hatten. Er wird über unsere Zukunft entscheiden.“

Kooperation

„Das werden wir ja noch sehen. Ihr wisst nicht, mit wem ihr euch angelegt habt. Ich bin Shinichi Kudo, ein Detektiv.“

Die Worte halten in ihrem Kopf nach und doch wusste sie, dass es keine Hoffnung mehr gab. Ihr Leben war verwirkt und die Organisation traf alle notwendigen Entscheidungen. Sie würde ihnen nie entkommen und sie würden auch nicht zu lassen, dass ihnen ein Oberschüler wie Shinichi auf der Nase herum tanzte. Es war schlimm genug, dass sie mit Shuichi Akai und Jodie Starling in den Staaten ehemalige Mitglieder hatten, die ihnen auf den Fersen waren. Shiho schüttelte beinahe mitleidig den Kopf. „Es stimmt also was ich über dich gelesen habe…“

Der Detektiv wurde hellhörig und richtete sich vorsichtig auf. „Was hast du über mich gelesen?“, wollte er wissen. „Habt ihr mich ausspioniert?“

„Glaubst du tatsächlich, wir beobachten dich mehrere Monate ohne über deinen Hintergrund zu recherchieren?“ Sie schmunzelte. „Dein Name ist Shinichi Kudo, du bist 16 Jahre alt und besuchst die Teitan-Oberschule. Du hast am 4. Mai Geburtstag und vergisst ihn aber ständig, genau wie die Adresse deines Nachbarn. Aufgrund deiner Intelligenz wirst du in den Zeitungen oft mit Sherlock Holmes verglichen und trägst die Titel Detektiv des Ostens sowie Holmes der Neuzeit. Bei deinen Spielereien – Entschuldigung, ich meinte Ermittlungen – konzentrierst du dich auf jedes Detail und ein Standardsatz von dir, welcher oft zitiert wurde, ist: Es gibt immer nur eine Wahrheit und ich finde sie. Zudem bist du ein großer Sherlock Holmes Fan und dein Lieblingswerk ist das Buch Das Zeichen der Vier. Ich muss sagen, dass ich die Bibliothek in eurer Villa sehr beeindruckend fand. Was weiß ich noch über dich? Ach ja, du bist ein schlechter Sänger und triffst keinen Ton, besitzt aber das absolute Gehör. Deine Eltern sind die Schauspielerin Yukiko Kudo und der Kriminalbuchautor Yusaku Kudo. Du hast bereits in deiner Kindheit gern gerätselt und dich in Sachen eingemischt, die dich nichts angingen. Das Aussehen von Leichen macht dir nichts aus. Ich nehme an, weil dich dein Vater hin und wieder an Tatorte mitgenommen hat, als er selbst noch für die Polizei als Berater tätig war. Für einen Japaner sprichst du fließend Englisch, du kannst Geige spielen, magst Fußball und isst gerne Zitronenkuchen. Deine Lieblingsfarbe ist rot und wenn du nicht gerade in der Schule oder an einem Tatort bist, liest du gerne oder triffst dich mit deiner Kindheitsfreundin Ran. Wenn du in einer anderen Stadt bist, mischt du dich ebenfalls in Fälle ein, die dich nichts angehen. Es scheint, als würdest du von der Polizei oder anderen Detektiven – selbst wenn sie in deinem Alter sind – nichts halten. Du kannst es einfach nicht lassen und steckst deine Nase überall rein. Am Abend als du das Gift verabreicht bekommen hast, warst du mit deiner Freundin im Tropical Land und bist vorher Achterbahn gefahren. Dort kam es zu einem Unglück, welches du aufklären konntest. Dabei sind dir Gin und Wodka aufgefallen, denen du hinterher schnüffeln musstest. Du warst so vertieft in das Geschehen, dass du dich nur auf eine Person konzentrierst hast. Man könnte auch meinen, dass du dir deiner Sache zu sicher warst. Na, wie mach ich mich bisher? Soll ich dir noch genaueres über die Villa erzählen oder mit deiner Freundin weiter machen?“

Shinichi schluckte. „Ihr habt…“

„Ja, wir haben dein komplettes Leben auf den Kopf gestellt und uns alle Informationen besorgt die wir brauchten um zu verstehen, warum diese Nebenwirkung bei dir auftrat. Dafür waren wir mehrmals bei dir zu Hause, aber keine Angst, deine Eltern waren nie da. Nur einmal hätten wir fast deine Freundin Ran getroffen, aber sie ahnt weiterhin nichts. Selbstverständlich mussten wir auch das Leben derer, die dir Nahe stehen durchleuchten. Aber mach dir keine Sorgen, ihnen allen geht es gut. Und das bleibt auch solange wie du mit uns kooperierst.“

„Und wenn ich das nicht tue? Du hast selbst gesagt, ich sei überheblich.“

„Das stimmt“, fing sie an. Aber ich glaube nicht, dass du deine Liebsten deswegen in Gefahr bringst. Und ich denke auch nicht, dass ich dir erklären muss, was passiert, wenn du nicht mit uns kooperierst“, fügte sie hinzu.

„Wenn ich kooperiere sind dann meine Familie und meine Freunde in Sicherheit?“, wollte der Detektiv wissen.

„Sofern sie nichts machen, was unsere Aufmerksamkeit erregt und du tatsächlich kooperierst und uns nicht nur hinhältst, selbstverständlich.“

Das sie intelligent war, hatte er nie in Frage gestellt. Dass sie ihn aber durchschaut hatte, stellte die Situation auf eine harte Probe. Würde sie ihn verraten und der Organisation ausliefern oder würde sie mitspielen und hoffen, dass er genug Zeit schinden konnte. Aber wie sollte er jemanden wie Gin gegenüber treten? Immerhin wusste er, dass der schwarz gekleidete Mann keine Gnade zeigen würde. „Gut…das reicht mir“, antwortete er, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen.

„Ich hatte nicht gedacht, dass ich dich so schnell zur Kooperation bewegen kann, nachdem du vorhin so große Töne gespuckt hast“, gab Shiho von sich.

„Du tust so als hätte ich eine Wahl gehabt. Wenn ich nicht mit euch kooperiere, tut ihr meiner Familie oder meinen Freunden etwas an. Und wenn ihr diese erledigt habt, werde ich der Nächste sein…außer ihr lasst mich am Leben, um leiden zu sehen. Daher bleibt meine einzige Möglichkeit euch das zu geben, was ihr wollt. Auch wenn ich weiß, dass es für mein eigenes Leben nichts bringen wird, darf ich Andere nicht in Gefahr bringen. Wenn ihr eure Informationen erhalten habt und diese nachstellen konntet, ist mein Leben eh wertlos.“

Shiho musterte ihn. Gab er gerade tatsächlich auf oder war es einfach nur seine Taktik? Selbst wenn, würde sie ihm nichts bringen. Dennoch würde sie so tun, als wäre sie auf seiner Seite – eine Art Freundschaft oder zumindest Verbundenheit knüpfen, um an die Informationen heran zu kommen, die sie brauchte. Und das möglichst schnell und ohne weitere Komplikationen. „Ich kann dir nicht sagen, was mit dir passieren wird, wenn wir alle Informationen von dir haben um die Nebenwirkungen auszuschließen“, entgegnete Shiho.

„Wie kannst du nur so gefühlslos sein?“

Shiho zuckte mit den Schultern. „Das nennt man wohl Überleben.“

„Man kann es auch Angst nennen.“

Shiho verengte die Augen. „Glaub doch was du willst, am Ende spielt es keine Rolle mehr.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wechseln wir das Thema. Du hast eben gesagt, dass du dich an einiges erinnerst, was ich dir vorgelesen habe.“

Shinichi nickte. Doch so schnell würde er ihr nicht alles erzählen, was sie brauchte. Der Oberschüler hatte den Zweifel in ihren Augen und das Beben ihrer Nasenflügel gesehen. Ein gutes Zeichen dafür, dass sie entweder unsicher, besorgt oder verängstigt war. Shinichi wurde klar, dass sie unter Druck gesetzt wurde und daher für die Organisation tätig sein musste. Möglicherweise war sie sogar in ihrem tiefsten Inneren mit ihrem Vorgehen nicht einverstanden, hatte aber keine andere Wahl. Irgendwann würde sie ihm bestimmt helfen, er musste nur den richtigen Zeitpunkt abpassen. Und bis es soweit war, würde er so tun als wollte er der Organisation helfen. In Wahrheit aber suchte er die ganze Zeit schon einen Ausweg und hatte sein Zimmer ausgiebig erkundet.

Shiho zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich. „Das ist wirklich erstaunlich. Ich wusste zwar, dass das Gehirn auch noch im Koma aktiv bleibt, aber dass man sich danach an alles erinnert, was im Raum besprochen wurde, ist sehr erstaunlich. Möglicherweise gehört dies auch zur Nebenwirkung.“

„Mhm…“, murmelte Shinichi nachdenklich. „Jetzt wo du das sagst…ich glaube, ich habe viel geträumt.“

„In wie fern?“

„Nachdem ich im Tropical Land niedergeschlagen wurde, hat mir der Mann, den du Gin genannt hast, dieses Gift verabreicht. Mein Körper brannte wie Feuer und ich wurde bewusstlos. Aber irgendwas ging in meinem Kopf vor. Es war alles komplett schwarz und als ich meine Augen öffnete, war ich ein kleiner Junge. Mich hat niemand erkannt und so bin ich anschließend zu mir nach Hause gelaufen. Danach habe ich mit Hilfe verschiedener Erfindungen vom Professor mehrere Fälle gelöst. Ein wenig später ist ein kleines Mädchen aufgetaucht. Sie brauchte meine Hilfe und erzählte, dass es dieses APTX 4869 entwickelt hatte und sich selbst verabreichte“, erzählte Shinichi ruhig.

„Warum sollte ich so etwas tun?“

„Das Mädchen hatte erzählt, dass ihre Schwester getötet wurde und sie unter den Umständen nicht mehr für die Organisation tätig sein wollte. Nachdem sie eingesperrt wurde, nutzte sie die Pille um sich umzubringen, allerdings wurde sie stattdessen nur jünger.“

„Mit Schrumpfen als Nebenwirkung hätte ich noch gerechnet“, murmelte Shiho. „Während du hier geschlafen hast, habe ich bestimmt das ein oder andere Mal davon gesprochen. Nicht zu vergessen, dass ich dir aus dem Buch vorgelesen habe. Möglicherweise hat sich die Geschichte bei dir anders manifestiert, damit du mit den Ereignissen klar kommst und sie besser verarbeitest.“

„Als ob Schrumpfen einen Mordversuch und eine Entführung besser aussehen lässt…“ Shinichi seufzte. „Aber es stimmt was in dem Buch steht, nicht wahr? Kennst du die Person, die es geschrieben hat? Hat sie auch für euch gearbeitet?“

„Dazu kann ich dir nichts sagen“, antwortete Shiho. „Es ist besser, wenn du das Buch vergisst…schlimm genug, dass dort ein Teil über die Organisation steht und sich keiner deswegen Sorgen zu machen scheint.“

Shinichi beobachtete sie. „Das heißt, die Person die es geschrieben hat, gehört nicht mehr zu euch.“

„Wie kommst du darauf?“

„Wäre es anders, hättest du mir sicher erzählt, dass ihr die Geschichte fingiert habt…vielleicht um an Geld zu kommen. Aber du erzählst nichts darüber. Das heißt, dass du die Person auch kennst oder deine Schwester und du hast Angst, dass ihr dadurch in Gefahr geratet.“

„Lass meine Schwester aus dem Spiel“, zischte Shiho.

„Ist sie der Hauptcharakter?“, wollte Shinichi wissen. „Hat sie sich auf einen FBI Agenten eingelassen? Könnte sie damit nicht…“

„Sie ist es nicht“, murmelte Shiho. Wahrscheinlich wäre ihre Schwester gern die Person im Buch gewesen, aber sie hatte keine Chance gegen das bestimmte Leben in der Organisation. „Meine Schwester spielt weder im Buch mit, noch hat sie es geschrieben.“

„Oh.“

„Und der FBI Agent wird uns nicht helfen. Das wäre sein Todesurteil…“

Shinichi sah sie fragend an. „Es gab also tatsächlich einen Spitzel bei euch?“

Die junge Wissenschaftlerin nickte seufzend. Kam es ihr nur so oder wurde gerade sie befragt? „Er wird seit Jahren gejagt und konnte bisher jedem Anschlag auf sein Leben entgehen. Würde er sich aus den Mitgliedern was machen, hätte er vielleicht schon längst versucht einige zu retten. Aber das Leben ist nun einmal hart…es kommt kein Retter auf weißem Ross daher und zerschlägt die Organisation.“

„Das kannst du doch nicht ernst meinen“, gab Shinichi von sich. „Willst du deiner Schwester nicht auch ein normales Leben ermöglichen? Das geht, glaub mir.“

Shiho verdrehte die Augen. „Ich hab schon gelesen, dass du relativ überheblich bist. Dann sag mir doch mal, was du machen willst, wenn du hier raus gekommen bist? Willst du jemanden in die Sache mit rein ziehen? Zum Beispiel deinen Freund den Professor? Deine Eltern? Ran? Rans Eltern? Hattori? Oder gehst du zu einem deiner Klassenkameraden?“

„Hattori? Warum sollte ich zu Hattori gehen?“

„Deine Schulfreundin hat sich Sorgen gemacht als du einfach so abgetaucht bist, um dich zu erholen. Weil sie dich nicht kontaktieren konnte, ihr Vater mal wieder Mist gebaut hat, hat sie Hattori mit der Suche beauftragt.“

Shinichi schluckte. „Hattori ist wie ich ein Schülerdetektiv. Habt ihr ihn…“

„Nein, wir haben ihm nichts angetan“, antwortete Shiho. „Zumindest weiß ich nichts davon. Aber wir können keinen zweiten Schnüffler gebrauchen. Du wirst dich hier also noch eine ganze Weile aufhalten.“

„Wir könnten meinen Tod vortäuschen.“

Shiho schüttelte den Kopf. „Du kannst es nicht sein lassen. Die Organisation hat Mittel und Wege um zu Überprüfen, ob dein Tod real war oder nicht. Sie kennen alle Tricks, sie werden dich finden und nicht zögern dich und all die, die du liebst zu töten.“

„Warum stellst du dich so quer?“, wollte der Schüler wissen. „Ich hab es doch herausgehört, du hasst die Organisation, du willst ihr entkommen. Warum hilfst du mir dann nicht? Deine Schwester bringen wir auch in Sicherheit.“

„Finde dich mit deinem Schicksal ab, Kudo, ansonsten wirst du es die nächste Zeit hier schwer haben.“

„Niemals!“

Shiho war überrascht über seine Energie. Und doch wusste sie, dass es nichts brachte. Die Organisation würde ihn einfach so entkommen lassen. „Du bist ja verrückt.“

„Mag sein“, fing Shinichi an. „Aber nur so komm ich hier raus.“

Weitere Untersuchungen

Shiho betrat ihr Labor und sah sich in Ruhe um. Obwohl sie in den letzten Monaten immer wieder per Videokonferenz Teile der Räumlichkeiten erspähte und auch vorher jede einzelne Ecke, jedes Gerät und seine Macken aber auch ihre Mitarbeiter kannte, hatte sie das Gefühl, dass sich in kurzer Zeit sehr viel verändert hatte. Sie fühlte sich auf einmal nicht mehr Willkommen und strich auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz über die Oberfläche der Arbeitsplatte sowie aller Geräte. Es war als wäre sie an einem neuen Ort und durfte von vorne beginnen.

Nur war ihr ein Neubeginn nicht vergönnt gewesen. Früher hatte sie noch oft davon geträumt den Fängen der Organisation zu entkommen, aber je mehr Zeit verging, desto unwahrscheinlicher wurde dieser Traum. Und als schließlich noch Akemi in den Dienst der Organisation trat, endete der Traum abrupt. Doch Shiho wusste, dass ihre Schwester das Leben in der Organisation verabscheute und heimlich nach einem Ausweg suchte – schon seit Jahren. Und egal wie oft sie ihre Schwester davon abhalten wollte, es trug nie Früchte.

Ein Mann in weißem Kittel kam auf sie zu. „Sie sind wieder da“, begrüßte er Shiho fröhlich.

Die Wissenschaftlerin nickte. „Haben Sie in meiner Abwesenheit alle Versuche entsprechend meinen Anordnungen durchgeführt?“

„Selbstverständlich“, nickte er. „Und wir konnten nichts Ungewöhnliches feststellen. Alle Ratten denen wir APTX 4869 injizierten, sind wenige Minuten danach verstorben. In ihrem Blut konnten wir das Mittel weiterhin nicht identifizieren“, erzählte er. „Danach haben wir mit der Pillenform weitergemacht und genau das gleiche Ergebnis erhalten.“

„Und was ist mit…“, begann sie.

„Oh ja natürlich“, fiel er ihr ins Wort. „Wir haben sowohl die Lösung als auch die Pille mit dem Blut von Proband X versetzt und verschiedenen Ratten verabreicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Tests haben nichts Aufschlussreiches ergeben. Wie Sie gewünscht haben, haben wir jeden Test per Kamera aufgezeichnet. Die Videos finden Sie auf dem Laufwerk.“

Shiho nickte verstehend. „Danke, ich seh mir die Untersuchungen gleich an.“

„Wenn ich Ihnen irgendwie anders helfen kann…“

„Ich geb Bescheid“, sprach die Wissenschaftlerin. „Ich bin an meinem Platz. Könnten Sie mir einen Kaffee holen?“

„Selbstverständlich“, antwortete er und ging los.

Shiho sah ihm seufzend nach. Früher war sie auch voller Elan gewesen und hatte sich bei ihren eigenen Vorgesetzten so angebiedert. Doch seit einiger Zeit hatte sie das Sagen im Labor und einige – vor allem ältere Kollegen und Organisationsmitglieder – waren nicht gerade begeistert gewesen. Durch ihre Zeit bei der Organisation hatte Shiho allerdings frühzeitig gelernt wie man sich anderen gegenüber behauptete und die Kontrolle gewann.

Shiho ging zurück zu ihrem Arbeitsplatz und setzte sich an den Schreibtisch. Sie spürte den Argwohn einige Kollegen, die in den letzten Monaten ihre Arbeit übernommen hatten, während sie selbst nur am Krankenbett von Shinichi Kudo Wache hielt. Die junge Wissenschaftlerin versuchte sich ihre leichte Unsicherheit nicht anzumerken und startete den Computer. Nachdem sie ihr Passwort eingab, rief sie die Videos der Versuchsreihen auf und sah sie sich mindestens dreimal an. Beim ersten Mal verschaffte sie sich einen Überblick über das Szenario, beim zweiten Mal legte sie auf bestimmte Details besonders viel Augenmerk und beim dritten Mal ließ sie die Gesamtsituation auf sich wirken. Ihr Kollege hatte die Wahrheit gesprochen und dennoch hatten die Tests zumindest in einer Sache für Klarheit gesorgt: Sein Blut hatte keine Auswirkungen auf APTX 4869. Auf einmal stockte Shiho der Atem. Hatte er vielleicht Antikörper gebildet? Sofort stand sie auf und war beinahe in Gin reingelaufen. „Gin“, stieß sie erschrocken aus. „Musst du mich so erschrecken?“

Der miesgelaunte Mann musterte sie. „Was sagen deine Forschungsergebnisse?“

Shiho ließ sich wieder in den Stuhl fallen und seufzte. „Ich bin gerade erst ein paar Minuten hier“, fing sie an. „So viel kann ich dir nicht sagen. Jeder Versuch die Situation nachzustellen scheiterte bisher. Ich war gerade auf dem Weg zum Kühlschrank um die Blutprobe auf Antikörper gegen APTX 4869 zu untersuchen.“

Gin verengte die Augen. „Was soll das bringen?“

„Wenn er gegen eine zweite Dosis resistent wäre, wären das andere mögliche Opfer ebenfalls. Außerdem könnte dies auch eine Erklärung sein, warum die Nachstellung mit seinem Blut nicht wirksam war.“

„Wieso habt ihr nicht vorher auf Antikörper untersuchen lassen?“, wollte er wissen.

„Ziel von APTX 4869 ist es, im Blut nicht nachweisbar zu sein. Unter diesen Umständen und mit dem Wissen, dass jedes Opfer nicht überleben sollte, ist die Wahrscheinlichkeit Antikörper zu bilden sehr gering. So gering, dass ich keine Tests veranlasst habe“, erklärte sie.

„Mhm…wenn du das sagst.“

„Glaubst du mir nicht?“, wollte sie wissen.

„Du weißt, was wir mit Ratten machen, die gegen uns arbeiten.“

Shiho nickte. „Bist du nur wegen den Ergebnissen gekommen?“, versuchte sie vom Thema Verrat abzulenken.

„Nein“, antwortete Gin. „Wir werden alle Opfer von APTX 4869 aufsuchen um sicherzugehen, dass sie wirklich verstorben sind. Wenn dem nicht der Fall ist, wirst du schon sehr bald neue Versuchskaninchen bekommen.“

Shiho schluckte. „Verstanden.“

„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Sherry“, entgegnete Gin. „Und jetzt geh wieder an die Arbeit“, fügte er hinzu und verließ das Labor.

Shiho seufzte und schüttelte den Kopf. Dass Gin kein angenehmer Zeitgenosse war, wusste sie schon seit einiger Zeit. Dass er aber ihre Arbeit kontrollierte, gefiel ihr gar nicht. Was brachte es ihm? Er konnte die Ergebnisse sowieso nicht deuten.

„I…I…hr K….K…affee.“

Shiho blickte den Wissenschaftler an, während er die Tasse auf ihren Schreibtisch abstellte. „Haben Sie Angst vor Gin?“, fragte sie.

Der Mann nickte. „Er kam…die letzten Tage…immer wieder vorbei…und hat uns deutlich gemacht…dass wir uns keinen...Fehler erlauben dürfen…“, erzählte er.

Shiho verdrehte die Augen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Ihnen wird er nichts antun. Wenn etwas schief geht, wird er seine Wut an mir auslassen.“ Shiho nahm die Tasse und blickte hinein.

„Dafür dass er Sie bedroht, verhalten Sie sich aber sehr ruhig.“

„Ich kenne ihn schon seit einigen Jahren. Es würde mir Sorgen machen, würde er mit seinen Drohungen aufhören“, erklärte sie. „Mit Gin legt man sich besser nicht an.“ Shiho sah wieder zu ihm. „Haben Sie Antikörpertests am Blut des Probanden vorgenommen?“

Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf. „Das war nicht Ihre…“ Sofort legte er sich die Hände auf den Mund. „Entschuldigung“, wisperte er.

„Mhm?“, murmelte Shiho. „Machen Sie sich keine Gedanken, es war schließlich nicht meine Anordnung. Gut…“ Shiho seufzte leise auf. „Bereiten Sie alles vor, wir führen die Untersuchungen gleich durch.“

„Jawohl.“
 

Shinichi sah an die Decke seines Zimmers. Es war bereits drei Tage her, seit er mit Shiho gesprochen und sie um Hilfe gebeten hatte. An seiner Lage hatte sich nichts geändert und er versuchte gar nicht mehr den Handschellen zu entkommen. Und auch wenn die Zeit verging, hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Dennoch fand er die ganze Situation sehr merkwürdig. Auch sein langer Traum hatte nur wenig Sinn gemacht, trotzdem kam ihm die Wissenschaftlerin sehr bekannt vor. Aber sie konnte nicht das geschrumpfte Mädchen aus seinem Traum sein. Die Ähnlichkeit war zwar da und auch ihr Wesen entsprach seiner Traumversion, aber diese Wissenschaftlerin hatte sich aufgegeben und war noch nicht gewillt aktiv gegen die Organisation zu arbeiten und ihm zu helfen.

Shinichi fragte sich, was alles passiert wäre, wäre er nach Einnahme des Giftes gestorben oder was, wenn er tatsächlich verjüngt worden wäre. Wären die Ereignisse genau so oder ähnlich eingetreten? Was wäre passiert, wenn er den dicklichen Mann damals nicht verfolgt hätte? Wäre er der Organisation überhaupt auf die Spur gekommen oder hätte er sie nach dem Tropical Land aus den Augen verloren und vergessen? Wäre ihnen dann jemand anderes auf die Schliche gekommen und hätte sein Leben verwirkt?

Shinichi schluckte. Er konnte weder die Vergangenheit ändern noch wusste er, was passieren würde, aber eines war ihm klar: Er konnte gegen das Schicksal kämpfen und seine Zukunft selbst bestimmen. Und diese würde nicht in den Händen der Organisation liegen.

Der Oberschüler schüttelte den Kopf. Er seufzte und konnte nicht wirklich glauben, dass die letzten sechs Monate nur ein Traum waren und sich dieser Traum aus dem materialisierte, was sein Unterbewusstsein mit anhörte. Aber vielleicht wollte ihm dieses etwas Bestimmtes mitteilen. Hatte er möglicherweise einen Hinweis übersehen und war der Organisation viel stärker auf der Spur als er ahnte?

Shinichi verengte die Augen. Bei Shihos nächstem Besuch musste er sie unbedingt erneut ausfragen und an weitere Informationen kommen. Vielleicht konnte er irgendwann sogar den Aufenthaltsort des FBI Agenten ermitteln oder jemand anderen um Hilfe bitten. Aber wen? Wen sollte er der Gefahr aussetzen?

Als die Tür zu seinem Zimmer aufging, sah er aus dem Augenwinkel dorthin. Shinichi runzelte die Stirn und beobachtete den Mann.

Bourbon trug das Tablett mit Essen und Trinken zu seinem Nachtisch und stellte es hin.

„Wo ist der andere Mann?“, wollte Shinichi wissen. Normalerweise bekam er jeden Tag von Wodka das Essen und Trinken auf den Tisch gestellt und die Bettpfanne gewechselt. Es war eine Demütigung für ihn, aber Gin hatte klare Anweisungen gegeben und keiner widersetzte sich ihnen. Solange keine neue Entscheidung getroffen wurde, durfte sich Shinichi nicht einmal im Zimmer bewegen. Selbst der Gang zur Toilette blieb ihm verwehrt. Und damit hatte Gin den richtigen Riecher gehabt, schließlich hätte Shinichi alles getan, um den Fängen der Organisation zu entkommen. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gab, um die Räumlichkeiten auszuspähen oder sich Verbündete zu machen.

„Der hat etwas Anderes zu tun“, gab Amuro von sich. „Stört es dich, dass du heute mit mir vorlieb nehmen musst?“

„Ich hab doch eh keine andere Wahl“, antwortete Shinichi ruhig.

Bourbon lächelte. „Wenigstens hast du dich mit der Situation arrangiert. Das ist doch schon mal was, dabei hab ich ganz anderes von dir gehört.“

Shinichi wurde hellhörig. „Was haben Sie von mir gehört?“, fing er an. „Nein, sagen Sie es nicht, ich kann es mir schon denken“, fügte er hinzu. Eine weitere Aufzählung wie die von Shiho konnte er nicht brauchen. „Wer sind Sie?“

„Das braucht dich nicht zu interessieren. Außerdem ist es besser für dich, wenn du nicht zu viel weißt.“

„Warum?“, kam es von Shinichi. „Sie alle zeigen mir Ihre Gesichter, was bedeutet, dass nicht geplant ist, dass lebend hier rauskomme. Da können Sie mir doch zumindest etwas erzählen.“

„Das sagst du jetzt um uns in Sicherheit zu wiegen, aber ich kenne dich“, begann Amuro. „In deinem kleinen Köpfchen überlegst du dir doch bereits, wie du hier raus kommst“

„Wie Sie meinen“, murmelte Shinichi.

„Ich hab gehört, du hast während der letzten sechs Monate ein paar Sachen mitbekommen, die in diesem Raum besprochen wurden.“

Shinichi verengte die Augen. Ja…jetzt erinnere ich mich…seine Stimme kommt mir so bekannt vor…er war auch ein paar Mal hier…Aber wer ist er? „Das stimmt“, nickte der Oberschüler. „Je mehr Zeit vergeht, desto mehr verblast das, was ich zu wissen schien.“

Bourbon musterte ihn. „Du bist ein schlechter Lügner, Shinichi Kudo“, entgegnete er. „Aber ich gehe davon aus, dass dir erklärt wurde, wie du dich hier zu verhalten hast. Und wenn du einen Fehler machst…ich wiederhol es am Besten nicht. Es gibt Dinge im Leben in die du besser nicht deine Nase hineinsteckst.“ Er lächelte und ging wieder zur Tür.

„Warten Sie.“

Amuro drehte sich um. „Was ist denn?“

„Was ist der wahre Grund, wegen dem Sie hergekommen sind?“

Das Organisationsmitglied lächelte und verließ den Raum. „Was für ein Junge“, murmelte er.

Vermouth hatte sich an die Wand gelehnt und sah ihren neuen Partner an. „Du warst aber nicht sehr lange drinnen…“

„Für ein kurzes Kennenlernen reichte es“, antwortete er.

„Und? Was hältst du von ihm?“

„Ich habe an seinem Blick bemerkt, dass er nicht aufgegeben hat. Er sucht weiterhin nach einem Ausweg und wenn er so ist, wie über ihn berichtet wird, wird er den Weg auch finden. Und wenn er erst einmal draußen ist, wird er nicht Ruhe geben, bevor wir nicht vernichtet sind. Er könnte gefährlich werden, aber wir sollten Gin nicht außer Acht lassen.“

Vermouth nickte. „Gin wird ihn nicht entkommen lassen. Er hat Maßnahmen getroffen, damit der Junge draußen nicht allzu lange überlebt.“

„Ich verstehe.“ Bourbon musterte sie. „Warum interessiert dich der Junge so sehr?“

Die Schauspielerin sah ihn fragend an. „Eifersüchtig?“

„Aber nicht doch“, entgegnete Amuro ruhig. „Ich hab ein wenig recherchiert und interessante Details über deine Mutter herausgefunden.“

„Und wenn schon“, sagte sie und ging zum Fahrstuhl. „Kommst du oder soll ich alleine fahren?“

Bourbon schmunzelte und folgte ihr. „Ich bin gespannt, wie das alles ausgeht.“

Flucht

Shinichi kniff die Augen zusammen und ging noch einmal alles durch, was er in den letzten drei Wochen über die Organisation in Erfahrung brachte. Zwischenzeitlich hatte er sogar mehrere Mitglieder kennen gelernt und jedes Mal war es ihnen egal, dass er ihre Gesichter sah und sie damit identifizieren konnte. Shinichi wusste, dass er lebend nicht entkommen würde, nicht einmal dann, wenn er kooperierte und ihnen gab, was sie wollten.

Jedes Mitglied war auf seine eigene Art und Weise speziell. Bei Gin wusste er, dass er kaltblütig war und vor nichts zurück schreckte, um einen Auftrag zu erledigen. In seinen wenigen Treffen mit dem Organisationsmitglied hatte der Oberschüler bereits festgestellt, dass Gin nicht nur eiskalt war sondern auch sehr scharfsinnig. Wann er versuchte das Gespräch in Richtung Organisation und ihre Ziele zu lenken, war ihm Gin bereits einen Schritt voraus und unterband das Gespräch, ehe es in diese Richtung führte. Während seiner Anwesenheit hielten Mitglieder wie Sherry oder Wodka meist den Mund oder ließen sich von ihm Anweisungen geben. Vor Gin musste sich Shinichi auf jeden Fall in Acht nehmen, vor allem weil er nicht wusste, wann Gin seine Besuche bei ihm plante.

Bourbon hingegen hatte sich insgesamt nur zweimal blicken lassen, was bei Shinichi eher zu Verwirrung führte, da er dessen Intention nicht deuten konnte. Der Mann war für ihn ein großes Rätsel, da er zum einen relativ ruhig war und im nächsten Moment hilfsbereit. Zuerst hatte er kaum mit ihm gesprochen und die Situation analysiert, dann aber zeigte er größeres Interesse an dem Oberschüler. Und dennoch wusste er nicht, ob er dem Mann sein Vertrauen schenken konnte oder ob er lieber vorsichtig sein musste.

Dann gab es noch die Wissenschaftlerin Shiho, die aufgrund ihrer Familienverhältnisse als Kind der Organisation aufwuchs, genau wie ihre ältere Schwester. Allerdings schien diese der Organisation nicht so wichtig zu sein, wie die Wissenschaftlerin. Und auch wenn Shiho oft so tat, als wäre sie nur an dem Ergebnis ihrer Forschungen interessiert, hatte er ihren Blick bemerkt. Er war leer und ausdruckslos. Sie versuchte nur zu überleben, auch wenn sie ihre eigenen Interessen unterdrücken musste. Auch wenn sie sich an seinen Ideen zur Flucht und zum Leben danach interessiert zeigte, war sie noch nicht soweit gewesen um ihm zu helfen. Shinichi hatte keinen Zweifel, dass er sie nach weiteren Treffen vollends zur Mithilfe hätte überzeugen können, allerdings schien die Organisation dem entgegen zu wirken. Shiho kam ihn nicht mehr besuchen und seine Befragungen wurden durch andere Mitglieder der Organisation durchgeführt.

Dr. Sawada – sein Arzt – hielt ebenfalls den Mund, allerdings konnte Shinichi noch nicht feststellen, ob der Mann ebenfalls zur Organisation gehörte oder ob er nur eines ihrer Bauernopfer war und nach ihrer Pfeife tanzen musste. Vielleicht hatten sie sogar etwas gegen ihn in der Hand.

Shinichi seufzte leise auf. Die einzige Person die ihm jetzt noch helfen konnte, war Wodka. Auch wenn Wodka der Organisation treu untergeben war und immer das tat, was Gin ihm befahl, war der Mann nicht gerade die hellste Kerze auf einer Torte. Und das musste er ausnutzen. Bereits bei Wodkas letzten Besuchen, hatte er versucht Vertrauen aufzubauen und nach Schwachstellen gesucht. Denn eines war sicher, Shinichi musste entkommen. Er musste nach Hause laufen und seine Familie, aber auch seine Freunde vor der Organisation warnen. Aber würden sie ihm überhaupt glauben? Der Junge schluckte. Er hatte keine Beweise und war monatelang wie vom Erdboden verschluckt. Was wenn sie ihm nicht glaubten? Aber viel schlimmer war für ihn die Tatsache, dass sich weder Ran noch seine Familie Sorgen um ihn machte. War die Ausrede mit der Auszeit so gut, dass sie nicht einmal eine Kontaktaufnahme versuchten? Oder log ihn die Organisation an? Und wenn dem so wahr, welchen Grund hatte Shiho? Ihm hätte sie schließlich die Wahrheit sagen können. Und ob es Ran, dem Professor und seinen Eltern auch wirklich gut ging, hatte die Organisation nie bewiesen. Aber er musste ihnen glauben, um die Hoffnung nicht aufzugeben und um etwas zum Kämpfen zu haben.

Als die Tür zu seinem Zimmer aufging, sah der Oberschüler dorthin. Wodka. Pünktlich wie eh und je und mit einem Tablett in der Hand. Shinichi mochte das Essen, welches er bekam nicht sonderlich. Es war zu wenig gewürzt und es gab immer das gleiche, beinahe so, als hätte Wodka selbst gekocht. Allein der Gedanke ließ den Oberschüler frösteln, die Vorstellung war nicht gerade optimal und dennoch hatte das Kopfkino schon eingesetzt. Shinichi schüttelte den Kopf.

„Freust du dich nicht mich zu sehen?“, kam es von Wodka. Er stellte das Tablett mit dem Essen auf den Nachttisch und zog einen Stuhl an das Bett heran.

„Das war nicht wegen Ihnen“, antwortete der Oberschüler und richtete sich etwas auf. Jetzt galt es vorsichtig zu sein. Wodka durfte seinen Plan nicht vorher durchkreuzen. „Wo ist Ihr Partner?“

„Mhm?“

„Der, der immer so schlecht gelaunt ist“, fing Shinichi an. „Mit schwarzem Hut.“

„Der hat heute einen anderen Auftrag“, gab Wodka von sich. „Hätte ja nicht gedacht, dass du ihn vermisst.“

„Das tu ich auch nicht“, murmelte Shinichi und sah auf das Essen.

„Stimmt etwas nicht? Wenn du etwas an dem Essen auszusetzen hast, nehm ich es wieder mit“, raunte er.

„Das hab ich nicht“, entgegnete der Oberschüler. Jede Mahlzeit brachte Kraft und Kraft konnte er gut gebrauchen. „Können Sie mir nicht heute die Handschellen abmachen? Es ist demütigend, wenn ich gefüttert werden muss und meine Handgelenke tun von der dauernden Reibung weh.“

Wodka beobachtete den Jungen und sein Blick blieb an seinen Händen haften. Sie waren tatsächlich etwas gerötet, dennoch zögerte Wodka. „Nein“, fing er an. „Befehl von oben. Du bleibst schön liegen. Und auch wenn es mir nicht schmeckt, dass ich dich füttern muss, werden du und ich schön zusammen arbeiten. Hast du verstanden?“

Shinichi seufzte leise auf. „Ich will nicht fliehen. Ich dachte nur, dass es einfacher für uns wäre. Nur ein paar Minuten….“

„Nein“, sprach Wodka etwas lauter und begann den Oberschüler zu füttern. Anschließend hielt er ihm ein Glas Wasser mit Strohhalm hin.

Shinichi trank, als wäre es das letzte Mal in seinem Leben.

„Nicht so hastig“, knurrte Wodka.

Shinichi sah ihn an. „Sie haben leicht reden. Ich bekomme nur etwas zu Trinken, wenn jemand ins Zimmer kommt. Deswegen muss ich jetzt meine Chance nutzen.“

Wodka verdrehte die Augen und stellte das leere Glas wieder auf den Tisch. „Jetzt zum unangenehmen Teil.“

„Bettpfanne“, murmelte Shinichi leise. „Möchten Sie das wirklich machen?“

„Als ob ich eine Wahl hätte…“

„Ich weiß, Sie möchten mich nicht los machen, aber dass Sie mir bei…naja Sie wissen schon helfen müssen, ist für uns Beide sehr demütigend und peinlich.“ Shinichi sah zur Toilette. „Es wäre für uns alle besser, wenn ich die richtige Toilette nutzen könnte.“

„Nein.“

„Sind Sie sicher?“, wollte der Oberschüler wissen. „Was haben Sie zu verlieren? Sie haben eine Waffe und sind am längeren Hebel. So wie es mitbekommen habe, ist dort drin auch kein Fenster. Ich kann also nicht entkommen.“

Wodka überlegte. „Mhm…stimmt schon…“

„Dann tun Sie es?“, fragte der Oberschüler.

Wodka seufzte. „Nur kurz und Gin darf nie davon erfahren. Wenn ich sehe, dass du irgendwelche zu schnellen Bewegungen machst, werde ich nicht zögern dich zu erschießen. Hast du mich verstanden?“

„Natürlich“, nickte der Oberschüler und wartete.

Wodka nahm den Schlüssel der Handschellen hervor und machte zuerst seine rechte Hand los, richtete dann seine Waffe auf den Schüler und öffnete anschließend die Handschellen an seiner anderen Hand. „Und jetzt ganz langsam.“

„Danke“, sagte der Oberschüler und rieb sich das Handgelenk.

„Jetzt steh schon endlich auf.“

„Ja, doch…“, kam es von Shinichi. „Haben Sie schon einmal über einen so langen Zeitraum Handschellen tragen müssen?“

„Nein.“

„Sind Sie immer so gesprächig?“

Wodka knurrte. „Wenn du weiter Zeit schinden willst, leg ich dir die Handschellen wieder an.“

Shinichi seufzte und hob die Hände beschwichtigend hoch. „Entschuldigung.“

Sofort war Wodka in Alarmbereitschaft. „Ich sagte doch, keine schnellen Bewegungen.“

„Mhm? Ja, Sie haben Recht.“ Shinichi sah in Richtung der Toilette. „Dann geh ich jetzt mal.“ Langsam setzte der Oberschüler einen Fuß vor den Nächsten. Er war das Gehen oder Laufen nicht mehr gewöhnt und schwankte. Auch wurde im leicht schwindelig, aber für seinen Plan musste er alle seine Befindlichkeiten hinten anstellen.

„Geht es dir gut?“

„Ja“, gab der Oberschüler von sich. „Ich muss mich erst wieder an das Gehen gewöhnen“, fügte er hinzu und begab sich in den Raum.

Wodka nickte und folgte ihm.

„Wollen Sie zu sehen?“

„Mach dich nicht lächerlich“, sagte der Mann und sah sich im Inneren um. „Gut. Beeil dich“, fügte er hinzu und ging wieder raus.

Shinichi seufze leise und zog langsam den Schlüssel aus dem Schloss. Der Oberschüler atmete tief durch und sah an sich runter. Er trug ein weißes Shirt, eine weiße Hose und keine Schuhe. Jeder der ihn draußen antraf, würde ihn sofort einweisen wollen, aber welche andere Wahl hatte er? Wenn ich es jetzt nicht versuche, dann klappt es nie. Wer weiß, wann sie Wodka durch einen gewiefteren Mann ersetzen sprach er sich selbst Mut zu. Shinichi ging an den Spiegelkasten und öffnete diesen. Leider fand er keine geeigneten Utensilien und biss sich auf die Unterlippe. War sein Plan doch zum Scheitern verurteilt? Als er im Spiegel die Dusche sah, kam ihm eine neue Idee. Shinichi nahm schnell den Duschkopf zur Hand und schraubte ihn vom Brauseschlauch ab. Das müsste gehen.

Um keinen Verdacht zu erregen, betätigte er die Spülung und stellte sich in die Nähe der Tür. Erneut atmete der Oberschüler tief durch. Dann warf er den Duschkopf gegen den Spiegel. Es schepperte laut und die Einzelteile vom Glas stürzten zu Boden. Wodka kam augenblicklich in den Raum gelaufen. „Was ist hier los?“ Er hielt die Waffe fest umklammert und blickte auf das Glas am Boden. Ehe er sich versah, schlüpfte Shinichi aus der Tür, zog sie zu und schloss ab. Sofort lief der Oberschüler aus dem Krankenzimmer und hatte das Gefühl, das Gefluche des Organisationsmitgliedes weiterhin zu hören. Da Shinichi aber nicht wusste, wo er entlang laufen musste, wählte er den direkten Weg zur Treppe. Er musste einfach auf sein Glück vertrauen und lief so schnell wie ihn seine Beine tragen konnten. Doch auf der Treppe merkte er die letzten Monate und stolperte über seine eigenen Beine. Er fiel runter und hielt sich den Kopf. Shinichi kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen und richtete sich langsam auf. Nicht aufgeben. Lauf weiter, versuchte er sich selbst zu motivieren und stand schließlich wieder auf. Mehr schlecht als Recht stützte er sich an der Wand ab und als er im Erdgeschoss ankam, setzte Erleichterung bei ihm ein. Doch schon bald hörte er einen Signalton. Alarm?, fragte er sich. Hat sich Wodka befreien können?

Shinichi schluckte. Bald würde jeder im Gebäude nach ihm suchen und den Eingang, den Notausgang und den Keller belagern. Der Oberschüler ballte die Faust und setzte seinen Weg fort, bis er Dr. Sawada gegenüberstand. Shinichi sah den Mann an und schluckte. Nein, es darf nicht so enden. „Bitte…helfen Sie mir?“, flüsterte er leise und wehleidig.

Der Arzt sah sich um. „Nimm das Fenster“, sprach er, drehte sich um und verschwand in eine andere Richtung.

Shinichi seufzte erleichtert auf und ging sofort an das Fenster. Er öffnete es und kletterte langsam nach draußen. Das Sonnenlicht blendete ihn. Dennoch durfte er nicht aufgeben und wieder in ihre Gefangenschaft geraten. Shinichi mobilisierte seine letzten Kräfte und lief wieder los.

Als er auf die Straße kam, sahen ihn einige Passanten verwundert an. Und auch er benötigte erst einmal die Orientierung. In welchem Stadtteil von Tokyo war er überhaupt? Nord? West? Süd? Ost? War er überhaupt noch in Tokyo? Der Oberschüler schüttelte den Kopf. Er konnte sich auch später die Fragen stellen. Shinichi sah nach hinten zu dem Gebäude und setzte sich in Bewegung – ganz normal, wie alle anderen auch. Erst als er das erste Straßenschild fand, kam seine Orientierung zurück. Der Oberschüler versuchte sich ruhig zu verhalten und in der Menschenmenge nicht allzu sehr aufzufallen. Dass ihn noch keiner ansprach, grenzte an ein Wunder. Wer lief schon ohne Schuhe und in weißer Kluft draußen herum?

Als Shinichi bei einer Polizeistation ankam, fühlte er erneut die Wogen der Erleichterung. Jetzt war es endlich vorbei. Erhobenen Hauptes trat der Oberschüler durch die Eingangstür und sah auf die zwei Polizisten am Empfang. Ein weiterer Polizist hing gerade die neusten Fahndungsmeldungen aus. „Mein Name ist Shinichi Kudo, ich bin Oberschuldetektiv“, stellte er sich vor. „Ich lebte die letzten sechs Monate in Gefangenschaft. Bitte informieren Sie Inspektor Megure.“

Vor zwei Wochen - Am Flughafen

Mit gemischten Gefühlen stand Jodie am Flughafen und zog ihr Ticket durch das Lesegerät. Sie würde zwar selbst nirgends hinfliegen, aber nur so konnte sie Shuichi bis zu seinem Gate bringen und die restliche Zeit mit ihm verbringen. Durch ihren spontanen Ticketkauf gewann sie mehr als 90 Minuten mehr Zeit mit ihm. Dafür nahm sie sogar die kritischen Blicke und Fragen des Sicherheitspersonals in Kauf. Es half auch nur bedingt weiter, dass sie Amerikanerin war.

Shuichi hingegen musste bei fast jedem elektronischem Gerät, welches er mitnahm, Rede und Antwort stehen. Aber irgendwann hatte auch er die Sicherheitskontrolle passiert und konnte seinen Handgepäckskoffer schließen. Einen weiteren Koffer hatten sie zuvor am Check-in aufgegeben. Da sie nicht abschätzen konnten, wie lange sein Aufenthalt in Japan dauern würde, hatte er nicht nur das Nötigste eingepackt.

Das FBI hatte ihm vorausschauend ein Hotelzimmer reserviert und er würde dort alles bekommen, was er wollte - nur sie nicht. Egal was Jodie auch versuchte, das FBI gab ihr die Reise nicht frei. Selbst ihr Urlaubsantrag wurde nicht genehmigt, da man in Sorge war, sie würde nicht so schnell zurück kommen. Stattdessen erwartete sie in New York eine andere wichtige Aufgabe. Die Verfilmung des Buches – genauer gesagt die Anwesenheit von Chris Vineyard – sollte für sie die höchste Priorität haben. Während Shuichi am anderen Ende der Welt der Organisation nachjagte, sollte sie in New York eines ihrer Mitglieder in Bedrängnis bringen. Auch wenn sie das FBI warnte bezüglich der Annahme der Leichtigkeit der Mission, blieb ihnen keine andere Wahl als das zu tun, was ihnen ihr Boss vorschrieb. Die ersten Treffen mit Chris wurden von der Produktionsfirma allein durchgeführt und wie James es prophezeit hatte, übernahm sie die Rolle nur ohne Casting. Eigentlich war es schon viel zu einfach sie für die Rolle zu begeistern. Nichts desto trotz hatte Jodie ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend, wenn sie daran dachte, dass sie bald der Frau gegenüber stehen würde, die so lange mit ihrem Leben spielte.

„Was für eine Tortur“, murmelte Jodie, um das Schweigen zu brechen.

„Nicht unbedingt. Wenn man sich in Erinnerung ruft, was in den letzten Jahren alles passiert ist, wirkt es noch vergleichsweise harmlos. Die vielen Anschläge haben das Land nachhaltig verändert. Kein Wunder, dass sie mich als Ausländer erst recht in die Mangel genommen haben, zumal ich auch mehrere elektronische Geräte bei mir trug.“

Jodie nickte verstehend. „Entschuldige…ich bin die vielen Sicherheitsstandards hier nicht gewöhnt“, sagte Jodie und folgte ihrem Freund zum Gate. Ihr wurde schwer ums Herz und obwohl er noch gar nicht geflogen war, vermisste sie ihn schon jetzt. Vor einigen Jahren kannte Jodie diese Gefühle nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen und hatte sich immer gewünscht, sie auch einmal zu erleben. Als es dann soweit war, prasselten sie mit voller Wucht auf sie ein. Zuerst hatte sie sich diese Gefühle nicht eingestehen wollen, aber dann war mit einem Mal alles anders geworden. Aber zum Glück ging es ihm genauso. Und obwohl er immer sagte, dass die Arbeit vor ging, hatten sich seine Prioritäten ebenfalls verschoben.

„Jetzt mach nicht so ein Gesicht.“

In Gedanken versunken wäre Jodie beinahe am Gate vorbei gelaufen. „Das ist keine Absicht“, wisperte sie. „Aber wenn ich daran denke, dass du nach Japan fliegst und dort auf dich allein gestellt…“

„Es wird schon alles gut gehen“, entgegnete der FBI Agent ruhig. „In Japan sind immer noch ein paar Kollegen stationiert und behalten die Situation im Auge. Bevor ich mich mit Akemi treffe, werde ich selbst ein paar Vorbereitungen vornehmen.“ Akai setzte sich und zog Jodie auf den Platz neben sich. Sofort lehnte sich die junge Frau an ihn. Shuichi legte den Arm um sie und drückte sie näher an sich. „Und ehe du dich versiehst, bin ich wieder zu Hause und nerve dich.“

Jodie versuchte zu lächeln und schloss die Augen. „Du meldest dich auch wirklich regelmäßig bei mir, ja? Es muss nicht jeden Tag sein, vielleicht einmal in der Woche…und wenn du eine Spur hast…oder wenn ich dir helfen kann, rufst du mich auch an, ja?“, wollte sie wissen. „Vielleicht kriege ich auch Black überredet, dass er mich in ein paar Tagen doch nachschickt.“

Shuichi strich ihr durch das blonde Haar. „Gut möglich“, entgegnete er in dem Wissen, dass das FBI Jodie wohl nicht mehr nach Japan zurückkehren ließe. Dafür war es dort viel zu gefährlich für sie. Außerdem hatte das FBI immer noch Sorge, dass Jodie erneut in die Fänge der Organisation geriet und wieder für sie tätig werden würde. Genügend Beweggründe würden sich finden lassen. „Kann ich dich hier auch wirklich alleine lassen?“

„Klar“, sprach Jodie. „Uns war doch klar gewesen, dass sich Chris weigern würde an einem Casting teilzunehmen. Ich hab nur…nicht damit gerechnet, dass es so einfach werden würde, sie von der Rolle zu überzeugen.“ Jodie schluckte. „Blacks Idee war wirklich nicht schlecht gewesen. Und zum Glück musste ich ihr ja auch noch nicht gegenüberstehen.“

Shuichi nickte. Dennoch war das Timing alles andere als gut. Jodie würde sich bald ihren Dämonen in Form von Vermouth stellen, während er selbst am anderen Ende der Welt Akemi half. Eine Falle hätte nicht offensichtlicher riechen können. Und hätte es eine Möglichkeit gegeben Jodie beizustehen, wäre er geblieben. Aber die Ereignisse überschlugen sich und Akemi hatte in ihrem letzten Telefonat auf die Dringlichkeit hingewiesen. Das FBI hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, wo die Prioritäten lagen und Shiho Miyano sowie ihre Forschungsarbeiten gehörten dazu.

„Ich weiß, dass sie mir sicher eine Falle stellen wird, aber ich bin vorbereitet.“

„Ich habe Camel angewiesen, dich nicht aus den Augen zu lassen. Egal was ist, du kannst mit ihm darüber reden und musst nicht die Starke spielen. Und wenn du nicht mit ihm reden willst, rufst du mich an. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Camel habe ich ebenfalls diese Aufgabe gegeben, falls er der Meinung ist, dass dir etwas auf der Seele liegt.“

„Damit ich dir ja nichts verschweige…“

„Damit du nicht glaubst, dass du mit deinen Problemen alleine bist, nur weil ich in Japan bin.“ Shuichi sah auf die Anzeigetafel. „Black hat zwar mehrmals betont, dass mein Auftrag für mich die höchste Priorität hat, aber wenn bei dir auch nur das Geringste schief geht, fliege ich sofort zurück. Hast du verstanden, Jodie? Du schonst mich nicht und sagst mir, wenn dir etwas aufgefallen ist oder sie einen Plan gegen dich umgesetzt hat. Es gibt nichts, was du mir nicht sagen kannst.“

„Ich weiß“, murmelte Jodie leise. „Sie wird aber wissen, dass sie von uns beobachtet wird und entsprechend vorsichtig sein.“

Shuichi nickte. „Natürlich ist ihr klar, dass es eine Falle ist. Selbst wenn sie einen Geheimhaltungsvertrag unterschrieben hat, was deine Identität als Autorin angeht, wird es kein einfaches Unterfangen werden“, entgegnete der FBI Agent. „Deswegen müsst ihr vorsichtig sein. Tut nichts, was euch in Gefahr bringt.“

„Mach dir keine Sorgen“, gab Jodie mit einem Lächeln auf den Lippen von sich. Sie wusste, wie wichtig es war, dass er sich während der Arbeit konzentrierte und wollte ihm auf gar keinen Fall einen Anlass geben unkonzentriert zu sein. „Auch wenn ich mir zutraue, sie in ihrer Verkleidung zu erkennen, werden Camel und ich uns regelmäßig testen.“

„Das wollte ich hören.“

Sehr geehrte Damen und Herren. Wir öffnen das Boarding für den Flug…

Jodie öffnete ihre Augen und seufzte leise auf. Warum war die Zeit nur auf einmal so schnell vorangeschritten? Vor einer Woche hatte sie noch so viel geplant und wollte die Zeit mit ihm auskosten. Auf einmal aber saßen sie am Flughafen und das Boarding für seinen Flug begann.

„Es ist soweit.“ Shuichi stand auf und zog Jodie mit nach oben.

Ohne es zu wollen, lief ihr eine Träne über die Wange.

„Ach Jodie“, murmelte der FBI Agent.

„Tut mir leid“, wisperte sie. „Ich wollte stark sein und…dir den Abschied nicht schwer…machen, aber…ich kann…ich kann einfach nicht anders…ich..ich liebe dich…Shuichi…und ich hab solche…Angst, dass…dass dir etwas Passiert…ich…“

Akai sah sie betroffen an. Sie machte es ihm ungeplant viel schwerer als gedacht und da er keine gute Erwiderung hatte, die ihr die Sorgen nehmen konnten, küsste er sie innig und fordernd. Der Kuss kam den Beiden wie eine Ewigkeit vor, wurde aber von der erneuten Ansage unterbrochen.

Langsam löste sich Shuichi von ihr. „Ich muss jetzt los.“

„Ich weiß“, sagte Jodie leise. „Pass…pass auf dich…auf und…komm zu mir…zurück…“

„Tu ich doch immer“, antwortete Shuichi mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen. Er nahm das Handgepäck, ließ sein Ticket scannen und durchschritt die Boarding-Kontrolle, damit er das Flugzeug betreten konnte.

Als Jodie nichts mehr von ihm sah, stellte sie sich an das große Fenster. Sofort machte sich ein ungutes Gefühl in ihr breit. Sie schluchzte und wartete auf das Abheben des Flugzeuges.
 

„Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.“ Jodie sah sich im Raum um. „Aber der Verkehr hat mich aufgehalten.“

Vermouth musterte sie und schmunzelte. „Verkehr“, wisperte die Schauspielerin leise.

„Wir haben noch nicht angefangen. Setzen Sie sich doch, Miss Starling. Miss Vineyard, wir hatten Ihnen bereits von Miss Starling erzählt. Sie hat das Buch Gnädiges Gift geschrieben.“

Vermouth nickte. „Ja, natürlich. Ich habe Ihr Buch nur so verschlungen. Es wirkte so authentisch und mit enormem Erfahrungsschatz. Jetzt wo ich Sie sehe, kann ich gar nicht glauben, dass Sie tatsächlich so jung sind. Der Produzent erzählte, dass Sie beim FBI arbeiten? Dadurch haben Sie bestimmt viel Erfahrung in das Buch einfließen lassen. Jetzt versteh ich auch, warum sie für die Veröffentlichung ein Pseudonym verwendet haben.“

Jodie versuchte zu lächeln. „Es freut mich, dass Ihnen meine Geschichte gefallen hat. Leider muss ich Ihnen gestehen, dass die Handlungen komplett ausgedacht sind und nicht auf meinen Fällen beruhen.“ Sie sah in die Runde. „Wollen wir dann beginnen?“

„Ja, natürlich“, nickte der Produzent. „Miss Vineyard wollte uns gerade neue Ideen zum Drehbuch vorstellen.“

„Ach ja? Ich dachte, dass das Drehbuch bereits abgenommen wurde. Sind Änderungen in der Kürze der Zeit noch möglich?“ Zumindest hatte Black ihr das mitgeteilt. Das FBI hatte sich um alle Belange gekümmert und Jodie die fertigen Dokumente übergeben. Eigentlich sollte keiner Änderungen daran vornehmen dürfen.

„Das stimmt, aber wir sind selbstverständlich gewillt den Vorschlägen einer so bekannten Schauspielerin zu lauschen. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Starling, die Castings für die anderen Rollen laufen noch und mit dem Drehen werden wir voraussichtlich erst in ein oder zwei Monaten beginnen. Bis dahin können wir Änderungen noch umsetzen. Miss Vineyard?“

„Vielen Dank“, lächelte die Schauspielerin. „Ich versichere Ihnen, ich will nicht die ganze Geschichte umschreiben, aber es fehlt noch das gewisse Etwas darin. Wie wäre es, wenn kurz vor dem großen Showdown heraus kommt, dass Kai vorher eine Affäre mit Vanadium hatte?“

Jodie verengte die Augen. „Ich halte das für keine logische Änderung. In dem gesamten Buch gibt es keinen Hinweis, dass sich Kai und Vanadium zuvor jemals getroffen haben. Und wir sollten nicht vergessen, dass die Leser des Buches auch im Film die gleiche Authentizität erwarten.“

„Mhm…“, murmelte der Produzent. „Das stimmt schon. Wir müssten einen komplett neuen Handlungsstrang erzählen.“

„Sie überlegen das tatsächlich?“, wollte Jodie wissen. „Und wie soll es dann für die Beiden weiter gehen? Bedenken Sie bitte, dass das Buch auch eine Botschaft hat: Egal wie viel schlimme Ereignisse kommen, es geht immer weiter“, fügte sie hinzu. „Aber wenn es zu viel ist, wirkt es einfach nur gestellt.“

„Das stimmt auch wieder“, gab der Produzent nachdenklich von sich. „Wollen Sie das nicht ins zweite Buch einbauen?“

„Sie schreiben einen zweiten Teil?“, kam es sofort von Vermouth.

„In Planung“, konterte Jodie. „Ich überlege, ob es zur Aussprache von Allison und Vanadium kommt. Über die Vergangenheit hätte Allison noch hinweg sehen können und wenn sich Vanadium wirklich ändern will, würde sie diese zweite Chance bekommen. Diese wäre aber zunichte gemacht, wenn Vanadium eine Affäre mit Kai gehabt hätte.“

„Mhm…ach so…ja das stimmt…“, entgegnete der Produzent. „Dann sollten wir das lieber nicht machen. Unsere Zielgruppe wird das sicher auch so sehen.“

„Wie Sie wünschen“, nickte Vermouth. „Mit dem Wissen, dass es möglicherweise einen zweiten Teil gibt, hätte ich für das Ende noch eine Anmerkung. Ich finde es wunderbar, dass Allison wieder zu Hause ist und Beide in ein gemeinsames Leben starten, aber in der Post-Credit-Szene könnten wir den nächsten Film bereits ankündigen. Man könnte sehen, wie Kai angerufen und um Hilfe gebeten wird. Einige Tage später ist er am Flughafen und fliegt zurück in die Hölle des Löwen.“

Der Produzent klatschte in die Hände. „Fantastisch. So machen wir das. Was sagen Sie, Miss Starling?“

Jodie wurde blass um die Nase. Sie wusste es. Sie wusste, dass Shuichi in wenigen Stunden in Japan ankam.

Vor zwei Wochen - In New York

„Miss Starling?“ Der Produzent sah Jodie irritiert an. „Möchten Sie Ihre Gedanken mit uns teilen?“

Jodie reagierte nicht.

„Miss Starling?“

Die junge Frau blickte in das Gesicht des Produzenten. „Entschuldigung“, fing sie ruhig an. „Könnten Sie das bitte wiederholen?“

„Geht es Ihnen nicht gut?“, wollte er wissen.

„Doch, doch…alles in Ordnung“, murmelte sie. „Ich war nur…abgelenkt. Könnten Sie bitte wiederholen, was Sie gesagt haben?“, bat sie erneut.

„Miss Vineyard schlug vor, dass wir in der Post-Credit-Szene einen Nachfolgefilm ankündigen. In der Szene würde unser junger Agent einen Anruf bekommen und wenige Tage später in ein Flugzeug steigen. Was sagen Sie dazu?“

Jodie musste schlucken. „Das…hört sich…gut an…“, brachte sie hervor. „Es bedeutet aber auch, dass ich dies in der Fortsetzung ebenfalls einbauen muss, damit es realistisch ist.“ Jodie dachte nach und machte sich eine Notiz. Damit die Arbeit des FBIs nicht auffiel, musste sie mitspielen. „Aber ich denke, ich bekomme das hin.“

„Sehr gut“, lächelte der Produzent. „Dann haben wir also schon das Ende. Gut, besprechen wir dann die einzelnen Szenen mit Miss Vineyard.“

„Entschuldigung?“ Jodie sah in die Runde. „Ich weiß, es kommt jetzt sehr komisch, aber brauchen Sie mich dazu?“

„Eh…nicht zwingend…das Drehbuch wurde ja bereits geschrieben und abgenommen“, begann der Produzent. „Aber wir dachten, dass Sie dennoch dabei sein wollen.“

„Das würde ich auch wirklich sehr gerne. Und ich danke Ihnen, dass Sie diesen Termin auch möglich gemacht haben“, entgegnete Jodie ruhig. „Aber Sie wissen ja wie das mit der Arbeit ist.“ Sie versuchte zu lächeln. „Wenn es nicht wirklich dringend wäre, würde ich auch nicht gehen.“

„Das verstehen wir natürlich, meine Liebe“, sagte Vermouth. „Gehen Sie ruhig wieder zurück an die Arbeit und schnappen die bösen Buben. Ich laufe ja auch nicht weg.“

Jodie schluckte ein weiteres mal. „Danke für Ihr Verständnis.“ Sie nahm ihre Tasche und stand auf. „Sollte doch etwas sein, können Sie mich jederzeit erreichen.“

Der Produzent nickte. „Danke für Ihre Zeit“, antwortete er und widmete sich der Schauspielerin. „Fangen wir mit Ihrer ersten Szene an.“

Chris nickte und schlug das Drehbuch auf, während Jodie diese einen Augenblick beobachtete. Danach verließ sie den Raum und atmete unregelmäßig. Mit zittrigen Händen holte sie auf dem Flur ihr Handy heraus und wählte Shuichis Nummer. Sobald die Mailbox ansprang, machte sich die erste Nervosität in ihr breit. „Ich bins…Jodie. Ich weiß, du bist noch nicht gelandet“, murmelte sie ins Telefon. „Sie wissen, dass du auf dem Weg nach Japan bist. Sei bitte vorsichtig und melde dich bei mir“, fügte sie hinzu und legte auf. Jodie steckte das Handy zurück in ihre Tasche und ging nach draußen.

Beinahe lief sie Camel über den Haufen, stolperte aber selbst über ihre Beine und landete auf den Knien. „Au“, kam es von Jodie.

„Jodie“, stieß Camel erschrocken aus. „Warte, ich helf dir hoch.“

Jodie schüttelte den Kopf. „Geht schon“, sagte sie und stand wieder auf.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Camel stockte. „Ist irgendwas passiert? Bist du verletzt? Hat Ver…hat sie dir etwas getan?“

„Nein, mir geht es gut“, antwortete Jodie. „Ich muss sofort zurück ins Büro und mit Black reden…ich…“

„In diesem Zustand solltest du nicht mit Agent Black sprechen“, begann der FBI Agent. „Beruhige dich erst einmal…“

„Camel?!“

Er musterte sie von oben nach unten. „Jodie, wenn…“

„Bitte lass das, Camel“, fing sie an. „Ich bin ich und Chris ist immer noch dort oben und bespricht mit dem Produzenten das Drehbuch. Du kennst meinen Zeitplan für heute und müsstest daher auch wissen, dass das Meeting noch mindestens eine Stunde geht. Außerdem wie sollte sie sich so schnell umziehen und verkleiden? Glaubst du, ich hätte dir keine Nachricht geschickt, wenn sie das Meeting verlassen hätte?“

Der FBI Agent nickte. „Das weiß ich…aber dann bist du aus dem Gebäude gestürmt und ich wurde unsicher.“

Jodie seufzte. „Weil ich dringend mit Black reden muss, bin ich rausgelaufen.“

„Vielleicht solltest du dich erst einmal beruhigen“, sagte er. „Dort drüben ist ein Café, lass uns dorthin gehen und du erzählst mir, was passiert ist. Wir haben auch einen guten Blick auf das Gebäude und sehen, wenn Ver…sie raus kommt.“

Jodie seufzte ein weiteres Mal. „Du lässt sowieso nicht locker“, murmelte sie. „Von mir aus, lass uns gehen.“

„Ich will nur vermeiden, dass es zu einer Kurzschlussreaktion kommt.“ Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und er machte sich mit Jodie auf den Weg in das Café. Um einen besseren Blick auf das Gebäude zu haben, setzten sie sich direkt an das Fenster. „Was ist denn passiert?“, wollte Camel wissen.

Jodie rutschte etwas Nervös auf dem Stuhl herum. „Shu ist heute früh nach Tokyo geflogen“, erzählte sie. „Die Organisation weiß davon…sie hat es mir durch die Blume mitgeteilt.“ Jodie nahm die Karte, die auf dem Tisch auslag und blätterte sie durch. „Und auch wenn ich weiß, dass er sich noch im Flugzeug befindet, habe ich ein ungutes Gefühl, wenn er nicht ans Handy geht.“

„Du musst dir keine Sorgen machen, Akai kann auf sich aufpassen.“ Auch Camel sah in die Karte und hatte sich schnell entschieden.

„Mein Kopf weiß das, aber der Rest…“ Jodie sah aus dem Fenster. „Manchmal wünschte ich mich wieder in die Zeit zurück, wo ich diese Art der Gefühle noch nicht hatte. Ja, es war ein sehr trostloses Leben und ich wollte immer, dass sich etwas Ändert, aber…wenn ich jetzt daran denke, was diese Gefühle alles mit sich bringen…“

Camel schluckte. Er war noch nie gut darin gewesen andere Menschen zu trösten. „Bist du dir auch wirklich sicher, dass sie davon wissen? Vielleicht ist es auch nur ein Bluff.“

„Ich bin mir sicher. Sie hat eine Post-Credit-Szene vorgeschlagen, wo der Agent aus dem Buch angerufen und um Hilfe gebeten wird. Tage später sieht man ihn am Flughafen…Es ist, als hätten sie alles eingefädelt…“

„Ich frage mich, wie sie es herausgefunden haben…das Ticket wurde doch Last Minute gebucht und im Hotel wurde ein falscher Name angegeben.“

„Ich weiß es nicht“, murmelte Jodie.

„Wissen Sie schon, was Sie trinken wollen?“

Jodie sah zur Kellnerin hoch. „Für mich einen Milchkaffee, bitte.“

„Und Sie, Sir?“

„Ich nehm einen schwarzen Kaffee mit Zucker.“

„Kommt gleich“, sagte die Kellnerin und verschwand wieder.

„Ich mache mir Sorgen um ihn. Irgendwie hatte ich gehofft, dass sie erst viel später von seiner Anwesenheit in Japan erfahren würden…zum Beispiel wenn sie ihn auf der Straße treffen würden…aber nicht so. Was, wenn sie ihm am Flughafen auflauern?“

„Dort gibt es Sicherheitspersonal und diverse Kontrollen“, fing Camel an. „Akai wird nichts geschehen. Unsere Leute sind auch noch da, das weißt du doch.“

Jodie nickte. „Weiß ich…“

„Weißt du…“, begann er, als er von dem Klingeln seines Handys unterbrochen wurde. „Entschuldige“, fügte er hinzu und nahm das Handy heraus. Camel runzelte die Stirn. „Da muss ich ran gehen.“ Er stand auf und ging nach draußen.

Irritiert sah sie ihm nach und holte ihr eigenes Telefon heraus. „Was mach ich hier eigentlich?“, fragte sie sich selbst. Ein weiterer Anruf hätte nichts gebracht.

„Das frag ich mich auch.“

Sofort sah Jodie nach oben und weitete die Augen. „C…chris…“

„Kleine Kaffeepause? Dabei dachte ich, du würdest dich der Arbeit widmen…ach nein, entschuldige, ich bin ja deine Arbeit“, schmunzelte die Schauspielerin und blickte auf das Gebäude. „Keine Sorge, die machen gerade auch nur Pause. Szenen in einem Drehbuch zu besprechen, kann ganz schön anstrengend sein.“

„Was willst du hier?“, wollte Jodie wissen.

„Ist das deine Art eine alte Freundin zu begrüßen?“

Jodie verengte die Augen. „Du bist keine Freundin. Du hast…“

„Ich weiß, was ich damals getan habe. Du solltest mir dankbar sein“, sagte die Schauspielerin. „Ohne mich wärst du damals in den Flammen umgekommen. Und was danach passiert ist…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es hat mich überrascht, dass du erst so spät damit angefangen hast, selbstständig zu denken und zu handeln. Aber leider hängst du bereits viel zu tief in der Geschichte mit drinnen, als du denkst. Oder hast du wirklich erwartet, dass wir einfach aufgeben würden?“

„Nein“, gab Jodie von sich. „Bist du gerade tatsächlich nur zum Reden hergekommen?“

Vermouth kicherte. „Als ob du nicht weißt, warum ich hier bin. Ihr habt mich doch extra herlocken wollen“, antwortete die Schauspielerin. „Aber du weißt ja was man sagt, in der Öffentlichkeit lässt sich schwer morden.“

Jodie lächelte gezwungen. „Was du nicht sagst. Aber ich bin mir sicher, du könntest eine überraschte Person sehr gut spielen. Oder hast du tatsächlich aufgehört, eine andere Person zu spielen?“

Die Kellnerin kam mit den Getränken und stellte diese auf den Tisch. „Eh…“

„Bitte beachten Sie mich nicht weiter“, entgegnete Vermouth ruhig.

„Ja…ja…natürlich“, nickte die Frau und ging wieder zurück an den Tresen.

„Weißt du, Jodie, es hätte alles anders laufen können, wäre dieser FBI Agent nicht in dein Leben getreten.“

„Dann würde ich weiterhin für euch arbeiten und mich verkaufen. Du hast gewusst, dass ich das nicht gerne mache und nicht mehr machen wollte. Aber du hast kein einziges Mal für mich Partei ergriffen. Ich glaube viel eher, dass er meine Rettung war.“

Die Schauspielerin schmunzelte. „Wenn du das so siehst.“ Sie stand auf. „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder und dass du dann nicht vor Trauer zergehst.“

„Dazu wird es nicht kommen“, gab sie selbstbewusst von sich.

„Gut.“ Vermouth zwinkerte und verließ das Café.

Jodie legte das Geld auf den Tisch und trat ebenfalls aus dem Café.

„Jodie?“

Sie sah zu Camel und schüttelte den Kopf. „Ich muss jetzt mit Black reden. Bezahlt ist bereits.“

Der FBI Agent schluckte. „Hab ich gerade Vermouth aus dem Café kommen sehen?“

„Das hast du.“ Jodie marschierte zu ihrem Wagen.

„Jetzt warte doch. Was ist denn passiert?“

„Ich muss jetzt zu Black. Fahr mir nach oder lass es“, zischte sie, öffnete die Wagentür und setzte sich rein. Jodie legte den Gurt um sich, steckte den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Sie atmete tief durch, ehe sie los fuhr.
 

Jodie klopfte an die Tür. Ohne abzuwarten, betrat sie das Büro. „Agent Black“, begann sie formell. „Ich muss mit Ihnen reden. Es ist dringend.“

James sah von seinem Computer hoch und wies auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich doch.“ Der FBI Agent runzelte die Stirn. „Agent Akai ist heute nach Tokyo geflogen, nicht wahr?“

Jodie nickte. „In der Frühe“, murmelte sie. „In ein paar Stunden wird er auch angekommen sein.“

„Und Sie hatten heute das Meeting mit dem Produzenten und Vermouth“, sagte James ruhig. „Sie sind früh fertig geworden.“

„Ich musste abbrechen“, gestand Jodie. „Die Organisation weiß, dass Shu nach Tokyo geflogen ist. Ich gehe davon aus, dass sie dort auf ihn warten werden.“

James blickte besorgt drein. „Ich hatte gehofft, sie würden seine Anwesenheit erst viel später bemerken.“

„Ich auch“, kam es von Jodie. „Agent Black, ich weiß, mein Reiseantrag und mein Urlaubsantrag wurden abgelehnt, aber…“

„Die Arbeit mit Vermouth ist genauso wichtig. Sie wussten, worauf Sie sich eingelassen haben.“

„Natürlich“, entgegnete Jodie. „Aber sie nutzt jede Gelegenheit um mich darauf hinzuweisen, dass Shu in Tokyo jederzeit bei einem Anschlag ums Leben kommen kann. Sie können sich doch vorstellen, dass ich das auf Dauer nicht ertragen kann.“

„Jodie“, fing der Agent an.

„James, bitte, ich weiß, dass es anders geplant war und damit war ich auch einverstanden. Aber jetzt haben sich die Gegebenheiten verändert. Wenn es so weiter geht, werde ich mich auf meine eigentliche Arbeit nicht mehr konzentrieren können und dann wäre es möglich, dass ich einen Fehler mache. Die Castings für die anderen Rollen laufen noch und ehe der Dreh beginnen kann, vergehen noch ein oder zwei Monate. Bis dahin wären wir bestimmt wieder zurück. Außerdem ist es doch besser, wenn man sich aktiv um einen Krisenherd kümmert und nicht um zwei. Wie ich den Boss einschätze, wird er Vermouth zurückordern, sobald bekannt ist, dass ich auch wieder in Tokyo bin. Wir können eigentlich nur gewinnen, wenn man das im Zusammenhang mit der Organisation sagen kann.“

Black wirkte noch nicht überzeugt. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das genehmigen kann.“

„Das habe ich mir bereits gedacht“, antwortete Jodie. „James, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ein Nein ist mir egal. Shu hat damals sein Leben wegen mir aufgegeben und nicht aufgehört an mich zu denken. Ich werde ihn jetzt nicht alleine lassen.“

„Das heißt?“, wollte er wissen, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Das heißt, dass ich auf jeden Fall nach Tokyo fliegen werde. Auch wenn ich meine Kündigung einreichen muss, können Sie mich nicht aufhalten.“

Vor zwei Wochen - In Tokyo

Jodies Drohung hatte Früchte getragen und sie konnte ihren Willen durchsetzen. Nachdem sie die schriftliche Genehmigung der Reise in ihren Händen hielt, kümmerte sie sich um die Vorbereitungen. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass das FBI so kooperativ war. Eigentlich war es auch mehr der Verdienst von James, der sich für sie eingesetzt hatte. Ansonsten wäre die Situation möglicherweise ganz anders ausgegangen. Wäre ein anderer FBI Agent ihr Ansprechpartner gewesen, stünde sie höchstwahrscheinlich unter ständiger Beobachtung oder wäre in Gewahrsam genommen worden. Dann hätte sich das FBI allerdings nicht viel mehr von der Organisation unterschieden.

Um den Auftrag von Shuichi nicht zu gefährden, wählte sie ein anderes Hotel aus und hatte ihn extra nicht eingeweiht. Außerdem wollte sie ihn nicht beunruhigen, schließlich bestand die Möglichkeit, dass auch sie von der Organisation verfolgt wurde. Andererseits sollte es auch eine Überraschung sein und bevor Jodie ihn endlich wieder sah, wollte sie sich wenigstens eine Dusche gönnen und sich frisch machen. Da sie genau wusste, wie ihr Freund reagieren würde, hatte sie auch James um Stillschweigen gebeten. Allerdings spürte Jodie, dass etwas im Busch war.

Aus Shuichis letzten Anruf wusste sie, dass das Treffen mit Akemi gut gelaufen war und scheinbar hatten auch die restlichen Mitglieder der Organisation nichts von seiner Anwesenheit bemerkt. Selbstverständlich hatte Shuichi ihr noch einmal gut zu geredet und versucht ihr die Sorgen zu nehmen. Aber Vermouth hatte bereits zu großen Einfluss auf sie und so glaubte sie ihrer Aussage.

Jodie steckte ihre schwarze Sonnenbrille in ihre Handtasche und nahm das Handy heraus. Sie deaktivierte den Flugmodus und informierte James über ihre Ankunft in Tokyo. Obwohl sie als Amerikanerin in Japan auffiel, versuchte sie so wenig Blicke wie notwendig auf sich zu ziehen. Jodie folgte der Menschenmenge zur Bushaltestelle und wartete dort. Sie beobachtete das rege Treiben – Menschen kamen und Menschen gingen. Allerdings schüttelte sie den Kopf über die Handlungen der Touristen. Während die Einheimischen erst die Insassen des Busses aussteigen ließen, versuchten sich die Touristen sofort rein zu zwängen – so als würden sie sonst nicht mitgenommen werden. Es war eine typische Handlung aus dem Westen, die Jodie auch in New York kennen lernen durfte. Und kaum war man im Bus, begann der Kampf um einen Sitzplatz. Selbst die älteren Mitmenschen oder Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arm mussten stehen. In Japan aber war das anders. Wenn möglich wurde Platz gemacht, aber auch dort gab es überfüllte Züge und Buse.

Nach dem langen Flug bevorzuge Jodie das Stehen. Und obwohl sich langsam der Jetlag bemerkbar machte, versuchte sie wach zu bleiben. Jodie fiel es immer schwerer und beinahe hätte sie den Ausstieg verpasst. Sie schnappte sich den Koffer und stürzte aus dem Bus. Jetzt kam sie sich selbst wie eine Touristin vor, die keine Ahnung hatte. Aber wenigstens nahm man es ihr dann nicht übel.

Die Amerikanerin seufzte und sah sich auf der Straße um. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie Japan verlassen hatte und wegen einem Auftrag nach New York flog. Damals hätte keiner gedacht, dass sie dort bleiben würde – höchstens tot. Wieder hier zu sein – in ihrem eigentlichen zu Hause, welches sie kannte – fühlte sich nicht nur komisch an, sondern weckte auch einige Erinnerungen. Gute und schlechte. Jodie schüttelte den Kopf. Sie durfte keine Ablenkung zulassen.

Jodie zog den Koffer hinter sich her und betrat die Lobby des Hotels. Sie hatte extra ein Hotel im westlichen Stil ausgewählt, um nach außen den Schein einer Touristin zu wahren. Sie sah sich um und stellte sich an die Reihe der wartenden Gäste, die allesamt Japaner waren. Wie Jodie bereits dachte, wurden die Gäste schnell aber auch freundlich abgefertigt.

Als sie dran war, runzelte die Dame an der Rezeption die Stirn. „Oh…hello…“, begann sie stotternd. „Nice…to…meet you…“, brachte sie anschließend hervor.

„Sie können ruhig japanisch mit mir reden“, entgegnete Jodie mit einem Lächeln.

Sofort machte sich Erleichterung in der Dame breit. „Herzlich Willkommen im Samekawa-Hotel. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Ich hab ein Zimmer auf den Namen Starling reserviert.“ Es machte keinen Unterschied, ob sie ihren richtigen Namen angab oder einen Decknamen benutzte, die Organisation kannte alle und würde sie finden. Selbst wenn sie sich einen neuen Namen überlegen würde, würde die Organisation dahinterkommen, schließlich war man ein Gewohnheitstier und benutzte immer ähnliche Konstellationen.

Die Rezeptionistin tippte etwas in ihren Computer ein. „Ah, da haben wir Sie schon“, sagte die Frau. „Sie haben Zimmer 8-11. Das Zimmer liegt in der achten Etage, sie können einfach mit dem Fahrstuhl hochfahren und dann müssen Sie sich immer links halten. Das sind die Schlüssel. Unser Restaurant ist von 6 bis 24 Uhr geöffnet. Frühstück können Sie bis 10 Uhr bekommen. Wenn Sie etwas vom Zimmerservice bestellen wollen, wählen Sie am Telefon die 1. Wenn Sie nach draußen telefonieren möchten, müssen Sie vorher die 0 wählen. Die Rezeption ist den ganzen Tag und die ganze Nacht besetzt. In unseren Kellerräumen befinden sich ein Spa- und Sport-Bereich. Diesen können Sie nach Belieben nutzen. Für die Nutzung der Sauna nehmen wir allerdings einen kleinen Aufpreis“, erklärte sie und holte eine Broschüre heraus. „Alles was ich Ihnen erzählt habe, können Sie auch hier drinnen finden. Die Daten für die Nutzung unseres Internets finden Sie auf Ihrem Zimmer. Wenn es Probleme gibt, können Sie sich bei mir melden.“

Jodie nickte und nahm die Schlüssel und die Broschüre. „Danke“, sprach sie und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl. Nachdem sie ihr Zimmer fand, öffnete sie die Tür und betrat das Innere. Das Zimmer war mittelgroß, aber ausreichend für ihre Bedürfnisse. Jodie stellte ihre Tasche neben das Bett und ging in das Badezimmer. Sie wusch sich das Gesicht und beobachtete ihr Spiegelbild. Nach einer Weile ging Jodie zurück und legte sich auf das Bett. Sie schloss ihre Augen und döste – der Plan sah nur einige Minuten vor, doch daraus wurden Stunden.

Als sie schließlich wach wurde, fühlte sie sich wie gerädert. Sie musste eindeutig Schlaf nachholen, aber tat sie es sofort, würde sie die ganze Nacht wach bleiben. Langsam stand sie auf und streckte sich. Jodie gähnte herzhaft und öffnete ihren Koffer. Sie zog ihre Haarbürste heraus und kämmte sich die Haare. Anschließend ging sie noch einmal ins Badezimmer und sorgte für die letzten Handgriffe.

Mit ihrer Handtasche bewaffnet, verließ sie das Zimmer. Die junge Amerikanerin ging in das Hotelrestaurant und nahm eine Kleinigkeit zu sich. Nachdenklich blickte sie auf ihren leeren Teller und seufzte leise auf. Ihren nächsten Besuch in Japan hatte sie sich eigentlich ganz anders vorgestellt, aber sie musste nun damit zurechtkommen. Und vielleicht würden sie in naher Zukunft häufiger Tokyo besuchen können. Keiner wusste schließlich, wie der Fall mit der Organisation ausging.

„Lass das Grübeln, Jodie“, sagte sie zu sich selbst und stand auf. Sie nahm ihre Tasche und verließ das Hotel. Die frische Luft tat ihr gut und mit der neuen Motivation schlenderte sie die Straße entlang. Der Stadtteil hatte sich kaum verändert, was für Jodie vorteilhaft war. Dennoch holte sie ihr Handy aus der Handtasche und rief das Navigationssystem auf. Sie ließ ihren Standort vom System suchen und wählte dann eine schnelle Route zu Shuichis Hotel aus. Als sie wieder nach oben sah, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Er stand direkt vor ihr. Blaue Augen. Kurzes blondes Haar. Dunkle Haut. Finsterer Blick.

„Du“, zischte er. „Du bist wieder hier.“ Amuro bewegte sich noch mehr in ihre Richtung.

„Bourbon“, murmelte Jodie. Was für ein Glück sie doch mal wieder hatte. Damals in New York traf sie als erstes auf Shuichi. Jetzt in Tokyo war es ihr damaliger Partner Bourbon. „Sieht so aus“, antwortete die Amerikanerin. „Lange nicht mehr gesehen“, versuchte sie freundlichen zu sein.

„Das du dich hier her traust.“ Amuro verengte die Augen und sah sich um. „Du kannst von Glück reden, dass wir nicht alleine sind.“

Jodie schluckte. „Du hast mich doch damals zurück gelassen.“ Ohne zu wissen wie es um sie geschah, befand sie sich im Konfrontationsmodus.

Amuro steckte die Hände in die Hosentaschen. „Du machst es dir leicht. Du weißt genau so wie ich, dass es damals keine andere Möglichkeit gab.“

„Und warum bist du dann aus New York geflohen?“, wollte sie wissen. „Wir waren im Hotel aber du hattest schon ausgecheckt.“

„Das war euer Glück“, entgegnete Bourbon ironisch. „Wer weiß, was ich sonst mit euch gemacht hätte.“

„Shuichi hat mir erzählt, dass du…naja…du weißt schon…“

Bourbon sah sie wütend an. „Er posaunt es also in der Welt herum. Das freut mich aber.“

Jodie musterte ihn. „Was ist nur mit dir passiert…ich weiß, du hast damals auch nur eine Rolle gespielt, aber ich hatte das Gefühl, dass du trotzdem mehr du selbst warst. Und jetzt…“

„Tz…“, gab er von sich. „Du willst es unbedingt wissen, was? Aber glaubst du, du kommst mit der Wahrheit klar? Sie haben meinen besten Freund umgebracht und ich konnte nichts dagegen tun, weil ich bei dir Babysitter spielen musste. Wäre ich hier gewesen, hätte ich es verhindern können. Und weil du ausgerechnet auf dein ehemaliges Opfer treffen musstest, gab es diese Planänderung und unser Aufenthalt verlängerte sich.“

Sie schluckte. „Amuro, ich…“, wisperte Jodie. Aber dann fragte sie sich, warum er ihr das alles erzählte. Sofort sah sich Jodie um.

„Du wirst nicht beobachtet“, antwortete er. „Warum ich es dir erzähle, weiß ich auch nicht. Vielleicht will ich Mitleid, wenn wir uns das nächste Mal gegenüber stehen. Vielleicht mach ich das aber auch, weil ich dich für eine Weile hier festhalten will oder ich musste es mir einfach von der Seele reden. Oder ich möchte dir einfach nur zeigen, dass es wichtigeres für mich gibt, als deine oder Akais Anwesenheit hier.“ Amuro schnaubte verächtlich. Die Jahre die er in der Organisation verbringen musste, hatten Spuren hinterlassen und jetzt wo er alleine war, hatte er nichts mehr zu verlieren. Selbstredend sah er die Organisation noch immer als seinen Feind an und er setzte alle Hebel in Bewegung um sie aufzuhalten – egal wer sich ihm in den Weg stellen würde. Was hatte er auch schon zu verlieren?

„Du weißt…du weißt, dass er…“

„Och ich bitte dich“, begann er. „Natürlich wissen wir, dass Akai hier ist.“

Jodie wich einen Schritt nach hinten.

Amuro schmunzelte. „Ich weiß sogar, in welchem Hotel er untergekommen ist. Aber mach dir keine Sorgen, bevor ich nicht weiß, was ihr hier plant, verrate ich euch nicht. Noch nicht.“ Und mit Jodie würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wenn er den FBI Agenten und die Verräterin an die Organisation ausliefern würde, würde ihm der Aufstieg sicher sein. Und schon bald würde er die Hintermänner kennenlernen und irgendwann sogar den Boss. Das war der Tag, auf den er all die Jahre hingearbeitet hatte.

„Amuro…“, murmelte Jodie leise. „Ich…ähm…“

„Amuro.“

Der Angesprochene drehte sich um. „Azusa?“, stieß er überrascht aus.

Azusa Enomoto war Kellnerin im Café Poirot, welches sich unter der Detektei von Kogoro Mori befand. Außerdem war sie seit einem halben Jahr die Arbeitskollegin von Amuro. Amuro konnte sich besseres vorstellen als Kellner zu spielen. Aber nur so hatte er Kogoro und Ran Mori im Auge behalten und die Spuren zu Shinichi Kudo verwischen können. Außerdem war sein Alltag als Kellner nicht allzu stressig, sodass er auch seiner Arbeit für die Organisation nachgehen konnte.

„Hallo, wer hätte gedacht, dass wir uns hier zufällig treffen.“ Azusa sah zu Jodie. „Oh“, murmelte sie. „Entschuldigung, ich wollte nicht stören.“

„Das machst du nicht“, sprach Amuro ruhig und blickte zu Jodie. „Wir waren fertig, nicht wahr?“

Jodie nickte nur.

„Lass uns gehen“, sprach Bourbon und machte sich mit Azusa auf den Weg in Café, wo seine Schicht bald beginnen würde.

Jodie blieb irritiert zurück. Er weiß, wo Shuichi ist. Und wer ist diese Azusa? Arbeitet sie auch für die Organisation?, fragte sie sich selbst. Sie runzelte die Stirn und blickte in die Richtung wo die Beiden verschwunden waren. Sofort lief Jodie ihnen hinterher, doch sie kam nicht weit. Sie wurde in eine Gasse gezogen, gegen die Wand gedrückt und spürte eine fremde Hand auf ihrem Mund. Dass sie in eine Falle gelaufen war, wurde ihr erst jetzt bewusst. Und obwohl sie eine gute Ausbildung in Selbstverteidigung hatte, konnte sie sich nicht bewegen. Ihr Körper streikte – möglicherweise aufgrund des Jetlags. Langsam sah Jodie ihrem Peiniger ins Gesicht und weitete die Augen - Shuichi.

Im Revier

Sofort richteten sich die Augenpaare auf den Oberschüler. Sie beobachteten und musterten ihn, doch die weiße Kleidung und das Fehlen der Schuhe sprach bereits Bände. Shinichi wusste genau, was in ihren Köpfen vor sich ging – sie fragten sich, ob er aus einem Sanatorium oder einem Krankenhaus ausgebrochen war. Aber da war auch noch etwas Anderes in ihrem Blick – Mitleid. Ja, sie hatten Mitleid mit ihm und der Situation in der er steckte.

Vor seiner Begegnung mit der Organisation hatte er in einem Bericht gelesen, dass fast jeder dritte Schüler unter depressiven Stimmungen litt. Das Problem hervorgerufen hatte der Schulstress und Leistungsdruck. Was früher normal war, wurde mittlerweile zu einer Ausnahme. Die Schüler legten viel mehr Wert auf ihre Freizeit und auf die verschiedenen Aktivitäten mit ihren Freunden. Aber auch das Familienleben sollte nicht zu kurz kommen. Vielleicht glaubten die Polizisten auch, dass er diese Probleme hatte oder sie hatten nach der Nennung seines Namens sofort die Verbindung zu seinen Eltern Yusaku und Yukiko geschlagen und nahmen an, dass seine Kindheit alles andere als rosig war. Dabei war genau das Gegenteil der Fall. Seine Mutter war eine bekannte Schauspielerin und nahm ihn oft an die Drehorte mit. Sein Vater war ein berühmter Kriminalbuchautor und hatte der Polizei schon einige Male als Berater zur Verfügung gestanden. Dadurch hatte Shinichi bereits in seiner Kindheit viel gelernt und konnte auch mit den makabersten Situationen klar kommen.

„Bitte“, begann der Oberschüler leise. „Bitte, informieren Sie Inspektor Megure. Ich muss unbedingt mit ihm sprechen. Er kennt mich und hat sicherlich großes Interesse meine Geschichte zu hören.“

Einer der Polizisten am Empfang sah seinen Kollegen an. „Kannst du nach hinten gehen und die Telefonate führen?“

Der Uniformierte nickte. „Ich kümmere mich darum“, antwortete er und verschwand durch eine Tür in den Nebenraum.

Shinichi kannte das Vorgehen in einer derartigen Situation sehr gut. Der Polizist würde im Nebenraum alle Vermisstenanzeigen überprüfen und sich in verschiedenen Instituten nach den neusten Flüchtlingen informieren. Wer konnte es ihm auch verdenken? Shinichi hätte auch Zweifel gehabt, wenn ein Klient dermaßen bekleidet bei ihm Vorsprechen würde. Allerdings hätte er höchstwahrscheinlich den Fall trotzdem übernommen und bis zum bitteren Ende recherchiert. Nach all der Zeit, die er bei der Organisation verbringen musste, kam ihm seine Arbeit als Detektiv wie ein Traum vor – ein Traum der Vergangenheit. Vielleicht hatte er nicht einmal mehr Klienten oder noch viel schlimmer: Er würde der Polizei nicht mehr beratend zur Seite stehen können

Shinichi schüttelte den Kopf. Das alles war Zukunftsmusik. Erst einmal musste er dem ganzen Schlamassel entkomme. Wie er die Organisation einschätzte, gab es bereits eine Vermisstenmeldung mit seinem Namen und Bild. Und wenn nicht, dann arbeiteten sie sicher bereits an einer entsprechenden Nachricht. Aber was blieb dem Oberschüler sonst übrig? Selbst wenn die Polizisten ihn in die Kategorie Verrückt oder Depressiv einordneten, musste er nur lange genug durchhalten, bis er mit dem Inspektor sprechen konnte.

Shinichi setzte zum Reden an, als der andere Polizist auf ihn zu kam. Dieser legte seine Hände auf Shinichis Schultern. „Junge, du siehst gar nicht gut aus“, begann er ruhig und einfühlsam. „Gehen wir doch am besten nach hinten, ich gebe dir etwas zu Essen und zu Trinken und du erzählst mir, was passiert ist, ja?“

Shinichi kannte auch dieses Vorgehen sehr gut. Der Polizist – auf dessen Namensschild Shikumi stand - versuchte sein Vertrauen zu gewinnen und Zeit zu schinden. Shinichi wusste nicht warum, vielleicht lag es auch an der Zeit bei der Organisation – aber er begann dem Polizisten tatsächlich zu vertrauen. Dies schob der Oberschüler allerdings auf seinen desolaten Zustand. „Ich muss…unbedingt mit Inspektor Megure…sprechen.“

„Ja, das wirst du auch“, nickte Shikumi. „Aber lass uns zuerst nach hinten durchgehen“, fügte er hinzu und schob Shinichi bereits in die Richtung. Gemeinsam betraten sie einen anderen Nebenraum. Das Büro war geräumig eingerichtet, zwei Schreibtische standen sich gegenüber und die Arbeitsfläche war nicht nur mit verschiedenen Unterlagen sondern auch privaten Bildern gespickt. Auf dem gegenüberliegenden Schrank standen eine Kaffeemaschine, mehrere Karaffen mit Wasser, ein Wasserkocher inklusive verschiedener Teesorten sowie mehrere Tassen. Shinichi ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und nahm schließlich auf einem der Besucherstühle Platz. Sofort hatte sich seine Anspannung gelegt. Es war gut in der Nähe seinesgleichen zu sein.

„Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Junge?“

„Heute früh“, antwortete Shinichi leise. „Aber ich habe keinen Hunger.“

Inspektor Shikumi nickte verstehend. „Dann koch ich dir einen Tee und wir können reden“, entgegnete er und befüllte den Wasserkocher mit dem Wasser aus der Karaffe. „Hast du eine Lieblingssorte?“

„Nein“, murmelte Shinichi.

Shikumi nickte und befüllte zwei Tassen mit dem heißen Wasser, ehe er je einen Teebeutel mit Kamillenblüten hineinlegte – es würde den Jungen beruhigen. Der Inspektor stellte beide Tassen auf den Tisch. „Vorsichtig heiß.“

„Ich weiß.“

Shikumi setzte sich an seinen Schreibtisch und holte ein schwarzes Notizbuch hervor. Sein Kollege – Inspektor Sanada – betrat den Raum und setzte sich auf den Stuhl am anderen Schreibtisch. Shinichi erkannte ihn wieder. Er war derjenige, der im Nebenraum die Telefonate durchführen sollte.

„Dann können wir jetzt beginnen“, lächelte Inspektor Shikumi. „Ich bin Inspektor Shikumi, das da hinten ist mein Kollege Inspektor Sanada. Du sagst dein Name ist Shinichi Kudo?“

Shinichi nickte.

Inspektor Sanada tippte kurz etwas in seinen Computer und überflog die Ergebnisse. Er runzelte nachdenklich die Stirn, recherchierte aber weiter.

„Du hast ebenfalls gesagt, dass du die letzten Monate in Gefangenschaft verbracht hast“, fing Shikumi an. „Möchtest du uns dazu etwas erzählen?“

Shinichi blickte in seine Tasse mit dem heißen Tee. Sollte er nun die Wahrheit sagen oder lieber alles verschweigen, bis der Inspektor ankam? Hatten sie überhaupt den Inspektor informiert oder war das alles nur Taktik? Er schloss die Augen und wägte jede Entscheidung gründlich ab. Er musste den Polizisten vertrauen, nur so konnten sie die Organisation zur Strecke bringen…auch wenn er nicht die ganze Wahrheit sagen würde.

„Ich war vor sechs Monaten mit meiner Klassenkameradin im Tropical Land. Während einer Achterbahnfahrt, ereignete sich ein Mord, den ich aufklären konnte. Inspektor Megure war auch dabei“, begann der Oberschüler. „Sie können ihn gerne dazu befragen. Ich habe zunächst zwei Männer verdächtigt, etwas mit dem Mord zu tun gehabt zu haben. Es stellte sich aber heraus, dass sie unschuldig waren. Am Abend beobachtete ich einen dieser Männer bei einer Geldübergabe. Ein zweiter Mann schlich sich von hinten an mich an und…schlug mich mit einer Eisenstange nieder“, erzählte er.

Shikumi sah zu Sanada. Dieser nickte. „Was ist danach passiert?“

„Ich bin erst vor einigen Tagen in einer privaten Einrichtung wach geworden. Sie wollten mich nicht gehen lassen und erklärten mir, dass sie meine Eltern dazu gebracht hatten, mich dorthin verlegen zu lassen. Dann gaukelten sie meiner Familie und meinen Freunden vor, dass ich mich nach den Ereignissen zurückziehe. Aber das stimmt nicht“, sagte er energisch. „Sie wollten mich nicht gelesen haben, aber ich bin entkommen und jetzt suchen sie nach mir. Bitte, Sie müssen Inspektor Megure herholen.“

„Kannst du dich daran erinnern, wo diese Einrichtung ist?“

Shinichi nickte und eine Woge der Erleichterung durchströmte ihn. Bei den beiden Polizisten hatte er ein gutes Gefühl und nahm an, sie würden ihm glauben.

Inspektor Sanada räusperte sich. „Laut dem Artikel wurde Shinichi Kudo von seinen Eltern in eine private Einrichtung verlegt. Die Genesung schritt immer weiter voran und schließlich begannen die Reha-Maßnahmen. Danach zog sich der Oberschüler aus der Öffentlichkeit zurück und nahm eine Auszeit.“ Sanada sah zu Shinichi. „Du bist der Sohn von Yusaku Kudo, dem Kriminalautor, nicht wahr?“

Shinichi nickte. „Aber was hat das damit zu tun, was passiert ist?“

„Nun“, begann Sanada. „Ich habe hier parallel etwas über dich recherchiert. Dein Vater nahm dich schon in deiner frühen Kindheit zu verschiedenen Tatorten mit. Mit der Zeit wurdest du auch von der Polizei in beratender Funktion zu Fällen hinzugezogen“, erzählte er. „Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber könnte es nicht sein, dass du schon zu viel Böses gesehen hast, dass du jetzt…“

„Das stimmt nicht“, warf Shinichi sofort ein. „Ich kann die Realität von Fiktion unterscheiden. Und ich weiß, dass ich mir nichts eingebildet habe. Sie müssen mir glauben, ich würde niemals meine Freunde und Familie einfach so im Stich lassen. Und meine Hände…“ Shinichi sah auf seine Handgelenke. „Wie erklären Sie sich die Abdrücke?“

Inspektor Shikumi musterte Shinichi. „Bitte beruhige dich und erzähl weiter. Die Einrichtung in der du aufgewacht bist, hast du dich nicht selbst begeben?“

Shinichi schüttelte den Kopf. „Das sagte ich doch bereits. Meine Eltern haben mich aufgrund von falschen Tatsachen dorthin verlegen lassen“, antwortete der Oberschüler. „Dass was in der Zeitung steht, ist nicht die Wahrheit.“

Shikumi machte sich weitere Notizen. „Wir werden deine Angaben selbstverständlich überprüfen. Kann dich jemand abholen?“

„Nein“, gab der Oberschüler von sich. „Ich möchte meine Familie und meine Freunde nicht in Gefahr bringen.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Mit meinen Erzählungen könnten Sie bereits in die Schusslinie geraten sein. Aber Sie sind Polizisten und können damit umgehen.“

„Danke für dein Vertrauen“, entgegnete Shikumi und stand auf.

Inspektor Sanada sah ihn überrascht an. „Du glaubst ihm?“, fragte er leise.

„Schau ihn dir doch an“, begann der Inspektor. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich das alles nur eingebildet oder einen Albtraum gehabt hat. Und selbst ich habe von Shinichi Kudo – dem Oberschuldetektiv aus Beika – gehört. Er soll wirklich begnadet gewesen sein, allerdings ist er irgendwann von der Bildfläche verschwunden, um sich zu erholen. Wenn er tatsächlich gefangen gehalten wurde, würde dies seine Abwesenheit erklären. Und wenn wir ihm helfen das alles zu beweisen, winkt bestimmt auch eine Beförderung.“

„Mhm…“ Sanada verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun gut, wenn du ihm glaubst, will ich das auch tun“, fügte er hinzu und sah zum Oberschüler.

„Wann möchten Sie endlich Inspektor Megure informieren?“, wollte der Oberschüler wissen. „Ich weiß, dass Sie das vorhin nicht getan haben.“

„Ich übernehme das“, entgegnete Shikumi und ging Richtung Tür. Aber dann blieb er hinter Sanada stehen und schlug diesen nieder. Sanadas Kopf prallte hart auf dem Tisch auf und der Polizist verlor sofort das Bewusstsein.

„Was…was machen Sie da?“, rief Kudo erschrocken und sprang auf.

Shikumi beobachtete den Oberschüler. „Ich weiß leider nicht, wie du aus der Einrichtung entkommen bist, aber du hättest lieber dort bleiben sollen.“

Shinichi schluckte. Sie hatten tatsächlich die Polizei infiltriert – es war nicht nur Gerade um ihn einzuschüchtern. Shinichi sprintete sofort zum Fenster, aber Shikumi war schneller. Er warf den unbefüllten Wasserkocher gegen das Glas und augenblicklich verteilten sich die Scherben auf dem Boden.

Durch den Lärm wurden zwei weitere Polizisten in den Raum gelockt. „Was ist hier…oh mein Gott…“

Shikumi sah zu Shinichi. „Bitte beruhige dich“, fing er an. „Ich weiß, dass du aufgebracht bist und der Überfall damals muss ein Trauma bei dir ausgelöst haben, aber wir sind hier um dir zu helfen.“

„Sie lügen“, kam es sofort von dem Oberschüler. „Sie gehören auch zu ihnen. Sie wollen mich wieder zurück bringen.“ Shinichi sah die anderen beiden Männer an. „Ich habe Ihren Kollegen nicht niedergeschlagen.“ Er wies auf Shikumi. „Er war es.“

Inspektor Shikumi hielt die Hände beschwichtigend nach oben. „Hör zu, Junge, es ist alles in Ordnung. Wir reden einfach weiter, ja? Aber wenn du gehen willst, kannst du gehen. Wir werden uns dir nicht in den Weg stellen.“

Shinichi zögerte. Aber wenn er ging, was sollte er machen? Wem konnte er jetzt noch vertrauen? „Gut. Ich…ich gehe jetzt. Und sie werden mir…nicht folgen.“

Shikumi nickte. „In Ordnung“, antwortete er und beobachtete den Oberschüler.

Langsam machte Shinichi einen Schritt nach hinten und öffnete eines der heilen Fenster. Trotzdem ließ er die drei Männer nicht mehr aus den Augen. „Verfolgen Sie mich bitte wirklich nicht.“

Die Männer beobachteten ihn weiterhin kritisch und als sich Shinichi sicher war, hievte er sich aus dem Fenster. Doch er war dabei unachtsam und Shikumi ergriff die Gelegenheit. Er zog den Oberschüler nach hinten und drückte ihn auf den Boden.

Shinichi zappelte wie wild. „Loslassen. Lassen Sie mich los“, schrie er. „Lieber sterbe ich, als das ich zurück gehe.“

„Ach, Junge“, murmelte Shikumi und legte ihm Handschellen an. „Wir sorgen dafür, dass du die Hilfe bekommst, die notwendig ist“, fügte er hinzu.

„Nein.“

Innerlich schmunzelte Inspektor Shikumi. Das hast du davon, wenn du dich mit uns anlegst, Shinichi Kudo.

Im Labor

Wodka ärgerte sich ungemein über sich selbst und den Fehler, den er gemacht hatte. Warum hatte er dem Oberschüler auch vertraut? Er hatte sich von Shinichi an der Nase herumführen lassen und geglaubt, dass der Junge tatsächlich viel zu geschwächt gewesen war, um einen Fluchtversuch zu unternehmen. Dabei hätte er es eigentlich besser wissen sollen, immerhin führte er zusammen mit einem anderen Mitglied der Organisation die Hintergrundrecherche zum Jungen durch. Aus Wodkas eigener Erfahrung mit den Menschen, die in die Fänge der Organisation gerieten, wusste er, dass man viele mit einfachen Wegen und Mitteln brechen konnte. Deswegen nahm er an, dass dies auch bei dem Oberschüler der Fall war – immerhin war dieser noch unreif und grün hinter den Ohren, vereinfacht gesagt: von Erwachsenen abhängig. Im Nachhinein begann er zu verstehen, dass Shinichi tagelang nur so tat, als wäre er kooperationsbereit. Hätte er früher etwas geahnt, wäre er nicht einfach so in das Badezimmer gelaufen, nachdem die ersten Scherben am Boden lagen. Aber diese Fehleinschätzung würde sich nicht wiederholen, wenn sie ihn wieder gefangen nahmen.

Und warum ließ er sich so einfach über das Ohr hauen? Eigentlich wollte er nicht mehr Bettpfannen wechseln, aber sobald Gin von der Flucht des Oberschülers hören würde, würde er nur noch Bettpfannen wechseln…allerdings erst nachdem er selbst keine mehr brauchen würde. Gins Rache und Wut würde harte Konsequenzen für ihn haben. Wodka seufzte leise auf. In seinem Kopf spielte sich bereits das gesamte Szenario mit Gin ab. Deswegen konnte er seinen Partner noch nicht informieren. Er musste erst den Jungen wieder zurück bringen und würde erst dann die vergangenen Minuten erklären. Er musste schnell sein.

Obwohl Wodka die Tür unverzüglich aufschoss, hatte der Oberschüler bereits seinen Vorsprung ausgebaut. Wodka war sofort nach unten gestürmt und hatte dabei den Alarm ausgelöst. Jede Person der er begegnete, bemühte sich um Normalität und befragte ihn zur Situation. Nach der kurzen Kommunikation wusste er, dass niemand den Oberschüler gesehen hatte. Als er im Erdgeschoss ankam, befragte er sofort das Wachpersonal – aber auch ihre Reaktion war die gleiche gewesen. Wodka biss sich auf die Unterlippe. Die Antworten der Personen konnten nur noch einen Schluss übrig lassen: jemand hatte dem Oberschüler geholfen. Aber wer? Für ihn kam nur eine Person in Frage.

Der Mann in Schwarz zischte verächtlich und zog das Handy aus seiner Jackentasche heraus. Es brachte nichts, er musste Gin informieren.
 

Gin stand an der Wand, hatte die Arme verschränkt und beobachtete Shiho bei der Arbeit. Die Wissenschaftlerin befüllte ein Zentrifugenglas mit dem Blut von Shinichi Kudo und fügte diesem einige Brösel APTX 4869 hinzu. Anschließend beschriftete sie das Glas mit Angabe der Menge des Giftes und stellte dieses in die Zentrifuge. Augenblicklich fügte sie ein Glas mit Wasser als Gegengewicht in die gegenüberliegende Öffnung hinzu. Shiho wiederholte diese Prozedur solange, bis sie alle Blutproben mit verschiedenen Konzentrationen an APTX 4869 versetzt hatte. Als sie fertig war, schloss sie das Gerät und stellte die gewünschte Drehzahl sowie die Laufzeit ein. Das Gerät machte während seiner Arbeit kaum Geräusche.

„Wozu soll das gut sein?“, wollte Gin wissen.

Shiho drehte sich zu ihm um. Seit frühster Kindheit hatte sie gewusst, wie man unter Druck zu arbeiten hatte und sich immer wieder erfolgreich diesen Situationen gestellt. Aber Gin war eine Persönlichkeit für sich. Sein kaltes Auftreten und seine Art und Weise Fragen zu stellen, machten es für sie nicht leichter. Manchmal hatte sie das Gefühl, er stellte absichtlich die gleichen Fragen um in Erfahrung zu bringen, ob sie log.

Für sie war es der klare Beweis, dass das Vertrauen der Organisation in sie noch immer nicht gefestigt war. Lag es an Akemis kurzer Vergangenheit mit Akai? Oder hatte die Organisation ihr noch nie vertraut? Aber warum? Sie hatte ihnen nie einen Grund zum Zweifeln gegeben. Sie arbeitete immer wild und hart daran, den Wünschen und Aufgaben der Organisation zu entsprechen und hatte nicht einmal ein Privatleben. Anstatt es ihr zu danken, behandelten sie sie wie eine Gefangene in ihrem eigenen Labor. „Ich möchte die Auswirkungen von APTX 4869 auf das Blut von Shinichi Kudo überprüfen. Zu diesem Zweck habe ich sein Blut mit verschiedenen Mengen des Giftes versetzt. Besser wäre natürlich gewesen, wir hätten sein Blut gehabt, bevor er das Gift eingeflößt bekam…“

„Bringt die Untersuchung jetzt irgendwas?“

„Natürlich“, rechtfertigte sich Shiho. „Wenn draußen noch mehr Menschen herumlaufen, die APTX 4869 überlebt haben, können wir erste Indizien erhalten, wie sie auf eine weitere Gabe reagieren. Es ist aber auch möglich, dass sich eine Immunität eingestellt hat, was eine weitere Gabe als sinnlos erscheinen lässt. Wenn ich auf dieser Grundlage das Gift weiterentwickle, kann ich überprüfen welchen Einfluss das Blut noch hat. Vielleicht kreieren wir dann noch ein viel besseres Gift. Und ich könnte die Tests auch noch auf andere Medikamente ausweiten. Wenn wir es geschickt anstellen, könnten wir ein Antidot herstellen, welches die Menschheit noch nicht gesehen hat. Halten wir uns an das Gesetz könnten wir dieses neue Produkt in einigen Jahren auf dem Markt anbieten und uns auf eine ganz andere Nische fokussieren. So etwas ist eigentlich nicht ungewöhnlich. Oft werden Durchbrüche erreicht, wenn man sich die Fehler, Abbauprodukte oder Nebenprodukte ansieht.“

„Damit könnten wir unsere Geschäfte weiter finanzieren. Und während die Welt denkt, wir tun Gutes…“, grinste Gin. „Mir gefällt wie du denkst.“

Shiho hatte nicht an das Geld gedacht, aber ihre Formulierung so gewählt, damit Gin die Schlussfolgerung selbst ziehen würde. Und mit etwas Glück, würde sie damit ihre Forschung und ihr Leben retten. „Es dauert aber, bis wir an diesem Punkt sind. Unter zwei Jahren kann ich nichts versprechen.“

„Verstehe“, gab der Mann in Schwarz von sich. „Solange du dich auch weiterhin auf deine andere Arbeit konzentrierst, sollte dem nichts entgegen stehen. Ich rede mit dem Boss…“

Shiho nickte. „Wie läuft es mit dem Oberschüler?“

„Mhm? Wieso interessiert dich das?“

„Wissenschaftliche Neugier“, antwortete Shiho.

Gin schmunzelte. „Er gewöhnt sich an sein Leben als Gefangener. Versuch hier aber nicht auf Zeit zu spielen. So wichtig ist uns sein Blut dann doch nicht.“

Shiho schluckte. „Mach dir darum keine Gedanken. Der Junge hat sich seine Probleme selbst eingebrockt“, versuchte sie möglichst herzlos zu klingen. Dabei hatte sie bereits Mitleid mit ihm.

„Hast du etwa Mitleid mit ihm?“

Konnte Gin ihre Gedanken lesen? „Und wenn schon“, gab sie von sich. „Das ändert nichts an meiner Arbeit. Oder siehst du das anders?“

„Ganz im Gegenteil.“ Als Gins Handy klingelte, holte er es aus der Manteltasche und sah auf das Display. Er verdrehte die Augen und nahm das Gespräch entgegen. „Halte dich kurz.“

„Kudo ist abgehauen.“

„Was?“, zischte Gin. „Wie ist das passiert?“

„Ich…ich habe ihn kurz ins Badezimmer gehen lassen und dann…hat er mich überrumpelt.“

„Du Idiot!“

„Aniki…“, begann Wodka. „…ich habe ihn sofort verfolgt, aber…er war so schnell verschwunden, dass ich glaube, dass er hier einen Komplizen hat.“

Gin war still.

„Aniki?“

„Rede weiter.“

„Ich glaube, es ist die Wissenschaftlerin, Sherry. Sie muss ihm geholfen haben“, sagte Wodka. „Sie hatte bestimmt Mitleid mit ihm.“

Gin schmunzelte. „Nein, sie hat nichts damit zu tun.“ Demonstrativ sah er die junge Frau an. „Wir beobachten sie seitdem sie mit dem Bengel Kontakt hatte.“

Shiho schluckte, kümmerte sich dann aber um den fertigen Zentrifugentest. Nach und nach nahm sie jedes Glas heraus, schaute es an, machte sich eine kurze Notiz und stellte es wieder zurück an seinen Platz.

„Sie war heute den ganzen Tag brav in ihrem Labor und hat gearbeitet“, fügte er hinzu. „Davon konnte ich mich selbst überzeugen.“

„Eh…das wusste ich nicht“, murmelte Wodka betroffen. „Dann hat er bestimmt einen anderen Komplizen.“

Gin verdrehte abermals die Augen. „Mit wem hat er Kontakt?“

Wodka überlegte. „Mit…“ Er hielt inne. „Mir…aber ich hab ihm nicht geholfen…äh…ich weiß, was du jetzt denkst, Aniki. Aber ich ließ mich wirklich von ihm überrumpeln. Du musst mir glauben, Gin, ich würde die Organisation niemals verraten. Vielleicht war es ein Pfleger? Oder einer der Ärzte?“

„Jetzt krieg dich wieder ein und mach dir nicht in die Hose. Wir achten darauf, dass das Personal ständig wechselt, damit er niemanden seine Geschichte erzählen kann“, entgegnete Gin genervt. „Wie schnell war er verschwunden?“

„Der Bengel hat mich im Badezimmer eingesperrt, es waren nur ein paar Minuten. Als ich draußen war, habe ich ihn sofort verfolgt und Alarm ausgelöst. Das Wach- und Pflegepersonal hat ihn nicht gesehen. Es müssten so…maximal 20 Minuten gewesen sein.“

„Ist das Gebäude weiterhin abgeriegelt?“

„Ja, ich bin gerade dabei die Sperre aufzuheben.“

„Stopp!“

„Aniki…“, murmelte Wodka verwundert.

„Das Blag kennt sich im Gebäude nicht aus und kann daher nicht so schnell entkommen sein“, begann Gin. „Hast du in jedem Zimmer nachgesehen, jeden Schrank geöffnet und unter jedem Bett nachgeschaut?“

„Eh…“, gab Wodka leise und betroffen von sich. „Nein“, gestand er anschließend und ärgerte sich, dass er nicht auch auf diese Idee kam.

„Dann tu das gefälligst.“ Gin verengte die Augen. „Wenn ich er wäre, würde ich mich irgendwo verstecken und warten, bis sich mir eine Fluchtmöglichkeit bietet.“

„Daran hab ich gar nicht gedacht…Du hast natürlich Recht, Gin. Ich kümmer mich sofort um die Suche.“

Gin verdrehte ein weiteres Mal die Augen. Wäre Wodka der Organisation gegenüber nicht so loyal, hätten sie sich ihm bereits entledigt. Aber einen guten Hund sollte man nie zu früh abschreiben. „Falls der Bengel doch abgehauen ist, sag dem Pflegepersonal, dass sie eine Suchanzeige an die örtliche Polizei schicken sollen.“ Gin grinste. „Einem geistig verwirrten Jungen wird niemand glauben schenken.“

Wodka lächelte, als wäre es seine Idee. „Das mach ich, sofort. Ich melde mich später, Aniki.“

Gin beendete das Gespräch und steckte das Handy zurück in die Manteltasche.

„Schlechte Nachrichten?“

„Hast du gelauscht?“

„Du hast so laut gesprochen, dass ich nicht lauschen musste“, antwortete Shiho. „Kudo ist also abgehauen?“

„Sieht so aus. Mal sehen, ob wir den kleinen Racker finden.“ Gin lächelte. Die Jagd war eröffnet und er würde sich sehr bald dazu gesellen.

„Ihr müsst mich nicht beobachten“, begann die Wissenschaftlerin. „Es gibt keinen Grund, warum ihr an mir zweifeln müsstet. Habe ich euch das nicht bereits mehrfach bewiesen?“

„Lass das mal unsere Sorge sein“, entgegnete Gin und bewegte sich auf die Tür zu. „Ich komm dich bald wieder besuchen“, fügte er hinzu und verschwand.

Eine Gänsehaut legte sich auf Shihos Körper und sie ging an das Fenster. Die Wissenschaftlerin biss sich auf die Unterlippe. „Was soll ich nur machen, Akemi?“, wollte sie leise wissen.
 

Shikumi stand auf dem Flur und wählte die Nummer von Gin. Sicherheitshalber sah er sich noch einmal um. Es klingelte dreimal, ehe das Organisationsmitglied den Anruf entgegen nahm.

„Was gibt es?“, wollte Gin direkt wissen.

„Shinichi Kudo kam vor wenigen Minuten ins Revier“, begann er. „Woher wusstest du, dass er uns nach seinem Fluchtversucht aufsuchen wird?“

Gin schmunzelte. „Der Junge spielt gern Detektiv, da war es nur eine Frage der Zeit, bis er einen Fluchtversuch unternimmt“, fing Gin an und ging zu seinem Wagen. „Er wird seine Familie und Freunde nicht in Gefahr bringen wollen und bis er in Beika ist, vergeht zu viel Zeit. Daher war es logischste Schlussfolgerung, dass er das nächstgelegene Revier aufsuchen wird.“ Gin öffnete die Wagentür und setzte sich rein. „Ich hätte bei ihm viel eher mit einem Fluchtversuch gerechnet.“

„Du hörst dich so an, als hättest du Spaß…“

„Es ist lange her, das mich jemand das letzte Mal herausgefordert hat. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass er es uns nicht leicht machen wird“, entgegnete Gin. „Und mit seiner Beute zu spielen, erhöht die Genugtuung, wenn man sie geschnappt hat.“

Shikumi runzelte die Stirn. „Ich habe ihn in mein Büro gebracht und die Befragung zusammen mit meinem Partner durchgeführt. Danach habe ich wie angeordnet meinen Kollegen niedergeschlagen und es so aussehen lassen, als wäre Kudo der Täter. Wir brauchen aber so schnell wie möglich eine Vermisstenmeldung, damit sich keiner über die Handlung des Jungen wundert. Ich mache mir Sorgen, dass…“

„Die Meldung wird in wenigen Minuten eingehen. Wo ist der Junge jetzt?“

Shikumi schluckte. „Er ist in einer Ausnüchterungszelle. Wir warten, dass er wieder zu sich kommt…er hat sich so sehr gewehrt, dass ich ihn mit einem Schlag in den Bauch ausknocken musste.“

„Sorg dafür, dass er weiterhin den Mund hält. Wir können uns Zweifler in deinem Revier nicht leisen. Und was deinen Kollegen angeht…“

„Um den kümmer ich mich. Mach dir keine Sorgen, er wird mich nicht verraten“, antwortete Shikumi. „Sobald die Meldung da ist, werde ich den Transport zurück in die Einrichtung anordnen.“

Vor einer Woche - Besuch

Jodie blickte während der gesamten Fahrt aus dem Fenster. Sie hatte schon fast vergessen, wie manche Gebiete in Tokyo bei Nacht aussahen. In New York war es meistens immer hell – selbst nachts. Die junge Frau lächelte und die Fahrt hatte etwas Beruhigendes für sie. Vor allem da die vergangene Woche nicht gerade einfach für Jodie gewesen war. Da die Organisation von ihrer Anwesenheit in Japan wusste, verließ sie ihr Hotel nur dann, wenn es nicht anders ging. Das bedeutete aber auch, dass sie ihrem Freund wieder einmal nur aus der Entfernung helfen konnte. Eigentlich hatte sich Jodie ihren Aufenthalt in Japan anders vorgestellt. Sie wollte nicht in ihrem Hotelzimmer sitzen, Recherche betreiben und das Gefühl haben, dass alles nur eine Beschäftigungstherapie war.

Ihr war von Anfang an bewusst gewesen, dass Shuichi über ihr Auftauchen in Tokyo nicht besonders glücklich war. Aber lag es nur daran, weil er sich Sorgen um sie machte oder ging es um etwas Anderes? Wenn Jodie ehrlich war, fand sie die Treffen zwischen Akemi und Shuichi nicht gut. Akemi hatte man damals ihre Gefühle bereits angesehen und wer wusste schon, ob sie sich wieder Hoffnungen machte? Auch wenn die Beiden verwandt waren, wäre eine solche Beziehung nicht verboten. Und auch wenn Akemi ebenfalls für die Organisation arbeitete, war sie bei weitem unschuldiger und aufrichtiger als Jodie. Die Amerikanerin seufzte leise auf. Jetzt wo Akemi wieder im Spiel war, fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben Unsicherheit, aber sie wusste, wenn sie zu sehr klammerte, würde sie ihn verlieren. Jodie schloss langsam ihre Augen und lehnte ihre Stirn auf die kalte Scheibe. Sie ließ ihre Ankunft in Tokyo noch einmal Revue passieren.

Nachdem Amuro mit der unbekannten Frau verschwunden war, lief Jodie ihnen hinterher. Sie kam allerdings nicht weit, da sie in eine Gasse gezogen und gegen die Wand gedrückt wurde. Die fremde Hand auf ihrem Mund vervollständige das Klischee eines Überfalls oder einer Falle. Und obwohl sich Jodie zur Wehr setzen wollte, reagierte ihr Körper nicht – so als hätte sie geahnt, wem sie gegenüber stand. Erst als Jodie ihren Kopf hob, um ihrem Peiniger ins Gesicht zu sehen, erkannte sie ihren Freund. Sie hätte sich in seinen tiefgrünen Augen und seinem durchdringenden Blick verlieren können. Wie auch damals. Endlich überkam sie wieder das Gefühl von Geborgenheit.

Doch dann schossen ihre mehrere Gedanken durch den Kopf. Sie kannte Chris seit sie ein kleines Mädchen war und wusste, dass es für die Schauspielerin ein leichtes gewesen wäre seinen Platz einzunehmen. Andererseits hatte Jodie durch eine sehr gute Quelle erfahren, dass Chris immer noch in New York war und sich auf die Buchverfilmung vorbereitete. Einem anderen Mitglied der Organisation traute sie ein derartiges Schauspiel nicht zu. Also blieb nur eine Schlussfolgerung: Der Mann vor ihr war tatsächlich Shuichi Akai.

Akai beobachtete sie und nahm langsam seine Hand von ihrem Mund. Sofort schmiegte sich Jodie an ihren Freund und lächelte. Er roch genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Langsam schloss Jodie ihre Augen und genoss für einen kurzen Moment das Glücksgefühl ihres Wiedersehens. „Dir geht es gut“, wisperte sie leise.

Shuichi nickte. „Was machst du hier? Ich dachte, wir waren uns einig, dass du in New York bleibst und dich mit der Produktion des Buches auseinandersetzt.“

Jodie schluckte. Mit einer solchen Begrüßung hatte sie nicht gerechnet, weswegen sie sich von ihm löste. Sie sah auf den Boden. „Ich…“, begann sie leise. „Ich war bei dem Meeting mit dem Produzenten und Chris…sie wusste, dass du hier bist…ich hab…mir einfach Sorgen um dich gemacht…deswegen habe ich James gebeten, dass ich herkommen kann.“

„Gebeten?“, wollte Shuichi wissen. „Du hast ihm doch keine andere Wahl gelassen. Ich sage nur: Kündigung?“, fügte er hinzu und ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Du weißt doch, dass du dir keine Sorgen um mich machen musst. Ich kann auf mich aufpassen.“ Shuichi zog sie sofort wieder in seine Arme.

„Das weiß ich“, murmelte Jodie. „Aber ich wusste, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann und immer daran denken werde, dass die Organisation weiß, dass du hier bist…also bin ich hergekommen.“ Jodie atmete tief durch. „Ich habe Black und Camel gebeten, dir nichts zu sagen, damit du dir nicht auch noch Sorgen machst. Ich wollte eigentlich erst aus dem Hintergrund zu sehen und mich dann bei dir melden, aber scheinbar fand James die Idee nicht so gut.“

Shuichi löste sich wieder von ihr. „Du musst ihn verstehen. Keiner von uns will, dass du wieder in die Fänge der Organisation gerätst. Wir wissen alle, dass sie dich dieses Mal nicht am Leben lassen.“

„Ich kann auch auf mich aufpassen.“

„Das weiß ich doch“, sagte Shuichi. „Trotzdem hast du ein Händchen dafür den falschen Männern in die Arme zu laufen…“, fügte er scherzend hinzu.

Jodie ließ den Kopf hängen. „Erinner mich nicht daran…das ist keine Absicht.“ Jodie sah ihn kritisch an. „Hast du mich seit dem Flughafen beobachtet?“

„Natürlich. Black hat mir deine Flugdaten geschickt und ich musste sichergehen, dass die Organisation nicht hinter dir her ist. Ich wollte dir erst einmal Zeit lassen, um hier richtig anzukommen. Und jetzt komm, ich unterhalte mich ungern in einer Gasse. Man weiß nie, wer zuhört“, sprach er und zog Jodie an der Hand hinter sich her.

„Nicht so schnell“, murmelte sie und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Als sie nach einigen Minuten bei seinem Wagen ankamen, stieg sie ein und legte den Sicherheitsgurt um sich.

Shuichi nahm auf der Fahrerseite Platz. „Jodie, ich will ehrlich zu dir sein, ich mach mir Sorgen um dich, wenn du hier bist. Das schreit nach einer Falle…jetzt haben sie uns Beide an einem Ort versammelt“, begann er. „Mir wäre es lieber, wenn du wieder zurück nach New York fliegst.“

Jodie schluckte. „Shu, ich…“ Sie brach ab und sah zur Seite.

„Dachte ich mir“, seufzte er. „Dann machen wir das Beste aus der Sache.“

„Amuro…er hat mich gesehen und…er weiß auch, dass du hier bist.“

„Ich weiß“, antwortete Shuichi und fuhr los. „Ich hab dir doch erzählt, dass Akemi durch einen Zufall die Forschungsergebnisse ihrer Schwester gesehen hat und sich bestätigen ließ, dass diese an einem Gift arbeitet. Es gibt auch jemanden, der das Gift überlebt hat. Sie betiteln ihn als Probanden und wollen die weiteren Forschungen an ihm durchführen. Akemi hat leider nicht viel mehr in Erfahrung bringen können. Ihre Schwester schweigt sich zu den Vorfällen aus. Akemi kennt Amuro seit ihrer Kindheit, sie waren befreundet und haben sich in der Organisation wiedergetroffen. Deswegen konnte sie ein Treffen mit ihm ausmachen und ich bin dazu gekommen.“

„Was?“ Jodie weitete die Augen. „Du hast mir doch erzählt, dass Amuro in Wahrheit für die Sicherheitspolizei tätig ist und Akemi wusste das die ganze Zeit? Warum hat sie ihn nicht sofort um Hilfe gebeten?“

„Sie wusste es nicht“, warf Shuichi ein. „Sie kannte ihn damals nur unter seinem Spitznamen und sie weiß immer noch nicht, dass er auch ein Spitzel ist. Wir lassen sie in dem Glauben, dass Amuro noch etwas bei mir gut hat.“

Jodie schluckte. „Und warum…glaubst du, er würde euch helfen?“

„Sein bester Freund wurde von der Organisation getötet, er war ebenfalls ein Spitzel und genau so lange für sie tätig, wie Amuro damals. Die Organisation hat vor einem Jahr jedes ihrer Mitglieder noch einmal überprüft. Amuro hatte Glück, aber er weiß auch, dass die momentane Beweislage gegen die Organisation nichts bringt. Er muss näher in ihren inneren Kreis und dafür möchte er mich ausliefern. Auf der anderen Seite will er aber auch das Leben von unschuldigen Menschen retten. Deswegen kooperiert er vorerst mit mir.“

„Verstehe“, gab Jodie von sich. „Aber vorhin im Gespräch sagte er, er wüsste nicht, was wir planen…merkwürdig…“

„Das kann sein, weil er nicht mit deiner Anwesenheit gerechnet hat. Vielleicht glaubt er, wir wollen ihn übers Ohr haben.“

„Das macht Sinn. Und…Akemi? Wie liefen die Treffen mit ihr?“

„Es gab nicht so viele davon. Wir müssen aufpassen, dass uns die Organisation nicht auf die Schliche kommt. Es geht ihr aber soweit gut und es tut ihr leid, dass sie mich in die Sache involvieren musste“, entgegnete er.

„Hast du ihr…erzählt, dass ihr…du weißt schon?“

Shuichi schüttelte den Kopf. „Das will ich erst machen, wenn wir ihre Schwester befreit haben. Shiho hat bis vor sechs Monaten in einem Labor gearbeitet, es ist allerdings gut bewacht. Seit es den Überlebenden gibt, war sie in einer anderen Einrichtung tätig und auch dort geht die Organisation ein und aus. Es wird schwer sein dort einzudringen oder Informationen zu beschaffen.“

„Also stehen wir bei null?“, wollte Jodie wissen.

„Ja.“

„Wir sind da.“

Jodie wurde aus ihren Gedanken gerissen und öffnete die Augen. Sie sah sich in der Wohngegend um. „Nett…“, murmelte sie. „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Bin ich“, antwortete Shuichi und stellte den Motor aus. „Wir müssen aber noch ein paar Meter gehen.“

„Das dachte ich mir schon“, entgegnete Jodie mit einem Lächeln. Immer wenn er an einem Fall arbeitete, parkte er lieber weiter weg und sah sich die Gegend zunächst einmal an. „Ich bin froh, dass wir endlich einen Namen haben und ich das Hotelzimmer verlassen kann.“

Shuichi nickte. „Es wurde auch langsam Zeit, dass Amuro etwas in Erfahrung bringt.“

Jodie löste den Sicherheitsgurt. „Was wissen wir über diesen Probanden? Du hast dich bisher ausgeschwiegen um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.“

„Sein Name ist Shinichi Kudo, er war zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Nie von ihm gehört…“

„Kein Wunder, er ist noch ein Kind, welches gern Detektiv spielt.“

„Ein Kind?“

„Genauer gesagt, ein Oberschüler. Seine Mutter heißt Yukiko Kudo und ist Schauspielerin. Sie kannte Sharon Vineyard“, erzählte er. „Sein Vater ist Yusaku Kudo, er ist Kriminalbuchautor und war mal Berater bei der hiesigen Polizei. Der Junge wurde wohl schon in der Vergangenheit zu Tatorten mitgenommen und hat daher einen Drang sich überall einzumischen. Seine Eltern leben normalerweise in New York…frag mich nicht, wie er es geschafft hat, dass sie ihn hier alleine wohnen lassen…“ Shuichi verdrehte die Augen.

„Bist du nicht auch sehr früh alleine nach New York gegangen?“

„Das war was anderes“, gab Akai von sich und stieg aus dem Wagen. „Ich war älter und wusste, was ich tu. Der Junge mischt sich aber in alles ein und hat keine Angst vor den Konsequenzen.“

„Bist du sicher, dass sie nicht zur Organisation gehören? Das klingt gerade sehr danach und nur weil ich sie nicht kenne, muss das nichts heißen.“

„Sicher kann man nie sein“, entgegnete Akai ruhig. „Aber ich habe entsprechende Maßnahmen ergriffen, sollten sie sich als Feind entpuppen.“

„Das heißt, seine Eltern sind nicht mehr in New York?“

„Das ist richtig, sie sind mittlerweile wieder in Tokyo und in ihr Haus zurück gekehrt.“

Jodie wurde hellhörig. „Das ist merkwürdig…so als würden sie sich gar keine Sorgen machen.“

„Ich hatte zwar nicht viel Zeit um zu recherchieren, aber wie es scheint, hatte der Junge vor sechs Monaten eine unangenehme Begegnung und lag eine Weile im Koma. Nach der Reha entschied er sich eine Auszeit zu nehmen. Wenn du mich fragst, wussten seine Eltern, dass irgendwas nicht stimmt und haben nur für die Öffentlichkeit den Schein gewahrt.“ Shuichi sah sich um. „Hier entlang“, sagte er und marschierte los.

Jodie folgte ihm. „Und was hast du jetzt vor?“

„Wir reden mit den Kudos. Ich hab mit ihrem Nachbarn gesprochen, damit sie mich nicht für einen Reporter oder Schnüffler halten. Der Nachbar hat ein gutes Wort für uns eingelegt. Ich bin gespannt, was sie uns zu sagen haben“, sagte Shuichi und ging weiter.

„Das bin ich auch“, gestand Jodie und sah sich um. „Äh…bist du sicher, dass sie hier wohnen? Die Gegend sieht sehr…reich aus.“

„Die Kudos wohnen in einer Villa“, erklärte Shuichi. „Ich hab mir die Gegend bereits vorab angesehen, du musst also keine Angst haben.“

„Ich hab keine Angst.“

Shuichi schmunzelte. „Das wollte ich hören“, gab er von sich und betrat das Grundstück. „Sieht nicht verdächtig aus…“

Jodie nickte. „Wie fast alles, was sich im Besitz der Organisation befindet.“

„Dann wollen wir mal“, entgegnete der FBI Agent und betätigte die Türklingel.

Wenige Minuten später wurde die Tür geöffnet und Yusaku Kudo musterte seine beiden Gäste. „Ja, bitte?“

„Ich bin Shuichi Akai, das ist Jodie Starling“, stellte er sie vor. „Wir sind heute Abend verabredet.“

Yusaku nickte. „Kommen Sie doch rein. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“

Vor einer Woche - Wahrheit

„Ich würde lieber zu einer Tasse Kaffee tendieren“, begann Shuichi und sah zu Jodie. „Du auch?“

Die junge Amerikanerin nickte und versuchte sich ihre Irritierung über das Angebot nicht anmerken zu lassen. Welcher Vater blieb so ruhig, wenn der eigene Sohn gefangen gehalten wurde? Oder glaubten sie tatsächlich, dass der Junge nur eine Auszeit nahm? Jodie folgte ihrem Freund in das Innere des Hauses und sah sich um. Die Wohnung, die sie mit Shuichi bezog, passte mindestens dreimal in das Innere und dabei wusste sie nicht einmal, wie die anderen Räume aussahen.

„Gehen wir doch ins Wohnzimmer“, sagte Yusaku und brachte seine Gäste in den besagten Raum. „Yukiko, unsere Gäste sind da.“

Die Frau stand auf. „Bitte setzen Sie sich doch.“ Sie sah zu Yusaku. „Hast du unseren Gästen schon Tee angeboten?“

„Sie bevorzugen Kaffee. Kümmerst du dich bitte darum?“

„Dauert nur einen kurzen Moment“, entgegnete die Schauspielerin und verschwand.

Jodie setzte sich auf das Sofa. „Sie haben ein schönes Haus“, begann sie.

„Danke“, antwortete Yusaku. „Den Großteil hat meine Frau eingerichtet“, fügte er hinzu und setzte sich. „Nur die Bibliothek, die auch mein Arbeitszimmer wiederspiegelt, lag in meiner Hand. Vielleicht führt Sie meine Frau nachher durch die Räume.“

„Redet ihr über mich?“ Yukiko kam mit einem Tablett auf dem vier Tassen, eine Dose Zucker und eine Kanne Milch standen, zurück. Sie hatte den Kaffee sowie den Tee bereits einige Minuten zuvor aufgesetzt und warm gehalten. Yukiko stellte jedem seine entsprechende Tasse hin und nahm neben ihrem Mann Platz.

„Lassen Sie uns doch ehrlich miteinander sein. Ich weiß, dass Sie für das FBI arbeiten“, begann Yusaku.

Shuichi schmunzelte. „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie mich wiedererkannt haben.“ Er sah zu Jodie. „Wir haben uns vor etwa drei Jahren kurz bei einem Fall getroffen. Selbstverständlich erinnert sich ein Mann wie Yusaku Kudo noch nach so langer Zeit an mich.“

Der Schriftsteller nickte. „Auch wenn Sie sich optisch ein wenig verändert haben, wusste ich sofort, wer vor mir steht. Allerdings war ich überrascht, dass Sie in Japan sind und dann ausgerechnet noch mit mir reden wollten.“

„Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet.“

„Aber warum haben Sie zuerst das Gespräch mit Professor Agasa gesucht?“, wollte Yukiko wissen.

„Zum einen wollte ich nicht, dass Sie mich abweisen und zum anderen gehörte es zu meiner Recherche“, antwortete Shuichi. „Ich brauchte ein paar Hintergrundinformationen, ehe ich mit Ihnen reden wollte. Außerdem half es mir, die Gegend zu erkunden.“

„Das kann ich gut verstehen“, gab Yusaku von sich. „Es geht bestimmt um unseren Sohn…“

Shuichi nickte. „Ich habe gelesen, dass Ihr Sohn vor etwa sechs Monaten im Tropical Land niedergeschlagen wurde und eine Weile im Koma lag. Mittlerweile scheint er sich aber erholt und sich aus der Öffentlichkeit zurück gezogen haben. Laut meinen Informationen hat er auch alle anderen Kontakte auf ein Minimum reduziert. Nun ja, sagen wir es mal so: seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Das finde ich sehr merkwürdig, wenn man an die Schulpflicht denkt.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß, Ihr Sohn ist sehr intelligent und hat sich als Detektiv auch einen gewissen Namen gemacht. Dennoch wundert es mich, dass die Schule einfach so mitspielt. Daraus schlussfolgere ich, dass Sie etwas verheimlichen.“

„Das haben Sie wirklich gut erkannt“, entgegnete Yusaku ruhig. „Nun, was soll ich Ihnen sagen…die Schule hat keine Bedenken, wenn unser Sohn ein paar Unterrichtsstunden verpasst. Shinichi kann die verlorene Zeit sicher schnell aufarbeiten.“

Shuichi verengte die Augen. „Das heißt, Sie gehen nicht davon aus, dass er nebenbei die Unterrichtsstunden nacharbeitet“, fasste der FBI Agent zusammen. „Sie wollten am Anfang Ehrlichkeit, dann seien wir doch auch jetzt ehrlich zueinander.“ Shuichi beugte sich nach vorne. „Ich glaube, dass Ihr Sohn nach der Tat im Tropical Land entführt wurde und Sie zum Schein die Geschichte mit der Auszeit initiiert haben, damit keiner sein Verschwinden in Frage stellt.“

Yusaku runzelte die Stirn. „Sie haben wirklich eine sehr gute Auffassungsgabe, Agent Akai“, begann er. „Was erwarten Sie jetzt von mir?“

„Die Wahrheit“, sagte Shuichi. „Sie müssen nichts verstecken oder ausschmücken. Ich kann mir in etwa denken, wer dafür verantwortlich ist.“

Yukiko blickte auf den Boden. „Sie haben Recht“, murmelte sie leise. Eine Last fiel von ihren Schultern. Endlich konnte sie mit einer anderen Person – als ihren Mann – über Shinichis Schicksal sprechen.

„Yukiko!“

„Ist schon gut, Yusaku“, fing sie leise an. „Warum sollen wir die Wahrheit verschweigen, wenn er bereits weiß, was passiert ist?“

Yusaku seufzte. „Sie haben Recht. Shinichi wurde nach dem Überfall in ein Krankenhaus eingeliefert. Als seine Eltern wurden wir selbstverständlich informiert und haben uns unverzüglich auf den Weg gemacht. Wir wohnen in New York und Sie können sich sicherlich vorstellen, wie lange ein Flug dauert. Aus diesem Grund kamen wir zu spät. Jemand, der sich als meine Frau ausgab, hat ihn verlegen lassen. Parallel dazu erhielten wir die Nachricht, dass wir nicht weiter nach ihm suchen sollen.“

„Aus Sorge um Shinichi haben wir für die Öffentlichkeit mitgespielt“, fügte Yukiko hinzu. „Allerdings haben wir schon da geplant, nicht zurück nach New York zu fliegen. Und so kam es, dass wir wenige Tage später zu einem Treffen mit Chr…“ Yukiko räusperte sich. „…zu einem Treffen eingeladen wurden.“

„Mit Chris Vineyard“, meldete sich nun auch Jodie zu Wort.

„Woher…“ Yukiko schluckte.

„Ich kenne sie und ich weiß, dass sie sehr gut in andere Rollen schlüpfen kann“, fing Jodie an. „Wir wissen, dass Sie früher einmal mit ihrer Mutter Sharon Vineyard befreundet waren.“

Yukiko nickte. „Wir nahmen zusammen bei einem Magier Unterricht um uns besser in bestimmte Rollen einzufinden. Sharon hat diese Fertigkeit so sehr perfektioniert, dass man nicht mehr wusste, ob die echte Person vor einem stand oder Sharon. Das hat sie an ihre Tochter weitergegeben. Nach Sharons Tod hatte ich nur noch wenig Kontakt mit Chris. Ich hätte nie gedacht, dass sie…das sie mit solchen…Leuten zusammen arbeitet…“

„Was ist bei dem Treffen passiert? Und wo haben Sie sich getroffen?“

„Wir haben uns in einem Restaurant getroffen. Sie wollte, dass ich alleine komme, deswegen wartete Yusaku auch im Wagen“, fing sie an. „Im Restaurant wartete sie in Verkleidung meines Mannes. Nach meinem ersten Schock habe ich mich zu ihr gesetzt. Sie hat mir erzählt, dass es Shinichi gut geht und wir nicht weiter nachforschen sollen, ansonsten…“

„Ansonsten passiert etwas Schlimmes?“, fragte Akai nach.

Yukiko nickte. „Während des Essens hat sie mir unterschwellig mitgeteilt, dass unsere Handlungen beobachtet werden und wir Shinichi in Gefahr bringen, wenn wir versuchen ihn zu finden oder zu befreien.“

„Also haben sie nichts getan?“, wollte Jodie erstaunt wissen.

„Was? Nein, natürlich nicht“, gab Yusaku von sich. „Selbstverständlich haben wir versucht, ihn zu finden. Wir mussten aber sehr vorsichtig sein, damit sie uns nicht auf die Schliche kommen oder denken, sie wären in Gefahr. Deswegen konnten wir auch unsere Freunde bei der Polizei nicht informieren.“

„Und konnten Sie etwas herausfinden?“

„Mhm…“ Yusaku verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe das Gefühl, dass dieses Treffen sehr einseitig verläuft.“

Shuichi schmunzelte. „Bitte verzeihen Sie, aber ich musste zuerst sicher gehen, dass Sie nicht auch zu ihnen gehören.“

„Zu ihnen…“, murmelte Yusaku verächtlich „Wie könnte ich nur…diese Menschen haben kein Gewissen, wenn sie das einem Oberschüler antun. Moment, heißt das, sie sind schon länger an dieses Gruppierung dran?“

„Wie man es nimmt“, sagte Shuichi. „Wir haben sie bereits seit einigen Jahren im Visier. Leider sind sie hauptsächlich hier in Japan aktiv, allerdings konnten wir auch in den Staaten einige ihrer Mitglieder ausfindig machen“, fügte er hinzu.

„Deswegen sind Sie also hier?“

„Ich wurde um Hilfe gebeten“, erzählte der FBI Agent. „Und dabei bin ich auf die Spur Ihres Sohnes gekommen.“

„Shu?!“

Er sah zu Jodie. „Mhm?“

Jodie beugte sich zu ihm. „Bist du sicher, dass du ihnen alles erzählen willst?“, wollte sie leise wissen.

Akai nickte. „Mach dir keine Sorgen, ich habe genug gehört für eine Einschätzung der Beiden. Ich glaube nicht, dass sie für die Organisation arbeiten“, flüsterte er. „Und falls doch, habe ich bereits einen Plan und Maßnahmen ergriffen.“

Jodie sah ihn erstaunt an, musste dann aber lächeln. „Typisch“, murmelte sie.

Shuichi wandte sich wieder an die Kudos. „Entschuldigung.“ Er räusperte sich. „Wo war ich? Ach ja, eine Bekannte bat mich um Hilfe. Ihre Schwester arbeitet in der Einrichtung in der sich Ihr Sohn gerade befindet.“

Yusaku weitete die Augen. „Sie haben Shinichi gefunden“, wisperte er. „Oh mein Gott…wir haben ihn die ganze Zeit gesucht…und nichts zu seinem Aufenthaltsort finden können…“

„Sie schirmen ihn von der Außenwelt ab“, nickte der FBI Agent. „Wie es scheint, lag Ihr Sohn bis vor Kurzem noch im Koma. Aber jetzt wo er wieder wach ist, wollen sie scheinbar seine Fertigkeiten für sich nutzen.“ Shuichi log beim letzten Teil seines Satzes, aber es war besser, als seinen Eltern die Geschichte über das Gift zu erzählen. Zumindest jetzt.

„Mein armer Junge“, gab Yukiko von sich und kämpfte mit den Tränen. „Und wir haben ihn nicht finden können…was sind wir nur für Eltern…Yusaku, wir hätten…“

„Wenn Sie niemanden in der Organisation kennen, der Ihnen noch einen Gefallen schuldet oder Ihnen wohlgesonnen ist, wäre die Suche immer erfolglos geblieben. Wir wissen jetzt, dass es Ihrem Sohn gut geht, aber auch, dass er sich definitiv in ihren Händen befindet. Ich möchte so schnell wie möglich Handeln.“

Yusaku nickte verstehend. „Haben Sie schon einen Plan?“

„Nein, noch nicht“, gestand der FBI Agent. „Dazu brauche ich noch einige Informationen über den Ort wo sich Shinichi momentan aufhält. Außerdem möchte ich nicht zu früh agieren. Er ist gerade erst wieder wach geworden, das heißt, sie werden die Sicherheitsvorkehrungen verstärken. Wenn wir nichts riskieren wollen, müssen wir mindestens eine Woche warten. In der Zwischenzeit werde ich weitere Informationen einholen und die Umgebung auskundschaften.“ Shuichi sah an das Fenster. „Sie werden zwar auch beobachtet, aber ich bin mir sicher, dass dafür niedere Mitglieder abgestellt wurden und solange Sie die Füße still halten, werden sie nicht eingreifen. Allerdings heißt das auch, dass sie auch weiterhin mit keiner Person sprechen dürfen.“

Yusaku und Yukiko tauschten Blicke aus.

„Was hat das zu bedeuten?“

„Es gibt da ein Mädchen…“

Akai verdrehte die Augen. „Ich verstehe. Geben Sie Jodie die Informationen über sie. Wir kümmern uns auch darum.“

Jodie nickte. „Das kriegen wir sicher hin.“

Yusaku runzelte die Stirn. „Ich habe das Gefühl, Sie stellen sich die ganze Situation zu einfach vor. Sie erzählen uns, dass diese Organisation bereits seit Jahren aktiv ist, nicht verhaftet wurde und jetzt wollen Sie meinen Sohn auf die Schnelle befreien?“

„Auf die Schnelle nicht“, antwortete Akai. „Wir werden natürlich den bestmöglichsten Zeitpunkt dafür aussuchen. Aber wenn sich herausstellen sollte, dass es morgen soweit ist, werde ich auf jeden Fall handeln. Ansonsten sehen Sie Ihren Sohn – so hart es auch klingen mag - nie wieder.“

Yusaku grübelte.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, begann Jodie. „Shuichi weiß, was er tut. Er steht schon seit geraumer Zeit auf ihrer Abschussliste und wie Sie sehen, lebt er immer noch.“

„Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Meine Priorität liegt bei der Rettung der Schwester meiner Bekannten“, fing er an. „Aber ich möchte in diesem Zug auch Ihren Sohn retten und ich verspreche Ihnen, dass ich das auch schaffen werde. Seien Sie gewiss, dass ich nie ein Versprechen breche.“

„Wir unterstützen Sie soweit es geht“, gab Yukiko von sich. „Wenn Sie etwas brauchen, scheuen Sie sich nicht davor, es zu sagen. Wir tun alles um unseren Sohn aus ihren Klauen zu retten.“ Yukiko sah zu ihrem Mann. „Ich weiß, du bist nicht begeistert davon, aber er ist möglicherweise unsere einzige Chance.“

Shuichi holte sein Handy aus der Hosentasche, klappte die Schutzhülle um und holte eine Visitenkarte aus der Halterung an der Seite heraus. Er schob sie über den Tisch. „Rufen Sie ruhig meinen Vorgesetzten an.“

Yusaku nahm das kleine Kärtchen in die Hand und sah Beide an. „Können Sie mir versprechen, dass meinem Sohn nichts passieren wird?“

„Nein“, antwortete Akai ehrlich. „Die Gefahr besteht immer, aber Ihrem Sohn wird auf jeden Fall etwas Passieren, je länger er in ihren Fängen ist.“

„Yusaku“, murmelte Yukiko. „Bitte!“

Der Schriftsteller nickte. „In Ordnung. Arbeiten wir zusammen. Aber…“, begann er. „…ich möchte, dass Sie mir alle Ihre Informationen offen legen und ich entscheide selbst, ob diese für die Rettung meines Sohnes wichtig sind oder nicht. Sie verschweigen mir nichts, was Sie herausgefunden haben.“

Shuichi schmunzelte. „Falls Sie daraus eine Geschichte machen wollen, kommen Sie zu spät.“ Er blickte auf Jodie. „Lesen Sie doch mal Gnädiges Gift, dann erhalten Sie zumindest einen ersten Einblick in die Machenschaft unserer Freunde.“

Rückkehr zur Organisation

Inspektor Shikumi seufzte leise auf und starrte auf sein Handy in der Hand. Wie tief war er eigentlich gesunken? Einst war er ein Polizist mit Ehre und Respekt anderen Menschen gegenüber. Er hatte all seine Hoffnungen in die Menschheit gesetzt und glaubte an das Gute, doch nach einigen Jahren im Polizeidienst sah er der Enttäuschung ins Gesicht: Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl, Brandstiftung und Betrug existierten seit jeher. Die Phantasie eines Menschen kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, einen Vorteil anderen gegenüber zu besitzen – selbst dann nicht, wenn Mitmenschen zu Schaden kommen konnten. Gewaltbereitschaft sowie Habgier stellten die häufigsten Gründe für Verbrechen dar. Durch die fortschreitende Technik, die sozialen Medien und die zahlreichen Probleme der Gesellschaft wurde es immer einfacher, sich fremdes Eigentum anzueignen, jemanden zu verletzten oder umzubringen. Zu ihrem Antrieb gehörten häufig Wut, Zorn, Eifersucht, Hass und Verzweiflung. Niedere Beweggründe, die jeder besaß. Doch es kam darauf an, wie man damit fertig wurde. Schließlich gab es viele verschiedene Möglichkeiten um seine Probleme zu verarbeiten. Stattdessen ließen sie ihren Trieben freien Lauf, handelten aus Affekt oder schmiedeten Pläne für ihre Rache.

Eines der ersten Sachen die Shikumi an der Polizeischule lernte, war, dass jeder Mensch das Potential besaß, anderen zu schaden. Es war nur eine Frage der Zeit wann die dunklen Gedanken zu einer Tat wurden und ob die Person ein gesundes Maß an Selbstkontrolle an den Tag legte. Dabei spielten auch Mitgefühl und Akzeptanz von moralischen Grundsätzen eine Rolle. Versagte mindestens eine dieser Fähigkeiten, würde das Risiko steigen Gewalt einzusetzen, bis letzten Endes die Bombe platzte. Selbstverständlich gab es auch Ausnahmen. Menschen, die bereits in ihrer Kindheit Gewalt erlebten, wussten sich oft nicht anders zu helfen. Ihnen wurden Sachen vorgelebt, die sich letzten Endes in ihrer Verhaltensweise manifestierten.

Shikumi hatte bereits sehr viel erlebt, tatsächlich gaben die Täter in den meisten Fällen zu, dass Geld ihr Motiv war. Damals konnte er noch nicht verstehen, was solche Menschen antrieb. Aber dann brauchte er selbst Geld und keiner wollte ihm – einem rechtschaffenen Bürger, der noch nie etwas Schlechtes getan hatte – einen Kredit gewähren. Nicht einmal auf Kollegen und Freunde war verlas gewesen. Und so war er schließlich ihnen begegnete. Anfangs war es nur ein kleiner Gefallen, den er ihnen tun musste, aber damit hatten sie ihn in der Hand. Prompt war Shikumi im Strudel der Finsternis gefangen und ein Entkommen schien in weiter Ferne zu liegen. Seitdem hatte er noch viel schlimmere Dinge getan. Dinge, auf die er nicht stolz gewesen war. Und er hatte niemanden dem er sich hätte anvertrauen können.

„Inspektor Shikumi.“

Der Angesprochene wurde aus seinen Gedanken gerissen und steckte sein Handy in die Hosentasche. Er blickte zu seinem jüngeren Kollegen und setzte ein seichtes Lächeln auf. „Was gibt es, Watanabe?“ Frisch gebackene Polizisten trotzen immer vor Energie und sie erinnerten ihn an sein vergangenes Ich. Auch er wollte sich immer bewiesen und kämpfte um die Aufmerksamkeit eines älteren Kollegen.

„Wir haben eine Vermisstenmeldung rein bekommen“, fing der Polizist an. „Es ist der Junge. Er wurde wegen Wahnvorstellungen behandelt und ist geflohen.“

Shikumi nickte verstehend. „Ich verstehe. Das muss mit seinem Trauma zu tun haben“, murmelte er als Erklärung. „Ich kümmere mich um ihn.“

„Sie wollen…?“ Watanabe schluckte. „Er hat Ihren Partner niedergeschlagen und der Junge…scheint nicht gerade einfach zu sein. Sind Sie sicher, dass Sie…“

„Das gehört zu meinem Job, Watanabe“, antwortete Shikumi lächelnd. „Ich bin froh, dass Sie sich Sorgen um mich machen, aber diese Sorgen sind unbegründet. Der Junge ist verwirrt und braucht dringend Hilfe. Haben Sie in der Klinik angerufen und die Abholung organisiert?“

„Nun ja…“ Watanabe kratzte sich am Hinterkopf. „Er hat bei seinem Fluchtversuch ein paar Pfleger mit einem Messer verletzt und bei seiner Flucht draußen die Räder der Fahrzeuge aufgeschlitzt. Es wird dauern bis sie jemanden schicken. Daher baten sie darum, dass wir den Jungen zurück bringen.“

„Mhm…“, murmelte Shikumi nachdenklich. „Was ist mit dem Messer? Als der Junge herkam, war er unbewaffnet.“

„Das Messer konnte eine Pflegerin sicherstellen.“

„Ich verstehe“, gab der Inspektor von sich. Er war immer noch unschlüssig über diese Hintergrundgeschichte. Hatte die Organisation gerade ein Personalproblem oder legten sie es tatsächlich darauf an, dass er den Oberschüler zurück brachte? Oder war es gar eine Falle mit der sie die Beiden zum Schweigen bringen wollten? Dass Shikumi schon länger nicht mehr mit den Machenschaften der Organisation einverstanden war, war ihnen sicher ein Dorn im Auge. Aber der Junge? Er war Oberschuldetektiv und war sicher nicht so einfach zu manipulieren. Oder sah er vielleicht auch einfach nur Hirngespinste und die Erklärung der Klinik war am realistischsten?

„Inspektor Shikumi?“

Shikumi hatte sich entschieden und nickte. „Entschuldigung, Watanabe. Ich kümmere mich um die Überführung.“

„Brauchen Sie Verstärkung? Ich könnte mitfahren und aufpassen, dass der Junge nicht wieder durchdreht.“

„Mhm? Nein, schon gut“, begann Shikumi. „Ich will nicht, dass der nächste Polizist im Krankenhaus landet, daher fahre ich alleine. Der Junge behält die ganze Zeit die Handschellen an und wird hinten sitzen. Ich werde für die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen sorgen. Danach fahre ich zu Sanada ins Krankenhaus. Halten Sie hier die Stellung und wenn etwas sein sollte, rufen Sie mich an.“

Watanabe nickte. „Selbstverständlich.“

Shikumi lächelte. „Danke, Watanabe, auf Sie kann man sich verlassen“, sagte er und machte sich auf den Weg nach draußen. Er stellte ein Polizeifahrzeug direkt an den Hinterausgang und begab sich dann zu den Ausnüchterungszellen. Nachdem er dort ankam, beobachtete der Inspektor den Jungen. Shinichi Kudo war einige Jahre jünger als sein ältester Sohn. Aus den Nachrichten wusste er, dass sich Kudo schon früh einen Namen als Oberschuldetektiv gemacht hatte. Nur steckte er leider seine Nase zu tief in die Angelegenheiten anderer Menschen und wer wusste schon, welche Informationen er zufällig gegen die Organisation gefunden hatte. Auch wenn Shikumi mit dem Jungen Mitleid hatte, durfte er nicht nachlässig sein und musste seine Aufgabe erfolgreich abschließen – für das Wohl seiner Kinder. „Wieder wach?“

Shinichi lag auf der langen Sitzfläche. Er war die einzige Person die in der Ausnüchterungszelle auf die Entscheidung der Polizisten wartete. Seine Hände steckten wieder in Handschellen und wann immer ein Polizist den Gang entlang lief, bettelte er nahezu um Hilfe. Shinichi setzte sich langsam auf und ließ seinen Blick abermals durch die Zelle schweifen. Drei Wände waren gefliest und es gab ein winziges Fenster aus dem etwas Luft ins Innere drang. Die Gittertür war in der Regel abgeschlossen und das Schloss schien eine Spezialanfertigung zu sein. Shinichi wandte seinen Blick zu dem Polizisten. „Was wollen Sie?“, wollte er wissen. „Wieso haben Sie mich hierher gebracht und nicht…zurück zu ihnen?“ Seine letzten Worte waren nur noch ein Flüstern.

„Du bist hier drinnen, weil dich noch keiner abgeholt hat“, erzählte der Polizist. „Ich kann verstehen, wenn du wegen der Handschellen nicht begeistert bist, diese dienen aber deiner eigenen Sicherheit…damit du keinen weiteren Unfug anstellst.“

„Ich verstehe das nicht“, begann der Oberschüler. „Sie sind Polizist. Sie haben geschworen die Menschen zu beschützen und für Recht und Ordnung zu sorgen. Was ist passiert? Warum haben Sie die Seiten gewechselt? Werden Sie erpresst?“

Jetzt wusste Shikumi, warum der Junge der Organisation ein Dorn im Auge war. „Ich weiß, was du vor hast“, entgegnete der Polizist. „Du versuchst möglichst viel über mich in Erfahrung zu bringen und willst mich dann mit dem Wissen verunsichern. Wenn der Moment günstig ist, wirst du einen erneuten Fluchtversuch versuchen. Ist es nicht so?“ Shikumi setzte eine ausdruckslose Miene auf. „Aber tut mir leid, so einfach werde ich es dir nicht machen. Du tust genau das, was ich dir sage. Verstanden?“

Da er keine andere Wahl hatte und die Organisation wahrscheinlich draußen bereits wartete, nickte er. Nur weil Shikumi zu den Bösen gehörte, musste das nicht für die anderen Polizisten gelten. Sie waren unschuldig und er durfte ihr Leben nicht aufs Spiel setzen. „Wie geht es Ihrem Kollegen?“

„Sanada ist hart im Nehmen“, erklärte Shikumi und öffnete die Zellentür. „Keine hektischen Bewegungen.“

„Er wird gegen Sie aussagen.“

„Wieso sollte das das tun? Immerhin hast du ihn niedergeschlagen.“

Shinichi sah ihn entgeistert an. „Damit werden Sie nicht durchkommen. Früher oder später wird man Ihnen auf die Schliche kommen.“

„Weißt du eigentlich, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe?“, wollte der Polizist wissen. „Steh auf.“

Shinichi seufzte und stand auf. Selbst wenn er schnell genug war und aus der Zelle laufen konnte, würden ihn die anderen Polizisten einfangen und zurück bringen. Da er als derjenige bekannt war, der ihren Kollegen niederschlug, hatte er keine andere Wahl. Aus diesem Grund musste er sich dem Polizisten beugen und sich wieder zurück zur Organisation bringen lassen.

„Jetzt raus. Du gehst vor.“

Shinichi trat aus der Ausnüchterungszelle. Auch wenn seine Chancen gering waren, gab er die Hoffnung nicht auf.

„Den Gang entlang.“

Shinichi befolgte die Anweisung. Während des Weges hatte er die ganze Zeit das Gefühl, dass sämtliche Blicke auf ihn gerichtet gewesen waren.

„Inspektor?“, fing der Oberschüler an.

„Sei still“, meinte Shikumi ruhig. „Jetzt nach links.“

Shinichi bog nach links und kam schließlich in den Innenhof. Automatisch suchte er diesen nach einer Fluchtmöglichkeit ab, doch das Polizeiauto stand ein paar Meter vor ihm. Links und rechts standen andere Fahrzeuge, Motorräder und Fahrräder. Der Innenhof war allerdings durch keine Tür gesichert. Jeder hätte rein oder raus können. Jeder außer ihm.

In seinem Kopf spielten sich verschiedene Szenarien ab. Würde er einfach so loslaufen, könnte er entweder von Shikumi eingeholt und niedergerungen werden, er hätte angeschossen werden können oder er wäre bis zur Straße gekommen. Und was dann? Die Menschen würden ihn entgeistert anstarren und hätten Angst vor einem Jungen in Handschellen.

Shinichi sah aus dem Augenwinkel zur Waffe des Polizisten. Käme er an diese, hätte er zumindest eine kleine Chance - natürlich ohne jemanden zu verletzen. Der Oberschüler biss sich auf die Unterlippe.

„Achtung, Kopf“, sagte Shikumi nachdem er die Wagentür geöffnet hatte und Shinichi bereits auf seinen Sitz drückte. Shinichi konnte nur zu sehen, wie Shikumi ihm den Sicherheitsgurt anlegte und vorne einstieg.

Shikumi schnallte sich ebenfalls an, startete den Motor und fuhr los. Während er nach vorne sah, schaute Shinichi resigniert aus dem Fenster. „Nun schau nicht so“, entgegnete Shikumi, als er in den Rückspiegel blickte. „Sei lieber froh, dass es für dich so glimpflich ausgegangen ist. Glaubst du wirklich, sie hätten dich einfach so in Ruhe gelassen? Sie finden dich, egal wo du dich aufhältst.“

Shinichi reagierte nicht darauf. Selbst wenn er versuchen würde Shikumi irgendwie zu würgen, würde er sein eigenes Leben in Gefahr bringen. Jede hektische Aktion seinerseits würde eine lebensbedrohliche Reaktion zur Folge haben.

„Dann eben nicht“, murmelte Shikumi und sah auf die Straße. Ein wenig genervt blieb er einige Meter später an der Ampel stehen und wartete bis der Wagen vor ihm endlich los fuhr. Shikumi betätigte die Hupe. Kurz darauf sah er die Rücklichter des Wagens und runzelte die Stirn. Anstatt nach vorne zu fahren, setzte der Wagen nach hinten – mitten in das Polizeifahrzeug.

Na toll, ein Auffahrunfall…oder?, fragte sich der Polizist und schaltete den Motor aus. Shikumi entfernte den Sicherheitsgurt und sah nach hinten. „Mach keinen Unsinn.“

„Hab ich nicht vor…“, murmelte Shinichi leise.

Der Polizist stieg aus und ging nach vorne, um sich den Schaden an dem Wagen anzuschauen. „Oh man“, gab er von sich.

„Tut mir leid, ich hab die Pedale verwechselt.“

Shikumi musterte den Japaner. „Ich werde den Unfall…“, begann er, ehe ihm schwarz vor Augen wurde. Shikumi sah nach unten zu der Faust in seinem Bauch. „N…ne…“

Der Japaner hielt den Polizisten fest und sah sich um. Da bereits der Abend angebrochen war, befanden sich nur wenig Menschen oder Fahrzeuge auf der Straße. Und wenn doch, sahen sie meistens weg. Der fremde Mann öffnete die Vordertür des Polizeiautos und bugsierte Shikumi hinein. Dann sah er zu Shinichi und öffnete die hintere Tür. „Aussteigen.“

Der Oberschüler schluckte, als er in die tiefgrünen und bedrohlichen Augen sah. Der arbeitet sicher für die Organisation, ging es ihm durch den Kopf.

„Hörst du schlecht? Ich sagte, du sollst aussteigen.“

Shinichi gehorchte und stieg aus. Zusammen gingen sie zu dem vorderen Fahrzeug. Je näher sie ihm kamen, desto mehr Form nahm die Silhouette im hinteren Teil des Wagens an.

Der Japaner öffnete die Tür. „Steig ein“, sagte er und drückte den Oberschüler in den Wagen.

Shinichi sah erstaunt zu seinem Sitznachbar und weitete die Augen. „Papa“, wisperte er ungläubig.

Shuichi nahm vorne Platz, startete den Motor und fuhr los. Der erste Teil ihres Plans war vollbracht, jetzt war Jodies Team an der Reihe den zweiten Teil umzusetzen.

Shihos Rettung

Akemi saß nervös in ihrem Lieblingscafé und wartete auf ihre Schwester. In ihrem Kopf ging sie andauernd Shuichis Plan durch und hoffte, dass nichts schief ging. Auch wenn man annehmen konnte, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte, stimmte das nicht. Das Leben ihrer Schwester stand auf dem Spiel und es war viel wertvoller als ihr eigenes. Akemi biss sich auf die Unterlippe, während sie mit den Tränen kämpfte. Sie hatte so vieles verloren: Ihre Eltern, Freunde und auch Dai.

Nur Shiho war ihr geblieben und so musste sie diese endlich vor der Organisation beschützen. Aber was konnte Akemi alleine schon ausrichten? Sie war nicht stark genug um irgendwas gegen die Organisation bewirken zu können. Sie hatte nicht einmal Beweise für ihre Existenz oder ihre krummen Machenschaften in der Hand. Und wer würde in Japan dem FBI glauben?

Die junge Frau seufzte und sah zum Tresen, anschließend ließ sie ihren Blick durch die Menge schweifen, bis sie am Fenster angelangte. Akemi beobachtete das Treiben außerhalb des Lokals. Viele Menschen liefen mit schnellen Schritten und waren scheinbar auf dem Heimweg. Akemi konnte es ihnen nicht verübeln. Niemand war gern nach der Arbeit noch draußen unterwegs und schon gar nicht, wenn es zeitig dunkel wurde.

„Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“

Akemi sah erschrocken zu der Kellnerin. „N..nein…ich warte noch…auf jemanden“, entgegnete sie und mahnte sich selbst zur Ruhe. Falls die Organisation Nachforschungen anstellen würde, wäre es besser, wenn sie so wenig wie möglich auffallen würden. „Vielleicht später.“

Die Kellnerin nickte. „Natürlich, ich komme nachher wieder“, antwortete sie und ging zurück an den Tresen.

Hoffentlich gehört sie nicht auch zur Organisation, ging es Akemi durch den Kopf, immerhin wurden sie und Shiho regelmäßig beobachtet. Als junges Mädchen hatte Akemi diese Observation gar nicht wirklich wahrgenommen und wenn, dann hatte sie gedacht, dass die Leute einfach nur ein Spiel mit ihren Eltern spielten. So hatte es ihr Vater auch erklärt, während er immer wieder aus dem Fenster schaute und Ausschau nach den Männern hielt. Gutgläubig wie Akemi war, stellte sie seine Aussagen nie in Frage. Sie war noch sehr jung gewesen, als ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Doch sowohl Akemi als auch die Organisation kannten die Wahrheit. Es gab keinen Unfall, nur einen geglückten Mordanschlag. Da Shiho zu wertvoll für die Organisation war und keinen Unsinn anstellen sollte, wurde sie darüber im Unklaren gelassen. Es war besser wenn die jüngere der Miyano-Schwestern die falsche Wahrheit glaubte.

Akemi war bereits als kleines Kind eine sehr fröhliche und offene Person. Sie konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun und war sehr harmoniebedürftig. Dass sie nicht ins Schema der Organisation passte, war für jedermann ersichtlich. Und trotzdem war sie ihnen freiwillig beigetreten – nur wegen der Familie.

Hätten die wenigen Jahre, die ihr mit ihren Eltern vergönnt gewesen waren, ihren Charakter nicht so stark geformt, wäre aus ihr eine andere Person geworden. Wenn Akemi an ihre Eltern dachte, rief sie sich immer ihren letzten gemeinsamen Familienausflug in Erinnerung. Da die Organisation früher keine Bilder ihrer Eltern erlaubte, konnte sie sich nur noch schwer an ihr Aussehen erinnern. Was aber blieb war die Wärme und Geborgenheit, die sie in ihrer Nähe verspürte.

Elena und Atsushi Miyano waren Ärzte und führten zusammen eine kleine Praxis. Obwohl Elena bereits ihr Studium in Japan absolvierte, fühlte sie sich in dem Land immer noch fremd. Gerade in den ersten Jahren, die es die Praxis gab, tuschelten die Patienten über ihre ausländische Herkunft. Es dauerte bis sie von der Gesellschaft akzeptiert wurde. Und obwohl sie Gutes tat, nahmen sie die Menschen entweder als sehr zurückhaltend und schweigsam oder als besserwissend und überheblich war. Dennoch blieb Elena für ihre Familie stark. Atsushi war ihre erste und ihre letzte Liebe und mit Akemi war das Glück der kleinen Familie perfekt. Nach der Schule konnte das kleine Mädchen oft zum Spielen in die Praxis kommen und andere Kinder kennen lernen. Und wenn Elena ehrlich war, war sie froh, dass ihre Tochter das japanische Aussehen ihres Vaters geerbt hatte.

Neben seiner Arbeit als Arzt zeigte Atsushi ein großes Interesse an der Wissenschaft und hatte in der Vergangenheit bereits einige Kollegen unterstützt. Da er parallel auch eigene – eher kleinere - Forschungen betrieb, wurde schließlich ein milliardenschwerer Investor auf ihn aufmerksam. Durch die Warnungen seiner Schwägerin hatte er sich gegen die angebotene Stelle entschieden, doch Elenas zweite Schwangerschaft ließ ihn alles noch einmal überdenken. Wie hätte er eine vierköpfige Familie sonst ernähren können? Und als auch Elena ihm gut zuredete, war die Entscheidung gefallen. Das Paar schloss die Praxis und fing an für die Organisation zu arbeiten. Sie hatten sehr schnell erste Ergebnisse erzielt, was allerdings auch dazu führte, dass sie unter ständiger Beobachtung standen. Keiner von ihnen konnte das Haus verlassen, ohne verfolgt zu werden. Jede Fahrt die nicht mit dem schnellsten Weg ins Labor endete, wurde kritisch hinterfragt. Aber dann bekamen ihre Eltern immer mehr Skrupel und entschlossen sich die Arbeiten der Organisation in Frage zu stellen und aufzuhören. Akemi erinnerte sich an noch sehr genau an den Tag, der die Wende brachte. Sie waren zu Besuch im Elternhaus ihres Vaters, doch der aktuelle Mieter war nicht daheim gewesen. Stattdessen öffneten die Mitarbeiter und ließen sie rein. Akemi hatte gespielt, bis sie den besorgten Blick ihrer Mutter sah. Sofort war sie zu ihr gelaufen und versuchte sie aufzumuntern. Als Kind hatte sie immer geglaubt, dass alles gut werden würde, doch mehr als ein Jahr später hatte das Schicksal zugeschlagen.

Zuvor hatte sie allerdings von ihrer Mutter einige Kassetten bekommen. Ein Teil davon war für sie, der andere für ihre Schwester Shiho bestimmt. Akemi musste ihrer Mutter versprechen, dass sie Shiho die Kassetten erst zum zehnten Geburtstag gab und ihre eigenen Kassetten mit 16 Jahren das erste Mal anhören würde. Bis dahin sollte sie alles verstecken, was ihr von ihren Eltern geblieben war.

Akemi hatte dieses Versprechen nie vergessen können. Und als sie von Shiho getrennt wurde und ihr die Organisation den Grund dafür nicht nennen konnte, hatte sie erst recht geschwiegen. Leider wurde Shiho von der Organisation zu sehr eingenommen, sodass Akemi ihr immer noch nicht die Kassetten hatte geben können.

Die junge Frau seufzte leise auf. Es war lange her, dass sich die Schwestern alles erzählen konnten ohne Angst vor den Konsequenzen zu haben. Jetzt durfte sie nur noch alle Informationen gefiltert weitergeben und sie zu ihrem eigenen Schutz hintergehen. Aber für die Familie tat Akemi alles. Und wenn die Sache endlich vorbei war, würde sie ihre Verwandten – von denen sie zwei Jahre zuvor das erste Mal etwas hörte – suchen.

„Bitte entschuldige die Verspätung.“

Akemi sah überrascht nach oben und lächelte anschließend. „Shiho, schön, dass du da bist.“

Die Wissenschaftlerin ließ sich auf den freien Stuhl fallen. „Ich könnte sofort einschlafen.“

„So schlimm?“, wollte Akemi wissen. „Du hättest anrufen können, dann hätten wir das Treffen verschoben.“

„Nein, nein, du weißt doch wie es sonst laufen wird“, begann Shiho. „Später haben wir bestimmt kaum Zeit füreinander“, fügte sie hinzu.

Akemi nickte verstehend.

„Ich sag dir, die Arbeit im Labor ist ein echter Knochenjob. Sei froh, dass du nicht in die Wissenschaft gegangen bist.“

„Du arbeitest zu viel“, warf Akemi ein. „Du solltest etwas Spaß haben und dir einen netten Freund suchen.“

„Ach Akemi“, murmelte die Wissenschaftlerin. „Du weißt doch, dass das nicht so einfach ist.“

„Ja, ich weiß“, entgegnete die Ältere. „Aber ich darf dir trotzdem einen guten Ratschlag geben.“

Die Kellnerin kam zu den beiden Frauen. „Möchten Sie schon etwas bestellen?“

Akemi sah hoch. „Für mich einen Eistee.“ Sie sah anschließend zu Shiho. „Was magst du trinken?“

„Ich nehm auch einen Eistee.“

Die Kellnerin nickte. „Bring ich sofort“, sagte sie und ging.

Akemi wandte ihren Blick wieder zu ihrer Schwester. „Und sonst? Wie läuft deine Arbeit?“

„Wie üblich. Ich hab sehr viel zu tun und bekomme nur kurze Fristen gesetzt. Aber ich kriege das schon irgendwie hin. Du kennst mich doch. Und zum Glück hab ich auch einige Assistenten an die Seite gestellt bekommen. Im Notfall scheuche ich diese ein wenig herum.“

„Das freut mich zu hören.“

Shiho stand auf. „Entschuldigst du mich kurz?“

Akemi nickte. „Natürlich, ich halte hier die Stellung.“

Shiho machte sich auf den Weg zu den Toiletten, während Akemi ihren Blick wieder dem Fenster widmete. Sie fragte sich, wo sich die Organisation in Stellung gebracht hatte und von wo sie die beiden Frauen beobachteten. Als die Getränke schließlich kamen und sich die Kellnerin entfernte, holte Akemi eine kleine Tüte mit weißem Pulver aus ihrer Handtasche. Sofort sah sie sich um und streute die weißen Kristalle unauffällig in Shihos Getränk. Mit dem Strohhalm rührte sie das Getränk um und blickte immer wieder zu den Toiletten. Als sich die Tür öffnete, verhielt sich Akemi ruhig und wartete. Bitte lass alles gut gehen, flehte sie.

„Da bin ich wieder“, sagte Shiho und nahm Platz.

Akemi lächelte. „Was hältst du davon, wenn wir für ein paar Tage wegfahren? Nur wir zwei.“

Shiho seufzte. „Ach Akemi…“, murmelte sie. „Ich kann nicht so einfach frei machen. Das weißt du doch.“ Shiho nahm ihr Glas und leerte mit einem Mal die Hälfte.

Sie nickte. „Einen Versuch war es wert“, gab Akemi von sich und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. „Hast du das Buch schon gelesen?“

Shiho seufzte ein weiteres Mal. „Hab ich…und die anderen auch. Es geht um…“ Shiho wurde leiser. „…die Organisation.“

„Was?“ Akemi legte ihre Hand über den Mund. „Aber wie kann das sein?“

„Tja…sie sind dran. Mach dir keine Sorgen.“

„Wollen wir nachher noch etwas durch den Park gehen?“

„Mhm…“

„Shiho?“

„Ja, tschuldige…mir ist gerade nur etwas…schummrig.“

„Willst du lieber nach Hause gehen?“, wollte Akemi besorgt wissen.

„Ich glaube, das wäre besser“, antwortete die Wissenschaftlerin.

Akemi hob die Hand und orderte die Rechnung. Sobald diese beglichen war, standen sie auf. Shiho schwankte, aber Akemi hielt sie fest.

„Akemi…mir ist nicht…gut.“

„Musst du dich übergeben?“

„Ich…weiß nicht…“

„Komm, ich bring dich zur Sicherheit zu den Toiletten“, entgegnete die Ältere und legte den Arm ihrer Schwester um die Schulter. Langsam machten sie einen Schritt nach dem nächsten bis sie bei den Toiletten ankamen. Doch Akemi ging geradeaus weiter und öffnete die Tür, die nur für das Personal gedacht war.

„Ak…em…i…“

„Alles in Ordnung. Ich bring dich raus“, lächelte sie. „Gleich geht’s dir besser…“

„Ak…“

Akemi ging weiter und öffnete die nächste Tür. Sie kam in den Innenhof, wo bereits ein weißer Wagen wartete. Akemi ging zu diesem und öffnete die Hintertür. Sie setzte Shiho rein und schnallte sie an.

„Ak…em…i…“

„Es wird alles gut. Wir bringen dich in Sicherheit“, antwortete Akemi und nahm neben Shiho Platz. „Du kannst losfahren“, wies sie Jodie an und legte den Sicherheitsgurt an.

Jodie nickte und startete den Motor. Im normalen Tempo fuhr sie aus dem Innenhof und pendelte sich in den Verkehr ein. Sie atmete erleichtert aus, doch ihr schlechtes Gefühl blieb weiterhin bestehen.

„Haben wir es geschafft?“, wollte Akemi wissen.

„Ich hoffe.“ Jodie blickte in den Rückspiegel. „Noch folgt uns keiner“, fügte sie hinzu und fuhr gerade aus weiter.

„Hättest du hier nicht abbiegen sollen?“

„Hätte ich“, fing Jodie an. „Er hat mir die Anweisung gegeben, dass ich erst einmal geradeaus weiterfahren soll. So etwa eine halbe Stunde, dann lässt auch die Sedierung deiner Schwester langsam nach. Wenn ich sicher bin, dass uns keiner folgt, fahr ich den Treffpunkt an.“

Akemi beobachtete ihre Schwester. „Du bist dir sicher, dass sie davon keinen Schaden nimmt?“

„Sehr sicher.“ Jodie schluckte. „Verdammt.“

„Was ist?“

„Da folgt uns einer auf dem Motorrad.“

„Was? Nein…“ Sofort sah Akemi nach hinten.

„Nicht hinschauen!“

Akemi wandte den Blick wieder nach vorne. „Was machen wir jetzt?“

„Durchsuch Shihos Sachen nach einem Sender.“

„Äh…ja…“, murmelte Akemi und tat, was Jodie ihr sagte. „Ich hab was“, sagte sie und holte eine kleine Wanze heraus. „Oh Gott…aber warum sollten sie ausgerechnet Shiho…“

„Wirf sie aus dem Fenster.“

Akemi kurbelte unverzüglich die Scheibe nach unten und warf die Wanze raus. Jodie trat auf das Gaspedal und sah nach vorne. „Ich hoffe, ich kann ihm entkommen…“

Jodie bog mehrmals ab und als sie nach einer Weile in den Rückspiegel schaute, war das Motorrad nirgends zu sehen. „Gott sei Dank“, wisperte sie erleichtert. Dennoch wusste sie, dass man bei der Organisation vorsichtig sein musste. Als sie wieder nach vorne auf die Straße sah, wusste sie auch warum.

Das Motorrad hatte sie beinahe gerammt, doch Jodie konnte gerade noch so das Lenkrad herumreißen. Leider nutzte es ihr nicht, da sie auf die gegenüberliegende Fahrbahn abkam und ins Schleudern geriet. Das nächste was das ehemalige Organisationsmitglied sah, war die Wand. Der Airbag blies sich sofort auf und Jodie verlor für einen Moment das Bewusstsein. Ihr schlechtes Gefühl hatte sich bewahrheitet, denn einer von ihnen sollte den Unfall nicht überleben.

In letzter Sekunde

Der Krach im Innenraum des Wagens war laut und ließ nichts Gutes erahnen. Sofort blies sich der Airbag auf und Jodie wurde für einen kurzen Moment bewusstlos. Ihr Kopf lag auf dem, nun langsam in sich zusammenfallenden, Airbag. Jodies Augen waren geschlossen. Trotz des Aufpralls spürte sie keinen Schmerz. Mühsam öffnete Jodie ihre Augen. Sie war benommen und nahm ihre Umgebung nur noch verschwommen war – zudem war auch ihre Brille zu Bruch gegangen. Die junge Frau brauchte einen Moment, bis ihr Sichtfeld wieder einigermaßen klar wurde.

Jodie stöhnte leise auf. Sie wollte sich bewegen um nach ihren Mitfahrern zu sehen, doch der Sicherheitsgurt hielt sie fest. Jodie blickte nach unten und versuchte den Gurt zu lösen. Sie hatte nur wenig Kraft in der Hand und musste sich dazu zwingen eine Bewegung auszuführen. Langsam drückte sie den Knopf herunter und der Gurt löste sich. Jodie atmete tief durch und drückte anschließend den erschlafften Airbag mit ihren Händen weiter zusammen. Etwas Flüssiges lief ihr am Auge herunter und sie wischte mit der Hand darüber. Ihre Hand war rot verschmiert. Sie blutete und erst jetzt bemerkte Jodie die zerbrochene Fensterscheibe an der Fahrertür. Scherben mussten sie am Kopf getroffen haben.

Der Motorradfahrer stellte sein Fahrzeug einige Meter abseits ab und stieg von der Maschine. Jodies Herz schlug mit einem Mal schneller. Sofort strömte das Adrenalin durch ihren Körper und sie fühlte sich stark genug um es mit der Organisation aufzunehmen.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich selbst. Sie durfte nicht übermütig werde, auch wenn sie in jenem Moment glaubte, unbesiegbar zu sein. Jodie atmete tief durch und versuchte jede Bewegung des Organisationsmitgliedes zu erhaschen. Er verharrte neben seiner Maschine und beobachtete ihre Handlung.

„Akemi?“, wisperte Jodie leise. „Ist alles in Ordnung bei euch?“, wollte sie wissen. „Akemi…jetzt sag doch was…“ Parallel tastete Jodie nach ihrer Handtasche, die sich im Fußraum des Beifahrersitzes befand. Als sie den Riemen erreichte, zog sie die Handtasche auf ihren Schoß. Jodie achtete penibel darauf, keine zu schnellen Bewegungen zu machen. Würde der Motorradfahrer Gefahr wittern, hätten sie keine Chance.

Jodie atmete tief durch. Ihr Leben innerhalb der Organisation hatte glücklicherweise dafür gesorgt, dass sie auch in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf bewahren konnte. Jodie zog den Reißverschluss ihrer Tasche auf und tastete nach ihrer nicht registrierten Waffe. Zum Glück hatte die Polizei noch nichts vom Unfall mitbekommen, ansonsten konnte sie sich auf etwas gefasst machen.

„Akemi?“, fragte Jodie ein weiteres Mal und ließ ihren Blick zum Rückspiegel schweifen. Shiho saß in der gleichen Position da, wie sie reingesetzt wurde. Jodie wusste noch nicht, ob der Unfall irgendwelche Auswirkungen auf die Wissenschaftlerin hatte, aber dies würde Akemi sicher in Erfahrung bringen. Diese saß mit dem Rücken zu Jodie, hatte die Arme um ihre Schwester geschlungen und schien bei ihrer Schwester nach Wunden zu suchen. „Geht es ihr gut?“, wollte Jodie wissen. Wieder bekam sie keine Antwort. „Jetzt sag doch was, Akemi.“ Langsam wurde Jodie nervös.

Plötzlich vernahm sie eine Bewegung. Aus dem Augenwinkel blickte Jodie zum Motorradfahrer. Er hatte seinen Helm abgenommen und seine Silhouette bewegte sich auf den Wagen zu. Oh nein, ging es Jodie durch den Kopf. „Bleibt ruhig“, sagte sie. „Ich werde versuchen seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen“, fügte sie hinzu und sah auf ihre Hand. Sie zitterte. Jodie konnte das Gefühl nicht zu ordnen. Hatte sie tatsächlich Angst? Um ihr Leben? Oder das Leben ihrer Mitfahrer?

Bleib ruhig, mahnte sie sich selbst und riss sich zusammen.

Der Motorradfahrer kam immer näher. Jodies Atmung hatte sich zwischenzeitlich beschleunigt und sie erkannte ihn: Calvados.

Aber warum passte er ausgerechnet auf Shiho auf? Hatte die Organisation Personalmangel oder ahnten sie, dass Shuichi nur wegen Shihos Rettung in Japan war? Jodie hatte nicht viel Zeit gehabt um zu überlegen. Mit Calvados als Gegner standen ihre Chancen schlecht. Aus diesem Grund musste sie das Überraschungsmoment nutzen und zuschlagen, wenn er am wenigsten damit rechnete oder am meisten verwundbar war. Jodie wusste, dass er ein Faible für Vermouth hatte, aber wie konnte sie diese Information am besten gegen ihn verwenden?

Jodie schluckte. Sie richtete den Lauf ihrer Waffe auf das Organisationsmitglied, allerdings so, dass er diese im Wagen nicht sehen konnte. Jodie hoffte darauf, dass er zuerst den Innenraum des Wagens sowie den Zustand der drei Personen im Wagen inspizierte, ehe er schoss. Langsam drehte sie den Kopf in seine Richtung. „Calvados“, sprach sie leise. „Hat Vermouth…“

Er verengte die Augen. „Lass Vermouth aus dem Spiel“, zischte er. „Du hast uns eine Menge Ärger gemacht“, fügte er hinzu und entsicherte seine Waffe. „Sie würde sich einen langen und qualvollen Tod für dich wünschen.“

Gut, ging es Jodie durch den Kopf. Er wird mich nicht sofort erschießen.

„Früher warst du mal gesprächiger“, entgegnete er mit einem Lächeln.

„Früher hab ich der Organisation vertraut“, murmelte sie leise.

„Tja, du hättest uns eben nicht verraten sollen.“

Nahezu in Zeitlupe hob Calvados die Waffe an, um sie auf Jodies Kopf zu richten. Doch dann traf ihn ein dumpfer Schlag am Hinterkopf und er taumelte nach vorne. Die Waffe in der Hand ließ er langsam sinken. Er lief Gefahr, dass sich mit seinem Sturz zu Boden unabsichtlich ein Schuss lösen würde, doch dann wurde er mitsamt Waffe aufgefangen. Calvados verlor dabei vollkommen das Bewusstsein.

„Amuro“, wisperte Jodie den Namen ihres Retters. Noch wusste sie nicht, ob sein Erscheinen etwas Gutes oder etwas Schlechtes mit sich bringen würde.

Bourbon setzte Calvados neben das Unfallfahrzeug. Er blickte finster zu Jodie. „Kannst du mir mal erklären, was du mit dieser schwachsinnigen Aktion bezwecken wolltest?“, zischte er. „Du kannst von Glück reden, dass wir hier relativ abgeschieden sind und dein dummes Manöver keine Zuschauer hergelockt hat.“

„Wenn du hier bist, um mit mir zu schimpfen, kannst du gehen“, fing Jodie an. „Bist du uns gefolgt?“

„Einer muss ja hinter euch aufräumen“, entgegnete Amuro und verdrehte die Augen. Nie würde er zugeben, dass er Akemi und Jodie nur zufällig auf der Straße sah und sie daraufhin beobachtete. In der Hoffnung, dass ihn die beiden Frauen zu Akai führen würden, war er ihnen gefolgt und wurde in diesen Schlamassel mit reingezogen.

„Trotzdem…Danke…oder so…“, murmelte Jodie und legte die Hand auf den Türöffner. Sie drückte ihn runter und als die Tür aufging, stieg sie mit wackeligen Beinen aus. Alles drehte sich, sodass sich Jodie gegen den Wagen lehnte. „Wirst du…uns helfen…?“

Amuro blickte sie überrascht an. „Mach dich nicht lächerlich“, sagte er. „Ich pass nur auf, dass du hier nicht zu viel Aufmerksamkeit auf dich ziehst.“ Amuro sah zum Rücksitz. „Vor allem kann ich die Beiden nicht einfach so gehen lassen.“

„Amuro“, wisperte Jodie leise seinen Namen. „Du hast mich doch auch damals in den Staaten gehen lassen und als wir uns hier trafen, ebenfalls. Warum kannst du nicht jetzt auch noch ein Auge zudrücken?“

Amuro rollte mit den Augen. „Das waren Ausnahmen“, fing er an. „Und sie werden nicht noch einmal passieren.“

Jodie seufzte leise auf. „Dann wirst du wohl mit Akemi diskutieren müssen. Sie wird ihre Schwester sicher nicht so einfach zur Organisation zurückkehren lassen.“ Jodie stockte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Akemi immer noch kein einziges Wort gesagt hatte. Ein ungutes Gefühl überkam sie. „Akemi…?“

Die hintere Scheibe war heil geblieben, aber Jodie wusste, dass etwas nicht stimmte. Ihre Hand begann erneut zu zittern, während sie diese langsam auf den Türgriff legte. Bitte lass meine Vorahnung nicht wahr sein, flehte sie und sah zu Amuro. Jodie drückte den Türgriff nach unten und öffnete die Tür.

Akemis lebloser Körper fiel ihr sofort entgegen und dank Amuros schneller Reaktion wurde sie vor dem Boden bewahrt. Amuro hievte sie weitestgehend aus dem Wagen und setzte sie neben Calvados.

„Ist sie…?“, fragte Jodie leise.

Obwohl Amuro die Wahrheit bereits ahnte, legte er Zeige- und Mittelfinger an ihren Hals und überprüfte den Puls. Blut lief ihr aus dem Mund. „Sie ist tot.“

Jodie sank auf die Knie. „Nein…nein…nein…aber…wie…sie…“

Amuro musterte den Rücksitz. „Ich gehe davon aus, dass sie sich während der Flucht vor Calvados abschnallte und als du die Kontrolle über den Wagen verloren hast, hat sie ihre Schwester mit ihrem Körper geschützt. Durch den Aufprall gegen die Wand wurde sie gegen den Fahrersitz gedrückt. Wenn ich tippen müsste, würde ich schätzen, dass ihr Genick gebrochen ist.“

Jodie kamen die Tränen. Wie sollte sie das Shuichi erklären? Und noch viel schlimmer, wie sollte sie Shiho die Wahrheit beibringen? „Das…das ist…meine Schuld…“, murmelte Jodie leise. „Ich hab…Akemi…“

„Mama!“, rief Akemi und zog Amuro am Arm in die Arztpraxis ihrer Eltern. „Ich hab einen Verletzten.“

„Ich sagte doch, du sollst mich loslassen“, kam es von Amuro.

„Aber du blutest“, warf Akemi ein.

„Na und? Das ist mir egal“, raunte er sie an und wurde prompt von ihrer Mutter in seine Schranken verwiesen. Verängstigt, aber auch überrascht ließ er sich von Akemi und ihrer Mutter verarzten. Anders als die anderen Kinder war Akemi ihm gegenüber offen und hatte ihn sogar mit großen Augen gefragt, ob er bald zum Spielen vorbei kommen würde. Er hatte das Angebot angenommen, traute sich aber nur selten in die Praxis.

Und jetzt saß das Mädchen von einst tot auf dem Boden. Amuro schluckte. „Reiß dich zusammen“, zischte er Jodie an. „Du hast Glück. Ich helfe dir noch ein letztes Mal. Nimm Shiho und verschwinde von hier.“ Er warf Jodie den Autoschlüssel zu. „Mein Wagen ist der Weiße vorne an der Ecke.“

„Aber…“

„Hörst du schlecht?“, kam es von ihm. „Ich sagte, hau ab!“ Amuro fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und ging um den Wagen herum. Er öffnete die Tür zum Beifahrersitz und kam dann zurück um Akemi hochzuheben und sie auf dem Beifahrerplatz zu positionieren. Anschließend hievte er Calvados hoch und setzte ihn auf den Fahrersitz. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Jodie die Autoschlüssel nahm, langsam aufstand und Shiho aus dem Wagen holte. Das Mädchen war noch immer benommen, aber für Jodie schien es eine normale Reaktion zu sein. Sie zog Shiho auf die Beine und hatte ihren Arm um die Schulter gelegt. In kleinen Schritten machte sich Jodie auf den Weg zu Amuros Wagen.

Das Organisationsmitglied seufzte. Je mehr Zeit er bei der Organisation verbrachte, desto mehr wollte er sie vernichten. Und obwohl er zu diesem Zwecke sowohl Jodie als auch Shiho hätte ausliefern müssen, hatte er das Gefühl Akemi und ihrer Mutter Elena noch etwas schuldig zu sein. Und so ließ er die Beiden gehen, damit Akemis Opfer nicht umsonst gewesen war.
 

Jodie setzte die Wissenschaftlerin auf den Rücksitz und schnallte sie an. „Es tut mir so leid, Shiho“, wisperte sie leise und nahm selbst auf dem Fahrersitz Platz. Jodie nutzte den Moment und atmete tief durch, ehe sie aus ihrer Handtasche ein Taschentuch herauszog. Sie wischte sich das Blut vom Gesicht, um wieder ein wenig ansehnlicher zu sein und holte anschließend ihre Ersatzbrille aus der Handtasche. Jodie setzte sie auf und erfreute sich nur kurz an der klaren Sicht. Sie veränderte unverzüglich die Sitzposition im Wagen sowie die Ausrichtung der Spiegel. Nachdem sich Jodie anschnallte, startete sie den Motor. Die Amerikanerin warf einen Blick in den Rückspiegel und entfernte sich vom Unfallort.

Als sie kurz darauf Sirenen aus der Unfallgegend hörte, kämpfte sie mit ihren Tränen. Ihr Herz schlug höher und die Angst überkam sie. Jodie konnte nicht anders und ließ ihren Tränen freien Lauf. Obwohl sie bereits seit einiger Zeit nicht mehr zur Organisation gehörte, fiel ihr der Umgang mit derartigen Gefühlen immer noch schwer. Früher hatte sie sie nie zeigen dürfen, aber jetzt lebte sie in einer ganz anderen Welt.

Nach einer halben Stunde fuhr Jodie auf den vorher ausgewählten Parkplatz und stellte den Motor ab. Sie beobachtete ihre Umgebung und war froh, dass ihr dieses Mal kein Mitglied der Organisation gefolgt war. Und auch Shiho verhielt sich immer noch ruhig.

Dennoch wusste Jodie nicht, wie sie alleine die Wissenschaftlerin zum Treffpunkt bringen sollte. Wie immer hatte Shuichi darauf bestanden, dass sie den Wagen auf einem Parkplatz in sicherer Entfernung abstellten und den restlichen Weg zu Fuß gingen. Doch jetzt schien ihr diese Vorsicht zum Verhängnis zu werden.

Jodie saß noch immer im Wagen und holte ihr Handy aus der Handtasche heraus. Wie durch ein Wunder hatte es den Unfall heil überstanden. Unverzüglich wählte sie die Nummer ihres Freundes. Sobald er das Gespräch entgegen nahm, fiel sie ihm ins Wort. „Shu, ich brauche deine Hilfe…“, sagte sie leise. „…hol uns am Parkplatz ab…“

Sorge

Shuichi stand am Fenster und sah in die aufkommende Dunkelheit. Da sie weder in ein Hotel noch in die Villa der Kudos konnten, musste eine Alternative her. Durch einen Bekannten des Schriftstellers konnten sie eine unvermietete Wohnung nutzen. Sie hatte zwei Schlafzimmer, eine eingerichtete Küche und ein Arbeitszimmer – genug um ihren Plan durchzuziehen und wenige Tage später das Land zu verlassen.

Nachdem sie Shinichi in die Wohnung brachten, randalierte der Junge, da er alles für einen Trick der Organisation hielt. Es dauerte sehr lange, bis ihn seine Eltern von der Wahrheit überzeugen konnten. Und letzten Endes war er erschöpft eingeschlafen. Yukiko kam aus dem Schlafzimmer. „Es geht ihm den Umständen entsprechend.“ Sie sah zu ihrem Mann. „Er war viel zu lange bei ihnen.“

Yusaku nickte. Aber was hätten sie tun können? Die Organisation war ihnen einen Schritt voraus und hatte dafür gesorgt, dass Shinichi einen Grund hatte um von der Bildfläche zu verschwinden. Und ohne einen Hinweis auf ihre Machenschaften konnten sie auch nicht mit Inspektor Megure oder Kogoro Mori sprechen. Außerdem gab es da noch die Person, die sie gewarnt hatte, weiter zu suchen. Dennoch hatten sie im geheimen bereits daran gearbeitet ihren Sohn zu finden und zu retten. „Shinichi ist stark“, begann Yusaku. „Allerdings kommt er zu sehr nach mir. Das heißt, er wird nicht Ruhe geben, ehe er sie nicht der Polizei übergeben kann.“

Yukiko seufzte. „Das kann er nicht schaffen“, wisperte sie. „Wenn nicht einmal das FBI…“, sie sah zu Akai. „Agent, jetzt sagen Sie doch auch was.“

„Er wird gegen sie keine Chance haben“, fing Shuichi an und drehte sich um. „Das müssen Sie – seine Eltern - ihm klar machen, ansonsten läuft er in sein Verderben.“

„Shinichi wird nichts Unvernünftiges tun“, entgegnete Yukiko.

„Das seh ich anders“, antwortete Shuichi. „Ich habe viel über Ihren Sohn gelesen. Er hat sich mittlerweile einen Namen als Schülerdetektiv gemacht und wurde oftmals von der Polizei um Rat gebeten. Er weiß, was er kann und hat einen guten Riecher. Daher klärte er in der Vergangenheit auch schon Fälle auf, die sich gerade erst ereignet hatten.“ Akai verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie wissen genau so gut wie ich, dass Ihr Sohn nicht einfach so aufgeben wird“, fügte er hinzu.

„Aber…“

„Kein Aber“, fiel ihr Akai ins Wort. „Im Wagen hat er den Namen Shiho gemurmelt.“

„Das Mädchen befreit doch Ihre Freundin“, warf Yukiko ein.

„Ich glaube nicht, dass sie die einzige Person war, die er dort getroffen hat“, sagte Shuichi. „Wenn ihm jemand geholfen hat, wird er versuchen denjenigen aus der Organisation zu holen. Wenn er hingegen ihre Gesichter gesehen hat und sie ihm negativ gesinnt gewesen waren, wird er alles versuchen um eine Verhaftung zu erwirken.“

Yusaku seufzte. „Vermutlich haben Sie Recht.“

„Yusaku!“

Der Schriftsteller zuckte mit den Schultern. „Es stimmt doch was er sagt. Shinichi wird keine Ruhe geben, ehe er nicht dafür gesorgt hat, dass diese Organisation hinter Gittern ist. Und deswegen müssen wir das Land verlassen und unseren Sohn davon überzeugen, dass er alles vergessen muss.“

„Nichts leichter als das…“, murmelte Yukiko. Nie würde ihr Sohn ohne Ran gehen. Und nahmen sie Ran mit, müssten sie auch Kogoro und Eri einweihen. Je mehr Menschen von dem Plan wussten, desto schwerer würde es werden. Und wie sollten sie alle in Sicherheit bringen? Eigentlich konnte Shinichi bereits jetzt mit dem Fadenkreuz auf dem Rücken durch die Straßen laufen.

„Wenn Sie nicht dafür sorgen werden, werde ich das übernehmen“, entgegnete der FBI Agent und drehte sich wieder zum Fenster. Akai zog sein Handy heraus und überprüfte seine eingehenden Nachrichten oder Anrufe. Nichts, sagte er zu sich selbst. Jodie war seit mehr als einer Stunde überfällig und so langsam wurde er nervös. In Zusammenhang mit der Organisation konnte dies nichts Gutes bedeuten.

Shuichi griff in seine Hosentasche und zog die Packung mit den Zigaretten heraus. Anschließend trat er auf den Balkon und zündete die Zigarette an. Er hörte Jodies Stimme neben sich, die ihm erklärte wie schädlich das Rauchen doch war. Sofort legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Mit Jodie war sein Leben um einiges besser geworden. Sie brachte ihn zum Lachen und er begann damit ihre gemeinsame Zukunft zu planen. Aber wenn jetzt alles schief ging…

Es war lange her, seit er sich so hilflos gefühlt hatte – genauer gesagt, war es in jenem Moment als er glaubte, Jodie für immer verloren zu haben. Als er den Auftrag bekam, verdeckt innerhalb der Organisation gegen diese zu ermitteln, hatte er mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass Jodie sein gesamtes Leben auf den Kopf stellen würde. Anfangs sollte sie ihn testen und später landeten sie das ein oder andere Mal zusammen im Bett. Aus der kurzen Affäre hatte sich schon sehr schnell mehr entwickelt und als Jodie endlich die Wahrheit über ihre Herkunft erfuhr, traten sie zusammen die Flucht aus der Organisation an. Es fielen Schüsse und letzten Endes kamen sie mit dem Wagen von der Straße ab. Danach wurde es nur noch schlimmer. Jodie wurde schwer verletzt und gab ihr Leben bereits auf. Mit letzter Kraft hatte sie ihn davon überzeugt, dass sie die weitere Flucht getrennt voneinander antreten sollten. Für einen kurzen Moment hatte er ihr zugestimmt und sich auf den Weg gemacht. Doch als der erste Schuss fiel, bereute er seine Entscheidung und machte sich auf den Rückweg. Obwohl die Chancen sehr gering standen, wollte er nicht, dass Jodie wieder in die Fänge der Organisation gelangte. James und Camel waren ihm allerdings in die Quere gekommen. Hätten sie ihn nicht niedergeschlagen und vom Unfallort weggebracht, wäre er schnurstracks in sein Verderben gelaufen. Dann wäre keiner von ihnen jetzt hier.

Bis vor über einem Jahr hatte er geglaubt, dass Jodie jenen Abend nicht überlebt hatte und sich Vorwürfe gemacht. Er lebte nur noch für die Rache, die er lange aufschieben musste. Andauernd stellte er sich vor, was passiert wäre, wäre er eher zurück gekommen oder wenn er sie nicht zurück gelassen hätte. Doch die Vergangenheit konnte keiner ändern und dann stand sie auf einmal wieder vor ihm.

„Agent Akai?“

Shuichi wurde aus seinen Gedanken gerissen und warf die Zigarette über den Balkon. „Sind sie da?“, wollte er wissen.

Yusaku schüttelte den Kopf. „Aber es geht ihnen sicher gut.“

Shuichi nickte. „Lassen Sie uns wieder rein gehen“, entgegnete er, als sein Handy klingelte. Sofort nahm er das Gespräch entgegen. „Jodie? Wo bist du? Was ist passiert?“

„Shu, ich brauche deine Hilfe…“, sagte sie leise. „…hol uns am Parkplatz ab…“

Shuichi schluckte. „Ich bin auf dem Weg“, gab er von sich und lief durch das Wohnzimmer in den kleinen Flur. Er schlüpfte schnell in seine Schuhe, zog seine Jacke an und steckte das Handy in die Seitentasche.

„Agent Akai.“ Yusaku folgte ihm. „Was ist los?“

„Alles in Ordnung“, log er. Anhand von Jodies Stimmlage hatte er sofort erkannt, dass irgendwas nicht stimmte. „Ich hol die Anderen ab. Bleiben Sie hier und passen auf Ihren Sohn auf. Egal wer versucht in die Wohnung zu kommen, sie lassen ihn nicht rein. Ich werde meinen Schlüssel benutzen um reinzukommen. Und sollte ich nicht in Begleitung zurück kommen, erschießen sie denjenigen.“

„Äh…“, murmelte Yusaku. „Verstanden.“

„Bis gleich“, sagte er und ging aus der Wohnung. Der FBI Agent beeilte sich, doch zeitgleich musste er darauf achten, bei den Nachbarn nicht aufzufallen. Jede verdächtige Bewegung könnte den Plan gefährden oder sie in die Bredouille bringen. Shuichi steckte die Hände in die Hosentaschen und brauchte mehr als zehn Minuten für den Weg zum Parkplatz. Von Jodie und dem Wagen fehlte jede Spur. „Verdammt“, murmelte er leise.

Das Laternenlicht auf dem Parkplatz schimmerte bedrohlich und gab nur die Sicht auf bestimmte Bereiche frei. Als sich eine Wagentür öffnete, war der Agent auf fast alles vorbereitet. Als er aber Jodie sah, gefror ihm das Blut in den Adern. Sie sah so zerbrechlich und müde aus und am liebsten wäre er auf sie zugestürmt, aber er hielt sich zurück. Shuichi ließ seinen Blick durch die Umgebung schweifen und machte sich mit den Begebenheiten vertraut. Erst als er sich sicher war, dass er in keine Falle er Organisation lief, machte er sich auf den Weg zum Wagen. Je näher er dem fremden Auto kam, desto eher erkannte er die Unfallfolgen in Jodies Gesicht. „Jodie“, wisperte er leise. Als er schließlich bei ihr war, kniete er sich hin. „Was ist passiert?“, wollte er wissen und legte langsam die Hand an ihre Wange.

Jodie zuckte zusammen, schluchzte dann und fiel ihm sofort in die Arme.

Shuichi zog sie sofort zu sich und strich ihr behutsam über den Rücken. „Es wird alles gut“, sprach er leise. „Kannst du dich noch für einen kurzen Moment zusammenreißen?“, wollte er wissen. „Wir müssen zur Wohnung und…“

Jodie nickte. „Ich schaff…das schon…irgendwie“, nuschelte sie und löste sich von ihrem Freund.

„Jodie? Was ist passiert?“, fragte er ein weiteres Mal und begutachtete den Wagen kritisch. Schließlich sah er nach hinten auf den Rücksitz. „Und wo ist…?“

Jodie sah nach unten auf ihre Hände. „Wir wurden…verfolgt“, fing sie leise an. „Ich fuhr…weiter…den Umweg, den du meintest und dann dachte ich, dass…ich die Situation im Griff hätte. Er war…verschwunden…aber dann tauchte er…auf einmal wieder auf. Ich hab alles versucht…aber dann verlor ich die Kontrolle über den Wagen…und…kam von der Fahrbahn ab…dann war die Wand…da…und…“

Shuichi schluckte. So langsam konnte er eins und eins zusammen zählen.

„Calvados…es war Calvados. Ehe er…mir was tun konnte…wurde er von Amuro…niedergeschlagen. Amuro…hatte uns zufällig…gesehen und ist uns gefolgt“, erzählte sie. „Wäre er nicht…wäre ich tot…“

„Amuro…“, murmelte Shuichi. Das hatte ihm noch gefehlt.

„Das ist…sein Wagen“, entgegnete Jodie. „Ich musste ihn nehmen, damit…Shiho und ich…entkommen konnten. Amuro…verschleiert den Unfall…“

„Und deswegen blieb Akemi bei ihm?“

Jodie schüttelte den Kopf und kämpfte gegen ihre erneuten Tränen. „Sie wollte wohl…Shiho schützen…als wir auf die Wand…zusteuerten…glaub ich…Sie hat…sie hat den Unfall…nicht überlebt.“

Shuichi sah sie ungläubig an. „Das…“, schluckte er. „Das kann nicht…“

„Es tut mir so leid…es tut mir leid…es…“

Akai drückte seine Freundin wieder an sich.

„Es tut mir leid…es tut mir leid…“, schluchzte Jodie.

„Es ist nicht…deine Schuld“, brachte Shuichi hervor. „Sie kannte…das Risiko und…sie war bereit, es einzugehen. Für die Rettung ihrer Schwester.“

Jodie nickte. Sie löste sich von ihm und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Jodie sah nach hinten zu Shiho. „Akemi wollte, dass wir…sie retten“, fing Jodie an. „Also…machen wir weiter und bringen…sie in die Wohnung.“

Shuichi nickte. Das liebte er an seiner Freundin. Auch wenn es schlechte Tage gab, machte sie immer das Beste aus der Situation und gab nicht auf. Jodie war eine Kämpferin und zeigte auch jetzt, was in ihr steckte. Shuichi stand auf und öffnete die hintere Tür. „Ich trag sie.“

„Das wäre…gut“, kam es leise von Jodie. Sie stand langsam auf und stieß gegen den Wagen.

„Hat der Unfall…?“ Shuichi erinnerte sich an damals.

„Ich bin…nur etwas wackelig auf den Beinen. Ansonsten geht es mir gut…den Umständen entsprechend“, erklärte sie. „Du kannst in der Wohnung einen Arzt rufen.“

„Das habe ich vor“, nickte der Agent und hievte Shiho aus dem Wagen. „Kannst du laufen?“

„Geht schon…irgendwie“, nickte sie und schloss die Wagentür.

„Wenn es doch nicht gehen sollte…“

„…sag ich Bescheid“, log die Amerikanerin und setzte sich langsam in Bewegung. Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, ehe sie bei der Wohnung ankamen. Jodie war über den Aufzug froh, doch die Fahrt war nur von kurzer Dauer. Mit einem mulmigen Gefühl marschierte sie auf die Wohnungstür zu.

„Der Schlüssel ist in meiner Jackentasche.“

Jodie griff hinein und zog den Schlüsselbund heraus. Sie suchte den passenden Schlüssel heraus, steckte ihn in das Schlüsselloch und öffnete die Tür. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie die Wohnung betrat. Endlich konnte sie sich ausruhen und schlafen.

Sofort kamen Yusaku und Yukiko in den Flur.

„Oh mein Gott“, stieß die Schauspielerin aus. „Was ist passiert?“

„Rufen Sie zuerst den Arzt an“, entgegnete Shuichi und brachte die Wissenschaftlerin in das zweite Schlafzimmer. Er legte sie auf das Bett und deckte sie zu. Akai beobachtete sie und seufzte leise auf. Wie sollte er ihr nur den Tod ihrer Schwester erklären?

„Kümmerst du dich um den Arzt?“, wollte Yukiko von ihrem Mann wissen und ging auf Jodie zu.

„Selbstverständlich“, nickte dieser und kehrte zurück ins Wohnzimmer.

Yukiko musterte Jodie. „Kommen Sie, ich helf Ihnen“, sagte sie und ging mit der Blonden in das Badezimmer.

Jodie setzte sich langsam auf den Rand der Badewanne und atmete tief durch.

„Was ist denn passiert?“

Mit glasigen Augen sah Jodie hoch. „Ich will, dass es endlich aufhört.“

Shinichis Entscheidung

Yukiko sah Jodie besorgt an und versuchte zu Lächeln. Ihr war sofort klar, dass die junge Frau über die Geschehnisse der letzten Stunden nicht sprechen wollte. Und dazu würde sie sie auch nicht zwingen. Yukiko entschied, behutsam mit Jodie umzugehen. „Wir haben das Buch gelesen. Es ist wirklich gut geschrieben“, begann sie. „Das sagt auch mein Mann und der kennt sich schließlich damit aus. Aus dem Kontext und mit dem Hinweis von Ihrem Freund wussten wir natürlich sofort, dass Sie die Autorin sind. Spiegelt die Geschichte Ihre eigenen Erfahrungen mit der Organisation wider?“

„Das Buch“, murmelte Jodie leise. „Ja, nachdem ich mit Shuichi nach New York ging, wurde ich sehr lange vom FBI befragt. Sein Vorgesetzter trug mir auf, dass ich alles niederschreiben soll, was ich bei der Organisation erlebt habe. Die ersten Zeilen fielen mir sehr schwer, aber als ich erst einmal einen Anfang gefunden habe, gab es fast kein Ende mehr. Nachdem ein paar Leute beim FBI meine Geschichte gelesen haben, kamen sie auf die Idee diese als Buch umzusetzen. Ich musste dafür nur die Namen und ein paar Begebenheiten ändern und einige Dialoge hinzufügen. Sie haben ein Jahr nicht darauf reagiert und ich hatte für einen kurzen Moment schon die Hoffnung, dass…naja…und jetzt sind wir hier“, erzählte Jodie. „Ich kenne die Organisation, sie werden uns nicht einfach so in Ruhe lassen…außer wir legen Ihnen das Handwerk…und ich glaube, dass dies eine lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Und jetzt soll das Buch auch noch verfilmt werden…und jemand aus der Organisation soll…mitspielen. Außerdem…wird eine Fortsetzung von mir erwartet und ich weiß noch gar nicht, wie ich mit allem klar kommen soll.“

Die Schauspielerin nickte verstehend. „Das muss schwer für Sie gewesen sein…das Leben in der Organisation und dann der Ausstieg…“

„Ja, das war es. Ich kannte nichts anderes und dann kam Shuichi und…er hat mich ganz anders behandelt…wie ein richtiger Mensch. Schließlich verstanden wir uns gut…mehr als gut“, antwortete Jodie und atmete tief durch. „Ich seh bestimmt furchtbar aus…“

„Ach was“, entgegnete Yukiko. „Ich wasch Ihnen erst einmal das Blut von der Stirn und werde dann…wobei, lassen Sie uns doch zuerst Ihre Haare waschen. Können Sie sich über die Wanne beugen?“

„Okay“, sagte Jodie und stand auf. Ihre wurde schwindelig, doch sie riss sich zusammen. Als sie sich aber über die Wanne beugte, merkte sie, dass dies keine gute Idee war. Noch im selben Moment kniete sie sich hin. „Ich brauch…nur einen Moment…danach geht es…mir wieder gut...“

Yukiko sah sie besorgt an und legte ihre Hand behutsam auf Jodies Rücken. „Der Arzt ist sicher gleich da. Ich werde einfach nur den Lappen nehmen und Sie etwas frisch machen. Und danach legen Sie sich hin, ja?“

„In Ordnung“, murmelte Jodie und ließ die Prozedur über sich ergehen. Mittlerweile war ihr Adrenalinspiegel wieder gesunken und sie merkte, wie sehr ihr der Unfall zusetzte. Die Folgen machten sich langsam bemerkbar: Jodie hatte Kopfschmerzen, ihr war schwindelig und je nachdem wie sie sich bewegte, wurde ihr übel. Außerdem wollte sie nur noch ins Bett und schlafen.

„Geht’s wieder?“, wollte Yukiko wissen, als sie fertig war.

„Ja. Danke“, sprach Jodie leise und stand langsam auf. „Ich würde mich jetzt wirklich gerne hinlegen.“

„Natürlich“, nickte die Schauspielerin und brachte Jodie ins Wohnzimmer. Sie warf ihrem Mann einen leicht finsteren Blick zu und dieser wusste sofort, dass er aufstehen sollte. Shuichi hingegen stand am Fenster und sah nach draußen. Als die beiden Frauen in den Raum kamen, wandte er sich zu ihnen und blickte besorgt zu Jodie. Wie hatte er sie nur auf diese gefährliche Mission schicken können?

Jodie setzte sich auf das Sofa und war über die weichen Polster erfreut. Langsam legte sie sich hin und sah zu Shu. „Schau nicht so besorgt. Mir geht es gut.“

„Sie sollte sich ausruhen“, entgegnete Yukiko. „Wenn es nicht besser wird, müssen wir sie möglicherweise in ein Krankenhaus bringen.“

Shuichi nickte verstehend. „Ich kümmer mich darum.“

„Was ist eigentlich passiert?“, wollte Yukiko ein weiteres Mal wissen.

Shuichi und Yusaku tauschten Blicke aus. Sie hatten sich bereits eingehend über die aktuelle Situation unterhalten, waren aber noch zu keinem Schluss gekommen. „Jodie hatte einen Autounfall“, fing Akai an. „Akemi, die Frau, die bei Jodie war, hat den Unfall nicht überlebt.“

„Oh mein Gott“, gab Yukiko erschrocken von sich. „U…und was machen wir…jetzt?“

Prompt klingelte es an der Tür.

„Das wird der Arzt sein“, fing Yusaku an. „Wir reden nachher weiter“, fügte er hinzu und ging an die Haustür.

„Sie vertrauen diesem Arzt?“, wollte Shuichi wissen.

Die Schauspielerin nickte und war über den Themenwechsel erleichtert. „Wir kennen die Familie bereits seit Jahren. Sie können Stillschweigen bewahren und werden den Hausbesuch diskret behandeln.“

„Gut, das reicht mir“, entgegnete der FBI Agent und sah zu Yusaku und dem Arzt.

„Tomoaki.“ Yukiko ging sofort zu ihm und schüttelte seine Hand. „Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, hatten Sie das Medizinstudium gerade beendet. Und schauen Sie sich jetzt an…Sie sind ein stattlicher, junger Mann geworden.“

Dr. Araide kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Es ist wirklich lange her.“ Er sah zu Jodie auf dem Sofa. „Sie sind die Person, die den Autounfall hatte?“

„Das ist sie“, antwortete Shuichi.

Tomoaki ging zu Jodie und stellte seinen Arztkoffer auf den Boden. Er öffnete ihn und holte eine kleine Taschenlampe heraus.

Jodie beobachtete sein Handeln. Es war kein Wunder, schließlich hatte sie in der Vergangenheit manch schlechte Erfahrung mit Ärzten gemacht. Und manchmal war es nicht möglich, Freund von Feind zu unterscheiden – nicht einmal wenn es Personengruppen waren, die einen Eid geschworen hatten.

„Wie geht es Ihnen?“

„Ich habe Kopfschmerzen, mir ist schwindelig und übel“, antwortete Jodie leise. „Und ich möchte nur noch schlafen.“

„Ich verstehe“, sagte der Arzt. „Ich leuchte Ihnen gleich in die Augen. Folgen Sie bitte dem Licht“, fügte er hinzu und prüfte Jodies Pupillen. „Wie schlimm war der Autounfall?“

„Ich…ich bin gegen die Wand gefahren“, erzählte sie. „Mein Kopf landete auf dem Airbag und ich war…für einige Minuten bewusstlos.“

„Mhm…“, murmelte der Arzt und holte eine Halskrause aus dem Koffer. Er legte diese Jodie um den Hals. „Nur zur Sicherheit“, sagte er. „Ich schätze, Sie haben eine Gehirnerschütterung vom Unfall davon getragen. Sie müssen sich in den nächsten Tagen auf jeden Fall ausruhen und auf jede Aktivität oder Reizdurchflutung verzichten. Dennoch muss ich Ihnen raten, dass Sie auch ein Krankenhaus aufsuchen und ein Kopf-CT machen lassen sollten. Wenn nicht jetzt, dann spätestens nach 24 Stunden oder falls es Ihnen noch heute Nacht schlechter geht.“

„Wenn es unbedingt sein muss“, murmelte Jodie.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, begann Shuichi und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie wird sich an die Bettruhe halten und ich werde sie höchstpersönlich im Krankenhaus abliefern.“

„Gut“, nickte Araide und schloss den Koffer, wohlwissend, dass es auch eine Lüge hätte sein können.

„Es gibt noch jemanden.“

Der Arzt sah zu Yusaku. Er seufzte. „Warum hab ich mit so etwas gerechnet?“

„Folgen Sie mir, bitte“, sagte der Schriftsteller und brachte ihn zu Shiho ins Zimmer.

„Jetzt schau nicht so“, wiederholte Jodie. „Es geht mir wirklich gut. Du weißt doch, ich bin hart im nehmen und früher…konnte ich auch nicht immer zum Arzt. Ich hab schon ganz andere Sachen überstanden.“

„Ich weiß, du machst dir Sorgen, dass wir wegen dem Unfall den Plan nicht durchziehen können. Aber solche Situationen habe ich miteinkalkuliert.“

Jodie schluckte. „Und…bei euch? Ist…es gut ausgegangen?“

„Ja“, antwortete Akai. „Der Junge ist im anderen Zimmer. Nach unseren Informationen sollte es ihm gut gehen. Weil er in den letzten Tagen genug Ärzte um sich hatte, verzichten wir auf eine weitere Untersuchung – für den Anfang. Er ruht sich jetzt noch aus, aber wir hoffen, dass wir in ein paar Stunden mit der Befragung beginnen können.“ Shuichi beobachtete sie. „Jodie, ich möchte wirklich, dass du dich ausruhst. Und wenn es dir bis morgen früh nicht besser geht, bring ich dich ins Krankenhaus. Hast du das verstanden?“

„Ich brauch kein Krankenhaus…“

„Das ist mir egal. Du hast dabei kein Mitspracherecht.“

„Shu…“ Sie seufzte. „Na gut…“

Einige Minuten später kam Yusaku wieder ins Wohnzimmer. „Dr. Araide ist gegangen“, entgegnete er. „Dem Mädchen geht es gut. Sie sollte bald aus ihrem Delirium aufwachen. Es sieht so aus, als hätte sie eine größere Menge Schlafmittel bekommen, als notwendig war.“

„Dann sollten wir jetzt Klartext reden.“

Sofort sahen alle zur Wohnzimmertür. „Shinichi, du bist ja wach“, sagte Yukiko erstaunt.

Der Oberschüler nickte. „Konnte nicht schlafen“, gestand er. „Ich hab euch belauscht und gewartet, bis der Arzt gegangen ist. Ich war eben auch bei…Shiho…ich bin froh, dass es ihr gut geht. Sie hat eine Schwester…“, begann er.

„Das wissen wir, Junge“, fing Shuichi an. „Sie hat uns bei der Flucht ihrer Schwester geholfen. Allerdings gab es einen Unfall und sie ist nicht mehr am Leben.“

Shinichi schluckte.

„Damit hält sie nichts mehr bei der Organisation“, fügte der FBI Agent hinzu.

„Und wie ist jetzt Ihr Plan?“, wollte der Oberschüler wissen. „Diese Organisation ist gefährlich. Sie haben Mittel und Methoden und sie beobachten jeden den ich liebe…“, fügte er hinzu. „Durch meine Flucht werden sie…“

„Mach dir darum keine Gedanken“, warf Akai ein. „Meine Kollegen beobachten deine Freundin, ihre Familie, ihre Freunde, deine Freunde, und und und…Wir wissen, was wir tun und es ist nicht das erste Mal, dass wir Bekanntschaft mit der Organisation gemacht haben.“

Shinichi schien nicht überzeugt zu sein. „Sie haben bereits die Polizei infiltriert…“

„Das wissen wir und unsere Agenten sind keine Spione.“

„Ach ja? Und woher wussten Sie, dass ich wieder zurück gebracht werden sollte?“

„Das war einfach“, entgegnete Akai. „Ich kenne jemanden bei ihnen, der mir…nennen wir es…freundlicher gesinnt ist. Diese Person hat mich über deine Flucht aufgeklärt. Ich wusste, dass du sofort die Polizeistation aufsuchen würdest und, dass sie dich wieder zurück bringen würden. Wir mussten einfach nur den richtigen Moment abwarten.“

Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte der Oberschüler.

„Nun“, sagte Shuichi. „Das kommt darauf an. Wie weit bist du bereit zu gehen?“

„Mhm?“

„Die Organisation ist in Japan am aktivsten. Wenn du hier bleibst, kannst du dir auch gleich ein Fadenkreuz auf den Rücken malen“, entgegnete der FBI Agent. „Daher wäre es das Beste, wenn du mit deinen Eltern nach New York gehst.“

„Und dort jagen Sie mich nicht? Können Sie mir das versprechen?“

„Nein, das kann ich nicht“, antwortete Shuichi ehrlich. „Aber dort wird es schwerer für sie werden. Wir können dich und deine Familie unter Beobachtung stellen und wären bereit, wenn sie es versuchen würden. Aber eine Garantie, dass du jeden Anschlag von ihnen überlebst, gibt es nicht.“

„Was wird aus Ran, ihren Eltern und meinen Freunden aus der Schule?“

„Wir werden sie auch weiterhin beobachten und für ihre Sicherheit sorgen.“ Shuichi musterte den Oberschüler. „Du willst bestimmt, dass deine Freundin mitkommt, aber das geht nicht. Wenn sie mitgeht, müssen wir ihre Eltern mitnehmen. Ihre Mutter ist Anwältin und ihr Vater mittelmäßiger Detektiv. Sie würde in den Staaten schnell Fuß fassen und damit die Aufmerksamkeit der Organisation auf sich ziehen. Und das wird nicht das einzige Problem sein. Wenn wir deine Freundin mitnehmen, müssen wir uns auch um ihre beste Freundin kümmern. Eine Suzuki, wenn ich richtig informiert bin. Soll ich diesen Kreislauf weiter erläutern?“

Shinichi sah ihn mit offenem Mund an. Der FBI Agent hatte weit gedacht und jede Kleinigkeit in seinem Plan bedacht. Egal was sie taten, würde Shinichi einen von ihnen mitnehmen, würden immer mehr Menschen in Gefahr geraten. Und irgendwann würde keiner mehr auf sie aufpassen können. Er wusste, dass es Ran ihm nie verzeihen würde, würde er einfach so nach Amerika gehen. Aber welche andere Wahl hatte er? Die Organisation würde ihn nie in Ruhe lassen.

„Shinichi“, begann Yukiko. „Du solltest dir das wirklich überlegen. Wenn du hier bleibst…“

„Was deine Mutter damit sagen will“, fiel ihr Yusaku ins Wort. „Du bist minderjährig und im Zweifelsfall werden wir – deine Eltern - die Entscheidung für dich treffen.“

„Das müsst ihr nicht“, warf der Oberschüler ein. „Wenn ich hier bleibe, bringe ich alle in Gefahr. Und ich kann Ran nicht mitnehmen. Ihre Familie wäre in Gefahr und…ihre Freunde…das kann ich ihr nicht antun. Ich gehe…ohne sie…in die Staaten.“

Shuichi nickte. „Gute Entscheidung.“

Opfer

Shinichi atmete tief durch und sah in die Gesichter aller Anwesenden. Das, was er gesagt hatte, schien richtig gewesen zu sein, aber kaum, dass er die Worte ausgesprochen hatte, kamen sie ihm so falsch vor. Er würde Tokyo verlassen – Japan. Und wann – falls – er wieder zurück kommen würde, stand noch in den Sternen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht nur Monate sondern Jahre dauern würde, wurde immer höher. Doch die Sicherheit seiner Freundin ging vor, auch wenn sie ihn mittlerweile bestimmt nicht mehr sehen wollte. Aber würde ihr etwas Passieren, wäre sein Leben vorbei – für immer. Trotzdem fühlte er sich jetzt mit der Entscheidung unwohl. Und wie sollte er Ran seine Entscheidung überhaupt mitteilen? Sollte er weiterhin so tun, als würde er sich immer noch in seiner Auszeit befinden und nie zurück kommen? Konnte er ihr das überhaupt antun? Oder würde sie irgendwann nach ihm suchen. Ja, wahrscheinlich würde sie das…irgendwann. Und was dann? Dann würde er ihr vielleicht das Herz brechen oder sie ihm, falls sie einen festen Freund haben würde. Alleine bei dem Gedanken wurde ihm mulmig.

Doch eines war klar. Ran hatte einen Abschied verdient. Aber wie sollte er das anstellen? Die Organisation beobachtete sie und ihre Familie. Würde er ein Treffen mit ihr versuchen, würde ihn die Organisation finden. Und Anrufe konnten nachverfolgt werden. Shinichi hielt es auch nicht für unwahrscheinlich, dass alle Gespräche der Moris abgehört wurden. Also konnte er ihr eigentlich nur noch einen Brief schreiben und hoffen, dass sie ihn verstehen würde – eines Tages, wenn genügend Zeit vergangen war. Vielleicht hätten sie irgendwann doch eine gemeinsame Zukunft, aber daran konnte er jetzt noch nicht denken.

Ran war schon immer Shinichis Schwachstelle gewesen. Egal was er auch tat, es war schwer gewesen ihr einen Schritt voraus zu sein und ihre Reaktion abzuschätzen. Normalerweise konnte er sich sehr schnell in eine Situation hineindenken oder einen Täter überführen, aber Ran war Besonders. Sie brachte ihn durcheinander und wenn es um seine Gefühle ging, wusste er auf einmal gar nichts mehr.

„Was hast du?“, wollte Shuichi von ihm wissen.

„Sie haben gesagt, dass uns die Organisation auch in New York im Visier haben wird und dass Sie nicht für unsere Sicherheit garantieren können. Wieso sollte es ausgerechnet dort für uns sicherer sein?“ Shinichi sah zu seinen Eltern. „Ich weiß, ihr wohnt dort und vielleicht ist es zu naheliegend, wenn ich mit euch dorthin gehe… Es tut mir leid, dass ich die Situation nun doch noch einmal hinterfrage, obwohl ich vor wenigen Minuten bereits eine Entscheidung getroffen habe.“

„Mach dir darum keine Gedanken, Junge“, fing Akai an. „Du hast natürlich Recht. Deine Eltern sind auch in New York nicht unbekannt. Aber das können wir zu unserem Vorteil nutzen, immerhin will die Organisation nicht in die Medien“, erklärte er. „Wie du dir denken kannst, ermittel ich nicht erst seit gestern gegen die Organisation. Ich kenne natürlich ein paar Mitglieder und wie du dir denken kannst, sind sie mir nicht wohlgestimmt. Dennoch bin ich mir sicher, dass wir sie überzeugt bekommen, dich und deine Familie in Ruhe zu lassen.“ Akai sah zu Jodie.

„Ich kümmer mich darum“, murmelte die Amerikanerin.

Sofort sah Shinichi zu ihr und musterte sie.

„Ich war ebenfalls eine Gefangene der Organisation…es ist aber schon eine Weile her“, entgegnete Jodie. Es war zumindest teilweise die Wahrheit, aber die Zeit war noch nicht reif, um Shinichi die ganze Geschichte zu erzählen. Dies würden früher oder später seine Eltern übernehmen.

Shuichi nickte. „Überlass das uns.“ Er würde dafür sorgen, dass sowohl Yukiko als auch Jodie mit Vermouth sprechen konnte. Ihm war zwar nicht wohl dabei, aber die Frauen waren die einzige Chance damit ein wenig Ruhe einkehren konnte.

Shinichi konnte nicht sagen, ob der FBI Agent ihm tatsächlich die Wahrheit erzählte oder log. Sein Pokerface war einfach viel zu gut. „Und Sie glauben wirklich, dass sich die Organisation darauf einlässt? Wenn ihr Boss…“

„Mach dir darum keine Sorgen“, entgegnete Shuichi. „Ihr Boss ist sicher auch nicht daran interessiert, dich quer durch die Welt zu verfolgen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wir werden versuchen einen Deal mit ihnen einzugehen und versprechen, dass weder du noch deine Familie gegen sie ermitteln werdet.“

„Das heißt, wir werden offiziell die Füße still halten und vergessen, was sie dir angetan haben“, fügte Yusaku hinzu. „Aber insgeheim werden wir versuchen, zusammen mit dem FBI etwas gegen sie in die Finger zu bekommen. Die ersten paar Wochen werden wir natürlich keine andere Wahl haben, als die heile Familie zu spielen. Nach allem, was ich über die Organisation gehört habe, werden sie ihr Augenmerk auf uns legen.“

„Nicht zu vergessen, dass sie natürlich wissen werden, dass du dich jetzt bei deinen Eltern befindest. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie eure Villa in Beika verstärkt beobachten. Dennoch müssen wir bei der Rückkehr in die Staaten sehr vorsichtig sein. Nur weil Menschen in der Nähe sind, heißt es nicht, dass sie sich ruhig verhalten.“

Shinichi runzelte die Stirn. „Ihr habt euch das alles scheinbar gut überlegt.“

Shuichi nickte. „Das haben wir. Du kannst von der Erfahrung profitieren, die das FBI mit der Organisation gemacht hat.“

„Aber ich habe eine Bedingung“, begann der Oberschüler. „Sobald Ran oder ihrer Familie etwas passiert, möchte ich informiert werden.“

„Das lässt sich einrichten“, entgegnete der FBI Agent – zumindest von seiner Seite aus. Was seine Vorgesetzten dazu sagen würden, konnte er nicht vorhersehen.

Shinichi sah nach in Richtung des Flures. „Was ist mit ihr…Shiho? Sie…“

„Mach dir um sie keine Sorgen“, fing Shuichi ruhig an. „Wir werden sie ebenfalls nach New York mitnehmen und dort für ihre Sicherheit sorgen.“

„Mhm…“ Shinichi verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nach dem Tod ihrer Schwester hat sie in Japan niemanden mehr“, sagte er. „Du wirst sie nicht so oft sehen können, aber ein paar Treffen sind bestimmt möglich. Wenn sie aufwacht, werde ich mir ihr darüber sprechen.“

„Ich bin auch dabei.“

Shuichi sah zu Jodie.

„Du kannst mich nicht davon abhalten, Shu.“
 

Shiho saß am nächsten Morgen stumm auf dem Bett und starrte die Wand an. Sie war bereits seit einigen Stunden wach, traute sich aber nicht aus dem Zimmer und versuchte den gestrigen Tag zu rekonstruieren. Die Wissenschaftlerin zog die Beine an sich heran und schloss die Augen. Sie wusste noch, dass sie mit Akemi im Café saß und dann müde wurde. Danach war alles weg und ihre Erinnerungsfetzen spielten ihr einen Streich. Sie sah Personen, wie Jodie und Amuro, die gar nicht da sein konnten. Aber was hatte das alles zu bedeuten?

Als es an der Tür klopfte, zuckte Shiho zusammen. „H…her…ein…“, murmelte sie und fand ihre Antwort im nächsten Moment total dumm. Selbst wenn sie nicht reagieren würde oder Nein, komm nicht rein, rufen würde, wer garantierte ihr, dass ihr Wunsch erfüllt werden würde?

Shiho wurde nervös, als sich die Tür öffnete und sie weitete die Augen als sie Shuichi und Jodie erkannte. „Ihr…“, wisperte sie. „Was habt ihr mit mir vor? Wo ist meine Schwester?“

Jodie schluckte und drückte eine kleine Tasche fester an sich heran. Nach einer erholsamen Nacht sah sie viel besser aus, doch der Unfall steckte ihr immer noch in den Knochen.

„Wir wollen dir nichts böses, Shiho.“

„Du musst Dai…nein Akai…sein“, entgegnete die Wissenschaftlerin und beobachtete seine Bewegungen.

„Das bin ich. Es ist schön, dich endlich kennen zu lernen. Akemi hat mir…viel über dich erzählt“, fing Shuichi an. „Jodie kennst du ja auch noch.“

Die Wissenschaftlerin nickte. „Ihr habt die Organisation verraten und wegen euch dachten sie, dass Akemi…“, sie brach ab. „Wo ist meine Schwester? Ich will sie sofort sprechen. Und ich will keine Ausreden hören.“

Shuichi sah zu Jodie und runzelte besorgt die Stirn. Als sie am Morgen wach wurden, führten sie ein langes und intensives Gespräch über den vorherigen Tag. Letzten Endes waren sie zu dem Schluss gekommen, Shiho die Wahrheit zu erzählen und nur Kleinigkeiten zu beschönigen. Da keiner von ihnen das Vertrauen der Wissenschaftlerin genoss, hatten sie sich entschlossen, dass Jodie federführend das Gespräch übernahm.

„Ich krieg das hin“, sagte sie und ging zum Bett. Jodie setzte sich auf den Rand.

„Du wurdest verletzt…“

„Das wurde ich“, murmelte Jodie. „Shiho, du hast bestimmt gehört, dass ich bei Shuichi in New York geblieben bin…“

Shiho nickte abermals.

„Vor einiger Zeit rief deine Schwester bei Shu an und bat ihn um seine Hilfe. Sie fand heraus, dass du derzeit an einem Gift arbeitest und hat sich Sorgen gemacht.“

„Moment, Akemi hat herausgefunden, dass ich an einem Gift arbeite? Wie? Ich hab ihr nichts gesagt und sonst auch keiner. Sie konnte das gar nicht wissen!“

„Akemi hat dir eine CD mit Fotos geliehen. Du hast ihr eine falsche CD zurück gegeben, aber Akemi hatte den Inhalt bereits gesehen und einem Freund gezeigt.“

„Das wusste ich nicht“, murmelte Shiho. „Deswegen hat sie also…euch informiert. Wieso hat sie mir nichts gesagt?“

„Sie wusste sich nicht anders zu helfen“, entgegnete Jodie. „Shu ist zuerst nach Japan gekommen, ich erst ein paar Tage später. Es hat nicht lange gedauert, um den Zusammenhang zu Shinichi Kudo herauszufinden. Eigentlich wollten wir zuerst deine Flucht in die Wege leiten, aber als wir hörten, dass Shinichi geflohen ist, haben wir unsere Pläne entsprechend angepasst. Ich habe Akemi unterstützt. Sie hat dich unter einem Vorwand in das Café gelockt und dir in dein Getränk ein Schlafmittel gemischt…danach sind wir losgefahren. Aber…“

Shiho schluckte. „Aber was? Was ist passiert? Was ist mit Akemi?“ Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit.

„Calvados hat uns verfolgt“, antwortete Jodie. „Ich verlor die Kontrolle über den Wagen und…es gab einen Unfall…Akemi…“

„Nein…sag das nicht…bitte…nicht…“, wisperte Shiho unter Tränen.

„Es tut mir leid…Akemi hat…den Unfall nicht…überlebt…“

„Nein…“ Shiho schluchzte. „Akemi…nein…Akemi…“

Jodie sah auf die Bettdecke. „Ich wünschte wirklich, dass es…anders ausgegangen wäre. Und ich weiß, es ist kein Trost für dich…aber Akemi hat dich geliebt. Sie wollte, dass du ein ganz normales Leben führen kannst…sie wollte nicht mehr, dass du in den Fängen der Organisation lebst. Deswegen…hat sie alles in ihrer Macht stehende getan, damit du der Organisation entkommst. Akemi kannte…das Risiko, dass während der Flucht etwas…schief geht…“

„Akemi…“, wisperte Shiho.

Jodie öffnete die Tasche. „Akemi hat…mir etwas für dich gegeben, falls ihr bei dem Fluchtversuch etwas geschehen würde“, erklärte sie und holte eine kleine Schachtel aus der Tasche heraus. „Ich weiß nicht, was drinnen ist, aber es gibt auch einen Brief. Du kannst ihn lesen…“ Jodie legte die Schachtel auf das Bett. Der Briefumschlag befand sich auf der Oberseite.

Shuichi beobachtete die Beiden. „Vorher sollten wir noch darüber reden, wie es für dich weiter geht“, begann der FBI Agent. „Akemi wollte, dass wir dich unbedingt in die Staaten mitnehmen und ich halte es auch für eine gute Idee. Wenn du in Japan bleibst, werden sie dich früher oder später finden und dann war Akemis Opfer umsonst. In den Staaten wird es um einiges Schwerer für sie werden, aber ich will realistisch sein, auch dort wirst du ihr Ziel werden. Dennoch können wir dich dort besser beschützen und…du könntest in einem der Labore, die das FBI für ihre Arbeit verwaltet, anfangen. Hilf uns gegen die Organisation.“

„Shu!“ Jodie schüttelte den Kopf.

„Es bringt nichts, wenn wir jetzt um den heißen Brei herumreden. Je länger wir warten, desto eher wird uns die Organisation aufspüren. Deswegen sollten wir uns so schnell wie möglich auf den Weg nach New York machen.“ Shuichi sah zu Shiho. „Shinichi hat sich bereits entschieden. Er wird uns begleiten.“

Jodie seufzte. „Das wissen wir, aber sie hat eben erst erfahren, dass ihre Schwester gestorben ist und jetzt soll sie alles stehen und liegen lassen und nach New York fliehen. Auch wenn sie für die Organisation arbeitet, das ist gerade zu viel für sie.“

Shuichi verengte die Augen. Er wusste nur zu gut, wie sich die Wissenschaftlerin fühlte. Er selbst verspürte das gleiche Gefühl, als er glaubte, Jodie verloren zu haben. „Hör zu, Shiho, es tut mir leid, was mit deiner Schwester passiert ist. Ich mochte Akemi und sie hat dieses Ende nicht verdient. Ich weiß, du hattest keine Möglichkeit um dich von ihr zu verabschieden und wenn du mit uns nach New York gehst, wirst du diese auch erst einmal nicht haben. Aber ich bitte dich inständig, lass Akemis Opfer nicht umsonst sein. Sie hat sich für dich ein Leben außerhalb der Organisation gewünscht.“

Shiho schloss ihre Augen. „Die Organisation…hat meine Schwester…auf dem Gewissen“, wisperte die Wissenschaftlerin. „Ihr Opfer…darf nicht…umsonst sein…“

Endlich zu Hause

Jodie saß in ihrem Lieblingscafé und tippte ein paar Zeilen in das Schreibprogramm ihres Laptops. Ihre Finger flogen beinahe über die Tastatur und die Seiten füllten sich wie von selbst. Seit sie aus Japan zurück waren, sprudelte sie nur vor Ideen für die Fortsetzung ihres Buches. Mit neuen Charakteren und einem anderen Handlungsort würde sie die Erwartungen des FBIs erfüllen. Ein weiteres Mal würde die Geschichte ihre eigenen Erfahrungen mit der Organisation wiederspiegeln, aber auch Hoffnungen auf ein gutes Ende aufzeigen. Und wer wusste schon, was die Zukunft noch mit sich brachte. Vielleicht kamen sie ihrem großen Ziel schon bald sehr nah.

Jodie war froh, dass die Rückkehr nach New York ohne Probleme ablief und die Organisation sie erstaunlicherweise in Ruhe ließ. Dennoch hatten sie gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen und den Rückflug getrennt voneinander angetreten. Während sie mit Shinichi und Yusaku direkt morgens um sechs Uhr flog, machten sich Shuichi, Shiho und Yukiko erst um 14 Uhr auf den Weg. Wie von Shuichi geplant wurden sie von einigen FBI Agenten abgeholt und erst nach einer langen Rundfahrt durch New York zur Unterkunft der Kudos gebracht. Für Shiho hatte das FBI hingegen eine kleine Wohnung angemietet. Eigentlich sollte sich die Wissenschaftlerin in den ersten Tagen ein wenig Ruhe gönnen, doch sie wollte sofort mit der Arbeit beginnen. Auch Shinichi hatte Probleme damit die Füße still zu halten und wollte dort weiter machen, wo er in Japan aufgehört hatte. Glücklicherweise hatten seine Eltern ein gutes Auge auf ihn, ansonsten wären sie bereits in die nächste Katastrophe geschlittert.

Während Shuichi regelmäßig im Labor bei Shiho nach dem Rechten sah und aus der Ferne weitere Beweise gegen die Organisation sammelte, war Jodie für die Überprüfung der japanischen Medien zuständig. Sie sah sich sowohl die Aufzeichnungen der Nachrichten an, als auch die Artikel verschiedener Zeitungen im Internet. Wie von Amuro versprochen, stellte er den Tod von Akemi als Unfall mit Calvados dar. Obwohl an der Unfallstelle genügend von ihrem Blut hätte sichergestellt werden müssen, hatte die Polizei scheinbar keine Fragen gestellt. Jodie war froh, dass die Polizei nicht weiter recherchierte und dass auch die Organisation keine Fragen stellte, wobei Calvados noch immer einen unvorhergesehenen Faktor darstellte. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass Amuro einen so großen Einfluss innerhalb der Organisation hatte. Aber warum verhielt sie sich dann so unauffällig? Da sich die Organisation nie in die Karten schauen ließ, brachte es nichts, sich Gedanken zu machen. Und Amuro konnten sie noch brauchen, immerhin wusste keiner, wie es weiter ging. Außerdem war es wichtig, dass Amuros falsche Identität nicht aufflog. Er und die japanische Sicherheitspolizei waren die einzigen, die vor Ort etwas gegen die Organisation ausrichten konnten. Aber ohne weitere Informationen und ohne die Hintermänner zu kennen, konnten sie nicht zum finalen Schlag ansetzen. Jodie hoffte, dass Amuro irgendwann den Kontakt zu Shuichi suchen würde, damit das FBI bei der Vernichtung der Organisation helfen würde. Aber was, wenn alles schief gehen würde?

Jodie schüttelte den Kopf. Sie wollte sich nicht von ihren Gedanken um die Organisation kontrollieren lassen und musste nach vorne sehen – so wie schon einmal. Und außerdem musste sie ihre Konzentration für ihre beiden Hauptaufgabengebiete aufbringen. Zum einen wollte der Regisseur immer noch, dass sie bei der Auswahl der Schauspieler dabei war und einige Szenen begleitete und zum anderen gab es immer noch die Fortsetzung, die sie schreiben musste. Wenigstens wollte ihr jetzt Yusaku mit gutem Rat zur Seite stehen. Und was konnte man mehr wollen, als einen Bestsellerautor als Beta-Leser? Er hatte viel mehr Erfahrungen als sie oder die Vorgesetzten beim FBI und konnte ihr sicherlich sehr viele Tipps und Tricks geben. Und falls sie von der Organisation beobachtet wurden, konnten sie so ihre Treffen verschleiern und gemeinsam weiter ermitteln. Ihr Plan war beinahe wasserdicht, aber wie so oft, würde die Organisation sicherlich noch ein Schlupfloch finden. Aber bis es soweit war, würden sie versuchen ihnen zuvor zu kommen – immerhin hatten sie drei ehemalige Mitglieder in ihren Reihen, einen Kriminalbuchautoren, der immer mal wieder als Berater der Polizei fungierte und einen Oberschuldetektiv, der sich am laufenden Band einmischte.

„Schon zurück?“

Jodie sah vom Bildschirm auf und klappte den Laptop zu.

„Angst, dass ich dir eine Idee klaue oder lese, was du deinen Freunden vom FBI schreibst?“, wollte Vermouth wissen und setzte sich auf den freien Platz gegenüber von Jodie. Kurz darauf winkte sie die Kellnerin heran. „Ich will einen schwarzen Kaffee.“

Jodie beobachtete ihre…was war Vermouth eigentlich für sie? Eine Freundin? Eine Schwester? Ein Feind? „Warum sollte ich?“, fing Jodie an. „Dir hab ich doch schließlich die Fortsetzung irgendwie zu verdanken.“

„Ach, ich bitte dich“, gab Vermouth von sich. „Als das Thema aufkam, warst du viel zu gut vorbereitet. Ich wette, das FBI hat dich bereits auf die Fortsetzung angesetzt. Versucht ihr uns damit heraus zu locken?“

„Tja…das wirst du leider nicht erfahren“, entgegnete Jodie.

Vermouth schmunzelte. „Gut, dass ich nicht neugierig bin“, sagte sie und sah kurz zu der Kellnerin, die ihr die gewünschte Tasse Kaffee auf den Tisch stellte. „Danke.“

„Ich hab kurz mit dem Regisseur gesprochen. Beim Film hat sich in den letzten Tagen leider nicht so viel ergeben.“

Chris zuckte mit den Schultern. „Du weißt doch wie das ist…ach nein, weißt du nicht. Du wirst das schon noch lernen, wenn du zurück kommst. Frag mich nicht warum, aber der Regisseur legt immer noch großen Wert auf deine Unterstützung.“

„Ich weiß, er hat bereits beim FBI angefragt, wann ich wieder zur Verfügung stehe“, sagte Jodie ruhig. „Ich nehme an, du spielst deine Rolle immer noch? Oder hast du es dir anders überlegt?“

Vermouth schmunzelte. „Du müsstest mich doch mittlerweile gut genug kennen um zu wissen, dass ich selten ein Engagement im Nachhinein ablehne.“

Jodie musterte sie. „Wer weiß, vielleicht hast du andere Anweisungen bekommen. Oder nutzt du deinen Status als Liebling aus und bleibst deswegen hier?“

„Wer weiß“, entgegnete die Schauspielerin. „Aber ihr lasst mir ja keine andere Wahl. Und ich muss zugeben, ich bin sehr gespannt, wie es mit dir weiter geht.“

Jodie wurde ernster.

„Jetzt komm mal runter. Ich hab nicht vor in deinem Privatleben herumzuwühlen…zumindest noch nicht. Aber wer weiß…die Zukunft steht uns allen ja noch offen. Früher oder später werden wir uns alle sicher wiedersehen und darauf freue ich mich jetzt schon.“

„Wie nett von dir.“

Vermouth sah sich um. „Kommen wir zu ernsteren Themen. Was willst du von mir?“

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas von dir will?“, wollte Jodie wissen.

„Ich bitte dich, du könntest genauso gut bei dir zu Hause schreiben oder in deinem Büro. Aber du gehst ausgerechnet in ein Café. Das riecht sehr danach, dass du es auf ein Treffen mit mir abgesehen hast. Außerdem sind mindestens zwei FBI Agenten hier und passen auf dich auf. Dein Freund tummelt sich bestimmt irgendwo dort draußen rum. Er parkt doch meistens immer ein paar Blocks weiter weg. Na? Wie mach ich mich?“

Jodie lächelte. „Sehr gut“, fing sie an. „Du hast Recht. Ich wollte mit dir reden und das möglichst ungezwungen. Wie schön, dass du gleich auf meinen kleinen Trick angesprungen bist“, fügte sie hinzu und nippte an ihrem Glas. „Du weißt sicher, dass wir in Japan waren und ein paar Personen getroffen haben.“

Vermouth schwieg.

„Du hast dich vor einigen Monaten auch mit ihnen getroffen, nicht wahr? Du hast ihnen mitgeteilt, dass sie sich um ihren Sohn keine Sorgen machen und die Sache auf sich beruhen lassen sollen. Du wolltest nicht, dass sie sich in Gefahr bringen. Warum war es dir so wichtig, dass sie das erfahren?“

„Das weißt du doch bereits. Ihr habt doch bestimmt herausgefunden, was in der Vergangenheit passiert ist“, antwortete Vermouth und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Ich gebe dir einen guten Rat…weil wir uns schon so lange kennen. Wenn es zur nächsten Konfrontation kommt, werde ich auch vor dir keinen Halt machen. Mein Überleben ist mir viel wichtiger. Oh und übertreib es nicht in deinem nächsten Buch.“

„Das hab ich nicht vor“, gab Jodie von sich. „Verstehe ich es richtig, dass ihr den Jungen und seine Familie von nun an in Ruhe lassen werdet?“

„Kommt drauf an“, begann die Schauspielerin. „Was hast du uns zu bieten?“

„Frieden“, antwortete Jodie. „Wir wissen doch alle, dass Shinichi sehr gerne gegen euch ermitteln würde. Nicht zu vergessen sein Vater, ein bekannter Kriminalbuchautor, der bestimmt auch ein paar Ideen hat, wie man gegen euch vorgehen sollte. Wenn ihr die Familie in Ruhe lasst, werden sie euch auch in Ruhe lassen. Eine win-win-Situation für alle Beteiligten.“

„Und das soll ich dir wirklich glauben?“

Jodie zuckte mit den Schultern. „Glaub was du willst. Aber wenn du die Familie schützen willst, reicht dir dieser Deal.“

„Ich leite das Angebot weiter und melde mich…vielleicht“, sagte sie und stand auf. „Ihr solltet mich besser nicht verfolgen“, fügte sie hinzu und ging.

„Jaja…ich zahl für dich mit…“, murmelte Jodie und sah zu den Kollegen vom FBI. Außer einem kurzen Nicken bekam sie keine weitere Reaktion. Mal sehen wie es weitergeht, sagte sie zu sich selbst.

„Wie war es?“

Jodie blickte abermals auf. „Shu“, wisperte sie. „Du hast es doch über das Abhörgerät mitbekommen.“

Der FBI Agent setzte sich zu ihr. „Ich wollte eigentlich wissen, wie es dir damit ging sie wiederzusehen.“

Jodie zuckte mit den Schultern. „Es war in Ordnung. Sie planen irgendwas, aber ich kann nicht sagen was genau es ist.“

Shuichi nickte verstehend. „Wir werden sie weiter im Auge behalten. Wahrscheinlich wird Shiho ihr Ziel werden. Wir werden also vorsichtig sein müssen, wenn wir zu ihr wollen oder wenn sie zu uns will.“

Jodie nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse. „Hast du mit ihr gesprochen?“

„Hab ich“, antwortete Shuichi ruhig. „Sie hat…es nicht so gut aufgenommen, als sie erfahren hat, dass unsere Mütter verwandt waren“, erzählte er. „Aber sie wird damit klar kommen…früher oder später. Unter Akemis Tod leidet sie selbstverständlich weiterhin, aber das Ende der Organisation reicht ihr in der jetzigen Zeit als Antrieb.“

„Ich verstehe“, murmelte Jodie. „Hat sie sich die Sachen angeschaut, die ich ihr von Akemi geben sollte?“

„Es waren Kassetten, die ihre Mutter zu Lebzeiten aufgenommen hat. Sie hat sich noch nicht alle angehört, aber sobald es Anzeichen gibt, dass die Kassetten Informationen gegen die Organisation enthalten, kriegen wir sie.“

„Ich wünschte, wir könnten irgendwas für sie tun“, sagte Jodie.

„Shiho war vom Kindesalter an auf sich allein gestellt. Sie braucht Zeit, ehe sie sich anderen Menschen öffnet. Leider müssen wir auch noch darauf achten, dass sie erst einmal nicht viel Kontakt mit Shinichi hat.“

Jodie seufzte. „Dabei hatten die Beiden von Anfang an einen guten Draht zueinander. Aber ich nehme an, sie versteht die Gründe?“

„Natürlich“, entgegnete der FBI Agent. „Sie wird nichts tun um sich oder die Kudos in Gefahr zu bringen. Das FBI kann von Glück reden, dass sie uns jetzt unterstützt. Shiho hatte zwar mit wenigen Mitgliedern Kontakt und kann keine Namen nennen, aber sie kennt wenigstens die Pillen, die sie entwickelt hat und arbeitet an einem Gegenmittel.“

„Wenn ich das höre, will ich gar nicht wissen, was noch im Hintergrund lief…“

„Es wird sehr viel geben, was du nicht mitbekommen hast“, antwortete Shuichi und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Und was ist mit Shinichi? Hat er sich mittlerweile in New York eingelebt?“

„Naja…wie man es nimmt“, gab Akai von sich. „Er möchte so schnell wie möglich mit den Ermittlungen anfangen und wird derzeit von seinem Vater zurück gehalten. Natürlich möchte der Junge auch wieder zurück nach Japan zu seinen Freunden und zu seiner Freundin…aber ich glaube nicht, dass wir so schnell Fortschritte machen werden“, fügte er hinzu. „Und es wird auch nicht besser, wenn er beginnt sich hier in irgendwelche Mordfälle einzumischen.“

„Also geht es für ihn genau so weiter wie in Japan“, murmelte Jodie. „Da können wir nichts machen, Shu. Wenn er sich selbst der Gefahr aussetzt, muss er früher oder später mit den Konsequenzen rechnen. Wir können lediglich aufpassen, dass er seine Mitmenschen nicht auch noch in Gefahr bringt.“

Der FBI Agent nickte. „Deswegen möchte ich derzeit auch nicht, dass der Junge mit Shiho Kontakt hat. Zumindest wissen wir bereits, dass unsere besonderen Freunde die Familie in Ruhe lassen werden.“

„Du meinst, weil sie bisher nichts gegen sie unternommen haben?“, wollte Jodie wissen und dachte nach. „Ich hoffe nur, dass das nicht die Ruhe vor dem Sturm ist. Mittlerweile fällt es auch mir schwer ihre Handlungen vorherzusehen oder zumindest zu erahnen.“

„Mach dir darum keine Gedanken. Wir sind hier erst einmal sicher und können uns auf andere Dinge fokussieren.“ Shuichi holte seine Geldbörse hervor und legte einen Schein auf den Tisch. Er stand auf. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“

Jodie lächelte und packte den Laptop in ihre Tasche. Noch nie hatte sich nach Hause gehen so gut angehört. Endlich gehörte sie zu den Menschen, die ein zu Hause hatten. „Ja, lass uns nach Hause gehen.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Herzlichen Glückwunsch!
Ihr habt es geschafft, Gnädiges Gift ist damit zu Ende *Luftballons steigen lass* Komplett anzeigen

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