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Ein Held unserer Zeit

von

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1.

„-und jedenfalls ist Anna Michailova eine dumme Pute“, beendete Sinaida ihre Geschichte, „aber Mama sagt, ich muss den dämlichen Aufatz über eine berühmte Person, die mich inspiriert, Gutes zu tun, trotzdem schreiben, weil es anscheinend ein Verbrechen ist, sich gegen Ungerechtigkeit einzusetzen.“

„Kitsu-Chan“, sagte Kai milde, „du hast das Klassenbuch aus dem Fenster geworfen.“

„Weil es voller Lügen war!“

„Ich finde das sehr gerechtfertigt“, fand Boris, der auf der Couch fläzte, eine geöffnete Flasche Bier neben sich, und irgendein stummgeschaltetes Video auf seinem Handy schaute. Kai, der am gleichen Tisch wie Sinaida saß und sich über irgendwelche langweilig aussehenden Unterlagen gebeugt hatte, schenkte ihm über den Rand seiner Brille hinweg einen intensiven, verurteilenden Blick, der absolut wirkungslos an Boris‘ nicht vorhandener Aufmerksamkeit abprallte. Sinaida fragte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, wieso Kai nicht im Arbeitszimmer arbeitete, aber dann wiederum hatte es wohl mit der Lustlosigkeit zu tun, die in seinem Gesicht stand. Er kam ungefähr so gut weiter wie sie mit ihren Matheaufgaben, wenn draußen die Sonne schien.

Yuriy gab nur einen undefinierbaren Laut von sich, ohne den Kopf von Adhara zu heben, die ausgestreckt vor ihm lag. Ihre Zunge hing heraus, während sie sich vollkommen entspannt unter Yuriys Fingern das dichte Fell bürsten ließ. Neben Sinaidas Bruder lag ein großer Haufen Haare, mit dem sich bereits ein sehr kleiner Welpe ausgegangen wäre. Allein in dem knappen Monat, den die Hündin bereits bei Yuriy war, hatte sie deutlich zugenommen und war zutraulicher geworden, sodass sie Sinaida jetzt schon schwanzwedelnd entgegen kam, wenn sie ihren Bruder besuchte. Der hielt immer wieder im Bürsten inne, um die Hündin sanft hinter den spitzen Ohren zu kraulen, nur um sich ein etwas angewidertes, warmes Lächeln zu verbeißen, wenn ihm über die Hand geleckt wurde.

„Verbrechen und Strafe, Sina“, sagte er dann wenig mitleidig, „reiß‘ dich zusammen und mach‘ den Aufsatz, dann halt‘ ein bisschen still und beobachte, bevor du das nächste Mal zuschlägst. Blind drauflos ist immer schlecht, du musst die Schläge gegen das System schon taktisch planen.“

„Kommt das wirklich gerade von dem Mann, der sich so über die erhöhten Mietpreise letztes Jahr aufgeregt hat, dass er innerhalb von sieben Stunden einen Aufmarsch vor der Wohnung des Vermieters organisiert und Wasserbomben gegen seine Tür geworfen hat, bis geöffnet wurde?“, fragte Boris ungläubig.

„Entschuldige bitte?“, sagte Yuriy empört, „Hat es funktioniert oder nicht? War das somit gelungene Taktik oder nicht?“

„Arurururu“, sagte Adhara sanft, die sich zwar immer noch jedes Mal in Erwartung einer Strafe flach auf den Boden legte, wenn ihr ein Bellen entwich, die aber auch in den letzten Tagen begonnen hatte, gelegentlich mit Yuriy zu sprechen.

Jetzt begann ihr Schwanz gegen den Boden zu klopfen, als Yuriy sie ansah und eine Augenbraue hob. „Habe ich dich um deine Meinung gefragt, Adhara Yurievna? Weißt du etwa so viel mehr über den Kampf gegen die Bourgeoisie?“ Die offensichtlich angestrebte Strenge wurde hoffnungslos durch die Weichheit seiner Stimme untergraben, die Adhara die Stirn in expressive Falten legen ließ.

„Awuwu“, sagte sie nachdenklich.

Aus dem Augenwinkel konnte Sinaida sehen, wie Kai ein Lächeln hinter seiner Hand versteckte. Yuriy, der einen siebten Sinn dafür zu haben schien, hob den Kopf und sah Kai mit verengten Augen an. „Hast du etwas zu sagen?“

„Ich finde, Adinka sagt schon genug“, sagte Kai unschuldig.

Yuriy öffnete den Mund, eindeutig zu einer empörten Antwort, dann wurde er davon abgelenkt, dass Adhara ihr Bestes gab, sich auf seinen Schoß zu rollen. „Adhara! Zum Teufel mit dir-“ Man konnte genau den Moment sehen, in dem er aufgab und einen Kompromiss anstrebte, der darin bestand, dass Adharas großer Kopf mitsamt ihren Pfoten glückselig auf seinen Beinen gebettet waren, aber zumindest nicht der Rest von ihrem Körper.

„Irgendwann mal warst du hart“, stellte Boris fest, ohne von seinem Handy aufzusehen, „ich erinnere mich – eiskalt wie ein Gletschergipfel. Irgendwann mal dachtest du, dass du nichts und niemanden brauchst und ein Loch in der Brust hast statt ein Herz.“

„Man hatte mal Angst vor ihm“, erklärte Kai Sinaida ernst, „da hat die Welt aber auch noch nicht gewusst, dass Yuriy Nikolajewitsch ein großer Softie ist.“

„Ich schwöre, ich bringe Adhara bei, euch jedes Mal in den Knöchel zu beißen, wenn ihr was Dummes sagt, und dann wird mein Leben gleich so viel ruhiger und behaglicher sein“, sagte Yuriy, aber es lag keine Hitze in seinen Worten. Stattdessen griff er nach der Bürste und nahm seine Arbeit wieder auf. Sinaida beobachtete ihn und fragte sich, wieso sie erst jetzt realisierte, wieviel Leben ihr Bruder gelebt hatte, bevor sie einander kennengelernt hatten – wieviel sie nicht wusste und auch nie erfragt hatte.

Vielleicht wurde es Zeit, es herauszufinden.

„Kann ich den Aufsatz hier anfangen?“, fragte Sinaida.

„Von mir aus“, sagte Yuriy, „aber um Acht ist Schluss. Sergeij und Ivan grillen und das ist ein Pflichttermin.“
 

2.

„Ich schreibe eine Autobiografie über jemanden, der mich zu guten Taten inspiriert“, sagte Sinaida mit gewichtiger Miene. Sie fand, dass sie sich am Anfang einer großen Mission befand, und deswegen verlieh sie der Feierlichkeit dieser Mission mit ihrem Gesicht Ausdruck, weil sie ansonsten bäuchlings in der Wiese hinter dem Wohnhaus lag und Ketchup im Mundwinkel hatte. Außerdem biss sie gerade mit Gusto in ein Steak, das sie zwischen den Fingern hielt, weil kein Besteck mehr sauber war und sie ihr altes nicht mehr fand. Das war aber halb so schlimm, weil Ivan bäuchlings neben ihr lag und das gleiche mit einem Hühnerschenkel aufführte. Eine Fliege summte um Sinaidas Limonadenglas herum, die sie immer wieder halbherzig wegscheuchte. Besser Fliegen als Wespen, die waren einfach nur die Arschlöcher der Insektenwelt. Das sagte Ivan immer, und Ivan war cool. Er reparierte altes Zeug und verkaufte es dann weiter und ließ Sinaida manchmal helfen, wenn sie lange genug nervte. Sinaida war sehr gut im Nerven.

Sergeij lächelte auf sie herunter. Er saß ausgestreckt in einem Stuhl, der viel zu klein für ihn wirkte, unter einem Sonnenschirm und hatte eine Schüssel mit selbstgemachten Pommes in den Händen, an denen er immer wieder mümmelte. Sergeij war auch cool, vor allem weil er gebaut war wie ein Schrank und ein Herz hatte wie Softeis. „Über wen schreibst du denn?“

„Über Yura!“, erklärte Sinaida stolz.

Ivan verschluckte sich beinahe an einem Stück Hühnchen und begann zu husten, bis Sinaida ihm wenig hilfreich fest zwischen die Schulterblätter haute. Das Stück Huhn schoss aus Ivans Kehle und landete im Gras. Mit angewiderter Faszination verfolgte Sinaida, wie Ivan das Stück zwischen die Fingerspitzen nahm und hinter sich warf. Sergeij massierte sich seufzend die Nasenwurzel.

„Damit die Ameisen nicht herkommen“, erklärte Ivan Sinaida weise, dann etwas ungläubig: „Wieso ausgerechnet über Yura?“

Augenblicklich plusterte Sinaida sich auf. „Wieso nicht?“

„Weil er ein Bastard ist?“, sagte Ivan, „Und das meine ich nur im positivsten Sinn. Ich würd’s nicht aushalten, wenn er so ein – so ein Baumkuschler wär.“

Synchron sahen sie hinüber zu Yuriy, der jetzt schon pink war von der Sonne und Adhara mit Seilziehen beschäftigte. Sinaida konnte den Sonnenbrand schon förmlich riechen und scheinbar war es Boris nicht anders gegangen, denn er kam soeben aus dem Haus zurückgestapft, einen schwarzen Hut mit breiter Krempe in den Händen, den er Yuriy auf den Kopf zu drücken versuchte. Gerangel entstand. Adhara, begeistert von dieser Rudelaktivität, hüpfte schwanzwedelnd um Yuriy und Boris herum und japste, während Kai auf seiner Sonnenliege nur unbeeindruckt in seinem Buch weiterblätterte. Der Kampf endete schließlich damit, dass Yuriy Boris den Kopf in den Magen rammte und sich den Hut mit einem Schnauben aufsetzte, als der andere ächzend zusammenklappte und am Boden liegend das Gesicht von Adhara abgeleckt bekam. Yuriy sah aus wie die Emoversion eines sehr lauchigen Pilzes.

„Yura ist ein Bastard“, stimmte Sergeij schließlich zu. Als Sinaida empört den Kopf herumriss, fügte er hinzu: „Aber man muss in diesem Leben manchmal ein Bastard sein. Und er hat uns allen mindestens einmal das Leben gerettet.“

Sinaida horchte auf. „Wie?“

Sergeij steckte sich mehr Pommes in den Mund und kaute nachdenklich. Er warf einen fast vorsichtigen Blick hinüber zu Yuriy, der vollkommen darauf fokussiert war, Adhara hingebungsvoll den Bauch zu kraulen. Die Hündin lag absolut reglos am Rücken, die Zunge ein Stück weit aus dem halb geöffneten Maul hängend, und hatte die Augen zu wohligen Schlitzen geschlossen.

„Yura gibt nie auf“, sagte Ivan plötzlich. Sinaida legte den Steakknochen auf den Teller neben sich und leckte sich die Finger sauber, während sie ihn ansah. „Er ist nie gekippt. Gut, er war manchmal schon knapp davor, weil unsere Leben teilweise echt beschissen waren, aber das kann man ihm nicht verübeln. Das zeigt nur, dass er aus Fleisch und Blut ist, selbst wenn er’s manchmal gerne nicht wäre.“

„Beschissen? Warum?“

Sergeij und Ivan tauschten einen Blick aus, den Sinaida nicht enträtseln konnte. Es war aber der gleiche Blick, den Mama und Papa austauschten, wenn sie über Erwachsenenkram sprachen, für den Sinaida ihrer Meinung nach noch zu klein war.

„Kein Bock, den alten Mist wieder aufzurollen“, erklärte Ivan dann entschlossen, „so oder so: Yura zwingt einen immer dazu, weiterzumachen, weil er selber immer weitermacht. Wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, selbst wenn es total absurd und eine Schnapsidee ist, machst du mit. Er glaubt dran und irgendwie gehen die Wahnsinnigkeiten in acht von zehn Fällen auf.“

Sergeij nickte lächelnd und nahm einen Schluck von seinem Bier. „Yura hat hohe Ansprüche, das kann man echt nicht abstreiten. Aber wenn er an dich glaubt, dann aus einem Grund – und für immer. Selbst wenn du selbst nicht an dich glaubst.“

„Wenn du einen Helden im herkömmlichen Sinn willst, würd ich eher was über Takao Kinomiya schreiben“, erklärte Ivan, „Yura ist sich dafür zu bewusst über seine eigenen dunklen Flecken und die von anderen. Wenn du ihn nicht interessierst, beschäftigt er sich auch nicht mit dir. Er will nicht die Welt retten, außer um einem Arschloch eins reinzuwürgen. Er zettelt die meisten Kämpfe überhaupt nur an, weil er irgendwen für ein Arschloch hält und zu viel Ego hat, um sich von jemandem auf der Nase herumtanzen zu lassen.“

Sinaida seufzte und rollte sich auf den Rücken, um in den blauen Himmel zu starren. „Soll ich dann wirklich über ihn schreiben?“

„Absolut“, sagte Sergeij sachte, „Sina – er überlässt das Weltretten vielleicht anderen, aber er schützt das Rudel, immer. Man muss nicht immer ins Große, Epische gehen.“

„Obwohl wir das auch schon mal gemacht haben“, merkte Ivan an, „auch wenn der Idiot sich dann so fett und dramatisch durch die Gegend schlagen musste, dass er im Koma gelandet ist.“

Sinaida fuhr auf. „Was?“

Sergeij und Ivan wechselten erneut einen Blick. Dann stemmte Sergeij sich in die Höhe. „Ich such die Aufnahmen. Auch wenn ich an die Haarschnitte eigentlich echt nicht mehr erinnert werden will.“

3.
 

Es war seltsam gewesen, mit Ivan und Sergeij diese Matches anzusehen. Aus irgendeinem Grund hatten sie ihr nicht alles gezeigt, nur Ausschnitte, aber das hatte schon gereicht. Der Rotschopf mit dem puppenhaften Gesicht und den kalten, zornigen Augen war nicht die Person gewesen, die sie gekannt hatte. Sie hatte ihn nur in Splittern kennengelernt – bei ihrem ersten richtigen Aufeinandertreffen mit Yuriy, nach dem sie lange nicht gewusst hatte, ob er sie hasste oder nicht. Und in dem Moment, an dem er vor der Schule auf Grigorij Sergejewitsch, der Sinaida ständig nachgestellt hatte, gewartet und ihn dann am Kragen gepackt hatte, um ihn dreißig Zentimeter in die Luft zu heben und ihm zu erklären, dass er ihr nicht mehr zu nahe kommen sollte. Es hatte ihn nicht einmal gejuckt, dass Grigorij Sergejewitsch genauso alt war wie sie selber. Diese kalten Splitter hatten nichts gemein mit dem Yuriy, der zwar in die Luft ging, weil sie überhaupt kein Gefühl für Mathe hatte, ihr die verdammten Textaufgaben aber dennoch zwei Stunden lang erklärte. Und auch nicht mit ihrem Bruder, der einen misshandelten Hund aus dem Tierheim geholt und zwei Wochen lang mit der Hand gefüttert hatte. Und schon gar nicht mit dem Mann, dessen Augen voller heftiger Zuneigung waren, wenn sie auf Kai oder Boris lagen, sodass Sinaida manchmal schlecht wurde bei so viel Kitschigkeit.

Und Gott sei Dank war sein Modegeschmack seitdem so viel besser geworden.

„Okay, Chiliflöckchen”, sagte Boris, dessen Blick auf die große Teigschüssel gerichtet war, in der er mit kräftigen Bewegungen Teig knetete, „ich kann dich bis hier denken können und das ist echt eine Seltenheit. Was ist los mit dir?”

„He”, beschwerte Sinaida sich umgehend, „ich bin nicht dumm, ich denke sehr viel nach!”

Sie bekam einen Teigklecks gegen die Nase geschnipst und rieb sich empört das Gesicht sauber, während Boris weiter knetete und sagte: „Jahaa, aber mehr so darüber, wie wenig Lust du auf deine Hausaufgaben hast und was für eine dumme Gans Galja aus deiner Klasse ist und wie widerlich es ist, dass das eine Schulklo im dritten Stock diese eine Toilette hat, aus der seit ewigen Zeiten so ein komisches Blubbern kommt, das klingt wie Riesenfürze.”

Insgeheim war Sinaida durchaus beeindruckt, dass Boris sich das alles gemerkt hatte. Nicht einmal Yuriy merkte sich alles, was sie ihm wasserfallsartig erzählte, während er andere Dinge machte. Aber Boris war sowieso cool. Er war Boxer, was immer praktisch war, weil er dadurch schwere Dinge schleppen konnte, und er machte echt das beste Brot.

Sie krauste die Nase. „Wie lange kennst du Yura schon?”

„Seit wir Kinder waren”, sagte Boris nach einer kurzen Pause und warf ihr einen schrägen Blick zu. „Willst du mich etwa für dein Interview ausquetschen?”

„Woher weißt du, dass ich das für ein Interview brauche? Vielleicht stelle ich einfach nur unschuldige Fragen!”

„Du bist mit Yura verwandt, deine Chancen auf das Stellen von unschuldigen Fragen sind gleich null”, sagte Boris prompt, „außerdem haben Sergeij und Ivan mir deinen Plan verraten, du großer Mastermind, also kannst du mit offenen Karten spielen.”

Sinaida schmollte und zog sich auf die Küchentheke, was sie nur machen konnte, wenn Yuriy nicht zuhause war. Boris war es egal, denn er knetete fleißig weiter.

„Hast du Mama auch gekannt?”, wollte sie wissen.

„Nein”, sagte Boris, „da war sie schon weg.” Er hielt inne und sah sie erneut von der Seite an. „In eure komische Familiengeschichte will ich nicht mit reingezogen werden, ich bin die Schweiz.”

„Toblerone?”, fragte Sinaida verdattert, die absoluter Toblerone-Fan war, seit Kai mal welche von einem Businesstrip in die Schweiz mitgebracht hatte.

Boris schnipste erneut einen winzigen Teigklecks in ihre Richtung, dem sie zwar ausweichen konnte, wodurch sie aber fast von der Küchentheke fiel. „Nein, du Leckermaul. Absolute Neutralität.”

„Du kannst gar nicht neutral sein”, hielt Sinaida ihm prompt entgegen, „du hältst immer zu Yuriy!”

Etwas um Boris’ Mundwinkel zuckte, das verriet, dass er amüsiert war. „Schalt’ mal das Backrohr an, du Klugscheißer. Ober- und Unterhitze, 220 Grad.”

„Klugscheißerin”, korrigierte Sinaida ihn triumphierend, hüpfte aber von der Theke und tat wie geheißen. „Wie ist es, wenn man jemanden so lange kennt?”

„Anstrengend”, sagte Boris mit einem tiefen Seufzer und hob den Teig aus der Schüssel, um ihn auf der Arbeitsfläche weiter behände zu strecken, zu falten und zusammenzukneten, während das Backrohr vorheizte.

„Wenn es so anstrengend ist, warum bist du dann mit ihm zusammen?”, fragte Sinaida ehrlich verdattert. „Hast du dir schon mal gewünscht, dass ihr euch nicht kennengelernt hättet?”

Boris hielt im Kneten inne und blinzelte sie an, als ob sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. „Was ist das für eine bekloppte Frage?”

„Ja sag halt einfach!”

Boris griff sich an die Stirn und machte einen tiefen Atemzug. Dann fragte er: „Nervt er dich manchmal hart?”

„Na sicher!”

„Würdest du deswegen wollen, dass du ihn nie kennengelernt hättest?”

Sinaida musste nicht einmal nachdenken, bevor sie den Kopf schüttelte.

Boris schüttelte ebenfalls den Kopf und wuchtete den Brotlaib auf das Backblech, das am Herd bereitstand, um ihn dann mit einem Tuch abzudecken. „Na eben. Ist mir egal, dass es manchmal anstrengend ist, ich würde ihm überallhin folgen. Das muss jetzt zwanzig Minuten gehen, stell einen Timer.”

Sinaida tat wie geheißen. „Hätten wir das Backrohr nicht erst später aufdrehen sollen?”

„Vielleicht”, befand Boris nach kurzem Nachdenken, „aber ich mach’ das jetzt nicht mehr aus, das hält das Ding schon aus. Jetzt hilf mir aufräumen, sonst bekommt Yura die Krise, wenn er heimkommt.”

Als Yuriy knappe fünfundzwanzig Minuten später von seinem Spazierlauf mit Adhara heimkam, war die Küche blitzblank geputzt und der Brotlaib im Backrohr. Er fand Boris und Sinaida davorkniend und fasziniert hinein starrend und schüttelte den Kopf.

„Ist euch noch zu helfen?”, fragte er und zog dabei die Schuhe im Vorzimmer aus, nahm Adhara die Leine ab und kniete sich vor sie, um zu einem bereitgelegten Handtuch zu greifen und ihre Pfoten abzurubbeln. „Die Dame hier hat sich heute übrigens eingebildet, dass sie schwimmen gehen und ein paar Enten jagen muss.”

„Hat sie eine erwischt?”, fragte Boris, ohne den Blick vom Brotlaib zu nehmen.

„Nein.”

„Lahm”, befand Sinaida, „hätt' das Abendessen sicher aufgewertet."

Boris nickte zustimmend. „Von deinem Hund hätt’ ich echt mehr erwartet, Yura. Ich bin enttäuscht. Ihr enttäuscht mich.”

„Dann weißt du ja, wie es mir jeden Tag mit euch geht”, sagte Yuriy trocken. Er kam in die Küche und glitt mit den Fingern flüchtig durch Sinaidas Locken, dann über Boris’ ausrasierten Nacken, ehe er Adharas Futter richtete.

„Glaubst du ihm?”, fragte Sinaida Boris.

„Kein Wort, zu keiner Zeit”, sagte Boris.

Yuriy schüttelte den Kopf und nahm sich ein Glas Wasser, während Adhara mit Gusto ihre Schonkost fraß. Dann setzte er sich neben Sinaida und Boris auf den Boden, warm und gerötet von der Sonne, und verschwitzt. Adhara kam herübergetapst und leckte ihnen allen über die Wange, egal ob sie wollten oder nicht, dann legte sie sich halb in Yuriys Schoß und schloss zufrieden die Augen. Yuriy legte die Wange auf Boris’ Schulter und streifte dabei Sinaida, als er mit ihnen gemeinsam schweigend mehrere Minuten lang das Brot anstarrte.

„Schön”, sagte er schließlich, „ich wurde wieder einmal darin bestätigt, dass ich von Wahnsinnigen umgeben bin.” Er erhob sich und drückte flüchtig Sinaidas Schulter, dann Boris’ Hand, als der ohne den Blick vom Backrohr zu nehmen nach ihm griff. „Falls ihr Kontrastprogramm braucht, ich schalte nach dem Duschen die Waschmaschine an. Habe mir sagen lassen, dass das Schleuderprogramm auf Kanal vier heute besonders wild ist.”
 

4.

„Mama“, sagte Sinaida einen Tag später, „wie war Yura als Kind?“

Mama erstarrte wie zur Salzsäule. Das Abwaschwasser lief ihr über die Hände, aber sie schien es nicht zu bemerken. Stattdessen kniff sie die dunklen Augen zusammen und sah Sinaida mit einem Blick an, der schwer zu entziffern war. Dann wiederum wusste Sinaida echt nicht, was durch den Kopf der meisten Erwachsenen ging, Mama war da kein Einzelfall.

„Yura?“, wiederholte sie.

„Jaaahaaaaa“, sagte Sinaida ungeduldig, „du hast ihn sicher schon mal gesehen. Der lange Lauch mit dem Hund und den roten Haaren.“

Etwas zuckte um Mamas Mund, dann griff sie nach einem Geschirrtuch und trocknete sich die Hände ab. „Warum willst du das wissen?“

„Duh“, sagte Sinaida, „weil wir verwandt sind? Papa weiß auch alles über seine Geschwister.“

Papa raschelte mit der Zeitung, die er am Küchentisch las, eine Zigarette in dem Aschenbecher vor sich. Ihre Eltern machten das oft am Sonntag, gemeinsam in der Küche oder im Wohnzimmer sitzen, wo jeder irgendwas anderes machte und sie trotzdem zusammen waren. Es war ziemlich kitschig, aber Sinaida fand es auch ziemlich süß, auch wenn sie natürlich lieber gestorben wäre, als das zuzugeben. Eltern durften nicht süß sein, dafür waren sie viel zu peinlich. Zu den Peinlichkeiten gehörte eigentlich auch, dass ihre Eltern gerne Geschichten von früher erzählten – von Mamas Kindheit, als sie Schlittschuh laufen war auf der Moskwa, oder von Papas Jugend, als er mit seinen Kumpanen nachts um drei sturzbetrunken durch St. Petersburg getaumelt und beinahe in einem der Kanäle ersoffen war. Oder davon, wie sie sich kennengelernt hatten – Mama, der am Roten Platz etwas heruntergefallen war, Papa, der es für sie aufgehoben hatte und dann bei ihrem Anblick so verlegen geworden war, dass er „Schöne Augen haben wir heute“ gesagt hatte, statt das Wetter zu kommentieren. Oder von der Hochzeit, wo sie drei Stunden lang getoastet hatten und einer von Papas Gästen vierzehn Tauben mitgebracht hatte, die nach dem Freilassen alles angekackt hatten, inklusive Mamas Schwiegermutter. Und am allerliebsten erzählten sie von Sinaidas Kindheit, wo sie beinahe von einer Möwe gefressen worden wäre, weil sie komplett pink angezogen gewesen war und damit ausgesehen hatte wie ein überdimensionaler Fleischklops, oder von der Zahnspange, in der regelmäßig der Mais hängen geblieben war und dem einen Mal, als sie im Supermarkt einen Wutanfall bekommen hatte, weil sie nicht die zweite Süßigkeitenpackung bekommen hatte.

Erst jetzt, wo sie genauer darüber nachgedacht hatte, waren ihr die Lücken in diesen Erzählungen aufgefallen.

Von Sinaida gab es eine lange Reihe Fotoalben, die niemals irgendjemand außerhalb ihrer Kernfamilie zu Gesicht bekommen durfte. Aber von Yuriy gab es ein einziges Foto, nur eines. Es hatte einen Knick in der Mitte, weil Mama es jahrelang in ihrer Brieftasche versteckt hatte. Der Knick verlief auf der Rückseite genau durch die Aufschrift „Sommer 1988, bei Anna Marijewnas Taufe“ und auf der Rückseite genau durch das Gesicht eines Dreijährigen, dessen Kulleraugen die Hälfte seines dünnen Gesichts auszumachen schien. Er schien gefangen zu sein zwischen Lachen und Empörung über den Anzug, in den man ihn gesteckt hatte, und er umklammerte die breite Hand eines Mannes, von dem man nichts außer dieser Hand sah. Mama hatte dieses Foto erst in einen Rahmen gegeben und zu sich ins Schlafzimmer gestellt, nachdem sie sich mit Sinaida hingesetzt und ihr erklärt hatte, dass es einen Bruder gab. Seitdem musste Sinaida immer wieder darüber nachdenken, was es noch alles gab, das ihre Eltern ihr nicht erzählten.

„Hatte Yura auch eine Zahnspange?“, wollte Sinaida wissen.

Erneut zuckte etwas um Mamas Mund. Sie blickte auf das Abwaschbecken, krampfte die Finger in das Geschirrtuch und steckte sich dann eine rote Haarsträhne hinter die Ohren. Papa blätterte um und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Nein.“

Sinaida rollte mit den Augen. Klassiker, dass ihre Mutter, die sonst nie aufhören wollte zu reden und wie ein Wasserfall haarklein von ihren langweiligen Friseurbesuchen erzählen konnte, genau jetzt auf den Mund gefallen zu sein schien. „Dann erzähl mir was anderes! War er sehr schlimm? Hat er immer die Legohäuser umgeworfen, so wie ich?“

„Nein“, sagte Mama und schien immer leiser zu werden. Sie sah zu Papa, der die Zeitung herunterklappte, als ob er es spürte, ihren Blick ruhig erwiderte und die Zeitung dann wieder hochklappte. Mama atmete tief ein und bemühte sich um ein Lächeln. „Er war ein sehr liebes Kind. Er war viel draußen. Damals war das noch nicht so gefährlich. Oder vielleicht doch. Aber besser als-“ Sie brach ab.

„Als?“, bohrte Sinaida nach.

Mama lächelte matt. „Als – als wenn er sich gelangweilt hätte.“

„Hat er sich viel gelangweilt?“

Mama dachte einen Moment lang mit gerunzelter Stirn nach. „Nein. Er hat sich immer irgendeine Beschäftigung gefunden, ihn hat vieles interessiert. Er hat früh lesen gelernt und manchmal mit uns ferngesehen. Wir haben ihn nach Gargarin benannt“, sagte sie plötzlich, „und Berichte über Kosmonauten hat er deswegen verschlungen. Er hat sich immer überlegt, was er den Außerirdischen sagen wird, wenn die in Moskau landen, an Außeridische hat er fest geglaubt. Mit Vier konnte er die ganzen Planeten auswendig, und die meisten ihrer Monde. Nikolai war so stolz-“ Erneut brach sie ab und presste sich die Hand gegen die Brust.

„Stirbst du jetzt?“, erkundigte Sinaida sich empört. „Ich hab’ noch Fragen!”

„Sina”, sagte Papa mahnend hinter der Zeitung hervor, wie er es immer tat, wenn er sie taktlos fand.

Mama schüttelte nur den Kopf. Sie wischte sich über das Gesicht und drehte dann wieder das Wasser auf, um weiter abzuwaschen.

„Nikolai war Yuriys Papa, oder?“, fragte Sinaida nach einem Moment.

„Ja“, sagte Mama mit einer Stimme wie klirrendes Glas, die Sinaida beinahe erschreckte und die sie an Yuriy erinnerte.

„Über den Jungen könnt ihr reden, so viel ihr wollt“, sagte Papa ruhig, aber bestimmt hinter der Zeitung hervor, „aber von dem Mistkerl will ich nichts hören.“

„Ich würde aber echt gern mal Dinge hören“, sagte Sinaida mit einem tiefen Seufzer.

Mama stellte den letzten Teller beiseite. Dann wischte sie sich die Hände sauber, drehte sich um und sah Sinaida lange an.

„Hast du Yuriy nach den gleichen Sachen gefragt wie mich?“, wollte sie dann wissen.

Sinaida starrte sie an. „Ich kann ihn doch nicht danach fragen! Dann weiß er, dass was im Busch ist und ich kann meinen Aufsatz vergessen!“

Mama blinzelte ein wenig. „Du schreibst den Aufsatz für Anna Michailovna über Yura?“, fragte sie dann mit einem ganz merkwürdigen Tonfall.

„Sicher“, sagte Sinaida verständnislos, „das gilt voll, weil er hat einen Wikipedia-Eintrag.“

„Ich weiß“, sagte Mama leise, „aber der sagt auch nicht alles, nicht wahr?“

„Deswegen stelle ich ja Fragen“, erwiderte Sinaida ungeduldig, „aber die Antworten sind meistens echt nicht hilfreich.“

„Ich kenne ihn ja kaum noch“, sagte Mama und strich sich über den roten Zopf, „und das ist meine Schuld-“

„Natascha“, sagte Papa mit einer gewissen Härte, aber ohne die Stimme zu heben. Stattdessen senkte er die Zeitung und ihre Eltern sahen sich einen Moment lang schweigend an. Dann lächelte Mama matt und sah zum Fenster hinaus. Sinaida verstand echt gar nichts mehr, aber sie wagte es gerade auch nicht, danach zu fragen. Am Ende weinte Mama noch, weil sie oft weinte, wenn es um Yuriy ging, und das wollte Sinaida eigentlich nicht. Sie wusste dann nie, was sie machen sollte und es war Sonntag. Sonntage waren ihrer Meinung nach keine guten Tage für einen emotionalen Ausraster, auch wenn Boris behauptete, dass jeder Tag ein guter Tag für einen emotionalen Ausraster war.

„Es ist gut, dass du über ihn schreibst“, sagte Mama plötzlich und diesmal war ihr Lächeln warm, „er ist ein guter Mann geworden. Du kannst stolz auf ihn sein.”

„Du nicht?”, fragte Sinaida.

„Ich weiß nicht, ob ich ein Anrecht darauf habe”, sagte Mama nach einer sehr langen Pause, „aber er war immer in meinem Herz. Niemand ist stolzer als ich.”

5.

Schließlich war es Kai, den sie überreden konnte, mit ihr zur Abtei zu gehen.

An diesem Punkt hatte sie schon gründliche Recherche betrieben. Zum Einen waren da die Ausschnitte der Videos gewesen, die Ivan und Sergeij gezeigt hatten, dann die Gespräche mit den anderen. Zum anderen gab es ja tatsächlich das Internet, und das Internet hatte nicht wenig über ihren Bruder zu sagen. Das meiste davon hatte sie aufgeregt, einiges davon hatte sie nicht verstanden, von vielem war sie sicher gewesen, dass es sich dabei nicht unbedingt um professionellen Journalismus handelte. Yuriys Team hatte von Anfang an wenige Interviews gegeben, so wenige, dass man sie an einer Hand abzählen konnte, und in keinen davon hatten sie irgendwas wirklich Brauchbares von sich gegeben. Sinaida hatte ihn angestarrt, den Junglauch mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck und den zwei Antennen, und sich gefragt, ob sie ihn gemocht hätte, wenn sie sich damals schon gekannt hätten. 

Alle ihre Freundinnen mit älteren Geschwistern kannten kein Leben ohne sie und die meisten hatten keine zwölf Jahre Altersunterschied zwischen sich, sondern vielleicht zwei oder fünf. Es war komisch. Es war bisher nie wirklich komisch gewesen, aber jetzt, wo sie wirklich darüber nachdachte, war es absolut komisch. Sinaida kannte Yuriy nur so, wie er jetzt war: ein Erwachsener mit einem Job, der Steuern bezahlte und sich über die Regierung beschwerte, und der leidlich kochen konnte, es aber nicht gerne tat. Ein Erwachsener, der keine Pickel hatte – oder nur sehr selten – und dessen Stimmbruch sie niemals mehr auf Band würde aufnehmen können, um ihn sein Leben lang damit zu erpressen. Sie wollte wissen, wo er diese seltsamen Jahre der Jugend verbracht hatte, die blinde Flecken für sie und Mama waren. 

Sinaida kniff die Augen zusammen und starrte durch das mit Ketten verschlossene Gittertor auf die Gebäude der Abtei, von denen langsam der Putz abblätterte. Es war ein trostloses Gelände, auf dem kein Gras wuchs, und es wirkte kalt, auch wenn sie einen milden Sommertag hatten, an dem Sinaida weder fror noch schwitzte. Neben ihr verschränkte Kai die Arme vor der Brust und starrte das schwere Vorhangschloss an, das den Zugang verwehrte. Kai war ein bisschen seltsam, aber auch nicht seltsamer als alle anderen Leute, mit denen Yuriy sich umgab, und auch nicht seltsamer als Yuriy selber. Eigentlich, überlegte Sinaida, eigentlich war Miroslav aus ihrer Klasse viel seltsamer, denn der hatte den permanenten Drang, Gurkenscheiben in die Zimmerecke über der Tafel zu schießen und dann so lang hysterisch zu lachen, bis man ihn nach dem Grund dafür fragte. Wenn Sinaida es sich aussuchen konnte, dann nahm sie lieber jemanden wie Kai, der wenigstens ziemlich heiß war, wenn auch alt, und der keine Gurkenscheiben an die Wand klatschte, zumindest nicht vor ihren Augen. 

„Okay“, sagte sie, um nicht mehr an Gurken zu denken, „und wie war das Leben in der Abtei so?“

„Hart und monoton“, sagte Kai achselzuckend. Er hatte mit Yuriy über diesen Ausflug gesprochen, zumindest glaubte Sinaida das, denn sie war sich relativ sicher, dass Kai sie nicht hierher begleitet hätte, ohne es mit den anderen zu besprechen, egal, wie sehr sie ihn damit genervt hatte. 

„Gab’s Gebete?“, bohrte Sinaida nach.

Kai grinste amüsiert. „Pro forma vielleicht.“

„Wann ist Yura in die Abtei gekommen?“

Kai zuckte erneut mit den Achseln. „Ich weiß es nicht genau.“

„Du weißt es nicht genau?“, fragte Sinaida ungläubig, „Hast du nicht gefragt?“

„Hast du nicht gefragt?“, schoss Kai zurück. „Es spielt keine Rolle, Kitsu-Chan.“

Sinaida dachte eine Weile darüber nach. Dann fragte sie: „Was spielt dann eine?“

Jetzt lächelte Kai nicht mehr. Stattdessen blickte er über das Gitter hinweg auf die Türme der Abteigebäude. Einen langen Moment war er still. Dann sagte er: „Die Abtei war für ihn schlechter als alles, was danach kam, aber besser als das, was davor war, glaube ich.“

„Davor waren Mama und Yuriys Vater“, wandte Sinaida ein, auch wenn sie schon die längste Zeit einen Klumpen im Magen hatte bei der Frage, an die sie kaum denken wollte, weil sie Angst vor der Antwort hatte.

Kai sah sie an, als ob er ihre Gedanken trotz ihrer Empörung erraten konnte. Sie hatte es immer schon gemocht, dass er sie nie wie ein kleines Kind behandelte. Aber das tat eigentlich keiner von Yuriys Wahlfamilie. „Ich weiß.” 

Ausnahmsweise wusste Sinaida nicht, was sie darauf sagen sollte.

Kai lächelte auf sie herab und ließ einen Moment lang eine Hand auf ihrem Kopf ruhen. „Ich glaube, wir haben dieses Gebäude jetzt lange genug angestarrt. Willst du Eis? Yura hat gemeint, er würde irgendwo zu uns stoßen, sobald er die Runde mit Adhara fertig hat.“

„Eis klingt gut“, sagte Sinaida und warf noch einen Blick auf die Abtei, bevor sie sich umdrehte. Das Gebäude war alt, verfallen, verlassen. Sie konnte nicht mehr sagen, was sie hier hatte finden wollen.

„Findest du, dass Yura ein vernünftiger Mensch ist?“, fragte Sinaida schließlich, als sie die Abtei bereits hinter sich gelassen hatten und die nächste Eisbude angesteuert hatten. Jetzt saßen sie an einem der Tische, beide mit einer riesigen Sonnenbrille auf dem Gesicht, und löffelten Eis in sich hinein, während sie auf Yuriy warteten.

Kai gab ein undefinierbares Geräusch von sich und schluckte, ehe er sich den Mund abtupfte und sagte: „Lass dir mal von Boris erzählen, wie Yuriy einen Sommer lang losgezogen ist, um allen den Arsch zu versohlen, weil er dachte, dass seine Probleme nur so gelöst werden können. Ich musste ihm den eigenen dürren Arsch zuerst auf Grundeis legen, damit er rauskommt aus der Haltung.“

„Du hast mir den Arsch nicht auf Grundeis gelegt, du Lügner“, sagte Yuriy, der hinter ihm aus der Menge aufgetaucht war. Er wuschelte Sinaida durch die Haare, streifte mit den Fingerspitzen kaum sichtbar über Kais Fingerknöchel und ließ sich auf den Stuhl zwischen sie fallen. Adhara leckte hingebungsvoll über Sinaidas Fingerspitzen, bis die sie hinter den Ohren kraulte. „Borya hat den Kampf unterbrochen, der Klassenverräter. Außerdem ist mein Arsch nicht dürr und war es auch zu keiner Zeit. Adhara-“ Er gab einen kleinen, präzisen Pfiff von sich, woraufhin Adhara sich zu seinen Füßen unter den Tisch quetschte und zu ihm aufblickte, als ob er die Sonne in den Himmel gehängt hatte. 

„Ach, wie süß“, sagte die Kellnerin bei ihrem Anblick und lächelte Yuriy an. „Was für einer ist das denn?“

„Malamute-Samojede-Mischling“, erwiderte Yuriy höflich, „hätten Sie vielleicht eine Schüssel Wasser? Und für mich einen Eiskaffee.“

Als die Kellnerin enthusiastisch bejahend verschwunden war, fragte Sinaida: „Warum hast du Leuten den Arsch versohlt?“

Eine alte Frau starrte Yuriy empört an, als der anstatt Sinaida für ihre Sprache zurechtzuweisen einfach nur erwiderte: „Ich dachte damals, dass es anders nicht geht.“

„Was? Das ist doch voll beknackt. Warum denn?”

Yuriy gab einen langen, tiefen Seufzer von sich. Einen Moment lang sagte er nichts, dann: „Ich war ein Teenager mit Problemen. Da ist man so verdammt dramatisch.“

„Ich werd' sicher nie so dramatisch sein wie du, und ich werd' mich auch nie so furchtbar anziehen“, sagte Sinaida empört und nahm ihm das Eis weg. „Was hast du für Probleme haben können, die diese komischen Haltegriffe an deinem Outfit gerechtfertigt haben? Damit du beim nächsten Orkan nicht wegwehst, oder was? Und was war das für eine furchtbare Farbkombi?”

„Du bist dreizehn, du aufmüpfiger Krümel“, sagte Yuriy unbeeindruckt, ohne ihre Fragen zu beantworten, und zog das Eis wieder heran, „reden wir weiter, wenn du mal so alt bist wie ich und ich Beweisfotos von deinen schlimmsten Modephasen habe.”

Irgendwie, fand Sinaida, war es eine verdammt nette Vorstellung, dass Yuriy dann immer noch da sein würde. Auch wenn er ständig ihr Eis klaute.
 

6. 

Sinaida hatte eigentlich nicht schnell vor irgendetwas Angst. Aber der Sturm rüttelte schon seit Stunden an Moskaus Straßen und Häusern, währen der Regen gegen die Fenster einschlug, als ob er sie zertrümmern wollte. Yuriys und Boris‘ Wohnzimmer war voller finsterer Schatten, die sich zu bewegen schien, je länger sie sie anstarrte. Mit einem tiefen Einatmen zog Sinaida sich die Decke, in der sie eingerollt auf dem Sofa schlief, über den Kopf. Nein, sie hatte keine Angst. Es war einfach nur ein bisschen unbequem. 

Sie zuckte zusammen, als eine Tür sich knarrend öffnete.  

Einen Moment lang lauschte sie mit angehaltenem Atem, ohne sich zu rühren. Schritte gingen über das knarrende Parkett, dann hielten sie inne. Einen Augenblick war es still. Dann seufzte jemand sehr tief und die Decke wurde von ihrem Kopf heruntergezogen.

„He!“, protestierte sie zischend.

Yuriy musterte sie unbeeindruckt, zumindest nahm sie das an. Nachdem das einzige Licht von den sturmgebeutelten Straßenlichtern vor dem Fenster kam, war seine Gestalt ein Mosaik aus Schatten und Grautönen, was nicht besonders viel Aufschluss über seinen Gesichtsausdruck gab. 

„Ich geh‘ Milch trinken“, erklärte er leise genug, dass es nicht zu einer Unterbrechung des hingebungsvollen Schnarchens aus dem Schlafzimmer führte. „Kommst du mit?“

„Es ist-“ Sie warf einen Blick auf das Display ihres Handys. „Es ist vier in der Früh!“

„Und?“

„Wieso trinkst du um vier Uhr morgens Milch?“

„Ist das deine einzige Frage?“

Sinaida dachte darüber nach. Dann fragte sie: „Krieg‘ ich ein Stück von dem übrig gebliebenen Kuchen von gestern?“

Sie bildete sich ein, Yuriy mit den Schultern zucken zu sehen. „Klar.“

Er wartete, bis sie sich aus der Decke befreit und vom Sofa geschwungen hatte. Dann nahm er ihre Hand, um sie vom Wohnzimmer aus durch das Vorzimmer zur Küche zu dirigieren. Erst da schaltete er das Licht über dem Herd an. Sie sah ihm zu, wie er – gekleidet in Boxershorts und ein Shirt, das eindeutig Boris gehörte und permanent von einer seiner Schultern rutschte – den Kühlschrank öffnete und den Rest des Karottenkuchens herauszog, um ihn vor sie auf den Küchentisch zu stellen. Dann suchte er eine Gabel heraus und schenkte sich Milch in ein Glas ein, schloss den Kühlschrank wieder und ließ sich ihr gegenüber fallen. Sinaida schnitt sich ein Stück von dem Kuchen mit dem Messer, das schon am Teller gelegen hatte, ab und stach mit der Gabel hinein. 

„Machst du das öfter?“, wollte sie wissen und steckte sich dabei einen Bissen in den Mund.

Yuriy zog eine Augenbraue in die Höhe. „Milch trinken?“

„Milch trinken um vier Uhr Früh“, präzisierte Sinaida kauend.

Yuriy dachte einen Moment lang darüber nach und nahm dabei einen Schluck. Dann sagte er: „Manchmal ist es auch drei oder fünf.“ Er sah, dass sie den Mund zu einer weiteren Frage öffnete und kam ihr zuvor, indem er hinzufügte: „Mein Schlafrhythmus ist manchmal ein bisschen im Arsch. Aber er pendelt sich nach ein paar Tagen meistens wieder von selbst ein. Ist nichts gegen das, was Kai meistens aufführt.“

Sinaida schürzte die Lippen und kam erst nach ein paar Sekunden darauf, dass das die gleiche Geste war, die auch Mama gerne machte, wenn sie etwas nicht gut fand, es aber nicht offen sagen wollte. Yuriy musterte sie über den Rand des Glases mit seinen hellen Augen und einem kleinen Schmunzeln, als ob es ihm auch aufgefallen war. Es war recht witzig, ihn mit feinen, rotblonden Stoppeln auf den Wangen zu sehen. Sie wurde aus diesen Gedanken gerissen, als ein gleißend heller Blitz über den Himmel zuckte und sie ein Auge zusammenkneifen ließ. Sekunden später rollte ohrenbetäubender Donner über Moskaus Dächer.

Yuriy trank sehr unbeeindruckt noch einen Schluck Milch. „Na, heute knallt’s mal wieder ordentlich.“

„Gewitter sind Scheiße“, sagte Sinaida mit viel Gefühl.

Sie wurde erneut von hellen Augen gemustert. Dann verzog Yuriy die Lippen zu einem kleinen, amüsierten Lächeln, von dem sie nicht genau sagen konnte, ob es auf ihre Kosten ging oder nicht. „Du hast doch wohl nicht Angst?“

„Natürlich nicht!“, erklärte Sinaida heftig. Vor Yuriy, der weder Tod noch Teufel fürchtete, würde sie bestimmt nicht zugeben, dass ihr mulmig zumute war bei einem Wetter, das selbst dem wehrhaften Moskau zuzusetzen schien.

Aber es war schwierig, irgendwas vor Yuriy geheimzuhalten. Er sagte nichts, sondern trank nur aus, während Sinaida seinem Blick auswich und mit gesenktem Kopf in ihrem Kuchenstück herumstocherte. Dann erhob er sich und räumte sein Glas in den Geschirrspüler.

„Stell‘ den Kuchen zurück in den Kühlschrank“, wies er sie mit einem Tonfall an, der vermuten ließ, dass er irgendetwas vorhatte. Zu perplex um zu protestieren tat Sinaida wie geheißen. Als sie sich zu ihm umdrehte, hatte er den Küchentisch ein Stück zur Seite gerückt, sodass zwei Leute mit etwas Quetschen vor dem Küchenfenster stehen konnten. Er winkte sie zu sich heran und Sinaida folgte der Aufforderung mit gerunzelter Stirn.

„Was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte sie skeptisch.

„Frühmorgendliche Lebensweisheiten“, sagte Yuriy und machte eine Pause. „Das sind die besten. Außer wenn sie von Boris kommen, wenn er wieder zu viel gesoffen hat, dann sind diese frühmorgendlichen Lebensweisheiten nämlich meistens ‚Im Notfall ausziehen‘ und das ist einfach kein allgemeingültiger Tipp, egal was er dir weismachen will.“  

„Gott sei Dank hat keiner von euch Kinder“, stellte Sinaida fest.

Yuriy schenkte ihr ein Grinsen, das nahe an einem Zähnefletschen war und ein bisschen wahnsinnig wirkte. „Es ist jedenfalls keine Schande, vor einer Naturgewalt Angst zu haben, Sina. Das ist sogar ziemlich intelligent.“

„Ich hab‘ keine Angst“, murmelte Sinaida halbherzig. Sie kniff erneut die Augen zusammen, als ein Blitz über den Himmel fuhr und Yuriys Gesicht einen Moment lang in tausend scharfe Splitter zerbrechen ließ. 

„Angst heißt, dass du am Leben bist“, sagte Yuriy, „und ein Unwetter kann dir ein ganz neues Weltbild eröffnen. Die Strukturen des Systems zeigen sich immer erst so richtig im Chaos.“

Sinaida wollte fragen, was er damit meinte, aber da riss Yuriy bereits das Fenster auf und ließ den Sturm herein.

Automatisch hob sie eine Hand vor ihr Gesicht, als die Luft an ihr vorbeipeitschte und irgendwo in der Küche etwas zum Scheppern brachte. Sie ließ den Arm erst wieder sinken, als kalte Finger sich fest und sicher um ihre Schultern schlossen. Yuriy ließ den Blick auf ihr ruhen, während ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Der Sturm wühlte sich durch ihrer beider Haar, bis man nicht mehr sagen konnte, wo das eine aufhörte und das andere begann und Sinaida sich fühlte wie von einer Feuersbrunst umhüllt. Yuriy zog sie an sich und drehte sich gemeinsam mit ihr dem Unwetter zu, das Wind und Regen auf sie und den Küchenboden niedergehen ließ. Sie wurde nass, aber der Sommersturm war warm, sodass sie nicht fror. Stattdessen atmete sie tief ein und stellte fest, dass Yuriys Arm sicher um sie lag. Der Sturm mochte an den Fenstern rattern, so sehr er wollte, mochte Masten umwerfen und Straßenlichter zum Schaukeln bringen: ihre Füße standen sicher am Grund und der Regen verletzte nicht. Stattdessen blickte sie mit weiten Augen auf die einsame, nächtliche Stadt, die unter dem Sturm gebeugt wurde und hatte ein seltsames Gefühl in der Brust, das ihr die Kehle abschnürte: wie als ob sie etwas Großartiges erlebte, etwas Einmaliges, ohne dass sie benennen konnte, was es war. 

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dort standen. Aber irgendwann hörte der Sturm auf, erschöpfte sich nach und nach wie ein Tier, das zu lange getobt hatte. Der Regen hörte auf, der Wind legte sich, und Sinaida stand dort mit Yuriy am Fenster und war sich bewusst, schmerzhaft klar bewusst, dass sie existierte. 

„Oh“, sagte sie leise.

Yuriy summte und ließ sie los, um das Fenster zu schließen. Stille legte sich um sie. Er war genauso durchnässt wie sie, aber er lächelte so sehr, dass sich kleine Grübchen in seinen Wangen zeigten, die ihn einen Moment lang fast weich wirken ließen. Sinaida war sich sehr sicher, dass Yuriy ein bisschen verrückt war. Aber sie hatte ihn in diesem Moment so gerne, dass sie nicht wusste, wohin damit. Es waren sehr viele Lebenserkenntnisse auf einmal, besonders für eine Dreizehnjährige.

„Okay“, sagte sie schließlich, „Stürme sind schon irgendwie cool. Aber wenn ich jetzt an einer Lungenentzündung sterbe, bist du verpflichtet, eine megageile Grabrede zu halten, sonst bin ich echt sauer.“

„Unsinn“, sagte Yuriy wenig mitleidig, „wenn man irgendwas über unsere Familie sagen kann, dann, dass wir nicht so leicht verrecken, schon gar nicht an einer Lungenentzündung.“

„Trotzdem ab ins Bad?“

„Trotzdem ab ins Bad“, bestätigte Yuriy und schob sie zur Tür hinaus.

„Kann ich den restlichen Kuchen im Bett essen?“, fragte Sinaida, während er ihr im Badezimmer sorgfältig die Haare trocken rubbelte und dabei nicht mal so schlimm daran zog.

„Das ist ein Sofa“, sagte Yuriy, „und wenn du bröselst, gehst du morgen selbst mit dem Handstaubsauger drüber.“

„Ist das ein Ja?“

„Von mir aus“, sagte Yuriy, rubbelte sich die Haare trocken und reichte ihr dann eine Bürste, um sich eien zweite zu schnappen. Schweigend entwirrten sie eine Weile ihre Haare, ließ Yuriy sie das Kuchenstück holen, bugsierte sie zurück ins Wohnzimmer und verschwand im Schlafzimmer. Er kam zwei Minuten später mit einem T-Shirt zurück, das eindeutig ihm gehörte, weil darauf eine Galaxie mit der Unterschrift „I Need Space“ zu sehen war. Außerdem war ihm Adhara auf den Fersen, die mit dem Schwanz wedelte, als sie Sinaida sah und dann zu ihr auf die Couch kletterte. Yuriy kraulte sie sanft hinter den spitzen Ohren, dann warf er Sinaida das Shirt gegen den Kopf.

„Ich lasse Adinka bei dir“, sagte er ohne weitere Erklärung. Dann zögerte er, als ob er sich nicht sicher war, was er tun sollte, ehe er einen Moment lang die Hand auf ihrem Kopf ruhen ließ. „Schlaf gut.“

„Gute Nacht“, sagte Sinaida mit einem Gähnen, „ich hab‘ dich lieb.“

Einen langen Augenblick herrschte Stille. 

Dann sagte Yuriy rau: „Zieh‘ dich um, bevor du schlafen gehst, sonst erkältest du dich am Ende wirklich noch.“

Er war im Schlafzimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen, ehe Sinaida noch etwas darauf erwidern konnte. Männer, dachte Sinaida mit einem Augenrollen, zog sich um und kuschelte sich in die Decke und gegen Adhara, die leise in ihr Ohr schnaubte. Sie war innerhalb von Minuten eingeschlafen, ohne den Kuchen ein zweites Mal angesehen zu haben. 

Epilog

Ich soll über eine berühmte Person schreiben, die mich inspiriert, Gutes zu tun. Anna Michailova, ich weiß ganz genau, dass Sie jetzt irgendwas lesen wollen von wegen Mutter Theresa oder Ghandi oder so. Aber Mutter Theresa war echt ziemlich problematisch und Ghandi war ein frauenfeindlicher Arsch ziemlich frauenfeindlich. Das finde ich jetzt nicht so inspirierend, um ehrlich zu sein, deswegen können Sie sich das abschminken werden Sie hier von jemand anderem lesen. Aber er hat einen Wikipedia-Artikel, der sogar über fünf Fußnoten hat und deswegen finde ich, dass das voll gilt. Außerdem gibt’s Merchandise von ihm und das ist viel geiler als das Merchandise von Ghandi. Ich will nämlich über meinen Bruder Yuriy Nikolajewitsch Ivanov schreiben. Eigentlich ist er nicht mein Bruder, nur mein Halbbruder, aber das spielt keine Rolle, weil er macht keine halben Sachen und ich auch nicht. Außerdem versteh ich echt nicht, wieso so viel Wert auf die Väter gelegt wird, wenn die Mutter einen aus sich rauspresst. Aber Mama hat gesagt, dass das wieder ein anderer Disko Diskus Diskurs ist und ich den hier nicht aufmachen soll, also schreib ich das einfach bei der nächsten Strafarbeit.

Auf Wikipedia steht, dass Yuriy am 08. Februar 1985 geboren wurde. Das heißt, dass er Wassermann ist, aber im Mond ist er eine Jungfrau und das merkt man auch und sein Aszendent ist Widder, und das merkt man noch viel stärker. Er wurde nach Yuri Gargarin benannt und das passt voll, weil er nicht nur von den Sternen träumt, sondern sie sich auch holt (auch wenn er jetzt sagen würde, dass man einen Stern nicht holen kann, weil er nur aus Gas und explodierenden Neuronen oder sowas besteht, irgendwelche Teilchen, die in die Luft fliegen halt). Er verdient sie auch, weil er hart dafür arbeitet. Yuriy lässt sich nämlich nix schenken und glaubt auch nicht dran, dass es im Leben irgendwas gratis gibt. Das könnte einen jetzt voll runterziehen, aber ich finde das nicht und Yuriy sagt, darauf kommt es an, weil die Einstellung prägt die Art, wie wir mit dem Leben umgehen. Ich finde nicht, dass es runterzieht, realistisch zu sein und ich glaube, Yuriy tut das auch nicht. Er nimmt die Dinge eben so, wie sie sind und redet sie sich nicht schön. Aber dadurch kann man mit den Dingen manchmal besser umgehen. Wenn man nämlich zum Beispiel für eine Beförderung arbeitet, dann ist das voll öde anstrengend, aber man hat sich das dafür dann verdient. Und wenn zum Beispiel jemand stirbt, dann ist das voll scheiße traurig, aber es ist besser, gleich drüber zu weinen und ein paar Sachen kaputt zu machen, als es in sich reinzufressen und fett und unglücklich zu werden. Yuriy sagt, das hat er auch erstmal auf die harte Tour lernen müssen und das glaub ich ihm, weil er manchmal echt verkappt ist. Aber ich kenn echt niemanden, der sich so klar drüber ist, dass man manche Sachen halt erstmal lernen muss.

Ich weiß nicht, wie Yuriy war, als er jünger war und das macht mich manchmal traurig. Aber Yuriy ist jemand, der immer nach vorn schaut und selten zurück, und da kann man sich auch ne Scheibe von abschneiden da ist schon ein bisschen was Wahres dran. Man sollte die Vergangenheit nicht vergessen, aber man darf auch nicht drin versumpfen. Und es ist wichtiger, dass ich ihn jetzt kenne, als dass ich ihn früher nicht gekannt habe. Er ist nämlich ein ziemlich krasser guter Bruder, auch wenn er manchmal ziemlich irren Scheiß interessante Dinge macht. Zum Beispiel weiß ich, dass er Grigorij Sergejewitsch vielleicht nicht vor der Schule hätte bedrohen sollen, aber der Arsch hat bekommen, was er verdient er hat es herausgefordert und Yuriy lässt sich nix gefallen, wenn es nicht gerecht ist. Ich finde das sehr inspirierend, weil vieles auf der Welt ist nicht gerecht, schon gar nicht, wenn man ein Mädchen ist. Und gegen Ungerechtigkeit angehen ist Gutes tun, weil es dann den benachteiligten Leuten besser geht.

Am meisten inspiriert mich aber, dass Yuriy nix von Helden hält. Er sagt nämlich, dass Helden – und Heldinnen! - nur idealisierte Leute mit ordentlich Eiern Mut sind und wenn man solche Leute zu viel in die Höhe hebt, bekommen die Menschen das Gefühl, dass sie selber gar nix erreichen können, weil sie ja selber nur Kevins sind nicht so heldenhaft sind. Aber das stimmt gar nicht. Heldenhafte Leute sind einfach nur Checker, die sich mal was trauen. Und das kann jeder von uns. Yuriy hat mir beigebracht, dass man sich nur nicht den Mund verbieten lassen darf, wenn man das System reformieren und Gutes tun will. Gutes tun ist nämlich nicht Hände falten Fresse halten das tun, was einem gesagt wird, sondern dafür sorgen, dass es anderen und einem selber besser geht. Und deswegen stehe ich auch dahinter, das Klassenbuch aus dem Fenster zu werfen, wenn Sie hineinschreiben, dass man sich im Unterricht aufgeführt hat, nur weil man das Geschichtebuch hinterfragt. Bücher sind nämlich auch nur von Menschen gemacht und man muss nicht alles glauben, was einem angedreht wird, weil gerade Geschichte hat viele Blickwinkel und man muss nicht nur dem einen folgen, den die Regierung einem aufzwingen will der einem vor die Nase gesetzt wird. Das habe ich auch von Yuriy gelernt.

Zum Abschluss möchte ich hier noch John F. Kennedy zitieren, der hat nämlich gesagt: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst.” In dem Sinn will ich sagen: „Frage nicht, wie Schülerinnen von anderen inspiriert werden, Gutes zu tun. Frage, wie du sie selbst dazu inspirieren kannst.” Und da würde ich jetzt mal hart drüber nachdenken, Anna Michailova.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Stay tuned for Sinas Aufsatz im Epilog und noch mehr Fühls. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (29)
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Von:  lady_j
2020-04-13T21:37:14+00:00 13.04.2020 23:37
NOCH MEHR Fühls???? Du willst mich umbringen. Ich habe SO VIELE FÜHLS jetzt schon. (und danke für's Erinnern daran, wie mein Vaddern früher immer mit mir Blitze geguckt hat). AAARGH. Ich war immer zufrieden als Einzelkind, aber jetzt will ich einen großen Bruder lol.
Antwort von:  Mitternachtsblick
15.04.2020 14:38
MEHR FÜHLS BRAUCHT DIE WELT und let's be honest, das hier ist ein self-indulgend fluff festival und ich freu mich, wenn ich irgendwen mit mir in den Abgrund zerren kann. :D
Antwort von:  WeißeWölfinLarka
08.07.2020 12:54
ja, sie will uns alle mit kaputter Herzpumpe verrecken lassen, fürcht ich.
Antwort von:  WeißeWölfinLarka
08.07.2020 12:55
und ja, ich wollte schon immer einen Bruder, einen älteren, und so einen wie Yuriy hätt ich auch gern. Oder lieber Boris? Oder doch lieber sergei? nein Sergei wär als Lebenspartner besser :D
Von:  LittleLionHead
2020-04-13T18:24:42+00:00 13.04.2020 20:24
Ich denke schon dass Kai gelegentlich Gurkenscheiben unter die Decke flitscht. :D Ich liebe die Gewitterszene und all die Details, die du einbaust. Und nach wie vor bin ich großer Fan von Sinas Sichtweise - umso schlimmer, dass nur noch der Epilog kommen soll.... Ich würde mich sehr, sehr freuen, weitere Geschichten von Sina und den drei "Alten" lesen zu dürfen :* :* :*
Antwort von:  Mitternachtsblick
15.04.2020 14:36
Ahahaha, danke dir! Ich weiß nicht, ob da noch mehr kommen wird nach dem Epilog, aber man soll ja niemals nie sagen. XD
Von:  FreeWolf
2020-04-13T18:24:09+00:00 13.04.2020 20:24
Ich habe so viele FÜHLS ich weiß nicht wohin damit und vor meinem Fenster stürmt es auch! ARGH!
Antwort von:  Mitternachtsblick
15.04.2020 14:34
Jaaaaaaaaaaaa, fühle! FÜHLE!!!! *manisches Gelächter*
Von:  LittleLionHead
2020-04-11T06:56:01+00:00 11.04.2020 08:56
Chiliflöckchen <3 Gibt es einen niedlicheren Spitznamen? I don't think so. Das Boris Brot backt überrascht mich, aber... Irgendwie auch nicht. Die Szene ist auf jeden Fall großartig. Ich liebe es, wie Boris über Yura spricht. Dort zeigt sich, wie bedingungslos er ihn liebt. Als Sina ihre Mutter nach Yuriy fragt bekomme ich einen Kloß im Hals. Denn hier spüre ich, wie schwer es Natascha fällt. Dass Sina trotzdem ihrer rotzigen Teenieart treu bleibt macht die Situation sehr realistisch und menschlich.
Von:  FreeWolf
2020-04-10T22:30:02+00:00 11.04.2020 00:30
ARGH. Das hat mein Herz zunächst wieder zusammengesetzt mit der ersten Szene und dann in viele kleine Stücke zerbrochen, weil .. weil halt. HACH. Ich verzweifle. Wehe Sinaidas Aufsatz wird nicht gut und Yura heult nciht darüber wie ein Schlosshund!
Antwort von:  lady_j
11.04.2020 08:18
Yura heult vll nicht, aber wir ganz sicher!! Übrigens hat mich die Bemerkung mit der Wikipediaseite geschafft xDD
Antwort von:  FreeWolf
11.04.2020 08:54
Ja. JA! Oh Gott.
Von:  FreeWolf
2020-04-09T13:21:17+00:00 09.04.2020 15:21
Was ich an dieser Fic sehr liebe:
- die Interaktionen der Borg Bois miteinander und mit Sinaida. Ich liebe es, dass Boris rumchillt und Kai zu arbeiten versucht und scheitert und sich viel, viel, viel lieber mit Sinaida über die Ungerechtigkeiten des Lernens unterhält.
- die Interaktionen von Yuriy mit dem Hund
- die Interaktion von Yuriy mit seiner Schwester - es sind nicht so viele, Sinaida ist einfach da, und gerade das mag ich, weil es natürlich wirkt.

Ich mag, wie Sinaida sich so easy ins Gefüge der Borg-Jungs einfügt, wie sie Ivan und Sergej für cool befindet und wie die beiden ihr wohl mit den Videos (und der Erinnerung an schlimme Frisuren) Stoff für ihren aufsatz geben. Ich mag es, wie Adhara sich einschaltet und wie Boris sich mit ein bisschen viel Aggression, in der aber auch viel Liebe liegt, um Yura kümmert.

... Ja, ich mag viel zu viel an der Fic. :D Ich krieg keinen ordentlicheren Kommentar hin, ich hoffe, du freust dich trotzdem! <3
Antwort von:  WeißeWölfinLarka
08.07.2020 11:53
Punkt 1 unterschreiche ich dreifach und doppelt!
Punkt 2 unterschreiche ich gewellt und mit Punkten!
Von:  lady_j
2020-04-06T16:27:55+00:00 06.04.2020 18:27
Ich schulde dir noch so viele Kommentare, aber ich fange mal hier an. Je öfter du Sinaida schreibst, desto mehr schließe ich sie ins Herz. Sie ist einfach eine so wundervolle 13-jährige: Große Klappe, großes Herz. Und omg, hat sie drei Daddys oder was? xD Und ich will gar nicht groß hinterfragen, wer sie dazu inspiriert hat, das Klassenbuch aus dem Fenster zu werfen *zu Yuriy schiel* diese Familie kann sich jedenfalls nicht verleugnen...

Yuriy mit Hund ist so ein Bild, das sich einem in die Netzhaut brennt. An den Schlapphut muss ich mich gewöhnen, aber ich sehe das pilzige daran. Ich feiere Sinaidas unverstellten Blick auf ihren Bruder xD

Ich liebe diese Szenen in denen alle so für sich rumhocken und was anderes machen. Allein wie Boris auf der Couch rumlungert und Kai versucht, Papierkram zu machen, fühlt sich so krass natürlich an. Später dann Sinaida mit Vanja und Sergeij ist einfach Zucker. Sie hat drei Daddys und zwei Onkel. Das ist fast eine Fußballmannschaft. Wenn irgendwer in der Schule ihr mal blöd kommt, hat sie auf jeden Fall ordentlich Verstärkung.

Uff, ich frage mich allerdings, ob Yuriy es so toll findet, wenn Ivan und Sergeij die alten Videos rauskramen, auf denen er von Garland ins Koma geboxt wird. Das sind ja nicht unbedingt die besten Erinnerungen... Na, ich bin gespannt.
Von:  LittleLionHead
2020-04-06T04:40:37+00:00 06.04.2020 06:40
Also wir haben gestern gegrillt :) aber nur mit den Mitbewohnern und in eigenen Garten.
Dieses Kapitel hat mir sehr gut gefallen! So fluffig und natürlich. Die Idee, dass Sina ihren Aufsatz über Yuriy schreiben will (allein der Gedanke!) ist soooo süß! Auch das Gezergere mit Adhara im Garten, Yuriys Sonnenbrand und die Beschreibung "lauchiger Emo Pilz" gehören zu meinen Lieblingsszenen. <3
Antwort von:  Mitternachtsblick
06.04.2020 11:15
Danke dir! Ich vermisse das Grillen grad ein bisschen, wir haben eine Wohnung in der Stadt ohne Balkon und da ist das einfach nicht möglich. ._. Es ist sehr viel Fluff in dieser Story, ich kompensiere hier ein bisschen XD Freut mich, wenn es dir bisher gefällt!
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-04-05T17:53:08+00:00 05.04.2020 19:53
Jetzt hab ich Bock auf Grillen und das ist derzeit nicht erlaubt 😭
Zum Glück ist die Story erlaubt und ich hoffe sehr, dass Sina ihren Aufsatz fertig bekommt. Ich bin gespannt, was sie aus Ivan und Sergej noch heraus bekommt. *~*
Außerdem ist es wirklich süß wie sich Adhara ins Rudel einfügt. Die Szene als sie Boris das Gesicht leckt, hatte so viel Liebe.
Antwort von:  Mitternachtsblick
06.04.2020 11:14
Ich hätt auch Bock auf Grillen und ich glaube, ich kompensiere in der Story ein paar Sachen, die man grad nicht machen kann. :x Sina wird ihren Aufsatz fertig bekommen, aber dafür muss sie noch ein paar Stationen durchlaufen!


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