Zum Inhalt der Seite

Sintflut

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Moin

"Moin."
 

Mit einem breiten Lächeln lässt Annabell ihre schwere Reisetasche neben sich auf den braunen Parkettboden fallen und ein befreiter Atemzug verlässt ihre Lippen. Noch ist ihre Wohnung ziemlich leer und sie wird die erste Nacht wohl oder übel auf ihrer Luftmatratze verbringen müssen, da morgen erst das Umzugsunternehmen mit ihren ganzen Möbeln und Habseligkeiten ankommen wird, doch das ist es ihr wert. Viel Geduld war nötig, bis sie in ihrer neuen Heimat endlich eine passende Wohnung für sich gefunden hat, dabei war alleine schon die Entscheidung für diesen Umzug eine Sache für sich. Lange hat sie mit sich gehadert, ob sie ihre alte Heimat im Osten Deutschlands wirklich den Rücken kehren soll und letzten Endes hat sie ihr Herz entscheiden lassen, welches sie schon beim ersten Urlaub an der stürmischen Nordsee verloren hat.
 

Kaum war diese Entscheidung getroffen, machte der hiesige Immobilienmarkt ihr das Leben nicht gerade leichter. Sie kann die vielen Wohnungen schon gar nicht mehr zählen, die sie sich übers Internet angeschaut hat und die ihr größtenteils zugesagt haben. Meistens waren die horrenden Preise aber der ausschlaggebende Grund, weswegen sie ihr Interesse zurückziehen musste. Zwar hat sie eine ordentliche finanzielle Rücklage, aber die muss sie ja nicht gleich nach einem halben Jahr aufbrauchen, weil die Miete zu hoch ist. Deswegen ist sie umso erleichterter, dass es endlich geklappt hat und ihre neue Wohnung sogar eine Einbauküche vorweisen kann. Die war zwar auch nicht gerade billig, aber wenigstens nur eine einmalige Zahlung und kein monatliches abstottern.
 

Mit langsamen Schritten durchquert Annabell ihre neue Bleibe. Wenn sie zur Wohnung rein kommt, liegt rechts gleich das Bad, welches mit einer riesigen Dusche ausgestattet ist. Dazu ein Waschbecken gegenüber und daneben befindet sich die Toilette. Einzig ein weißer Unterschrank befindet sich noch in dem Raum und ein großer Spiegel hängt über dem Waschbecken. Klein, aber schnuckelig und vor allem ausreichend. Ihre kleine Besichtigungstour geht weiter. Nach dem Bad wendet sie sich erneut nach rechts. Sie öffnet die weiße Tür mit einem leisen Quietschen und landet in einem leeren Raum. Die Wände sind so weiß wie die Tür und der Boden ist der gleiche wie im Flur, braunes Parkett. Das hier wird eindeutig ihr Schlafzimmer werden, da muss Annabell gar nicht weiter überlegen.
 

Sie tritt wieder aus dem Raum heraus und wendet sich erneut nach rechts. Eine große, offene Schiebetür weist ihr den Weg in den nächsten Raum. Doppelt so groß wie das Schlafzimmer liegt er vor ihr, doch was ihr sofort gefällt, ist der kleine Wintergarten. Er ist komplett verglast und lässt das sonnige Tageslicht hinein. Allgemein ist dieser Raum sehr lichtdurchflutet, weil noch zwei weitere riesige Fenster sich darin befinden. Annabell sieht sich schon auf ihrem Sofa liegen, mit einem dicken Buch in der Hand und einer dampfenden Tasse Tee vor der Nase.
 

Bevor sie sich aber komplett in dieser wunderbaren Vorstellung verliert, dreht sie dem Raum lieber den Rücken zu und fällt dabei quasi gleich in die Küche. Für den ersten Moment sieht es aus wie eine offene Wohnküche, doch beim zweiten Blick fällt ihr eine weitere Schiebetür auf, mit der man die beiden Räume voneinander trennen kann. Annabell macht zwei Schritte in den Raum hinein und entdeckt zu ihrer rechten einen weißen Kühlschrank, der eindeutig den amerikanischen Oldschoolkühlschränken nachempfunden wurde. Gegenüber dem Gerät steht eine wuchtige Kücheninsel. Das Abwaschbecken ist darin eingelassen, sowie der Herd und der Backofen. Sie tritt näher heran und betrachtet die anderen Schubladen und Schranktüren genauer, welche ein weißes hochglänzendes Dekor haben. Die Lieblingsfarbe ihres Vormieters war eindeutig weiß. Auf ihrer weiteren Entdeckungstour findet Annabell sogar noch eine versteckte Geschirrspülmaschine und weitere Schubladen, die in der großen Kücheninsel eingelassen sind. Am anderen Ende des Raumes ist dann sogar noch Platz für einen Esstisch und eine Kommode würde auch noch hinein passen. Bevor sie sich aber in den nächsten Möbelladen stürzt, sollte sie sich lieber um ihr Nachtlager kümmern und auch, dass sie vielleicht erst mal den Kühlschrank in Gang setzt, damit sie so schnell wie möglich Lebensmittel darin lagern kann.
 

Eine Stunde später hat sie ihre Luftmatratze soweit mit Luft aus ihren Lungen gefüllt, dass sie zumindest nicht sofort denkt auf dem harten Boden zu liegen. Sie wird wohl später, wenn sie wieder genug Puste hat, noch mal ein bisschen nach pumpen müssen. Ihren mitgebrachten Schlafsack hat sie ebenfalls schon ausgerollt und ihr Lieblingskissen konnte Annabell ebenfalls schon aus ihrer Reisetasche ziehen. Jetzt ist wenigstens ihr improvisierter Schlafplatz fertig. Sogar kurz frisch machen konnte sie sich und nun ist Annabell bereit sich ihre neue Umgebung ein bisschen genauer anzusehen.
 

Gut, sie muss gestehen, so neu ist die Umgebung dann doch nicht, sie war schon einige Male in der Gegend, weswegen sie sich dann schon besser hier auskennt, als man vermuten mag. Nichtsdestotrotz möchte sie raus und ihre Nase in die Richtung halten, von wo das Meer eine frische Brise aufs Festland schickt. Deswegen schnappt sie sich ihre Handtasche und ihren Schlüsselbund, dann ist sie auch schon aus ihrer Wohnung verschwunden und folgt dem Weg, von welchem sie weiß, dass dieser sie zum Deich und dem dahinter gelegenem Meer bringt. Es sind vielleicht nur hundert Meter, dann erreicht sie eine Treppe, die sie den Deich nach oben bringt. Kaum ist sie oben angelangt, hat Annabell einen fantastischen Ausblick auf die Nordsee, welche sich langsam aber sicher wieder zurück zieht. Teilweise kann man schon ein bisschen Sandstrand erkennen, der sonst von Wasser überflutet ist. Genau noch so wie bei ihrem letzten Besuch, stehen auf der linken Seite drei rote Zelte. Einmal die Erste-Hilfe-Station, ganz außen links, das mittige Zelt ist ein kleines Bistro, wo man leckere Pizza bekommt, Eis oder einfach nur einen süffigen Drink. Und das dritte ist ein kleines Sanitärzelt, für die wichtigen Bedürfnisse. Von der Treppe aus, die sie erklommen hat, führt ein Weg nach unten zu den roten Zelten und rechts und links davon sind auf der Wiese viele bunte Strandkörbe aufgestellt, welche teilweise sogar belegt sind.
 

Sofort fühlt sich Annabell entspannt und angekommen und sie fragt sich ehrlich, warum sie so lange grübeln musste, bis ihr Entschluss fest stand hier her zu ziehen. Nicht mal in ihrer Heimatstadt hat sie sich jemals so wohl gefühlt, wie hier in Cuxhaven. Mit einem seligen Lächeln setzt sie sich wieder in Bewegung und gemütlich läuft sie den asphaltierten Weg hinunter, bis sie an dem Fahrradweg ankommt, der direkt am Meer liegt, welches nur noch von einer kleinen Steinmauer abgeschirmt wird. Aller hundert Meter führt eine Metalltreppe über die niedrige Mauer und direkt ins Wasser oder aufs Watt, je nach dem wann man diese erklimmen will.
 

Eine dieser Treppen reizt Annabell sehr, da aber noch immer die Wellen des Meeres teilweise sehr nah am Strand lecken, verzichtet sie lieber noch auf einen kleinen Spaziergang auf dem trocken gelegten Meeresboden. Sie hat nur ein paar Schuhe zur Hand, die anderen sind in einem der vielen Kartons verstaut, die morgen erst vom Umzugsunternehmen gebracht werden. Also geht sie lieber jedem erhöhten Risiko aus dem Weg, sie wird noch oft genug Gelegenheit dazu bekommen.
 

Annabell wendet sich nach rechts und läuft den breiten Fahrradweg entlang. Ihr Weg führt direkt zum Hafen. Wie schon bei ihrem letzten Besuch ist dort die Anlegestelle der Fähre, welche täglich nach Helgoland schippert. Sie erinnert sich noch sehr gut an ihre eigene Überfahrt zu der kleinen Insel, die mitten in der Nordsee liegt. Der Tagesausflug damals hat echt Spaß gemacht und sie hat den Rundgang um die Insel wahrlich genossen. Doch trotz der wunderbaren Natur und Aussicht, viel länger hätte sie auf der Insel nicht bleiben wollen und sie kann nicht wirklich nachvollziehen, wie Leute dort eine Woche Urlaub machen können. Es gibt zwar massenweise Läden, aber die führen alle irgendwie das gleiche. Dann gibt es dort noch einen Sportplatz und ein Schwimmbad. Nimmt man die Hotels weg, dann war es das auch schon.
 

Noch ist die Anlegestelle verwaist, aber spätestens gegen achtzehn Uhr dreißig wird die große Fähre in den Hafen einlaufen und wieder hunderte von Menschen aufs Festland spucken. Auf der Anlegestelle steht noch eine Fischbude. Man kann kommen wann man will, dort ist immer was los und die Leute reißen sich schon förmlich um die Fischbrötchen. Aber wer bekommt keinen Appetit darauf, wenn die Möwen über einem ihre Kreise ziehen und ihr typisches Kreischen ausstoßen? Das fühlt sich einfach nach Meer und Fischbrötchen an und man bestellt ganz automatisch so ein leckeres Teil. Trotz allem steht ihr Sinn heute nicht nach dieser Köstlichkeit. Nein, sie wird von ganz alleine von dem roten Backsteingebäude angezogen. Umso näher sie dem flachen Bau kommt, umso schneller schlägt ihr Herz und sie weiß auch ganz genau an was es liegt, oder viel eher an wem.
 

Als Annabell ihn das erste Mal gesehen hat, war sie hin und weg, dabei wird er nicht mal wissen, dass sie es überhaupt gibt. Zwar war sie bei ihrem letzten Besuch beinahe jeden Tag in dem Lokal essen, doch das ist schon über ein halbes Jahr her und sie kann beim besten Willen von niemanden verlangen, dass er sich noch an sie erinnert. Tief atmet sie noch einmal durch, dann überquert sie den kleinen Parkplatz, bevor sie auf die kleine Terrasse tritt, welche zur ‚Sintflut‘ gehört. Da das Wetter schön ist, die Sonne aber nicht zu penetrant vom Himmel strahlt, sitzen ein paar Gäste draußen und haben sich vor allem in den Strandkörben nieder gelassen, welche zum Wohlfühlen einladen. Kurz überlegt sie, dann entscheidet sie sich dafür ebenfalls draußen zu bleiben und Annabell lässt sich an einem kleinen Tisch nieder.
 

Es dauert nicht lange, dann wird eine Speisekarte vor ihre Nase geschoben und sie mit dem so typischen „Moin“ begrüßt. Doch schon alleine an der Stimme erkennt sie, dass es nicht der Mann ist, von dem sie gehofft hat, ihn heute wieder zu sehen. Da der andere – viel ältere – Mann nun wirklich nichts für ihre Enttäuschung kann, setzt sie dennoch ein Lächeln auf und bedankt sich höflich, bevor sie die so vertraute Speisekarte aufschlägt und die Gerichte studiert, die sie nach wie vor auswendig kennt. Leider kann sie aber trotzdem nichts machen, da ihr der Appetit prompt vergangen ist, sobald sie nicht das Gesicht entdeckt hat, nach welchem sie es dürstet. Klingt zwar irgendwie doof, aber es ist tatsächlich so.
 

„Was soll es denn zu trinken sein?“, wird Annabell aus ihrer kleinen deprimierten Phase gerissen und sie blickt in das leicht faltige Gesicht des Mannes der ihr zuvor die Karte gereicht hat.

„Ein Schöfferhofer Weizen Zitrone, bitte“, murmelt sie und mit einem „Gerne“, macht der Typ wieder kehrt und verschwindet durch eine Treppe ins Innere des roten Gebäudes. Sie weiß genau, dass es über diese Treppe in einen gemütlichen Wintergarten geht, bevor man in den eigentlichen Gastraum des Lokals gelangt. Innerlich seufzend lässt Annabell ihren Blick über die Köpfe gleiten, welche im Inneren sitzen, die sie von ihrem Platz aus erkennen kann, bevor sich eine Gestalt in ihren Blick schiebt und ihr Herz für einen Moment zum Stehen bleiben verdonnert.

Mit einem Tablett, worauf sich eine Flasche mit gelben Inhalt befindet und das dazugehörige Glas, kommt er sicher und mit recht eleganten Schritten die Treppe nach unten und steuert direkt auf sie zu.
 

„Moin! Das Schöfferhofer für dich?“, fragt er, wartet aber gar nicht ihre Antwort ab, sondern stellt alles vor ihr auf dem Tisch ab und gießt sogar ein wenig ins Glas. Selbst wenn Annabell sofort hätte reagieren wollen, sie ist so überrascht, dass er doch heute da ist, dass sie nur nicken kann. Was hat dieser Mann nur an sich, das alleine seine Anwesenheit reicht, das ihre Hände schwitzig und zittrig werden, ihr Herz wie verrückt in ihrem Brustkorb hämmert und sie spürt das ihre Wangen ohne erdenklichen Grund rot und heiß werden?
 

„Was möchtest du essen?“, überspielt er wohl die, für sie so peinliche, Situation oder er hat sie schlicht und ergreifend gar nicht bemerkt. Kann ja auch sein. Annabell weiß allerdings nicht, was sie davon besser finden soll. Bevor sie aber noch nervöser wird, räuspert sie sich und zählt tapfer ihre Bestellung auf.
 

„Das Knobi mit Brot bitte und die Fischsuppe.“

„Gerne“, antwortet der großgewachsene, dunkelblonde Mann, schnappt sich die zugeklappte Speisekarte und wendet sich mit einem Lächeln ab. Annabell will schon durchatmen und ihre Nerven zur Ruhe ermahnen, da steht er schon wieder neben ihr und legt mit den Worten „Schon mal das Besteck“, das benötigte und in einer schwarzen Serviette drapierte Werkzeug vor ihr ab. Dankend nickt Annabell ihm zu und sie kann einfach nicht anders, als ihm hinterher zu schauen.
 

Beinahe schon grazil und mit geradem Rücken steigt der die wenigen Treppenstufen empor und bietet ihr somit eine perfekte Aussicht auf seine Kehrseite. Seine langen Beine stecken in schwarzen Jeans, die schon ein oder zwei Mal zu viel gewaschen wurden, da das Schwarz schon recht ausgewaschen wirkt. Was die Passform angeht, da haben die Waschvorgänge überhaupt nichts ausgemacht, denn die Hose sitzt wie angegossen und da sie doch recht Figur betont ist, kann Annabell einen wohlgeformten Hintern bewundern, von dem sie nicht zum ersten Mal den Blick nicht abwenden kann. Zu seiner Arbeitskleidung gehört noch ein schwarzes Hemd, welches keine Nummer kleiner sein dürfte. Es liegt an seinem Oberkörper an wie eine zweite Haut und lässt keinen wirklichen Freiraum für Fantasien. Man sieht ganz deutlich, dass er kein Spargeltarzan ist, sondern er schon ein paar Muskeln vorzuweisen hat und das findet Annabell verdammt sexy, anders kann sie es einfach nicht ausdrücken.
 

Als der große Mann das nächste Mal die Treppen hinunter kommt, ist er vollbeladen mit vier riesigen Speisetellern und alleine von dem Anblick bekommt sie schon wieder einen halben Schweißausbruch, diesmal liegt es aber daran, dass Annabell sich vorstellt, was wäre, wenn sie die Teller alle so voll beladen und vor allem auf einmal tragen müsste… sie würde es nicht mal einen Meter weit schaffen, dann würde alles schon in einem Trümmerhaufen vor ihr liegen. Deswegen kann sie einfach nicht anders und sie bewundert ihn – und auch alle anderen Servicekräfte die die Teller ohne einen minimalen Schaden zu den Gästen bringen können – um ihr Können.
 

Sobald er die Speisen bei den dazugehörigen Gästen abgestellt hat, sind die Tellerkünste allerdings schon wieder aus Annabells Kopf verschwunden, denn nun kann sie sich ein weiteres Mal an einem wunderbaren Ausblick erfreuen. Der blonde Mann muss sich ein wenig Strecken um einen anderen Gast besser verstehen zu können, dabei rutscht das ohnehin schon sehr taillierte Hemd ein Stück nach oben und Annabell kann einen wirklich sexy Streifen Haut erkennen. Recht deutlich zeichnet sich der Beginn eines V’s ab, welches man eigentlich nur zu sehen bekommt, wenn die Hosen eines Menschen doch sehr weit auf den Hüften sitzen und genau das ist hier eben der Fall. Annabell fühlt sich wie bei einem Unfall; eigentlich sollte sie weggucken, doch sie kann einfach nicht, stattdessen saugt sie dieses Bild gleich noch intensiver in sich auf und muss sogar schlucken, als sie den Bund seiner schwarzen – was auch sonst – Unterhose hervor lugen sieht. Oh Mann.
 

„Einmal Knobi mit Brot“, schwebt wie von Zauberhand ihre Vorspeise vor ihr auf den Tisch. Ziemlich ertappt zuckt sie zusammen.

„D-Danke“, stottert Annabell und schenkt dem älteren Mann nur einen kurzen Blick, reicht schon zu, dass sie in nur dieser Sekunde das wissende Grinsen auf dessen Zügen erkennen kann. Zum Glück hält der Kerl sich damit aber nicht weiter auf, sondern wünscht ihr nur einen guten Appetit und ist danach schon wieder verschwunden. Annabell atmet noch mal kurz durch, dann beschließt sie sich nur noch auf ihr Essen zu konzentrieren und beginnt es genießend zu verzehren.
 

Beinahe schon gierig schlingt sie das köstliche Brot mit der Knoblauchcreme herunter und auch der beigelegte bunt gemischte Salat ist schnell verputzt. Sie hat sich noch gar nicht richtig zurück gelehnt, da wird ihr der leere Teller schon wieder unter der Nase weggezogen.
 

„War alles in Ordnung?“, schickt ihr die tiefe, doch so sympathische Stimme einen leichten Schauer über den Rücken. Lächelnd nickt sie und hebt den Blick, um dann gleich in graue Augen zu schauen, die von grünen Sprenkeln durchzogen sind. Kleine Lachfältchen haben sich darum gebildet und machen das Gesicht des Mannes nur noch attraktiver. Die blonden Haare sind aus der Stirn und zur Seite gestrichen, damit sie nicht in die Augen fallen können. Umrahmt wird sein Gesicht von einem dunkelblonden Bart, der zwar kein Drei-Tage-Bart mehr ist, zum Vollbart ist er aber auch noch nicht heran gewachsen und auch wenn Annabell nicht so viel für eben diese Gesichtsbehaarung übrig hat, bei ihm stört es sie überhaupt nicht.
 

„Ja, danke“, nickt sie und kann noch einen Blick auf den kräftigen Unterarm werfen, welcher freigelegt ist, da das schwarze Hemd bis zu den Ellenbogen nach oben gekrempelt wurde, der von einem schmalen Silberarmband geschmückt wird. Es wirkt nicht zu protzig oder zu feminin, ganz im Gegenteil, dadurch wirkt er gleich noch männlicher.
 

Annabell verfolgt ihn mit ihren Augen, wie er erneut die Treppe nach oben steigt und im Inneren des Gebäudes verschwindet. Sie weiß jetzt schon, dass sie ewig hier sitzen und ihn einfach bei seiner Arbeit beobachten könnte. Aber sie fühlt sich ja jetzt schon fast wie ein Stalker, dadurch würde sie noch viel mehr daran erinnert werden. Dennoch kann sie fast nichts anderes tun, als ihm jedes Mal mit den Augen zu folgen, wenn er voll beladen die Stufen hinabsteigt um anderen Gästen die prall gefüllten Teller zu kredenzen. Und das sein Hintern durch ihre sitzende Position sozusagen auf Augenhöhe ist, dafür kann sie ja nun wirklich nichts und bevor sie noch einen steifen Nacken bekommt, da sie viel zu oft nach oben schauen muss, gibt sie sich eben mit diesem Anblick ab… es gibt da wirklich weitaus schlimmeres.
 

Es dauert dann auch nicht mehr sehr lange, da kommt ihre Suppe und mit einem Dank auf den Essensgruß lässt Annabell sich diese auch genüsslich schmecken. Die feinen Lachsstückchen sind noch genauso köstlich wie sie sie in Erinnerung hat und die Suppe im Allgemeinen verwöhnt ihre Geschmacksnerven aufs feinste. Deswegen ist die große Schale auch ziemlich schnell geleert und gut gesättigt lehnt sie sich wieder zurück. Dabei bläst ihr eine leichte Brise eine Strähne ihres hellblonden Haares ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung befördert sie diese wieder hinter ihr Ohr, da sie es nicht leiden kann, wenn ihr die Haare zu sehr ins Gesicht hängen.
 

Mit wenigen Schlucken ist das Bier auch hinunter gespült und da sie gerade einen der beiden Servicekräfte die Treppe runter kommen sieht, macht sie auch gleich auf sich aufmerksam. Womit die allerdings nicht gerechnet hat ist, dass daraufhin eine Stimme dem anderen zuruft, dass er es übernehmen würde und sie musste sich nicht mal anstrengen um herauszufinden, zum wem genau die Stimme gehört. Der Mann, der ihr regelmäßig Herzklopfen beschert, hat nur ein Tablett mit zwei Gläsern zu tragen, während der andere sich vor schweren Tellern kaum halten kann und damit jetzt wohl erst mal mehr beschäftigt ist, weswegen sein Kollege scheinbar heldenhaft einspringt. Gut, Annabell soll es recht sein. Der andere Mann ist zwar auch freundlich und sympathisch, doch der große gewachsene Blonde ist eindeutig ihre Favorit, also warum sollte sie sich über diesen Zustand beschweren, außer, dass ihre Hände deswegen schon wieder feucht werden und ein verräterisches Zittern zeigen?
 

Schneller als gedacht hat der Kerl die Getränke abgeliefert und kommt nun auf sie zu, mit einem entspannten, freundlichen Gesichtsausdruck.

„Hat alles geschmeckt?“, fragt er wieder und Annabell nickt.

„Sehr gut, Danke. Ich hätte dann gerne die Rechnung“, antwortet sie so ruhig wie möglich und mit einem nicken sammelt er ihr Geschirr vom Tisch und verschwindet zurück im Haus. Keine zwei Minuten später taucht er mit einem schmalen Zettelchen und dem so typischen Kellnerportemonnaie auf. Annabell gibt noch ein ordentliches Trinkgeld und dann trennen sich ihre Wege auch schon wieder, ganz egal, dass sie bis jetzt nicht wirklich einen gemeinsamen gegangen sind.
 

„Schönen Abend dir noch“, damit nickt er ihr noch mal lächelnd zu und ihr heimlicher Schwarm macht sich wieder an seine Arbeit. Für einen Moment gönnt Annabell sich noch den Luxus und schaut ihm hinterher, bis sie sich selbst ein wenig doof vorkommt und schnell ihre Habseligkeiten zusammenklaubt. Mit einem Gruß verabschiedet sie sich noch vom zweiten Kellner, welcher ihr entgegen kommt, danach macht sie sich auf den Rückweg. Allerdings steuert Annabell nicht sofort ihre neue Wohnung an, viel lieber unternimmt sie noch einen kleinen Spaziergang am Meer, welches sich noch ein Stück mehr zurück gezogen hat. Einige hundert Meter weiter entdeckt sie eine kleine Weise Bank, von welcher man einen sehr guten Ausblick aufs Meer hat und da diese auch noch unbesetzt ist, nimmt sie diese gleich für sich ein und lässt den ersten Tag in ihren neuen Heimat einfach auf sich wirken.

Hast du gerade Oskar gesagt?

"Hast du gerade Oskar gesagt?"
 

Mittlerweile sind jetzt schon über zwei Wochen wieder ins Land gezogen. Annabells kompletter Hausrat ist zwischenzeitlich schon angekommen und sie hat sich so gut wie möglich in ihrer neuen Bleibe eingerichtet. Auf Farbe hat sie bis jetzt größtenteils verzichtet, da sie einfach noch nicht richtig die Lust dazu hatte. Außerdem fehlen ihr noch ein paar Ideen, mit denen sie auch zu hundert Prozent zufrieden ist. Sie hat keine Lust ihre Wände mit allen möglichen Farben oder Mustern zu verzieren, was ihr nach ein paar Monaten vielleicht schon wieder missfällt. Da hebt sie sich das Umstylen ihrer vier Wände lieber für später auf, ist dann aber vollkommen zufrieden damit. Trotz allem stehen zumindest ihre mitgebrachten Möbel an den Orten, wo sie hingehören und zusätzlich haben sich noch ein paar Plätzchen ergeben, wo sie noch das eine oder andere Regal aufstellen kann, worin sie all ihre Bücher, CDs und DVDs verstauen kann, sobald sie sich um deren Anschaffung gekümmert hat. Vielleicht macht sie das mit ihrer Freundin Toni, welche heute noch bei ihr ankommen müsste. Diese konnte sich noch eine Woche frei nehmen und ist bereit ihr etwas unter die Arme zu greifen.
 

Annabell ist gerade vom Einkaufen wieder nach Hause gekommen und hat alles verstaut, da klingelt es auch schon an ihrer Wohnungstür. Das ist doch mal perfektes Timing. Mit großer Freude in sich drückt Annabell den Buzzer und bemüht sich gar nicht erst zu gucken, wer denn wirklich vor ihrer Tür steht. Im Internet bestellt hat sie nichts und auch so kennt sie noch niemanden, der ihr spontan einen Besuch abstatten könnte. Deswegen reißt sie auch ohne zu zögern ihre Wohnungstür wieder auf und wartet geduldig, bis die Schritte auf den Treppenstufen näher kommen, bis der braune Wuschelkopf ihrer Freundin Toni endlich erscheint.
 

„Bella!“, kreischt die eine und „Toni!“, quietscht die andere. Die letzten Meter sind dann rasch überbrückt und die Tasche von Toni einfach im Flur fallen gelassen, dann liegen die beiden Frauen sich schon in den Armen.
 

„Tut das gut dich zu sehen. Ich habe dich echt vermisst“, hört Annabell die Worte ihrer Freundin und sie muss schon arg mit den Tränen kämpfen, da es ihr ebenfalls so ergangen ist. Zwar hat sie sich selbst für diesen Umzug entschieden, dennoch vermisst sie ihre beste Freundin jeden Tag, da helfen die täglich geschriebenen Nachrichten auch nur minimal, denn das kann die Nähe zu der Person nur unzureichend ersetzen. Ganz automatisch schließen sich ihre Arme noch fester um ihre Freundin. Tief atmet Annabell den so bekannten Duft ein und bekommt langsam den Drang ihren Tränen freien Lauf zu lassen unter Kontrolle.
 

„Ich habe dich auch vermisst“, nuschelt sie und schnieft kurz, bevor sie ihren Klammergriff langsam wieder löst. „Jetzt komm aber erst mal rein“, schnappt sie sich selbst die Tasche ihrer Freundin, in der Annahme sie sogleich in die Wohnung tragen zu können, doch davon wird sie nun genau von eben dieser Tasche abgehalten.

„Himmel, Toni! Hast du Steine da drinnen? Du bleibst doch nur für eine Woche“, bekommt Annabell die Tasche nur mit Mühe und Not hoch und schleift sie mehr in ihren Flur, als dass sie die Tasche wirklich trägt.
 

„Was denn? Eine Frau muss nun mal auf alles vorbereitet sein“, zwinkert Toni ihr grinsend zu und Annabell kann nur mit dem Kopf schütteln.

„Du wolltest mir mit den neuen Möbeln helfen. Es war nie was anderes abgemacht.“

„Ach komm schon, Bella. Wir werden doch keine sechs Tage brauchen um ein paar Regale zu besorgen und diese aufzubauen. Du kennst uns doch.“

„Eben, da werden aus sechs Tagen gerne mal zwei Wochen, weil wir uns von allem möglichen Mist ablenken lassen. Ich meine es ernst, Toni. Zuerst die Arbeit und dann das Vergnügen“, hat Annabell jetzt einen ziemlich strengen Ton drauf, welcher Toni wiederum zum leidvollen Seufzen animiert.

„Du meinst es also tatsächlich ernst. Dabei habe ich mich schon auf ein wenig Spaß gefreut“, sieht Annabell ihrer Freundin sofort die gespielte Theatralik an, wohingegen sie nur die Augen verdrehen kann.

„Na gut, dann zeig mir mal dein bescheidenes Reich und danach werde ich dir so viele Vorschläge machen, dass du dir wünschst mich nie eingeladen zu haben“, grinst Toni breit und hakt sich dann bei Annabell unter, welche sie dann auch wirklich durch die Wohnung führt.
 

Nach dem kleinen Rundgang hat Annabell wirklich eine sprachlose Toni neben sich stehen und sie kann sich das breite Grinsen da nur sehr schwer verkneifen. Wahrscheinlich sah sie vor knapp drei Wochen genauso aus wie ihre Freundin jetzt. Der Mund leicht aufgeklappt und der Blick in den Augen leicht verklärt und höchstwahrscheinlich auch recht ungläubig.
 

„Die Bude sieht exakt so aus wie das Apartment, welches wir im Januar gemietet hatten“, spricht ihre Freundin das aus, was auch Annabell sich am Tag ihres Einzuges gedacht hat. Es fehlen lediglich zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer, dann ständen sie wirklich in ihrer damaligen Urlaubsunterkunft.

„Jap. Es fühlt sich ehrlich gesagt noch immer ein bisschen wie Urlaub an, obwohl ich ja weiß, dass ich hier nun wohne und nicht nur für ein paar Tage raste“, muss sie zugeben.

„Das würde mir wahrscheinlich genauso gehen“, stimmt Toni ihr nickend zu. Als das dann auch geklärt ist, wuchten sie die schwere Reisetasche in Annabells Schlafzimmer und Toni kann sich zumindest mit ihren Kosmetikartikeln häuslich einrichten, für mehr gibt es leider noch keinen Platz. Schlafen wird Toni mit bei Annabell im Bett. Erstens ist es dafür groß genug und zweitens haben sie das schon immer so gemacht und wenn nicht gerade ein Mann mit drinnen liegt, handhaben sie das auch weiterhin so.
 

Am Abend – sie haben sich Pizza vom Lieferdienst bringen lassen – lümmeln sie auf Annabells großer Couch, die wie angegossen in das schöne offene Wohnzimmer passt. Der Fernseher spielt irgendeine sinnlose amerikanische Sitcom ab und die beiden Mädels lassen sich die fettige Pizza schmecken. Jeder ist zunächst mit ihrem Essen beschäftigt und sie kümmern sich weder um den Sitznachbarn, noch um die sinnlosen Witze in der Glotze. Annabell ist gerade mit ihrem letzten Stück beschäftigt, da wischt sich Toni schon ihre Finger an der Serviette ab und durchbricht dann die angenehme Stille zwischen ihnen.
 

„Gibt’s eigentlich etwas Neues von deinem Traumprinzen?“ Prompt verschluckt sich Annabell an ihrem letzten Stück und muss für einen Moment stark um ein bisschen Luft für ihre Lungen kämpfen.
 

„Er ist nicht mein Traumprinz“, keucht sie wenige Minuten später recht atemlos und muss sich tatsächlich ein paar Tränchen aus den Augenwinkeln tupfen. Himmel noch eins. Das kann Toni doch nicht einfach so machen. Annabell mag es gar nicht so unvorbereitet darauf angesprochen zu werden, doch wie immer ignoriert ihre Freundin diese Tatsache geflissentlich.
 

„Von wegen, ich muss dich ja nur an deinen Mister Right erinnern und schon glänzen deine Augen“, grinst sie ihr überlegen entgegen und Annabell kann nichts anderes machen und sich mit einem Seufzen ergeben, da ihre Freundin recht hat.
 

„Dumm nur, dass Oskar gar nicht weiß, dass ich überhaupt existiere“, nuschelt sie es mehr zu sich und nicht zu ihrer Freundin, aber natürlich hat sie es genau gehört. Wenn die Frau will hat sie echt Ohren wie ein Luchs…
 

„Hast du gerade Oskar gesagt? Da gibt’s ja doch was Neues“, strahlt sie und Annabell seufzt. Vorgestern war sie mal wieder in der Sintflut essen und da diesmal nur noch ein Platz an der Bar frei war, konnte sie so ziemlich jedes Gespräch verfolgen, welches eben hinter dem Tresen geführt wurde und da ist des Öfteren der Name Oskar gefallen. Es hat dann nicht mehr viel gefehlt, da konnte Annabell sich denken, wer denn nun Oskar ist, zudem dessen Kollegin ihn ziemlich oft gerufen hat und es sich so immer mehr hinaus kristallisierte. Genau so erzählt sie es dann auch ihrer Freundin und diese hat plötzlich ein ganz gefährliches Grinsen im Gesicht. Das kann wirklich nichts Gutes bedeuten und Annabell bekommt es ein wenig mit der Angst zu tun.
 

„Na ja, da du sagst, er weiß nicht, dass du existierst, ich würde sagen, dass wir das ändern werden“, spricht Toni das aus, was Annabell schon befürchtet hat.

„Oh nein, du lässt da schön deine Finger aus dem Spiel“, wehrt sie sofort aber, aber Toni schüttelt nur ihren braunen Wuschelkopf.

„Dann wird das doch nie was zwischen euch. Nur vom Warten wird der Mann nicht auf dich aufmerksam. Du kannst mir nichts vormachen, ich weiß ganz genau, dass du dich tierisch in ihn verknallt hast, auch wenn du es die ganze Zeit abstreitest oder herunter spielst, Bella“, sieht Toni Annabell ernst an, zusätzlich beherrscht sie noch die Möglichkeit ihn gleichzeitig etwas vorwurfsvoll werden zu lassen.
 

„Ich kann nun mal nicht so konkret auf Männer zu gehen wie du. Außerdem weiß ich doch gar nicht, ob er überhaupt Single ist. Bei meinem Glück ist der Mann verheiratet und schon dreifacher Vater“, ruft Annabell aus und lässt ihr letztes Stück Pizza in den Karton zurück fallen, sie hat jetzt keinen Hunger mehr.

„Du wirst es aber auch nie herausfinden, wenn du deinen Oskar nur von einem Tisch im Gastraum aus anschmachtest. Der kommt nicht von alleine zu dir und sagt: Hi, ich bin Oskar und Single, du hast nicht zufällig gerade Zeit und willst meine Freundin sein? Du musst auch ein bisschen Eigeninitiative ergreifen, zumindest ein Anfang muss gemacht werden, der Rest läuft ja meistens dann wirklich von alleine“, hält Toni ihr schon einen regelrechten Vortrag und Annabell kommt sich vor wie ein kleines Kind, dabei ist sie selbst schon eine Frau von neunundzwanzig Jahren. Aber es kann auch nicht jeder so offen und extrovertiert wie Toni sein, denn das ist Annabell bei weitem nicht.
 

„Eigeninitiative. Das sagt sich so leicht, du kennst mich doch“, murmelt Annabell und stiert auf ihre übrig gebliebene Pizza.

„Deswegen helfe ich dir ja auch, da klappt das schon“, strahlt Toni übers ganze Gesicht und Annabell weiß jetzt schon, dass sie versuchen wird die Sintflut in der Zeit zu meiden, so lange ihre Freundin bei ihr Urlaub macht.
 

„Genau das macht mir ja Angst, du hast immer gleich ein bisschen zu viel Eigeninitiative.“

„Ach was, ich bin dieses Mal auch wirklich ganz subtil und du wirst gar nicht merken, dass ich was gemacht habe, da wirst du mit deinem Traumprinzen schon regen Kontakt haben.“

„Das hast du das letzte Mal auch gesagt und du weißt selbst, wie das ausgegangen ist“, brummt Annabell und sieht ihre Freundin vorwurfsvoll an.

„Paperlapap, der Typ hat eh nicht zu dir gepasst. Das sagt doch schon alles, dass er dich als Schutzschild genommen hat, anstatt sich wie ein wahrer Held sich für dich unter die abfallende Dachlawine zu stürzen, vor der er dich eigentlich – laut meinem Plan – retten sollte. Sie froh, dass da nie was Ernstes gelaufen ist, der lässt sich bestimmt von Mama höchstpersönlich noch den Arsch abwischen“, macht Toni eine wegwerfende Handbewegung. Zwar hat sie auch recht, aber ihre Methoden sagen Annabell nicht immer zu, wer kommt schließlich schon auf die Idee im Winter auf ein Dach zu klettern und die dortigen Schneemassen runter zu treten, nur damit endlich mehr Körperkontakt entsteht als Küsschen links und rechts? Richtig, Toni. Und dabei ist es ihr egal, dass das Ergebnis nicht so ausgefallen ist wie erwünscht.
 

Annabell sagt dann auch nichts mehr dazu. Sie räumt lieber die leeren Pizzakartons weg und lässt sich mit einer Flasche Cola und zwei Gläsern neben ihrer Freundin auf dem Sofa fallen. Für einige Minuten genießen sie die Stille und lauschen nur dem Gelaber der Sitcom, welche noch immer über den Bildschirm flimmert. Dabei versucht Annabell zu verdrängen, das Toni ihre Drohung wahr machen wird und sie wohl wirklich mindestens einen Verkuppelungsversuch über sich ergehen lassen muss. Dabei sollte sie sich eigentlich freuen, denn sie will ja wirklich in ein Gespräch mit Oskar kommen – zumindest ein Gespräch worin es um mehr als ‚Was darf es sein?‘ Oder ‚Hat es dir geschmeckt?‘ geht. Sofort spürt sie eine Aufregung in sich, welche ihr feuchte Hände beschwert.
 

Alleine der Gedanke daran sich mit ihm zu unterhalten macht sie ganz hibbelig und genau diese Aufregung wird ihr bei Männer meistens immer zum Verhängnis, da sie dann irgendwas sinnloses vor sich hin plappert, oder gar kein Wort erst heraus bekommt und viel lieber die Flucht ergreift. Was das angeht muss sie sich wirklich ändern. Annabell hat ja schon den Schritt in eine neue Stadt gewagt, da kann sie doch eigentlich auch gleich mal versuchen ein bisschen selbstbewusster zu werden, was das Ansprechen von Männern betrifft. So wie sie sich kennt, wird es aber wohl nur beim Versuchen bleiben.
 

„Hast du dich denn eigentlich schon wegen einem Job umgehört?“, durchbricht Toni irgendwann wieder die Stille und Annabell nimmt erst einen Schluck aus ihrem Colaglas zu sich, bevor sie bereit ist ihrer Freundin darauf zu antworten. Gemäßigt stellt sie das Glas zurück auf ihren Tisch, dann dreht sie sich um.
 

„Ich habe schon einige Bewerbungen raus geschickt. Es gibt hier in der Gegend leider nicht so viele Kindergärten, deswegen musste ich auch die Nachmittagsbetreuung von Schulkindern ebenfalls mit in meine Auswahl nehmen. Der Kindergarten hier gleich um die Ecke hat sich aber schon mal mit Interesse gemeldet und mir für übernächste Woche ein Vorstellungsgespräch zugeschickt. Nun muss ich abwarten ob ich noch weitere Rückmeldungen bekomme und auch wie nun das Gespräch laufen wird“, erzählt Annabell. Zwar könnte sie sich theoretisch noch einige Zeit auf der faulen Haut ausruhen, doch erstens will sie ihr ganzes Vermögen nicht bis zum Letzen ausschöpfen und zweitens fehlt ihr auch die Arbeit mit den Kindern. Denn im Gegensatz zu Männern, ist es bei Kindern ein leichtes sie anzusprechen und bis jetzt hat sich auch noch keiner über ihre Arbeit beschwert, weswegen Annabell mal ganz dreist behauptet, dass sie auch sehr gut in ihren Beruf ist.
 

„Mit deinem Arbeitszeugnis solltest du ja keinerlei Probleme haben etwas neues zu finden, da mache ich mir persönlich keine Sorgen“, schmunzelt Toni ihr entgegen. Sie beide sitzen dann noch eine ganze Weile auf dem Sofa, schauen Fern und trinken Cola, bis Annabell merkt, dass Tonis Augen immer wieder von alleine zufallen. Schmunzelnd schaltet sie kurzerhand das Fernsehgerät aus und scheucht ihre Freundin hoch. Diese guckt erst ein wenig verdattert, da Annabell sie aus einem Sekundenschlaf gerissen hat, doch dann streckt die Brünette sich und trottet hinter ihr her. Sie schickt Toni zuerst ins Bad und Annabell zieht sich währenddessen um. Es dauert nicht lange, da tapst ihre Freundin ohne Make Up im Gesicht zurück ins Schlafzimmer. Unter einem langanhaltenden Gähnen zieht diese sich um, woraufhin Annabell sich grinsend aus dem Zimmer stielt und nun ihrerseits im Bad verschwindet und sich fürs Bett fertig macht.
 

Keine zehn Minuten später liegen sie nebeneinander in Annabells großen Bett und wünschen sich gegenseitig eine gute Nacht. So dauert es auch nicht überraschend lang, bis absolute Stille einkehrt und nur noch das Atmen zwei Personen zu hören ist.

Wir machen jetzt aber noch mal was ganz verrücktes.

"Wir machen jetzt aber noch mal was ganz verrücktes."
 

Einige Tage später sieht Annabells Wohnung noch ein bisschen wohnlicher aus. Das liegt nicht nur daran, dass ein paar neue Regale, Kommoden, Bilder und andere Accessoires ihren Weg in die Wohnung gefunden haben. Sondern auch an den vielen großen Kartons und Pappen, welche im Flur auf einem großen Haufen liegen und nur darauf warten fachgerecht gebündelt und zusammen geschnürt zu werden. Von dem Ganzen war das Einkaufen am einfachsten gewesen, dann fing es schon damit an, wie sie das Zeug alles in Tonis Skoda geschoben kriegen, ohne dass sie dreimal hin und her fahren müssen. Sie haben es tatsächlich geschafft, nur einmal den Weg fahren zu müssen, allerdings können sie von Glück reden, dass keine Polizeistreife ihren Weg gekreuzt hat, denn sonst hätten sie sicherlich eine ziemlich hohe Strafe zahlen müssen, vom anschließenden Laufen mal ganz zu schweigen. Verkehrssicher war zumindest anders und Annabell ist froh, dass alles glatt gelaufen ist.
 

Zurück in ihrer Wohnung mussten sie die vielen, teilweise sehr schweren Pakete noch nach oben tragen und auch wenn sie beide jetzt nicht so schwach sind, ordentlich trainiert ist trotzdem anders und Annabell hat sich bei jedem Paket vorgenommen endlich mal mit Sport zu beginnen. Dieser gute Vorsatz liegt aber schon wieder vergessen in einer Ecke ihres Gehirns, denn sie hat nicht vor in absehbarer Zeit alles wieder nach unten zu schleppen, weswegen Sport in der Hinsicht auch nicht gerade lebensnotwendig ist, zudem sie ja eh zur Kategorie faul gehört. Nach dem hinauf Schleppen gehört natürlich der Aufbau und der hat sich wohl am längsten hingezogen. Nicht, weil sie zu dämlich dafür waren, sondern einfach, weil entweder die Bauanleitung auf Chinesisch war, ein bestimmtes Werkzeug gefehlt hat, oder die Bauanleitung gar nicht erst im Paket beilag. Das hat nicht nur Nerven gekostet, sondern auch extrem viel Zeit und Kraft.
 

In den letzten Tagen hatten sie deswegen auch keine wirkliche Möglichkeit in der Sintflut einzufallen. Was heißt nicht die Möglichkeit, die Möglichkeiten waren jeden Abend da, aber ihre Motivation hatte sich dafür nicht blicken lassen. Von dem ganzen Geschleppe und Aufbauen und Ausrichten waren sie jetzt immer so kaputt, dass Annabell einfach ein paar Brote geschmiert hat und sie sich damit aufs Sofa verkrochen haben. Das ging auch und die Sandwiches haben den gröbsten Hunger gestillt, als Nachtisch wurden dann eh immer noch neckische Dinge auf den Tisch gezaubert, egal ob Schokolade, Gummibärchen oder einfach nur ein simples Stieleis. So wirklich böse ist Annabell aber auch nicht darüber, dass sie noch nicht wieder essen gehen konnten, denn da konnte Toni nämlich noch nicht ihren Plan ausführen, den sie ganz sicher schon in ihrem Kopf geschmiedet hat, obwohl sie bis dato das Thema auf sich hat beruhen lassen. Aber nur, weil sie nichts sagt, heißt das noch lange nicht, dass sich das Thema erledigt hat. Annabell kennt schließlich ihre Freundin und umso ruhiger sie ist, umso schlimmer, beziehungsweise extremer wird es denn auch immer.
 

Heute Abend wird sie allerdings nicht drum herum kommen. Morgen wird ihre Freundin leider schon wieder die Heimreise antreten und Annabell darf sich wieder alleine die Tage um die Ohren schlagen. Sie wird alleine bei dem Gedanken daran, morgen wieder ohne Toni auskommen zu müssen, ganz theatralisch. Doch sie haben beide gewusst, dass sie nur für ein paar Tage hier bleiben wird. Seit dem Morgen sind sie beide nun schon mit ihren Rucksäcken unterwegs und haben eine ordentliche Wanderung unternommen. Wie die anderen Tage auch, sind sie beide bis auf die Knochen erschöpft, doch diese Erschöpfung fühlt sich ganz anders an.
 

Keiner von ihnen ist den ganzen Tag auf dem Boden herum gerobbt und hat irgendwelche Holzbretter oder Türen aneinander geschraubt. Sie sind einfach nur am Strand entlang gelaufen, haben die Kugelbake passiert – das Wahrzeichen von Cuxhaven, geografisch endet dort die Elbe und die Nordsee beginnt, auch Seezeichen genannt – und das Wasser beim Rückzug beobachtet. Nach einer Stärkung auf ihrer Wanderung sind sie einige Stunden barfuß über das Watt marschiert und haben kleine Babykrabben beobachtet, wie sie erschrocken über den trockenen – trocken in dem Sinn, dass kein Wasser mehr da ist, weil direkt trocken ist er deswegen ja trotzdem nicht – Meeresboden krabbelten oder sich gleich direkt im Sand verbuddelten. Sie mussten dann noch eine ganze Strecke auf dem Sandstrand zurück legen, damit ihre Füße wieder trocken und der Schlamm abgerieben sind, bevor die Mädels in ihre Schuhe zurück schlüpfen konnten.
 

Wie gesagt, nun sind beide erschöpft und ihnen brennen die Füße, doch keine der beiden hat die Geduld zu Annabell nach Hause zu gehen und sich da ein wenig auszuruhen. Würden sie einmal mit ihren Körpern auf dem Sofa herabsinken, so wäre sofort klar, dass keine der beiden heute auch nur noch einen Schritt vor die Tür machen würde. Also beißen sie die Zähne zusammen und überbrücken die letzten hundert Meter mit brennenden Füßen, bis sie endlich die Sintflut erreichen und sich dort einen gemütlichen Tisch ergattern, wo sie alles – oder jeden – genau im Blick haben und das Treiben beobachten können.
 

„Dein Süßer ist da.“ Annabell hat sich noch gar nicht richtig hin gesetzt, da spürt sie schon den spitzen Ellenbogen von Toni in ihrer Seite, welcher sie zusammenzucken lässt.

„Hör auf!“, zischt sie leise und schickt einen mörderischen Blick Toni zu, denn ausgerechnet in diesem Moment hat Oskar zu ihnen geguckt und sie begrüßt, wenn auch aus so einer Entfernung, dass er Tonis Worte unmöglich hören konnte. Aber das ist egal, schon die Tatsache, dass er ihr mächtiges Zusammenzucken gesehen hat, treibt Annabell die rote Farbe ins Gesicht.

„Entspann dich, ist doch nichts passiert“, verdreht Toni ihre Augen. Nein, es ist nichts passiert, nur das Annabell sich schon blamiert hat, bevor sie überhaupt eine Minute in diesem Gebäude ist. Allerdings versucht sie gar nicht erst mit Toni darüber eine Diskussion zu beginnen, das ist eh zwecklos und vergebene Liebesmüh.
 

Ein „Moin“, veranlasst Annabell dazu ihren bösen Blick von Toni zu lösen und im nächsten Moment schaut sie in graue Augen, welche den Blickkontakt für zwei Sekunden aufrecht erhalten, bevor sie sich von ihr lösen und beobachten, dass ja alles an seinem richtigen Platz gerät, nämlich die Speisekarten, welche Oskar vor ihnen ablegt. Dann rauscht er schon wieder davon und Annabell hatte noch nicht mal richtig die Chance seine Begrüßung zu erwidern, im Gegensatz zu Toni, welche ziemlich euphorisch den Gruß zurück gegeben hat. Oh man, der Mann muss sicherlich denken, dass sie eine dumme Zippe ist, die es nicht für nötig hält zu antworten. Kein Wunder, dass er sie genauso behandelt wie alle anderen Gäste auch und nicht eine besondere Art irgendwie an den Tag legt.
 

„Hör auf zu träumen, vor deiner Nase spielt die Musik“, trifft ein spitzer Ellenbogen schon wieder zielgenau ihre Rippenpartie und Annabell jault kurz auf. Sich über Toni ärgernd hebt sie die Karte hoch und tut wenigstens so, als würde sie darin lesen, denn ihre Aufmerksamkeit wird von was ganz anderem angezogen. Oder sollte sie sagen von jemand ganz anderem? Von ihrem Platz aus haben sie einen perfekten Blick auf die Theke und genau hinter dieser Theke befindet sich die Bar. Genau diese Bar wird von niemand anderem als Oskar bedient und der muss sich gerade so schön weit nach oben strecken, dass sein eng anliegendes Hemd ordentlich nach oben rutscht und einen handbreiten Streifen Haut freilegt. Er steht seitlich zu ihnen, so dass Annabell mehr als deutlich seinen freigelegten Hüftknochen sehen kann.
 

Augenblicklich wird ihr Mund staubtrocken und in ihrem Bauch fängt es an zu Kribbeln und ihr Körper wird von einer Welle Aufregung regelrecht überspült. In ihrer Vorstellung taucht von ganz alleine ein Bild auf, wo ihre Hände sich unter den engen Stoff des Hemdes schleichen und dort über den warmen, festen Bauch streichen. Sie kann die Muskeln und auch die Erhebung des Knochens beinahe schon spüren. Annabell träumt sich noch eine Etage tiefer, welche sie bis an den Bund der tief sitzenden schwarzen Jeans führt u- „Au, verdammt! Wenn du nicht gleich aufhörst mich mit deinen spitzen Knochen zu malträtieren, ramme ich dir mal MEINEN Ellenbogen dahin, wo es so richtig weh tut, Antonia-Sophie!“, wird Annabell aus ihrem – zugegeben sehr heißen, aber gerade ein bisschen unpassenden – Tagtraum, dank erneuter Attacke von Tonis Ellenbogen, gerissen, was sie so nervt, dass sie auch mal nicht an sich halten kann und einfach ihrem Ärger Luft lässt.
 

Das darauffolgende, belustigte Glucksen lässt sie ihren Kopf drehen. Oskar bleibt grinsend vor ihnen stehen, sagt aber kein Wort. Annabell dagegen würde am liebsten ihre Sachen nehmen und verschwinden, aber dieser peinliche Abgang würde ihr Verhalten wahrscheinlich noch peinlicher machen und sie will sich eigentlich auch nicht so sehr blamieren, dass sie später nie wieder einen Fuß in dieses Lokal setzen kann.
 

„Ich hätte gerne ein großes Jever“, übernimmt Toni dann einfach das Zepter.

„Ein großes Jever für Antonia-Sophie“, murmelt daraufhin Oskar und kritzelt Tonis Bestellung auf seinen kleinen Block, aber nicht ohne ein freches Grinsen im Gesicht zu haben.

„Du weißt wie ich diesen Namen hasse“, brummt Toni daraufhin zu Annabell und seufzt, was nun Annabell dazu veranlasst die Schultern zu zucken.

„Dann behalt das nächste Mal deine Ellenbogen bei dir“, brummt sie selbstbewusster als sie ist, bevor Annabell auch endlich ihre Bestellung aufgibt. „Einen Pfefferminztee, bitte. Und das Tagesgericht.“

„Gerne“, schreibt Oskar emsig mit. „Und was möchte Antonia-Sophie essen?“, grinst er dann schon wieder und man sieht regelrecht den Schalk in den grauen Augen blitzen. Als Toni Annabell einen giftigen Blick zuwirft, zwinkert Oskar ihr sogar frech zu, was ihr Herz gleich wieder dazu veranlasst einen Salto rückwärts zu machen. Keine Ahnung, ob das schon zu Tonis Plan gehört, was die Aufmerksamkeit Oskars angeht, zu funktionieren scheint es aber.
 

„Ich nehme das gleiche wie Annabell“, betont Toni mit Absicht ihren Namen deutlich, doch damit kann sie sie nicht ärgern. Sie mag ihren Namen. Einzig ein bisschen peinlich ist es ihr, aber der blonde Mann lässt sich nichts anmerken, sondern nickt nach seinen Notizen und verschwindet danach wieder.
 

„Was sollte das denn?“, beschwert sich Annabell sofort bei ihrer Freundin, sobald sie sich von Oskars knackiger Rückansicht losreißen konnte.

„Was denn? Irgendwie musste ich dich ja aus deinem Traum heraus kitzeln, du warst ja vollkommen weg, nachdem du ihn mit deinen Blicken beinahe ausgezogen hast. Du hast mich ja vollkommen ignoriert.“

„Ich habe ihn gar nicht mit meinen Blicken ausgezogen“, streitet Annabell Tonis Beschuldigungen leise ab, außer das mit dem Ignorieren, denn das hat sie wirklich getan. Hoffentlich hört hier keiner mit, das wäre sonst der Oberknaller schlechthin, aber nicht auf die gute Art und Weise.
 

„Natürlich hast du das. Du sahst beinahe so aus, als würdest du ihn überall ablecken wollen – worin ich dir keinen Vorwurf machen will, lecker ist er ja wirklich“, grinst Toni am Ende breit. „Weißt du aber, was das allerbeste an der Sache ist?“, will sie dann noch wissen und wackelt mit ihren Augenbrauen.

„Was?“, fragt Annabell, das aber nicht gerade freundlich.

„Er kennt jetzt deinen Namen.“

„Deinen aber auch, Antonia-Sophie.“

„Touché.“
 

Damit ist das Kriegsbeil zwischen den beiden wieder begraben und sie machen sich wenig später über ihr Essen her, welches diesmal leider nicht von Oskar gebracht wurde, da dieser von anderen Gästen vollkommen eingenommen und belagert wurde. Schade, aber lässt sich nun mal nicht ändern, zudem, das Essen ja aber trotzdem schmeckt.
 

Satt und zufrieden lehnen sich die beiden wenig später wieder zurück und Annabell hat sich noch ihren Pfefferminztee vor die Nase gezogen. Der ist zwar nicht mehr heiß, aber das stört sie nicht. Generell trinkt sie gerne und viel Tee, da ist es ihr egal, ob er noch heiß ist, oder beinahe Eisschollen darauf schwimmen. Solange man die frische der Minze schmeckt – das ist eindeutig ihre Lieblingssorte – ist ihr die Temperatur vollkommen egal.

Im Nu sind ihre leer geputzten Teller vom Tisch geräumt. Dann kann Annabell gar nicht so schnell gucken, wie Toni für jeden noch einen Cocktail bestellt hat.
 

„So war das aber nicht abgemacht“, schüttelt sie amüsiert den Kopf.

„Wir haben auch nie darüber gesprochen. Ich lad dich ein, keine Bange. Ich mag nur den letzten Abend mit dir noch genießen, bevor ich morgen wieder nach Hause fahren muss“, seufzt Toni theatralisch. Allerdings kann Annabell sie in dieser Hinsicht total verstehen. Ihre gemeinsame Zeit ist so schnell vergangen, dabei klangen sechs Tage wirklich lang. Doch die ganze Aktion mit ihrer Wohnung hat so viel Zeit gefressen, dass am Ende nur noch der heutige Tag übrig blieb, um ihn richtig zu genießen.
 

„Dann muss ich mal kurz dahin, wohin selbst der Kaiser zu Fuß hingeht“, entschuldigt Annabell sich und kämpft sich zur Theke durch, damit sie sich eine Marke für die Toilette abholen kann. Für sie als Kunde des Lokals ist die Benutzung kostenlos, Gäste die nicht in diesem Haus speisen, müssen ein bisschen dafür lohnen, aber schließlich machen die Toiletten sich nicht von alleine wieder sauber und instand gesetzt kann von nix auch nichts werden, weswegen Annabell es vollkommen gerechtfertigt findet.
 

Mit ein bisschen zu viel Schwung steigt sie die einzelne Stufe, welche ins oder aus dem Lokal führt, hinunter und rennt prompt in einen großen, harten Körper, welcher ebenfalls um die Ecke geschossen kommt. Der Geruch von frischem Rauch steigt ihr in die Nase, dazu eine Note herben Deos und eine sehr präsente Nuance, die eindeutig nach Essen riecht.
 

Annabell ruft erschrocken „Sorry“ aus, gleichzeitig dringt ein „Vorsichtig!“, an ihre Ohren, bevor sie an den Schultern gepackt wird, wahrscheinlich, damit sie nicht noch einen Abflug macht, da sie erschrocken einen Schritt zurück gegangen ist, weswegen sie rückwärts an die hohe Stufe stößt. Tatsächlich ist sie ausgerechnet mit Oskar zusammen gestoßen, welcher scheinbar kurz ‚frische Luft schnappen‘ war, wenn man die frische Rauchnote als Argument nimmt.
 

„Ich hab dich nicht gesehen. Alles okay?“, fragt dieser sogleich und schaut sie mit seinen grauen Augen an.

„Al-alles okay. Ich hab mich nur erschrocken“, nickt Annabell und sie bekommt sogar ein Lächeln hin, was Oskar sogleich erwidert.

„Gott sei Dank und Sorry noch mal“, tätschelt er eine ihrer Schultern, bevor er sich mit einem entschuldigenden Lächeln an ihr vorbei drängt um seiner Arbeit nachzugehen. Himmel, was für ein Schreck, wenn auch ein sehr guter, wenn Annabell ehrlich zu sich selbst ist. Bevor sie aber wieder zu träumen beginnt, geht sie endlich dem nach, weswegen sie überhaupt aufgestanden ist. In Windeseile verschwindet sie in den sanitären Anlagen und kommt nach einigen Minuten verrichteter Dinge wieder raus. Schnell hat sie sich zu Toni wieder durchgekämpft, welche schon mit ihren Cocktails wartet und ungeduldig an einem der beiden Strohhalme spielt, die in ihrem Glas stecken.
 

„Was war denn das gerade?“, war ja klar, dass sie das mitbekommen hat. Was anderes hätte Annabell auch gewundert.

„Was soll schon gewesen sein?“

„Verkauf mich nicht für dumm. Ich habe doch gesehen, wie du dich mit Oskar unterhalten hast, er hatte sogar seine Hand auf deiner Schulter. Von wegen der weiß nicht, dass du existierst“, schaut Toni Annabell vorwurfsvoll an, doch diese schüttelt nur ihren Kopf, auch wenn der trotz allem knallrot leuchtet.

„Guck das nächste Mal richtig hin. Er ist voll in mich hinein gerauscht. Oder ich in ihn, keine Ahnung. Zumindest konnten wir den Frontalzusammenstoß gerade so noch verhindern, dabei sind seine Hände auf meinen Schultern gelandet, als Stütze sozusagen. Nicht mehr und auch nicht weniger“, daraufhin zieht Toni einen Flunsch und Annabell denkt sich nur: Ich weiß was du meinst.
 

Als Ablenkung zieht sich Annabell ihren Drink heran und probiert einen Schluck. Das Gesöff ist mächtig süß, aber auch ziemlich süffig und sie weiß jetzt schon, dass sie den ganz sicher in ihrem Kopf noch spüren wird. Doch auch dieser Gedanke hilft nicht, dass sie immer wieder daran zurück denken muss, wie sich Oskars große Hände auf ihren Schultern angefühlt haben. Oder wie fest und stark sich sein Körper bei ihrer Kollision angefühlt hat. Das mittlerweile altbekannte Kribbeln steigt wieder in ihrem Bauch empor. Das fühlt sich arg nach Schmetterlingen im Bauch an. Da hat sie sich ja mächtig etwas eingebrockt. In einem Kerl verschossen, der sie nur soweit wahrnimmt, wie jeden anderen Gast auch. Aber immerhin kann sie ihn jedes Mal aufs Neue heimlich anschmachten, zumindest wenn er gerade Dienst hat.
 

„Bella, du träumst schon wieder“, spürt sie zum wiederholten Male den sehr bekannten Ellenbogen in ihrer Rippennähe und Annabell würde es nicht wundern, wenn ihre Seite morgen von blauen Hämatomen übersät wäre. Dieses Mal hat Toni ihre Kräfte aber wenigstens ein bisschen kontrolliert und es war mehr ein Stupser und kein böser Schlag.

„Lass mich doch träumen, stört doch niemanden.“

„Doch mich.“

„Du gönnst einem auch nichts, hm?“, muss sie dann aber selbst schmunzeln und Annabell lässt ihr Glas vorsichtig gegen Tonis klirren. Somit schleicht der Abend weiter dahin und nicht nur ein Cocktail wird von den beiden Mädels vernichtet, sondern es folgen noch zwei andere. Das Lokal selbst hat sich mittlerweile deutlich geleert und bis auf zwei Kerle direkt an der Theke, ist niemand mehr da. Annabell nippt noch an dem letzten Rest ihres Cocktails, während Toni die Rechnung bestellt. Bevor sie überhaupt reagieren kann, hat ihre Freundin die komplette Rechnung beglichen und dazu noch ein ordentliches Trinkgeld springen lassen.
 

„Du bist doch verrückt“, murmelt Annabell mit einem Lächeln, als sie es beobachtet.

„Wieso? Dieser Laden hier ist einfach Spitze, also darf das Personal ruhig auch was davon haben“, zuckt Toni lässig mit den Schultern und schenkt dem älteren Mann, der neben Oskar heute den Laden geschmissen hat, ein aufrichtiges Lächeln. Dieser bedankt sich sichtlich erfreut und wünscht ihnen noch einen schönen Abend, bevor er mit dem gefüllten Kellnerportemonnaie von dannen zieht.
 

„Wir machen jetzt aber noch mal was ganz Verrücktes“, zwinkert Toni ihr zu und sie kramt ihr Handy hervor und schnorrt sich bei Annabell einen Kugelschreiber, den sie immer mit sich herum trägt, zumindest wenn sie eine Tasche oder ihren Rucksack dabei hat.

„Will ich wissen, was du vor hast?“, hebt Annabell eine Augenbraue und sie saugt geräuschvoller als beabsichtigt ihr Glas, dank dem Trinkhalm, leer.

„Moment, ich hab es gleich“, vertröstet Toni sie aber nur. Seufzend zieht Annabell sich schon mal ihre Jacke über und reißt den Reißverschluss bis zum Kinn hoch, aus Erfahrung weiß sie nämlich mittlerweile, dass es draußen nun doch schon recht frisch ist.
 

„So, fertig“, strahlt Toni eine halbe Minute später und sie schiebt den Stift zu ihr rüber, samt dem Pappuntersetzer, auf dem zuvor noch ihr Glas stand. Mit skeptischer Miene zieht Annabell alles zu sich heran und schnappt im nächsten Moment nach Luft, als sie kapiert, was genau ihre Freundin da drauf gekritzelt hat. In fein säuberlicher Schrift steht Annabells Handynummer auf dem Stück Karton und unten drunter ‚Zu Händen Oskar.‘
 

„Bist du wahnsinnig, das kannst du doch nicht machen!“, bricht es erbost aus Annabell raus, zudem brennen ihre Wangen schon wieder so verräterisch, das heißt, sie ist schon wieder knallrot. Sofort will sie sich den Untersetzer unter den Nagel reißen, doch Toni ist schneller und sie schnappt sich das kleine Teil.

„Ich kann und werde“, meint diese nur und zieht Annabell dann einfach aus dem Lokal, aber nicht ohne vorher den Untersetzer wieder auf den Tisch zu werfen, damit er auch ja gesehen wird.

Rufst du an oder schreibst du?

"Rufst du an oder schreibst du?"
 

Sicht Óskar
 

Der Tag verläuft eigentlich wie jeder andere auch. Am Nachmittag ist es recht ruhig und am Abend kommen dann schon ein paar mehr Gäste, die sich die Bäuche vollschlagen wollen. Im Großen und Ganzen hat sich keiner beschwert und die Extrawünsche haben sich auch in Grenzen gehalten. Ab und zu konnte er auch ein paar Späße mit den Gästen machen. Bei diesem Gedanken fällt sein Blick auf die zwei jungen Frauen, welche noch immer an ihrem Tisch sitzen und dabei sind ihre Getränke zu leeren. Er muss schon bisschen vor sich hin grinsen, als die kleine Kabbelei ihm in den Sinn kommt, die sich nur ein, zwei Stunden zuvor ereignet hat.
 

Er hat keine Ahnung worum es ging, aber die Blonde von ihnen hatte Óskar nur aus dem Augenwinkel zusammenzucken sehen, als er sich wegen den Getränken ihrem Tisch näherte. Bei der Drohung der blonden Frau musste er unwillkürlich amüsiert auflachen, was natürlich nicht unentdeckt blieb. Aber Óskar macht sich aus solchen Situationen nicht viel, sondern steht drüber und letzten Endes haben die Mädels ihm das auch nicht übel genommen. Er würde sogar so weit gehen, dass es ihnen sogar gefallen haben könnte. Er durfte sich ja sogar an einer kleinen Neckerei beteiligen. Die Brünette - Antonia-Sophie, wenn er sich recht erinnert – versuchte dann zwar ihre blonde Freundin mit den Blicken zu erdolchen, aber diese sah eher amüsiert und auch ein bisschen überlegen aus als wirklich eingeschüchtert.
 

Da es straff auf den Feierabend zugeht, macht Óskar hinter seiner Bar schon mal klar Schiff und räumt alles weg, was er heute nicht mehr brauchen wird, bevor er zu sehr in der amüsanten Erinnerung verfällt. Die Kaffeemaschine wird schon gereinigt und desinfiziert, genauso wie die Zapfanlage. Die Küche ist schon seit einer halben Stunde geschlossen und auch so wird nichts mehr ausgeschenkt.
 

Nur so nebenbei bekommt er mit, wie sich die letzten Gäste trollen und er ruft ihnen schon ganz automatisch einen Abendgruß hinterher. Als alle weg sind, nutzt Konrad – sein älterer Kollege – gleich die Gunst der Stunde und sperrt beide Türen ab, damit niemand mehr hineinkommen kann. Danach macht dieser sich daran die Tische abzuwischen, während Óskar die letzten Handgriffe hinter der Bar vollführt.
 

„Hey, Óskar. Ich hab was für dich“, wird er aber je unterbrochen und verwundert schaut er hoch, während er sich gleichzeitig die Hand an einem Geschirrtuch abtrocknet.

„Was denn?“, fragt Óskar verwundert.

„Schau selbst“, grinst Konrad nun wissend, was Óskar dazu veranlasst eine Augenbraue hoch zu ziehen, bevor er sich mit einer Hand durch die Haare fährt und sie wieder zur Seite und aus der Stirn streicht. Im nächsten Moment kommt schon etwas Flaches auf ihn zugeflogen und er checkt erst beim Fangen, dass es sich um einen ihrer Untersetzer Handelt, welche sie immer unter die Gläser oder Flaschen legen.
 

„Was soll ich denn damit, du weißt doch, wo die Dinger hin gehören“, brummt er und Óskar will ihn eigentlich schon wieder zurück werfen, als Konrad ihn abhält.

„Guck dir das Teil doch mal an, bevor du voreilig handelst“, grinst der Kerl noch immer.

„Ich weiß doch wie die Dinger aussehen“, spricht er mehr zu sich selbst als zu seinem Kollegen und auf Wunsch eines einzelnen Herren dreht er das Teil aus zusammengepresster Pappe um. In der ersten Sekunde fällt Óskar nichts auf, doch dann sticht ihm sein eigener Name – wenn man die übliche falsche Schreibweise mal außen vor lässt – ins Auge und eine Handynummer, die obendrüber gekritzelt steht. Ein Name, welcher zu der Nummer gehört, der wurde allerdings weggelassen. Das ist ihm auch schon lange nicht mehr passiert.
 

„Gefunden?“, grinst Konrad nun vom anderen Ende des Raumes rüber, wo er noch immer die Tische gründlich abwischt.

„Ja“, kann Óskar es beim besten Willen nicht abstreiten.

„Rufst du an oder schreibst du?“, versucht sein Kollege gar nicht erst seine Neugier zu verstecken und scheint auch gleich der Annahme zu sein, dass er Variante drei von vornherein ausschließt; nämlich nicht darauf zu reagieren. Der ältere Mann wechselt zum nächsten Tisch, während Óskar noch immer mit dem Untersetzer in der Hand da steht und auf die Nummer starrt.

„Ich kenne die Frau doch gar nicht, beziehungsweise weiß ich doch gar nicht, wer sie ist – also ich, hoffe, dass die Nummer einer Frau gehört.“

„Du wirst es nur herausfinden, wenn du dich meldest, du bist doch sonst auch nicht so schüchtern“, lacht Konrad ihm entgegen, wahrscheinlich wegen der Endung seines Satzes. „Aber wenn es dich beruhigt, der Deckel lag auf dem Tisch von den zwei Frauen, die gerade erst gegangen sind.“

„Bin ich ja auch nicht“, erbost Óskar sich sogleich und wirft Konrad das Geschirrtuch zu, welcher es behände auffängt. Aber wenn er ehrlich ist, dann ist er schon froh, dass sich sein Kollege gemerkt hat, wer denn an dem Tisch saß. Auch wenn er nichts gegen Homosexualität hat, von einem Kerl angemiezt zu werden, dass steht bei ihm nun auch nicht ganz oben auf der Liste.
 

„Was gibt es da noch zu diskutieren? Wäre ich an deiner Stelle, ich würde gar nicht lange überlegen. Die beiden machten doch einen sehr sympathischen Eindruck, wenn auch ein wenig verrückt“, zuckt sein Kollege mit den Achseln, wirft sich das Geschirrtuch über eine Schulter und wischt fröhlich mit seinem Lappen weiter die Tische ab.

„Davon mal abgesehen, woher kennen die meinen Namen? Ich will nicht sagen, dass es mir unheimlich ist, aber ganz koscher kommt mir das nun auch nicht vor“, überlegt Óskar laut und schaut seinem Kollegen weiter bei der Arbeit zu.
 

„Was weiß ich. Die Blonde ist zumindest öfter hier, vielleicht hat sie Carla mal nach deinen Namen gefragt, oder sie hat ihn mal zwischendurch aufgeschnappt, kann ja schließlich möglich sein.“ Óskar muss zugeben, dass es wirklich gute Argumente sind, die durchaus im Bereich des möglichen liegen. Falls er sich aber wirklich dazu entschließen sollte sich bei dieser Nummer zu melden, dann hofft er insgeheim schon, dass sie wenn, dann zu der blonden jungen Frau gehört und nicht deren brünetten Freundin. Die wäre ihm wahrscheinlich ein bisschen zu viel. Nicht von der Körperfülle her, sondern wegen ihren Wesens. Óskar hat in der kurzen Zeit den Eindruck bekommen, dass sie eher ein ziemlich lautes Gemüt hat und auch wenn sie sicherlich immer für ihre Freundin einspringen würde – die beiden wirkten nämlich nicht nur wie Freunde, nicht mal wirklich wie beste Freunde, sondern viel, viel vertrauter – ihm wäre das auf Dauer zu viel, da er auch mal ruhige Momente für sich benötigt.
 

„Ich überlege es mir noch“, will er sich dann aber nicht weiter damit aufhalten und Óskar legt den Untersetzer vorsorglich zur Seite und macht sich daran die letzten notwendigen Arbeiten zu erledigen, bevor er endlich Feierabend machen kann. Zwar ist er hier so gesehen der Chef, beziehungsweise der Verantwortliche, aber genau deswegen kann er seine Arbeit nicht schleifen lassen, sondern muss vorbildlich vorangehen.

Ps.: Woher kennst du meinen Namen?

"Ps.: Woher kennst du meinen Namen?"
 

Es sind schon wieder ein paar Tage vergangen. Toni ist schon längst wieder bei sich zu Hause und treibt die dort anwesenden Menschen in den Wahnsinn. So sehr Annabell sie vermisst hat, als sie vor knapp vier Wochen hier hoch gezogen ist, so sehr freut sie sich auch wieder über die Ruhe, welche jetzt wieder in ihrer Wohnung herrscht. Sie liebt ihre Freundin wirklich, aber genauso sehr würde sie die junge Frau in regelmäßigen Abständen auch an die Wand werfen wollen, damit sie nicht weiter ihre Nerven strapaziert. Das schafft sie sogar aus der Ferne. Jeden verdammten Tag kam jetzt eine Nachricht, ob sich der Oskar nicht schon gemeldet hat und jedes Mal musste sie Toni enttäuschen. Wenn Annabell ehrlich zu sich selbst ist, hat sie aber auch mit nichts anderem gerechnet. Warum sollte er sich auch ausgerechnet bei ihr melden? Am Ende hat er sogar mitbekommen, wie Toni ihre Nummer auf den Untersetzer gekritzelt hat, und von Anfang an entschieden, dass er sich definitiv nicht melden wird. Und wenn das nicht der Grund ist, dann hat Oskar sicherlich eine Freundin, wenn nicht sogar eine Frau. Dann ehrt es ihn sogar, dass er rein gar nicht reagiert und die, doch recht plumpe, Anmache einfach ignoriert, weil er eben treu ist.
 

Seufzend wälzt Annabell sich im Bett von links nach rechts und versucht eine bequeme Position zu finden. Obwohl sie es nicht müsste, ist sie total aufgeregt. Morgen Nachmittag hat sie das Vorstellungsgespräch in der Kita, die sich bis dato als einzige auf ihre Bewerbungen gemeldet hat. Sie weiß, dass sie nicht all zu pessimistisch an die Sache ran gehen sollte, vor allem was die anderen Bewerbungen angeht. Diese sind schließlich noch gar nicht so lange raus und es dauert ja alles seine Zeit. Trotzdem flattert ihr Herz jedes Mal, wenn sie nur an den nächsten Tag denkt. Sie hat Angst irgendetwas Falsches zu sagen oder sich anderweitig zu blamieren. Sie wüsste zwar auf Anhieb nicht, mit was direkt, aber ihr Schicksal ist da sehr kreativ und hat schon so manch blamable Situationen für sie hinauf beschworen.
 

Das Aufleuchten ihres Handys lenkt sie ab und Annabell starrt erst irritiert auf das weiße Licht, welches ihr Schlafzimmer nun erhellt. Toni kann es nicht sein, sie hat ihr vorhin eine Gute Nacht gewünscht und ihr damit klar gemacht, dass sie sie heute nicht mehr zu behelligen braucht. Außer natürlich, es ist irgendwas passiert und ihre Freundin sieht gar keine andere Möglichkeit als sie zu erreichen. Allerdings würde sie dann eher gleich anrufen und nicht nur eine Nachricht schicken, was sie daran erkennt, weil das Display sich bald wieder von alleine verdunkelt. Ihre Eltern würden ebenfalls anrufen und wenn, dann auch nur zur Tageszeit und nicht nachts, kurz vor dreiundzwanzig Uhr.
 

Annabell ist erst versucht das Handy zu ignorieren, doch dann siegt doch die Neugier und sie streckt sich soweit, bis sie das schlanke Teil zwischen ihren Fingern spürt und es beherzt in ihre Hand nimmt. Leise ächzend dreht sie sich auf den Bauch und Annabell knautscht das Kissen unter ihrem Kinn zusammen, damit sie es ein wenig gemütlicher hat. Neugierig drückt sie den Home-Button und erstarrt in der nächsten Sekunde, als sie eine ihr unbekannte Nummer auf dem Display erkennt.
 

Ihr Herz setzt für ein paar Sekunden aus, bevor es mit einem ohrenbetäubenden lauten Hämmern wieder beginnt zu schlagen und das in einem sehr starken Stakkato. Ist gerade tatsächlich das passiert, woran sie schon gar nicht mehr geglaubt hat? Sie kann nur einen Teil der Nachricht bis jetzt lesen, da sie noch immer das Handy nicht entsperrt hat, aber alles deutet darauf hin. Die fremde Nummer und auch der Anfang der Nachricht. ‚Hi. Wahrscheinlich hast du eher mi…‘, weiter kann sie nicht lesen, zumindest nicht, solange sie ihr Handy wie ein fremdes Objekt anstarrt. Schnell reißt sie sich zusammen und wischt einmal quer über ihr Handy und gibt es endlich frei. Mit immer noch schlagenden Herzen tippt sie auf die Nachricht und öffnet sie endlich, damit sie sie vollständig lesen kann.
 

Unbekannt: Hi. Wahrscheinlich hast du eher mit einer Nachricht von mir gerechnet. Ich will ehrlich sein, ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt auf diese Nummer reagieren soll. Letzten Endes hat die Neugier gesiegt und ich mag dann doch wissen, wer mir denn seine Nummer hat zukommen lassen. LG Óskar. Ps.: Woher kennst du meinen Namen?
 

Heilige Mutter Gottes! Annabell ist ehrlich sprachlos und sie kann noch gar nicht glauben, dass Óskar – Óskar und nicht Oskar? – wirklich auf diese Nummer reagiert hat. Mit offenem Mund starrt sie einige Minuten lang auf die Nachricht und liest sie sich immer und immer wieder durch, zumindest so lange, bis das Display sich erneut von selbst verdunkelt. Ihr Herz wummert regelrecht in ihrer Brust und Hitze steigt in ihre Wangen. Verdammt, das ist doch nur eine ganz simple Nachricht und sie führt sich auf, als hätte sie im Lotto gewonnen oder einen Luxusurlaub … oder eben eine Nachricht ihres heimlichen Schwarms erhalten. Bevor sie noch ganz durchdreht, sollte sie sich aber überlegen, was genau sie Óskar nun zurück schreibt. Sie will keinen falschen Eindruck hinterlassen, wobei sie nicht weiß, ob das nach der Untersetzernummer nicht schon zu spät ist.
 

Annabell: Hey Óskar (Nicht Oskar?). Ich bin ehrlich überrascht, dass du dich überhaupt gemeldet hast. Ich habe nicht wirklich daran geglaubt. Dafür freut es mich umso mehr. Und vielleicht sollte ich mich bei deiner Neugier bedanken! LG Ps.: Deine Kollegin ist sehr gut darin dich gefühlt aller zwei Minuten beim Namen zu nennen, wenn sie mit dir spricht.
 

Erst zögert sie noch, dann aber drückt die auf senden und sie kann nur noch zugucken, wie sie raus geht, bevor angezeigt wird, dass die Nachricht beim Empfänger auch wirklich angekommen ist. Tief atmet sie ein und aus, bevor sie das Handy in den Standby-Modus versetzt, es neben ihrem Gesicht aufs Kopfkissen ablegt und danach schweigend in die Dunkelheit starrt. Sie kann es noch immer nicht fassen, dass das gerade passiert ist. Annabell hört ihr Herz weiterhin in ihrem Kopf hämmern und sie versucht so ruhig wie möglich zu atmen. Ihr krabbelt es in den Fingern und am liebsten würde sie Toni sofort eine Nachricht schreiben, dass er sich doch noch gemeldet hat und scheinbar Óskar heißt und nicht Oskar, aber sie bremst sich im nächsten Moment sofort wieder. Nur weil er einmal geschrieben hat, muss es ja nicht sein, dass es zu einem regelmäßigen Kontakt heran wächst. Also hält Annabell erst mal den Ball flach und wartet ab, was noch passiert. Wirklich lange muss sie dann gar nicht mehr geduldig sein, denn da wird ihr Schlafzimmer ein weiteres Mal erhellt und kündigt eine neue Nachricht an. Sofort nimmt sie das kleine mobile Gerät zur Hand und entsperrt das Display.
 

Unbekannt: Óskar mit Ó und nicht O. Und ich habe nun ehrlich nicht damit gerechnet, dass sofort eine Antwort kommt. Ich hoffe, ich habe dich damit nicht geweckt? Warum dachtest du, dass ich mich nicht melden würde? Das Argument mit der Kollegin zählt, mehr muss ich, denke ich, dann auch nicht dazu sagen. Aber du hast mir noch immer nicht verraten wer du bist? Ich habe zwar eine Ahnung und wenn ich ehrlich bin auch eine kleine Hoffnung, aber ich kann mir erst sicher sein, wenn du mir eine Antwort gibst.
 

Diesmal lässt Annabell sich nicht so viel Zeit mit antworten, sondern tippt gleich drauf los, damit sie eine Antwort bekommt, da seine Worte sie doch ein bisschen stutzig gemacht haben.
 

Annabell: Okay, Óskar, eine ungewöhnliche Schreibweise, aber nein, keine Sorge. Ich liege zwar schon im Bett, kann aber nicht schlafen. Da ist die Ablenkung sogar sehr willkommen. Wer denkst, oder sollte ich sagen hoffst du denn, bin ich? Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Willst du eine ehrliche Antwort von mir? Wer steckt wem denn schon seine Nummer auf einem alten Untersetzer zu? Ich hätte die wohl ungesehen in den Mülleimer geschmissen. Zudem hast du wahrscheinlich Frau und Kind zu Hause und antwortest jetzt nur aus Höflichkeit.
 

Als nächstes speichert Annabell die Nummer unter ‚Óskar‘ ab. Wartend kaut sie auf ihrer Unterlippe herum und lauscht dem stetigen Pochen ihres Herzens. Es fühlt sich nach wie vor surreal an.
 

Óskar: Ist die isländische Schreibweise, ein einfaches O kann ja schließlich jeder. Ich verstehe, was du sagen willst. Ich hätte deine Nummer wohl auch nie gesehen, wenn mir mein Kollege das Ding nicht entgegen geworfen hätte. Ich wollte darauf ehrlich gesagt auch nicht eingehen, aber dann hat er mich solange bequatscht, bis ich den Untersetzer zumindest schon mal zur Seite gelegt habe – das ich ihn dann auf Arbeit vergessen habe, das ist wieder eine andere Geschichte. Das ist auch mit ein Grund, warum ich mich erst jetzt melde, da ich zwei Tage frei hatte. Aber ich kann dich beruhigen, ich bin Single und habe auch keine Kinder. Sonst hätte ich deine Nummer gar nicht erst angeguckt. Mein Kollege hat mir übrigens auch verraten, an welchem Tisch er den Deckel aufgelesen hat. Nun ist die Frage, wer du von den beiden bist? Da du nach meiner Hoffnung gefragt hast…ich hoffe du bist nicht An-irgendwas-Sophie.
 

Okay gut, er ist Single und Kinder hat er auch keine. Sie kann gar nicht sagen wie sehr sie sich darüber freut. Sonst hat sie immer das Pech, wenn sie mal Interesse an jemanden hatte, dann war der entweder, vergeben und hatte schon Kinder oder schwul und das er frei hatte und noch dazu ihre Nummer nicht mit nach Hause genommen hat, das versteht sie. Wie gesagt, er ist jetzt schon viel weiter auf diese Anmache eingegangen als Annabell jeweils zu träumen gewagt hat. Sie weiß nun allerdings auch nicht, ob sie sich freuen soll, dass sie nicht Toni ist, oder ob sie Ärger verspüren soll, weil er sich den Namen ihrer Freundin – zumindest mehr oder weniger – gemerkt hat. Aber wahrscheinlich ist ihm das selbst gar nicht so bewusst, Männer sind da eh ein bisschen anders gewickelt als sie Frauen. Mit der Antwort auf das Ó hat er aber ihre Neugier erneut geweckt.
 

Annabell: Du kommst aus Island? Antonia-Sophie lautet der Name. Aber du kannst dich freuen, ich bin nicht Toni. Ich bin Annabell.
 

Óskar: Jetzt hast du mich aber erschreckt. Ich dachte jetzt du schreibst, dass du Antonia-Sophie bist. Verstehe das bitte nicht falsch, schließlich kenne ich deine Freundin nicht, aber du bist mir mehr ins Auge gestochen. Fast wortwörtlich, wenn ich das mal so sagen darf, oder warst du das nicht, mit der ich zusammen gerauscht bin? Nicht direkt, meine Großmutter kommt aus Island, ist als Kind aber selbst nach Deutschland gekommen und sie hat bei jedem ihrer Kinder und Enkelkinder darauf bestanden, dass der Name wenigstens ein bisschen nach Island klingt.
 

War ja klar, dass er sich daran erinnert und es ihr sogar noch unter die Nase reiben muss. Aber sie würde es wahrscheinlich genauso machen und wenn sie ganz ehrlich ist, freut sich Annabell darüber, dass er sich noch an sie erinnert, dabei kann sie das Grinsen, welches sich auf ihre Züge geschlichen hat auch nicht unterdrücken und sie will es auch gar nicht. Und noch erfreuter ist sie, dass er sich tatsächlich freut, dass sie es ist und nicht Toni, die ja sonst jeden Mann sofort um den Finger gewickelt bekommt. Von seiner Herkunft ist sie ehrlich gesagt ziemlich überrascht, aber irgendwie passt das zu ihm. Wenn nicht Island, er könnte sicherlich auch ganz leicht als Norweger durchgehen, oder als Finne.
 

Annabell: Erwischt, die war ich. Sorry noch mal dafür, ich hab nicht darauf geachtet, wo ich hinlaufe. Ich finde es toll, dass das deine Großmutter so durchsetzen konnte.
 

Óskar: Kein Problem, ist doch nichts passiert. Schon, aber wenn alle deinen Namen falsch schreiben und auch nicht korrekt aussprechen, das nervt irgendwann tierisch, aber mein Name ist jetzt nicht das Thema. Erzähl mal, was machst du so? Bist du hier im Urlaub? Wobei, mein Kollege sagt, dass du öfters bei uns isst… Aber du kommst nicht von hier, oder?
 

Oh, jetzt will er es aber wissen. Aber gut, Annabell hat nichts zu verbergen und auch keine Geheimnisse, außer vielleicht, dass sie sich schon vor Ewigkeiten in ihn verknallt hat, obwohl sie Óskar eigentlich nur vom Sehen kennt und alleine diese Tatsache findet sie persönlich schon total verrückt. Vielleicht hat Toni aber auch recht und es ist nur eine Schwärmerei und wenn sie Óskar etwas mehr kennengelernt hat, dann merkt sie, dass ihre Gefühle gar nicht so tief sind wie sie die ganze Zeit denkt… Aber dafür müssen sie sich wie gesagt erst einmal kennenlernen und Annabell ist fest entschlossen diese Chance zu nutzen, welche sich ihr hier gerade regelrecht aufdrängt. Also schreibt sie Óskar, dass sie eben erst knapp vier Wochen in Cuxhaven wohnt und ursprünglich aus der Nähe von Dresden kommt. Dass sie im Moment auf Jobsuche ist, morgen aber das Bewerbungsgespräch hat und voller Hoffnung ist, dass es sogar beim ersten Mal gleich was wird, auch wenn sie weiß, dass das eher unwahrscheinlich ist. Sie hält sich sogar zurück und fragt nicht, wie sein Name ausgesprochen wird, wenn nicht wie Oskar. Das hebt sie sich für später auf.
 

Von Óskar erfährt sie, dass er sozusagen der Chef der Sintflut ist und zumindest für die Filiale den Arsch hin hält. Diese Betitelung stammt nicht von ihr, sondern von Óskar selbst, womit er sie zum Grinsen gebracht hat. Er wohnt schon sein ganzes Leben in Cuxhaven und fühlt sich hier auch pudelwohl, wie er ihr mitteilt. Er hat einen Hund, einen Rottweiler, welcher auf den Namen Max hört. Annabell musste ihre ehrlichen Bedenken wegen des Hundes aussprechen, da für sie die Rasse Rottweiler ehrlich gesagt ziemlich bedrohlich klingt. Doch Óskar hat zumindest versucht ihre Vorurteile zu zerstreuen und ihr versichert, dass sein Hund sich viel lieber die Ohren kraulen lässt als unschuldige Frauen zu belästigen. Allerdings hat er ihr trotzdem klar gemacht, dass Max auch für sein Herrchen einspringt und bei drohender Gefahr tatsächlich gefährlich werden könnte. Das hat Annabell dann auch nur halbwegs beruhigt, aber sie kann sich auch noch kein Urteil erlauben, solange sie Hund und auch Herrchen noch nicht richtig persönlich kennenlernen konnte.
 

Noch lange haben sie sich hin und her geschrieben, bis Annabell irgendwann mit dem Handy in der Hand eingeschlafen ist und dabei gar nicht mehr an das bevorstehende Bewerbungsgespräch gedacht hat, welches ihr zuvor den Schlaf nicht gönnen wollte.

Du klingst wie eine kleine Stalkerin, Madame...

"Du klingst wie eine kleine Stalkerin, Madame..."
 

Durch vibrieren ihres Handys – welches noch immer in ihrer Hand liegt – wird Annabell aus ihrem Schlaf gerissen und sie blinzelt erst einen Moment verwirrt, bis sie checkt, was genau sie geweckt hat. Sie sieht nur noch das Licht ihres Handys erlöschen, dann ist alles wieder so, als wäre nie etwas geschehen.
 

Müde stöhnend lässt sie es los bevor sie sich über die Augen reibt und ignoriert für einige Sekunden ihr Mobiltelefon. So wirklich will sie die Augen noch nicht aufbekommen und auch wenn sie neugierig ist, wer sie denn aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen hat, die Kraft und Koordination bekommt sie dafür einfach noch nicht hin. Gähnend beschließt Annabell sich noch ein paar Minuten zu geben, bevor sie sich in den Tag stürzt.
 

Aus ein paar Minuten sind am Ende über zwei Stunden geworden und Annabell ist doch ziemlich über sich selbst erschrocken als sie das nächste Mal auf die Uhr schaut. Kurz nach elf Uhr zeigt ihr Wecker in leuchtenden Lettern an und das veranlasst sie dazu mit einem beherzten Sprung aus dem Bett zu hopsen. Nun wird es aber langsam mal Zeit in die Gänge zu kommen. Zwar hat sie ihren Termin erst am Nachmittag, aber deswegen kann sie es sich nicht erlauben den ganzen Tagen auf der faulen Haut zu liegen und sich auszuruhen.
 

Keine halbe Stunde später ist sie geduscht und angezogen und sie sitzt mit einer vollen Schüssel Müsli am Tisch. Genüsslich schaufelt sie einen Löffel nach dem anderen in sich hinein, während sie gleichzeitig überlegt, was sie denn heute zu ihrem Bewerbungsgespräch anziehen soll. Sie will nicht zu formell gehen, das macht dann eher den Eindruck, dass sie sich zu fein ist und nicht die Finger dreckig machen will. Zu leger möchte sie sich aber auch nicht kleiden, da es dann wieder so rüber kommen könnte, dass sie alles zu locker nimmt und den Kindern keine Grenzen bietet.
 

Annabell hält mitten in ihrer Bewegung inne sich einen weiteren Löffel Müsli in den Mund zu stopfen, als ihr einfällt, dass sie früher am Morgen ihr Handy doch in der Hand hatte und es sie sogar geweckt hat. Den vollen Löffel lässt sie zurück in ihre Schale sinken und sie springt auf und schlittert in ihr Schlafzimmer, wo sie das kleine mobile Teil erst mal aus der Bettdecke wühlen muss. Mittlerweile leuchtet ihr nicht nur eine Nachricht entgegen, sondern es sind schon zwei. Eine von Toni und eine von Óskar, weswegen ihr Herz gleich wieder ein bisschen schneller schlägt
 

Annabell zwingt sich zuerst auf Toni zu antworten. Die wünscht ihr wie immer einen guten Morgen und einen schönen Start in den Tag. Gut, der war bis jetzt recht chaotisch, aber deswegen noch lange nicht schlecht. Sie wünscht ihr schlicht das Gleiche, bevor sie mit zitternden Fingern die nächste Nachricht öffnet. Ihr kommt es nach wie vor so vor, als hätte sie den gestrigen Abend geträumt, aber wenn sie den Chatverlauf der letzten Nacht betrachtet, dann ist es definitiv kein Traum, sondern nichts als die Wahrheit. Eine sehr tolle und wirklich aufregende Wahrheit, wenn sie ehrlich zu sich selbst ist.
 

Óskar: Guten Morgen Annabell. Ich hoffe du bist gut in den Tag gestartet und viel Erfolg heute bei deinem Vorstellungsgespräch. Zeig was du kannst und gib Bescheid, wie es gelaufen ist!
 

Es sind wirklich nicht viele Worte, aber sie zaubern ihr sofort ein breites Lächeln aufs Gesicht und sie spürt von ganz alleine die Wärme in ihre Wangen schießen. Schon verrückt, was ein paar einfache Worte alles so anrichten können.
 

Annabell: Guten Morgen oder sollte ich eher Mittag sagen? Ich habe ein bisschen verschlafen und hänge nun ganz schön bei meinem Tagesplan hinterher. Bei dir ist es sicher besser gelaufen. Danke, ich gebe mir alle Mühe.]/i]
 

Tippt sie ihm zurück, bevor sie ihr Handy in die Hosentasche verstaut und sich wieder in die Küche begibt, wo sie ihr Frühstück beendet. Danach macht sie sich daran ihren Haushalt zu schmeißen und die Wäsche zu waschen. Eigentlich wollte sie vor ihrem Termin noch einkaufen gehen, aber das kann sie sich jetzt abschminken. Vielleicht macht sie es danach noch, die Läden haben ja alle lang genug offen, da dürfte das kein Problem sein.
 

Gerade als Annabell sich für ihr Gespräch fertig machen will, meldet sich ihr Handy wieder zu Wort. Schnell zieht sie es aus ihrer Hosentasche und öffnet die Nachricht, die von Óskar eingetroffen ist.
 

Óskar: Oh, da habe ich dich gestern wohl zu sehr von deinem Schlaf abgehalten? Da will ich dich mal nicht weiter aufhalten, nicht, dass du wegen mir noch vollends in Verzug kommst.
 

Annabell: Keine Sorge, es ist nichts, was von wirklicher Bedeutung ist und nicht auch auf morgen verschoben werden kann. Außerdem hältst du mich nicht auf, die versüßt mir höchstens die Pausen dazwischen.
 

Oh Gott, hat sie das gerade wirklich geschrieben? Sie muss doch nicht ganz knusper im Kopf sein. Aber jetzt ist es eh zu spät und die blauen Häkchen deuten daraufhin, dass Óskar die Nachricht auch schon längst gelesen hat. Sofort spürt sie wieder diese hibbelige Aufregung in sich, welche sie nicht mehr ruhig sitzen lässt.
 

Óskar: Na wenn das so ist, da muss ich mich ja nicht zurückhalten, da bin ich doch gerne dafür verantwortlich, dass du mal eine Pause mehr machen kannst.
 

Annabell: Was ist eigentlich mit dir? Hast du gerade Pause oder bist du gar nicht arbeiten, hab dich sonst nie am Handy stehen sehe?
 

Óskar: Du klingst wie eine kleine Stalkerin, Madame, soll ich dir das mal sagen? Aber ich bin arbeiten, ist aber gerade sehr ruhig, weswegen ich mal ab und an einen Blick auf mein Handy werfen kann.
 

Ach du scheiße, darüber hat sie gar nicht nachgedacht, wie das rüber kommen könnte. Selbstverständlich hat sie ihn nie gestalkt. Allerdings kann sie nicht abstreiten, dass ihre Augen vielleicht immer ein bisschen zu lange auf ihm geklebt haben, wenn er an ihr vorbei gegangen ist oder irgendwas an seiner Bar zusammen gestellt hat.
 

Annabell: Oh Gott nein, so war das nicht gemeint! Also es ist nicht so, dass ich dich nicht gerne anschaue und vielleicht auch manchmal etwas länger als nötig, aber gestalkt habe ich dich definitiv nicht. Das hättest du früher oder später gemerkt, da ich mich mit irgendwas selbst verraten hätte.
 

Oh weh, Annabell. Warum erzählst du ihm das denn jetzt bitte? Ihr kennt euch einen Tag. Nein, das ist schon viel zu übertrieben. Eine Nacht und nicht mal einen halben Tag und du knallst dem Kerl solche Dinge an den Kopf. Bevor sie sich noch weiter hineinreitet, legt sie das kleine Ding erst mal zur Seite und zieht sich endlich passend für ihr Vorstellungsgespräch an. Mit einer engen, dunklen Jeans und einer lockeren, nicht zu formellen Bluse an ihrem Körper wandert sie ins Bad und legt da ein wenig Makeup auf, bevor sie ihren zerwuschelten blonden Bob ein wenig bändigt, damit sie nicht ganz so wild damit aussieht. Das dauert nicht wirklich lang, was gut ist, da sie durch das Schreiben mit Óskar schon wieder ein bisschen in Zeitverzug gekommen ist.
 

Sie schnappt sich noch ihre Handtasche und alles Mögliche, was da rein gehört, dann verlässt sie auch schon mit dem passenden Schuhwerk ihre Wohnung. Dabei versucht sie sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, dass Óskar noch nicht auf ihre verrückte Nachricht geantwortet hat. Der Kerl wird sicherlich gerade mit seinen Gästen zu tun haben und kann nicht alle zwei Minuten auf sein Handy schauen, das ist schließlich nicht gerade Kundenfreundlich. Das Gefühl, dass es wegen ihrer Nachricht sein könnte, das versucht sie gar nicht erst an sich heran zu lassen.
 

Durch das Gespräch in der Kindertagesstätte wird sie dann aber recht schnell von ihren Gedanken um Óskar abgelenkt und sie konzentriert sich voll und ganz darauf. Eine knappe Stunde später ist sie dann schon wieder entlassen. Sie wurde anschließend noch durch die Kinderstätte geführt und Annabell konnte sich schon einen ersten Eindruck machen. Ab Montag darf sie drei Tage Probearbeiten kommen, damit die Leiterin sehen kann, wie gut sie mit den Kindern agieren kann und wie oder ob sie in das hiesige Team passt. Besser hätte es nicht laufen können, da ist sich Annabell sicher.
 

Glücklich tritt sie wieder den Heimweg an. Dort schnappt sie sich ihren großen Rucksack und noch eine große Tragetasche, dann macht Annabell schon wieder kehrt und sie verlässt erneut ihre Wohnung, um den nächstgelegenen Supermarkt anzusteuern. Auf dem Weg checkt sie noch mal ihr Handy, doch Óskar hat nach wie vor nicht geschrieben. Das verpasst ihrer Freude schon wieder einen kleinen Dämpfer, aber sie ist weiterhin davon überzeugt, dass er im Moment einfach viel zu viel zu tun hat. Trotz allem kommt sie ihrer Abmachung nach und sie tippt ihm, das alles gut gelaufen ist und sie Probearbeiten darf.
 

Erneut eine Stunde später keucht sie vollbepackt ihre wenigen Treppenstufen hoch. Mit gefühlt allerletzter Kraft steckt sie den Schlüssel ins dazugehörige Loch und kaum springt die Tür auf, lässt Annabell zunächst alle Einkaufe im Flur liegen. Am liebsten würde sie sich dazulegen und sie fragt sich zum zehnten Mal – seit dem sie den Supermarkt verlassen hat – warum sie nicht mit dem Auto gefahren ist? Klar, der Laden ist zu Fuß gerade mal zehn Minuten entfernt und somit nicht weit weg, aber die Lebensmittel haben ja trotzdem alle Gewicht und genau das vergisst sie jedes Mal aufs neue, wenn sie aus dem Haus geht, mit der Mission Lebensmittel zu erwerben.
 

Irgendwann hat sie aber wieder genug Puste um sich aufzurappeln und alles wegzuräumen. Danach macht sie es sich mit einem heißen Tee in ihrem Wintergarten gemütlich, während sie ein dickes Buch auf ihrem Schoß drapiert. Das Handy liegt immer in griffnähe, damit sie ja nichts verpasst, was wichtig sein könnte. Dabei ignoriert sie die Tatsache, dass sie sich immer dämlicher vorkommt, umso öfter sie auf das Handy schaut. Es gleicht schon beinahe nach einer Sucht und das sagt sie schon nach solch einer kurzen Zeit.
 

Lange hält diese Rüge an sich selbst allerdings nicht an, denn sobald ihr Handy vibriert und Annabell den bekannten Namen liest, ist alles andere vergessen. Erst recht, als Óskar ihren frechen Spruch auch nicht unmöglich einstuft, sondern sich eher darüber amüsiert. So verfliegen auch die restlichen Stunden des Tages und man kann wirklich sagen, ihr Handy glüht.

Na Dicker, was hast du heute wieder zerstört?

"Na Dicker, was hast du heute wieder zerstört?"
 

Fest zieht Annabell sich die wuscheldecke um ihre Schultern und sie hebt den dunklen Thermobecher an ihre Lippen, wo aus einer kleinen Öffnung Dampf heraus wabert. Sie hat es sich auf einer der vielen weißen Bänke bequem gemacht, die hinter dem Deich, direkt an der Strandpromenade stehen. Die Sonne ist schon längst unter gegangen und die Temperaturen bewegen sich von Tag zu Tag näher dem Gefrierpunkt. Da es heute aber ziemlich windstill ist, wollte sie den Abend nicht in ihrer Wohnung verbringen. Sie hatte viel lieber Lust sich die kühle Nachtluft um die Nase wehen zu lassen und genau das macht sie jetzt auch, während sie regelrecht ein gemümmelt auf der Bank sitzt und ab und an einen heißen Schluck Tee zu sich nimmt. Das Meer rauscht leise und man muss sich fast schon konzentrieren, damit man es wahr nimmt. Die Ebbe hat schon wieder eingesetzt und so wird das Rauschen kontinuierlich leiser. Neben ihr, auf der weißen Bank steht ein Teelicht, welches aufgeregt in einem bunten Windlichtglas umher flackert und die hübschesten Muster auf das weißgestrichene Holz zaubert. Sie liebt dieses Kerzenglas und auch wenn es von Natur aus einzelnen Glasteilchen besteht, das eine oder andere Mal musste sie es selbst schon wieder zusammenkleben, weil es ihr runter gefallen ist oder es ungünstig gelagert wurde.
 

Mittlerweile arbeitet sie schon offiziell seit einer Woche in der Kindertagesstätte. Inoffiziell schon seit zwei Wochen. Die ersten zwei Probetage gingen ohne Probleme von statten. Am dritten amtlichen Probetag, fiel dann urplötzlich eine Kollegin aus, die auch nicht wieder so schnell zurück in den Arbeitsalltag finden wird. Die Leiterin überlegte nicht lange und machte Annabell ein Angebot, welches sie einfach nicht ablehnen konnte. Somit hatte sie am Ende eher einen Arbeitsvertrag in der Tasche wie sie gucken konnte. Das ging ihr beinahe schon ein bisschen zu schnell, doch zum Nachdenken ist sie bis heute nicht gekommen und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, will sie das auch gar nicht. Die Arbeit gefällt ihr. Die Kollegen sind alle ausnahmslos nett und auch sehr aufgeschlossen und auch mit den Kindern gab es noch keine Probleme. Klar, eines tanzt immer mal aus der Reihe, aber dafür sind sie Erzieher ja da, um es wieder in den richtigen Takt zu bringen.
 

Nebenbei hat sich in den zwei Wochen auch schon eine regelmäßige Kommunikation mit Óskar entwickelt. Es gibt keinen Tag, wo nicht wenigstens eine Nachricht ausgetauscht wird. Nach wie vor bekommt Annabell regelmäßiges Bauchkribbeln, wenn sie diesen Namen auch nur liest und von dem seligen Grinsen auf ihren Lippen, darüber will sie gar nicht erst nachdenken, das bemerkt sie manchmal schon gar nicht mehr und sie wurde sogar schon mehr als einmal von ihren Kollegen angesprochen, weshalb sie so verträumt vor sich hin grinst. Das ist ihr regelmäßig peinlich, aber niemand scheint sich daran zu stören. Tatsächlich sind die anderen Erzieher in der Kindertagesstätte regelrecht Feuer und Flamme und sie fiebern dem ‚Happy End der Lovestory‘ mit entzückenden Seufzern entgegen – diese Worte  sind von Marlies, mit welcher sie sich mit am besten versteht – wenn sie mal wieder komplett grenzdebil auf ihr Handy schaut, weil Óskar mal wieder etwas geschrieben hat, war ihr Herz gleich noch einen Takt schneller für ihn schlagen lässt. Mit ihm zu schreiben macht immens viel Spaß und wenn sie mal nicht so gut drauf ist, dann kommt irgendeine Mitteilung von ihm und der Tag wird von ganz alleine besser. Noch dazu foppen sie sich in gleichmäßigen Abständen und da kann es schon mal passieren, dass einem dabei ein wenig heißer wird, wenn nicht sogar beiden.
 

Zu einem konnte sie sich aber noch nicht so wirklich durchringen, auch wenn es Quatsch ist, da sie sich ja schon mehr als einmal gegenüber gestanden sind und sogar schon miteinander geredet haben. Aber seit dem Annabell mit Óskar schreibt, war sie nicht wieder in den Sintflut essen. Zu groß ist ihre Angst, dass sie sich daneben benimmt, weil sie eben nicht weiß, wie sie sich ihm jetzt gegenüber verhalten soll. Das hat sie ihm so auch schon mittgeteilt, da Óskar selbst schon nachgefragt hat, wann sie denn mal wieder in die Sintflut kommt.

‚Sei einfach du selbst.‘, lautete seine Antwort, aber sowas ist immer einfacher gesagt als getan. Bis jetzt hat er auch noch nicht wieder nach gefragt und Annabell weiß nicht, wie lange er sich mit ihrer Erwiderung zufrieden geben wird.
 

Leise seufzend nimmt sie noch einen Schluck Tee, als sie bemerkt, dass ihre Jackentasche vibriert. Sie muss noch nicht mal drauf gucken, um zu wissen, wer ihr zu solch später Stunde noch schreibt. Wenn man vom Teufel tratscht…
 


 


 

Sicht Óskar
 

Um kurz nach halb elf am Abend schließt Óskar die Sintflut hinter sich ab. Wochenende. Endlich! Auch wenn ihm die Arbeit hier unendlich viel Spaß macht, es gibt trotzdem in unregelmäßigen Abständen die Tage, wo man ihr einfach nur noch den Rücken kehren will und für ein oder zwei Tage nicht mehr an seinen Arbeitsplatz denken mag. Da kann man seinen Job noch so gerne haben, wenn das Fass voll ist, ist es voll.
 

Mit einem genüsslichen ersten Zug befördert er den Rauch seiner Zigarette in seine Lungen, welche er sich gerade angezündet hat und behält ihn kurz drinnen, bevor er ihn genüsslich auspustet. Dann macht er sich mit schnellen, langen Schritten auf den Weg nach Hause. Dort wartet Max schon auf ihn. Der Rottweiler muss noch mal raus und das will ihm Óskar nicht verwehren, zudem er keinen Bock hat, dass ihm sein Hund noch in die Bude pinkelt. Das war damals schon ein Akt, wo der Dicke noch ein Welpe war… und die Pfützen heute sind um einiges größer.
 

Das veranlasst ihn gleich noch einen Schritt schneller zugehen. Nebenbei beschließt Óskar für sich, dass er sich zu Hause unbedingt noch einen Hoodie drunter ziehen muss. Die Temperaturen sind schon fast unterirdisch und bis zum Winter wird es definitiv nicht mehr lange dauern. Sie haben beinahe Ende Oktober und die Straßen sind gesäumt von gelben und roten Laubblättern, die für ihn der Inbegriff von Herbst sind.
 

Ein bisschen aus der Puste, weil ihm so kalt ist, dass er beinahe rennen musste, kommt er zu Hause an und kaum steckt er den Schlüssel ins Schlüsselloch, hört er schon das leise Klackern der Krallen von Max‘ Pfoten auf seinem Laminat. Die Tür ist noch gar nicht richtig auf, da wird er schon freudig von seinem Rottweiler begrüßt, der sich kaum wieder einkriegt.
 

„Na Dicker, was hast du heute wieder zerstört?“, fragt er in einem liebevollen Ton und krault den großen Hund hinter den Ohren, was diesen immer wieder zum unkontrollierten Zucken eines seiner Hinterläufe bringt, weil er es so sehr genießt. Nach wenigen Minuten lässt er von seinem Hund ab und schließt erst mal die Wohnungstür hinter sich. Seine Schuhe sind zumindest noch ganz und er kann keine Bissspuren an ihnen erkennen und es befinden sich auch noch alle Kissen auf seinem Sofa, sofern er es auf die Schnelle ausmachen kann. Es liegen auch keine ungewöhnlichen Fetzen herum, die irgendwie auf ein zerstörtes Möbel- oder Kleidungsstück hindeuten. Gut, ihm soll es recht sein.
 

Wie vorher mit sich selbst ausgemacht zieht Óskar sich noch einen dicken Hoodie unter seine Lederjacke und schließt diese bis unters Kinn. Kurz zögert er, aber dann lässt er Schal und Handschuhe und Mütze doch im Regal liegen. Wenn er sich jetzt schon so einpackt, was soll er dann erst im Winter tragen? Die Lederleine seines Hundes ist dann auch schnell gegriffen und mit einem Pfiff steht Max an seiner Seite und lässt sich brav anleinen.
 

Zusammen verlassen sie die Wohnung und Óskar lässt sich die ersten Meter von seinem Tier einfach ziehen, damit dieser zunächst seine Notdurft verrichten kann, danach wird er wieder das Zepter übernehmen, das wissen sie beide. Also lässt er seinen Vierbeiner machen und zieht währenddessen sein Smartphone aus seiner Hosentasche. Der beabsichtigte Chat ist schnell gefunden und mit wenigen Fingerbewegungen hat er schon eine Nachricht an Annabell geschrieben.
 

Óskar: Endlich Feierabend! Was machst du so schönes? Hast du dich wieder in deinen Wintergarten vergraben, die Decke bis zur Nase gezogen und bist in ein Buch vertieft?
 

Noch vor drei Wochen hätte er nie und nimmer gedacht, dass er mal so sehr von seinem Handy abhängig sein könnte. Naja, direkt vom Handy abhängig kann man es auch nicht nennen. Eher von der Frau, welche ihn immer wieder dazu bringt auf das kleine technische Gerät zu schauen. Und er muss sich langsam aber sicher eingestehen, dass er doch mehr zu empfinden scheint, als nur Freundschaft. Anders kann er sich das Kribbeln im Bauch nicht erklären, wenn sie auf seine – teilweise sehr – anzüglichen Nachrichten eingeht. Aber trotzdem findet er es verrückt, da sie sich seit dem Annabell auf hinterlistige Weise ihre Nummer in der Sintflut hinterlassen hat, noch nicht wieder getroffen, geschweige denn irgendwie gesehen haben. Sogar Konrad ist schon aufgefallen, dass sie noch nicht wieder im Lokal essen war. Die Antwort auf Óskars Frage warum, leuchtet ihm zwar irgendwie ein, aber befriedigen tut es ihn auf keinen Fall.
 

Er ist doch auch nur ein ganz normaler Kerl, da gibt es keinen Grund, dass sie sich irgendwie verstellen muss. Zwingen kann er sie allerdings auch nicht und es liegt ihm fern sie in die Sintflut zu bestellen, wenn sie es doch gar nicht will. Aber er muss zugeben, dass er langsam ungeduldig wird.
 

Sein Handy, welches er immer noch in der Hand hält vibriert und zeigt ihm, dass Annabell schon geantwortet hat. Neugierig öffnet er die Nachricht und beginnt sofort zu lesen.
 

Annabell: Mein Feierabend ist schon länger als deiner! Aber dafür hast du dir deinen wahrscheinlich auch mehr verdient als ich. Allerdings muss ich dich enttäuschen. Auf die Gefahr hin, dass mein Wintergarten eifersüchtig wird, ich bin nicht mal zu Hause. Mit dem ‚Die Decke bis zur Nase gezogen‘ hast du aber recht. Nur habe ich mich auf einem der Bänke übern Deich, an der Strandpromenade nieder gelassen. Und du? Nötigst du dein Sofa wieder, indem es deinen Hintern ertragen muss?
 

Eine Augenbraue wandert nach oben und er muss den Text zwei Mal lesen. Kurz schaut er sich nach Max um, aber der sieht nicht so aus, als wolle er in der nächsten Sekunde los, weswegen Óskar sich daran macht noch eine Nachricht zu tippen.
 

Óskar: Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass du mitten in der Nacht alleine am Strand sitzt? Bei der Kälte? Mädel, du bist verrückt! Das ist doch gefährlich.
 

Óskar hat die Nachricht noch nicht mal richtig gesendet, da geht ein Ruck durch die Leine und Max zerrt ihn ein paar Schritte weiter, bis er wieder stehen bleibt und seine Nase auf den Boden tackert und dort neugierig durch die Gegend schnuppert. Zum Weiterziehen kommt er dann aber auch nicht, denn sein Handy meldet sich schon wieder und er will lieber Annabells Antwort wissen, denn wenn er ehrlich ist, hat ihm die Nachricht zuvor einen kleinen Schrecken eingejagt. Nicht mal er selbst würde sich bei der Jahres- und Uhrzeit draußen ans Meer setzen. Aber gut, vielleicht liegt es auch daran, dass er hier aufgewachsen ist und somit sein ganzes Leben lang das Meer vor der Nase hatte, was seine Chatpartnerin ja nicht von sich behaupten kann.
 

Annabell: Gegen die Kälte ist die Decke ja da und mein Tee und meine Kerze, die mir zur Not auch noch die Hände wärmen kann. Vielleicht mag es gefährlich sein, aber das Meer war für mich anziehender als die Gefahr, das muss ich zugeben… von daher passt verrückt wohl wirklich sehr gut zu mir.
 

Óskar: Ich bin gerade mit Max draußen, deswegen weiß ich auch, wie kalt es ist. Du bist scheinbar auf alles vorbereitet, wie mir scheint. Wehe du bist dann morgen erkältet!
 

Durch einen erneuten Ruck an der Leine wird Óskar weiter gerissen und das holt ihn gerade ein bisschen in die Realität zurück. Einige Meter läuft er noch hinter seinem Hund her, dann hat er einen Entschluss gefasst und mit einer angemessenen Autorität zieht er an der Leine und dirigiert so seinen Hund neben sich.
 

„Heute wird die Runde noch ein bisschen größer, Dicker“, sagt er zu seinem Hund, welcher ihn nur hechelnd von unten her ansieht, bevor er seine Nase wieder nach unten senkt und sich so seinen Weg erschnuppert. Da Óskar mittlerweile weiß, dass Annabell nicht weit von der Sintflut entfernt wohnt, weil die eben genannte Promenade auch nur wenige hundert Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt ist, kehrt er mit seinem Hund dahin zurück. Statt nach rechts zum Hafen zu gehen, läuft er links lang. Es dauert nicht lange, da erkennt er im Dunkeln die vielen bunten Strandkörbe die verteilt auf der Wiese stehen. Wirklich viel sehen kann er allerdings nicht und er stellt für sich fest, dass die Gegen hier dunkel ist und das irgendwie auf eine gruselige Art und weiße.
 

Millionenen von Muschelschalen und kleine Schnecken knirschen unter seinen Schuhsohlen, welche von der letzten Flut angeschwemmt wurden, als das Meer über die Ufer trat. Das kann im Moment nicht passieren, da es gerade den Rückzug antritt und man das Rauschen nur noch sehr leise hören kann.
 

Nach wenigen hundert Metern werden die Strandkörbe von einem Weg abgelöst, von dem er weiß, dass er über den Deich und in eine kleine Wohnsiedlung führt. Genau da muss auch Annabell ihre Wohnung haben, sofern er das von ihren Erzählungen mitbekommen hat. Nach dem Weg bauen sich drei Hütten im Dunkeln vor ihm auf, die alle drei ein rotes Dach haben. Das kann er aber nicht sehen, sondern er weiß es. Die sollten hier echt mal ein paar Straßenlaternen aufstellen, denn der Weg selbst ist nämlich auch ein sehr gut benutzter Radweg. Nachts zwar weniger, aber wenn man auch nichts sieht, da muss man sich darüber auch nicht wundern.
 

Max trabt weiter neben ihm her und Óskar hat aufmerksam seine Augen überall, sofern man das bei der verschlingenden  Dunkelheit überhaupt sagen kann. Aber genau diese Tatsache hilft ihm letzten Endes wohl, dass er das kleine flackernde Licht entdeckt, welches auf einer Bank zu stehen scheint. Sein Herz setzt kurz einen Schlag aus, bevor es schneller schlägt. Also entweder ist es nur ein dummer Zufall, oder er hat gerade tatsächlich Annabell gefunden. Am besten er schaut sich das mal aus der Nähe an.
 

„Komm Dicker, lass uns mal schauen, ob sie es wirklich ist“, zieht er seinen Hund an der Leine wieder zu sich, da der schon wieder seine Nase wo anders  hin ausgestreckt hat. Umso näher er der Bank kommt, umso deutlicher kann er eine Person erkennen, die dick in eine Decke verpackt ist und einen Becher vor ihre Nase hält, aus diesem es tatsächlich leicht dampft. Unglauben erfasst Óskar und er weiß nicht ob er es gut heißen soll, dass sie sich so vorsorglich verpackt hat oder ob er sie übers Knie legen soll, weil sie so unvorsichtig ist.
 

„Ich hab ja echt gedacht, du verarschst mich“, mit diesen Worten lässt er sich neben die junge Frau auf die Bank fallen. „Aber du sitzt wirklich hier.“

Da müssen wir eben enger zusammen kuscheln

"Da müssen wir eben enger zusammen kuscheln."
 

Sicht Annabell
 

Da Annabell spontan nichts auf Óskars letzte Nachricht einfallen und sie aber auch nichts lapidares von sich geben will, hat sie das kleine Teil wieder in ihre Jackentasche verstaut und sich erneut entspannt zurück gelehnt. Ihr wird irgendwann schon noch was Passendes einfallen, da ist sie sich sicher.
 

Langsam aber sicher leert sich ihr Thermobecher, was wohl bedeutet, dass sie bald den Heimweg wieder antreten sollte. Ein bisschen will sie die Ruhe allerdings noch genießen, denn die tut nach dem vielen Geschrei und Geplapper der Kinder doch mehr als nur gut. So ganz in sich selbst versunken bemerkt sie gar nicht die dunkle Gestalt, die immer näher kommt. Auch die knirschenden Schritte fallen Annabell nicht auf.
 

Im nächsten Moment aber zuckt sie fürchterlich zusammen, als sich ein großer, dunkel gekleideter Mann neben sie auf die Bank fallen lässt und ihre Kerze damit richtig zum Flackern bringt, so dass sie beinahe erlischt. Es dauert einen Augenblick, bis die gesagten Worte des Mannes in ihr Gehirn durchsickern, doch dann macht es klick und sie starrt in das Gesicht des blonden Mannes, welcher sie angrinst.
 

„O-Oskar?“, fragt sie stotternd und schafft es nicht ihren Blick von ihm zu lösen, geschweige denn so auf die Aussprache zu achten, wie er es ihr versucht hat zu übermitteln. Aber bei so einem Schrecken hat sie keine Zeit darauf zu achten, ob sie korrekt ‚Oouskar‘ sagt oder ganz simpel in Deutsch ‚Oskar‘. Das goldene Licht ihrer Kerze wirft dunkle Schatten in sein Gesicht, aber trotzdem wirkt es dadurch unendlich weich und alles andere als angsteinflößend, was vielleicht angebrachter wäre.
 

„Annabell“, nickt er zur Begrüßung. Okay. Tief durchatmen und einfach ganz normal verhalten. Dieser Vorsatz muss jetzt nur noch funktionieren, dann kann doch nichts mehr schief gehen. So zumindest in der Theorie, die Praxis fällt ja meistens eh immer ganz anders aus.
 

„Was machst du denn hier?“, bekommt sie sogar einen vollständigen Satz heraus, ohne, dass sie in nerviges Stottern verfällt.

„Wenn ich ehrlich bin, hat es mich ein wenig beunruhigt, dass du hier so alleine herumsitzt und da ich eh mit Max noch eine Runde drehen musste, bin ich mal eine andere Route gelaufen und wie man sieht, ist mein Plan aufgegangen und ich habe dich gefunden“, erklärt er ruhig und lächelnd.
 

Annabell kommt nicht umhin es toll zu finden, dass er sich solche Gedanken um sie gemacht hat und sich von seiner Alltäglichen Gassirunde hat abbringen lassen. Sofort spürt sie, wie ihre Wangen anfangen zu kribbeln, da die Röte, die er mit diesen Worten in ihr Gesicht geschickt hat, sie auftauen. Bevor sie aber direkt auf die Worte eingehen kann, wird ihr Knie an gestupst und ihr Blick fällt auf eine dunkle Hundeschnauze. Vorsichtig, um den Hund nicht zu erschrecken, schlängelt Annabell eine Hand aus ihrer warmen Behausung und hält sie dem großen Tier hin. Der schnuppert neugierig, bis sein Schwanz wie verrückt anfängt zu wedeln, so dass sein Hinterteil ganz schön mit wackelt. Dann schlabbert auch schon eine warme, nasse Zunge über ihre Finger und sie zieht sie vor Schreck wieder zurück, da sie mit so etwas nun überhaupt nicht gerechnet hat.
 

„Hey Dicker, immer langsam“, zieht Óskar seinen Hund etwas zurück, der sein Herrchen ein wenig beleidigt anschaut. Trotzdem ist der Hund nicht mehr ganz so euphorisch und er legt nur schüchtern seinen Kopf auf ihren Oberschenkel ab, um sie mit großen, braunen Hundeaugen treudoof anzugucken. Langsam hebt sie erneut eine Hand und lässt diese auf den riesigen Kopf sinken, wo Annabell langsam anfängt das weiche Fell zu kraulen.
 

„Max mag dich“, ertönt Óskars Stimme und bringt Annabell dazu wieder in seine Richtung zu schauen. „Dass er dich gleich sofort abschlecken wollte… das ist ein Kompliment, das kannst du mir glauben“, nickt er noch mal und Annabell sieht trotz Dunkelheit den Blick, mit dem Óskar seinen Hund beschaut. Es liegt sehr viel Stolz und Liebe darin, das ihr das Herz gleich aufgeht. Wenn der Mann seinen Hund mit so viel Zuneigung bedenkt, da kann sie sich gar nicht vorstellen, dass das Tier ein Monster sein soll, auch wenn man das für den ersten Augenblick denkt, wenn man den Rassennamen Rottweiler hört.
 

„Ich mag Max auch“, schafft Annabell es endlich wieder ein paar Worte zu sagen und sie schenkt dem Mann neben sich ein Lächeln, wenn auch noch schüchtern. Für einen Moment hadert sie auch noch mit sich, doch dann traut sie sich einfach, schließlich zieht sie vor seinem Handeln schon den Hut. „Und Danke, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast. Das machen nicht viele, wenn man sich gar nicht wirklich kennt.“

„Das mit dem Kennen können wir sehr gerne ändern. Jetzt, wo wir uns ja nun doch getroffen haben, wenn auch eher sehr spontan und mehr als überraschend“, antwortet Óskar in einer warmen, tiefen Stimme.

„Das… ich glaube das würde mir gefallen“, muss Annabell nun selbst grinsen und entlockt ihrem Begleiter ein leises Lachen.

„Na was für ein Glück, ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du mich gleich wieder von der Bank schupst“ Annabell weiß sofort auf was Óskar anspielt und sie grummelt ein bisschen vor sich hin.
 

„Mach dich nicht über mich lustig. Ich bin keine Frau, die selbstsicher auf einen Mann zugeht, wenn sie diesen nicht kennt. Da hilft es mir auch nicht, wenn ich mir einrede, dass es vollkommener Quatsch ist und wir schon Tage und Wochen damit verbracht haben miteinander zu kommunizieren. Aber ich bekomme dann wie so eine Blockade in mir und da ist mein Kopf leer und meine Beine am Boden festgewachsen und auf diese Blamage versuche ich so oft es geht zu verzichten“, murmelt sie am Ende hin immer leiser.
 

„Ich mach mich nicht darüber lustig. Wenn ich ehrlich bin, dann finde ich es sogar süß“, ist Óskars Stimme dann doch recht ernst. Im nächsten Moment will sie zurück zucken, als sie etwas an ihrer Hand spürt, was sich nicht nach dem Kopf des Hundes anfühlt, doch dann merkt sie, dass es seine Hand ist, welche sich frech dazwischen schlängelt, bis er ihre kleine Hand in seine große schließen kann. Bisschen kühl fühlt sich seine Haut an, was aber kein Wunder ist, weil er keine Handschuhe trägt und er die Hundeleine ja auch irgendwie halten muss.
 

Annabells Herz fängt wie verrückt an zu klopfen und sie kommt sich vor wie in einem Traum, denn warum sonst sollte sie mit ihrem heimlichen Schwarm – welcher gar nicht mehr so heimlich ist – auf einer Bank am Meer sitzen und Händchen halten? Allerdings kann sie sich auch nicht daran erinnern irgendwann eingeschlafen zu sein, was wohl nur bedeutet, dass das hier wirklich die Realität ist und der Mann sie mitten in der Nacht aufgespürt hat. Normalerweise sollte einem dieser Umstand eher unbehaglich sein, aber da sie ja eh verrückt ist – was sie beide nur kurz zuvor festgestellt haben – fühlt sie sich stattdessen total wohl und sie wünscht sich, dass er sogar noch ein bisschen näher heran rutschen würde.
 

Scheinbar kann Óskar ihre Gedanken lesen. Es dauert dann nicht lange, da verfrachtet er die Kerze, die die ganze Zeit zwischen ihnen stand, an seine andere Seite und rutscht so nah wie es nur geht. Ein feiner Geruch von Leder, welcher eindeutig von seiner Lederjacke kommt, dringt in ihre Nase. Dazu mischen sich noch der Geruch von Tabak und Aftershave. Ein bisschen scheu schaut Annabell zu ihm rauf ins Gesicht und er zuckt entschuldigend mit den Schultern.
 

„Langsam wird es kalt“, grinst er schief und Annabell schallt sich sofort innerlich, weil sie gar nicht daran gedacht hat, dass er ohne Decke vielleicht frieren könnte.

„Oh“, entweicht es ihr, bevor sie ihr Beine aus dem Schneidersitzt entknotet und aufsteht – was Max mit einem erbosten Wuff kommentiert – und die Decke um ihre Schultern lockert. Schnell schlingt sie eine Seite um Óskars Schultern, bevor sie ihre Seite wieder fester zieht und sich nun sehr nah neben ihm zurück platziert.
 

„Wird dir da jetzt nicht kalt?“, hört sie eindeutig Amüsement aus seiner Stimme heraus, aber dennoch bemerkt sie, wie er die Decke enger um sich schlingt und sich so gut wie möglich darin verpackt.

„Da müssen wir eben enger zusammen kuscheln“, rutscht es ihr heraus, bevor Annabell darüber nachdenken kann.

„So gefällt mir das schon besser“, lacht Óskar nur und schlängelt gleichzeitig seinen Arm hinter ihrem Rücken durch, bis er ganz um ihre Schulter liegt und mit etwas Druck zieht er sie noch etwas näher an sich heran, so dass Annabell sich mit einer Hand auf einem seiner Oberschenkel abstützen muss, da sie sonst mit der Nase an seinem Oberkörper gestoßen wäre.

„Also ich meinte jetzt, dass du einfach von der Leber weg geantwortet hast. Aber deinen Vorschlag musste ich trotzdem in die Tat umsetzen.“
 

Annabell kann dann einfach nicht mehr anders und sie muss nun selbst lachen und so verkrampft sie vorher auch gewesen sein mag, das Ganze hat sie sichtbar lockerer werden lassen. Deswegen wehrt sie sich auch nicht weiter dagegen und sie lehnt sich noch etwas mehr gegen den starken Oberkörper, der nun doch mehr Wärme ausstrahlt, als die kalte Lederjacke vorher vermuten ließ. Trotz der wunderbaren Körperwärme lässt sie die Wolldecke aber trotzdem nicht los, viel eher zieht sie diese noch fester um sie beide.
 

Sie schaut nach oben und trotz der Dunkelheit kann sie das Grinsen auf Óskars Gesicht erkennen. Der zwinkert dann auch noch schelmisch, was Annabell ebenfalls zum Grinsen bringt. Sie sagt aber nichts dazu, sondern sie genießt einfach.
 

„Eigentlich bin ich lebensmüde“, durchbricht sie die nächtliche Ruhe wenig später und sie löst den Blick vom tiefschwarzen Meer, worauf ab und an helle Punkte aufblinken und schaut erneut zu Óskar, der ebenfalls sein Gesicht in ihre Richtung dreht.

„Warum?“, fragt er. Dabei streichen seine Finger sanft über ihre Schulter, was ihr erst jetzt bewusst wird. Prompt erwärmen sich ihre Wangen. Dabei ist Annabell sich nicht mal sicher, warum ihr jetzt die Röte ins Gesicht schießt. Liegt es daran, dass sie es jetzt gerade erst überhaupt wahr genommen hat, oder, weil er sie wie selbstverständlich liebkost, dabei kennen sie sich ja genau genommen noch gar nicht. Auf jeden Fall ist sie aber wirklich froh, dass es dunkel ist und sie somit unauffällig ihre Röte verschwinden lassen kann.
 

„Weil du jetzt ein leichtes Spiel mit mir hättest. Woher soll ich denn wissen, ob du dich mit guten Absichten neben mich gesetzt hast? Du müsstest mich nur noch packen und schwupps, ich ward nie wieder gesehen.“ Hoffentlich hat Annabell sich jetzt nicht ihr eigenes Todesurteil gegeben.

„Traust du mir das wirklich zu?“, hörte sie seine tiefe Stimme nah neben ihrem Ohr, so dass ein Schauer durch ihren Körper jagt und sich ihre Härchen überall aufstellen. Komischerweise aber auf eine sehr angenehme Art und Weise. Sie fühlt gerade alles Mögliche, aber sich bedroht, das definitiv nicht.
 

„Nein“, sagt sie ganz ehrlich. Nach wie vor spürt sie seinen Atem an ihrem Ohr und sie kann die Gänsehaut einfach nicht unterdrücken, die ihr über den Körper krabbelt.

„Ich habe auch nicht vor dir irgendetwas anzutun“, antwortet Óskar ihr und es klingt wirklich ehrlich. „Wobei ich trotzdem zugeben muss, dass die jetzige Situation wirklich ein bisschen komisch ist“, hört sie sogar das Schmunzeln aus dessen Stimme und Annabell kann ihm im Stillen einfach nur recht geben.
 

Eine Bewegung neben ihr lässt sie den Kopf drehen und nur schemenhaft erkennt Annabell, wie Max auf die Bank gesprungen ist und sich nun versucht auf dem verbliebenem Stück ein wenig Platz zu schaffen. Der Hund merkt aber selbst recht bald, dass das nicht wirklich funktioniert und bevor Annabell überhaupt reagieren kann, klettert er über ihren Schoß drüber, bis er mit den Vorderpfoten auf Óskars Oberschenkeln steht, und lässt sich dann einfach sinken. Verdattert hebt sie ihre Arme hoch und schaut nun ein bisschen verblüfft drein.
 

„Dicker, was soll das denn jetzt?“, ist Oskar wohl auch sehr überrascht und der starrt seinen Hund an, welcher ihn leise hechelnd ansieht und kurz unterdrückt wufft. Gefahr scheint beim besten Willen nicht von dem Tier auszugehen und Annabell legt ihre Hände zurück auf den Körper, der doch recht schwer ist, da sie sein Gewicht sehr deutlich auf ihrem Schoß spürt. Liebevoll streicht sie durch das weiche Fell und sie bemerkt recht schnell, dass er ein bisschen zittert.
 

„Ich glaube Max ist kalt und will nur kuscheln“, spricht sie ihre Gedanken aus. Fragend schaut sie zu Óskar, der den großen Kopf krault und dafür eine feuchte Zunge ins Gesicht gedrückt bekommt. Amüsiert beobachtet sie, wie der blonde Mann sich dem versucht zu entziehen, aber dadurch, dass er quasi gefangen ist, ist das beinahe ein unmögliches Unterfangen.
 

„Ich glaube, wir sollten uns alle wirklich langsam wieder auf den Heimweg machen. Das kann nicht gesund sein stundenlang in der Kälte auf einer verlassenen Parkbank zu sitzen“, nickt ihr Nachbar. Kurzerhand scheucht er den Rottweiler von ihnen runter und auch wenn der Hund eine wirklich gute Decke abgegeben hat, Annabell ist froh, dass sie das Gewicht des Vierbeiners nicht mehr auf sich spüren muss.
 

Óskar ist dann auch schon auf den Beinen – wobei sie es sofort bedauert, als er seinen Arm von ihrer Schulter nimmt  – und sie folgt dem einfach. Mit wenigen Handgriffen faltet sie die kuschelige Decke zusammen und stopft sie sich unter den Arm, während ihre andere Hand den Thermobecher hält, damit der nicht noch abhandenkommt.
 

„In welche Richtung musst du?“, fragt Óskar und wartet geduldig, mit dem Hund an der Hand, der ebenfalls brav Platz genommen hat.

„Oh, nur gleich hier über den Deich rüber, dann bin ich schon da“, zeigt sie in Richtung Wiese, welche den großen Deich darstellt.

„Dann komm, wir begleiten dich ein Stück“, macht Óskar eine Kopfbewegung, welche andeutet, dass sie ihm folgen soll.

„Das musst du nicht, ist ja nicht mehr weit.“

„Ich weiß, dass ich das nicht muss, aber alleine der Anstand lässt nicht zu, dass ich eine Frau nachts alleine durch die Gegend laufen lasse, auch wenn es nur hundert Meter sind“, zeigt er sich nicht wirklich beeindruckt von ihren Worten. Und Annabell muss zugeben, dass es ihr gefällt, dass er sich dafür bereit erklärt und sie nicht einfach ihrem Schicksal überlässt.
 

„Okay, dann komm“, nickt sie ihrem unerwarteten nächtlichen Begleiter zu und Annabell setzt sich in Bewegung. Ihr Weg führt zurück und vorbei an den roten Buden, bis sie gleich danach nach rechts abbiegt und die Steigung hinaufsteigt. Die Steigung geht in Treppen über und schweigend laufen sie die Stufen nach oben. Max drückt seine Nase immer mal schnuppernd auf den Boden, bleibt ansonsten aber nicht stehen.

Direkt auf dem Deich angekommen steigen sie die Treppe, welche nach unten auf die andere Seite führt, hinab und Annabell schlägt wieder den Weg nach rechts ein. Sie hätten zwar zuvor über die Wiese gehen können und wären da definitiv schneller gewesen, aber wenn sie den Weg schon mal nicht alleine gehen muss, da kann sie ja auch die lange Route nehmen, die am Ende auch nur dreihundert Meter mehr beträgt.
 

Nach hundert Metern bleibt Annabell stehen und deutet auf das Haus hinter sich. „Da sind wir schon“, lächelt sie. Sie stehen direkt unter einer Straßenlaterne und Annabell muss kurz schlucken, als sie Óskar diesmal richtig erkennen kann. Die schwarze Lederjacke steht ihm ausgesprochen gut und lässt ihn ein bisschen wie einen Biker rüber kommen. Unter der Jacke lugt eine Kapuze hervor, da er scheinbar noch einen dicken Hoodie drunter trägt. Seine Haare, die sonst eher ordentlich zur Seite frisiert sind, sind ein bisschen verwuschelt und es sieht so aus, als wäre er ein paar Mal mit den Händen durch gefahren. Seine Augen blitzen im Schein der Straßenlaterne und er sieht ein wenig so aus, als würde er etwas aushecken.
 

„Danke, dass du mich begleitet hast“, versucht sie irgendwie die komische Stille zu durchbrechen. Deswegen hätte sie lieber alleine gehen wollen, da müsste man jetzt nicht verkrampft nach ein paar Abschiedsworten suchen, sondern jeder wäre einfach seinen Weg gegangen.

„Nicht der Rede wert“, winkt Óskar ab und schenkt ihr ein Lächeln, was Annabell von ganz alleine erwidert und sie auch wieder ein bisschen beruhigt. „Schlaf gut“, sagt er noch, bevor er sich umdreht und den Rückweg anpeilt. Für zwei, drei Sekunden steht Annabell nur da und sieht ihm nach, bis sie sich zusammenreißt und ihren Schlüssel aus der Jackentasche kramt.
 

„Annabell, warte!“, ertönt im nächsten Moment Óskars Stimme erneut und sie zuckt ein bisschen zusammen, da sie damit überhaupt nicht mehr gerechnet hat.

„Du hast noch was vergessen“, taucht der Mann dann auch schon hinter ihr auf und sie will schon fragen, was sie denn vergessen hat, da drückt er ihr das niedergebrannte Windlicht in die Hand.

„Oh, Dankeschön“, kommt es nur verdattert von ihr.

„Kein Ding. Wobei ich es auch hätte behalten können, da hätte ich einen Vorwand gehabt um dich bald wieder zu sehen“, zwinkert er frech, bevor er sich zu ihr runter beugt, einen angedeuteten Kuss auf ihre Wange haucht und sich dann schon wieder wendet und sich auf den Heimweg macht.
 

Annabell ist so perplex, dass sie darauf überhaupt nicht reagieren kann. Weder auf seine Worte noch auf seine Abschiedsgeste allgemein. Nach gefühlten Stunden, wo sie ihm soweit wie möglich hinterher gesehen hat, rafft sie sich endlich dazu auf in ihre Wohnung zu gehen. Dort greift sie sich zuerst ihr Handy und sucht den Chat heraus, welcher als letztes aktiv war.
 

Annabell: Melde dich bitte, wenn du zu Hause bist.
 

Noch immer perplex von dem Ausgang des Abends, schlappt Annabell ins Bad und genehmigt sich dort erst einmal eine ausgiebige Dusche. Sie spürt noch immer jede Berührung, die Óskar ihr nur irgendwie hat zukommen lassen und das macht sie ganz wuschig, da ihr kompletter Körper kribbelt und ihr Kopf auch beinahe am durchdrehen ist. Das ganze macht der angehauchte Kuss auch nicht besser, stattdessen kribbelt es so stark in ihrem Bauch, dass ihr richtig flau im Magen ist. Da sie keine Ernährungsexperimente gemacht hat, können es nur Schmetterlinge sein, die in ihrem Bauch Samba tanzen.
 

Mit leicht zittrigen Händen putzt Annabell sich noch ihre Zähne, dann verkriecht sie sich Minuten später schon in ihr Bett und zieht sich die Decke bis zur Nasenspitze. Das Handy hat sie auf ihren Nachtschrank gelegt. Noch kam keine Nachricht von Óskar rein, aber es kann sich nur noch um Minuten handeln und sie kann den Blick einfach nicht vom Nachtschränkchen abwenden.
 

Gerade als ihre Augen im Begriff sind zuzufallen, leuchtet das kleine Gerät auf und wirft ganz schön helles Licht in den Raum. Mit klopfenden Herzen schiebt sie eine Hand unter der Bettdecke hervor, bis sie an dem kleinen mobilen Ding angekommen ist und es zu sich heran ziehen kann. Auf dem Display prangt Óskars Name, was ihr Herz schon wieder zum Flattern bringt, dabei war es von Anfang an klar, dass es nur er sein kann.
 

Óskar: Ich bin jetzt zu Hause. Ich hoffe, ich habe dich heute Abend nicht zu sehr überrannt, muss aber sagen, dass ich es nicht bereue meiner spontanen Idee nachgegeben zu haben.
 

Annabell: Sehr gut! Wenn ich ehrlich bin, hast du mich sogar sehr überrannt, aber manchmal ist das gar nicht mal so schlecht. Hättest du dich angekündigt, da wäre ich vielleicht sogar geflüchtet, also hast du alles richtig gemacht und ich hatte gar keine andere Möglichkeit als mich dir, oder eher meiner vermaledeiten Schüchternheit zu stellen. Ich fand den Abend auch sehr schön, danke dafür.
 

Puh, Annabell war froh, dass sie ihre Gefühle wenigstens schreiben konnte, wenn sie schon nicht den Mut hatte es Óskar ins Gesicht zu sagen.
 

Óskar: So was habe ich mir beinahe schon gedacht. Dann schlaf mal gut und träum was Schönes. Gute Nacht.
 

Annabell: Gute Nacht.

Hey, schöne Frau...

"Hey, schöne Frau..."
 

Wie beinahe jeden Morgen wird sie von einer Guten-Morgen-Nachricht begrüßt. Annabell kann da machen, was sie will, aber sie fühlt sich da jedes Mal aufs neue wie etwas Besonderes und das versüßt ihr die Tage immer und immer wieder. Sie hatte schon ein wenig die Befürchtung gehabt, dass er sich nach ihrem spontanen Treffen vielleicht etwas zurück zieht, aber den Eindruck macht zumindest diese Nachricht noch nicht. Sie will darüber auch nicht weiter nachdenken, sondern sie gibt den Gruß natürlich an Óskar zurück und danach ist sie wirklich bereit sich dem heutigen Tag zu stellen. Zwar hat sie an sich nichts vor, außer ein bisschen Haushalt, aber selbst das lässt sich mit guter Laune viel besser bewerkstelligen.
 

Nach einem reichhaltigen Frühstück, legt Annabell dann auch schon los und sie wuselt wie ein Wirbelwind durch ihre eigenen vier Wände und sie ist am Ende schneller fertig als sie gucken kann. Gut, da bleibt mehr Zeit zum Entspannen. Prompt wird sie von ihrem Handy abgelenkt, welches irgendwo im Wohnzimmer kurz anfängt mit piepen, bevor es wieder verstummt. Neugierig schleicht sich Annabell dahin und lässt sich auf ihre Couch plumpsen, die sie mit einem leisen ‚uff‘ beinahe verschlingt, da sie so weich ist.
 

Toni: Guten Morgen meine Knutschkugel.
 

Amüsiert schielt Annabell auf ihre Uhr und sie kann nur grinsend den Kopf schütteln.
 

Annabell: Jetzt hätte ich auch ausgeschlafen. Es ist gleich um eins. Mittags, wohlbemerkt.
 

Toni: Na und? Es ist Wochenende, warum soll ich mich da schon am Morgen aus dem Bett quälen? Hast du was geplant, am Wochenende?
 

Das war ja klar. Aber Annabell lässt Toni machen, diese war schon immer ein extremer Langschläfer und egal was für Argumente sie gebracht hat, sie wurden jedes Mal wieder ignoriert. Aber am Ende muss ja jeder für sich selbst wissen, was am besten für einen ist.
 

Annabell: Nein, vielleicht schnappe ich mir gleich meine Inliner und drehe eine Runde übern Deich. Das Wetter heute muss noch mal genutzt werden, hier scheint uns beinahe wortwörtlich die Sonne aus dem Arsch.
 

Deswegen wird sie sich wohl dann wirklich ihre Rollen unter die Füße schnallen. Zwar neigt Annabell sonst zur totalen Faulheit, aber bei ihren Inlineskates, da bekommt sie komischerweise ihren Hintern hoch und sie kann stundenlang auf den Dingern durch die Gegend kurven. Damit hat sie schon die eine oder andere schöne Stelle entdeckt und sie hat nicht vor demnächst damit aufzuhören, so lange zumindest das Wetter mitspielt.
 

Toni: Wie langweilig. Willst du nicht lieber mal ausgehen? So lernst du doch nie jemanden kennen. Bei uns gießt es wie aus Kübeln, da beneide ich dich schon ein bisschen.
 

Annabell: Wer sagt, dass ich nie jemanden kennenlerne? Ich habe hier oben vielleicht noch keine neue Freundin gefunden, aber deswegen lebe ich nicht abgeschottet. Und auf meinen kleinen Ausflügen lerne ich immer neue Menschen kennen. Das reicht mir und das weißt du.
 

Auch wenn Annabell weiß, dass ihre Freundin nur das Beste für sie will, ihre ständige Nörgelei nervt zunehmend. Sie selbst muss doch wissen, mit wem sie sich wohl fühlt und wenn bis jetzt noch keiner ihr dieses Gefühl vermitteln konnte – außer Óskar, aber davon weiß Toni noch nichts – dann wird sie sich auch nicht in irgendwelche Freundschaften stürzen, welche sie am Ende nur unglücklich machen und das weiß Toni eigentlich auch. Annabell hat langsam das Gefühl, dass ihre Freundin durch ihren Umzug mehr leidet als sie selbst. Vielleicht, weil sie selbst zwar viele Bettbekanntschaften und auch kurze Beziehungen hat, aber direkte Freundschaften gehören nicht dazu. Viele kommen mit Tonis Art auf Dauer nicht klar und auch wenn Annabell selbst manchmal tierisch genervt ist, sie kennen sich seit dem Kindergarten und haben schon viel zusammen erlebt, da kann sie die Freundschaft nicht einfach so kündigen, auch wenn Toni noch so anstrengend sein kann. Jeder Mensch hat einen Freund verdient und auch wenn man sich mal streitet, deswegen muss man ja noch lange nicht getrennte Wege gehen. Das ist schließlich in einer Beziehung genauso.
 

Toni: Ja, du hast ja recht, sorry. Ich vermisse dich einfach so sehr und fühle mich manchmal ganz schön einsam, weißt du das? Hier ist keiner mehr, mit dem ich einfach nur so verrückt sein kann, wie ich nun mal bin.
 

Annabell: Ich vermisse dich auch, keine Frage. Wir werden uns auch sicherlich bald wiedersehen, schließlich hab ich vor Weihnachten zu meinen Eltern zu fahren. Ich hab dich lieb.
 

Toni: Ich habe dich auch lieb!
 

So wie es aussieht hat Annabell wirklich recht und Toni hat ganz schön an der Distanz zwischen ihnen zu knabbern. Aber sie ist optimistisch, dass sich das bald wieder legen und Toni ein bisschen ihre verrückten Handlungen ablegen wird. Nicht zu hundert Prozent, aber zumindest soweit, dass man keine Angst mehr haben muss, dass man bald in einer Sache drin steckt, in die man weder jemals hinein wollte noch überhaupt daran gedacht hat.
 

Toni: Gibt’s eigentlich was Neues an der Oskar-Front? Irgendwas?
 

Es musste ja irgendwann soweit sein. Annabell ist allerdings überrascht, dass ihre Freundin seit Wochen das erste Mal wieder danach fragt. Sie hätte nicht gedacht, dass die brünette Frau so lange Stillschweigen darüber hält, aber da muss sie sich eingestehen, sie hat sich in ihrer Freundin getäuscht. Aber das heißt jetzt noch lange nicht, dass sie ihr sofort jede noch so kleine Neuigkeit über sie und Óskar schreiben wird. Nein, da hat Annabell noch viel zu große Bedenken, dass Toni sich wieder in Dinge einmischt, die sie gar nichts angehen, beste Freundin hin oder her. Außerdem würde sie sich nur selbst in den Himmel loben, dass es ihr doch so super gelungen ist, dass nun reger Schriftverkehr zwischen Óskar und ihr herrscht. Auf keinen Fall ist Annabell dafür jetzt bereit. Zu gegebener Zeit wird sie es Toni schon noch erzählen, aber nun will sie selbst erst mal sehen, wohin genau die Reise mit ihnen führt, jetzt stehen sie erst einmal am Anfang von allen und es kann sich in wirklich jede erdenkliche Richtung entwickeln.
 

Annabell: Was soll es schon neues geben?
 

Genau genommen lügt Annabell auch nicht, schließlich heißt er ja Óskar und nicht Oskar, weswegen sie eigentlich gar nicht über den blonden, großen Mann reden… sie macht sich nur nicht die Mühe ihre Freundin darauf hinzuweisen, damit würde sie sich schließlich nur selbst verraten.
 

Toni: Ach man und ich hatte gehofft, dass du endlich mal einen Mann abbekommst, der dich verdient.
 

Das bringt Annabell wiederum zum schmunzeln. So verrückt und teilweise sehr unüberlegt Toni auch ist und handelt, sie macht sich am Ende doch nur Sorgen und will nur das Beste für ihre Mitmenschen, auch wenn sie da sehr oft übers Ziel hinaus schießt.
 

Annabell: Ich weiß und irgendwo wird sich schon mein Deckel für mich komischen Topf verstecken. Pass auf, irgendwann fällt er mir von ganz alleine vor die Füße.
 

Toni: Dein Wort in Gottes Ohr.
 

Ganz automatisch wandern Annabells Gedanken zu Óskar. Bis jetzt scheint er rein vom Gefühl her schon ein ziemlich gut passender Deckel zu sein. Klar, viel kann sie darüber noch nicht urteilen, aber wenn sie einfach ihrem Bauchgefühl nachgehen würde, dann fühlt sich das schon sehr passend und toll an und das Kribbeln, was bei diesen Gedanken durch ihren Körper krabbelt, das verstärkt dieses Gefühl gleich noch mehr.
 


 


 

Am späten Nachmittag ist Annabell dann wirklich mit ihren Inlineskates unterwegs. Immer am Deich entlang ist sie gefahren und hat sich den seichten Fahrtwind um die Nase wehen lassen. Durch einige Ortsteile ist sie schon durchgerauscht. Im Moment befindet Annabell sich in einer kleinen Einkaufspassage. Haufenweise Touristen strömen in die Läden und wieder hinaus und Annabell muss von ganz alleine daran denken, dass sie selbst vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls so durch die Gänge und Läden gestromert ist.
 

Im gemächlichen Tempo fährt sie zu einem der zahlreichen Cafés die in dieser Einkaufspassage vorhanden sind. Dort sucht sie sich einen freien Tisch und mit einer leichten Erschütterung lässt sie sich in einen der Korbstühle fallen, da sie doch mehr Schwung hat als gedacht. Ein wenig schwerfällig sortiert sie ihre Füße samt den Inlineskates unter den Tisch, bevor sie sich zurück lehnt. Ihr steht jetzt der Sinn nach einem Kaffee und nach einer Kugel Eis. Genau diese Genussmittel bestellt Annabell wenig später bei einer der freundlichen Bedienungen und sobald alles vor ihr auf dem Tisch steht, kann sie sich auch nicht mehr zurückhalten und genüsslich lässt sie sich das fruchtige Eis auf ihrer Zunge zergehen. Ab und an muss sie eine etwas zu neugierige Wespe verscheuchen, ansonsten ist sie recht ungestört und Annabell beobachtet teilweise belustig, teilweise verwundert die Passanten, welche weiterhin geschäftig durch die Passage wuseln. Manche voll beladen mit Einkaufstaschen, was wohl so viel bedeutet, dass sie erfolgreich bei ihrer Shoppingtour waren und andere, die haben nur ihren Rucksack dabei und sind von ihrer Neugier angetrieben nur in dieser Ecke gelandet und haben keinerlei Absicht sich in großartige Unkosten zu stürzen.
 

Annabell könnte stundenlang hier sitzen und sich daran gütlich tun, was hier für ein geschäftiges Treiben herrscht. Ihr Hintern wird nach einiger Zeit allerdings schon taub und das ist dann wohl ihr Zeichen, dass sie sich langsam wieder auf den Weg machen könnte. Ob sie schon nach Hause fährt, das weiß sie aber noch nicht, denn so richtig der Sinn danach steht ihr noch nicht. Das Wetter ist einfach viel zu schön, als alleine in der Wohnung zu versauern, mag sie auch noch so schön sein.
 

Mit einer Handbewegung hat sie auf sich aufmerksam gemacht und dann dauert es auch nicht mehr lange, da hat sie ihre Schulden beglichen. Schnell beschließt Annabell noch einen Blick auf ihr Handy zu haschen und sie zieht überrascht die Augenbrauen in die Höhe, als tatsächlich Óskars Name auf ihrem Display steht. Neugierig und mit leicht klopfendem Herzen tippt sie drauf und öffnet sogleich die Nachricht.
 

Óskar: Hey, schöne Frau. Hast du spontan Lust heute Abend mit mir ins Kino zu gehen? Ich würde dich gegen 18 Uhr abholen.
 

Mit solch einem Inhalt hat Annabell ehrlich gesagt nicht gerechnet und schon alleine bei der Betitelung schießt ihr die Röte ins Gesicht. Was für ein Spinner.  Aber als sie in sich hinein hört, findet sie auch nichts, was dagegen spricht und sie empfindet für sich selbst, dass sie einfach mal mutig sein soll und das Angebot annehmen. Das will sie ihm auch sofort schreiben, als ihr Blick auf die kleine Uhr fällt, die oben rechts in ihrem Displayrand steht und sie beinahe höhnisch angrinst. In sage und schreibe dreißig Minuten würde Óskar schon vor ihrer Tür stehen. Das wird aber eine verdammt knappe Kiste, da sie schließlich noch den ganzen Weg wieder zurückfahren muss und das sind ungefähr drei Kilometer. Aber sie will deswegen auch nicht ihre Verabredung absagen, vor allem, da er sichtlich nicht von ihrer Art abgeschreckt wurde.
 

Annabell: Die Idee klingt super, allerdings kann ich nicht versprechen, ob ich es wirklich bis dahin schaffe zu Hause zu sein. Ich bin noch unterwegs, beeile mich aber.
 

Nach der Nachricht wirft Annabell all ihr heraus gekramtes Zeug, was Frau nun mal immer braucht, in ihren Rucksack, als ihr Handy dann schon wieder vibrierend über den Tisch des Cafés tanzt.
 

Óskar: Yeah! Ich warte einfach. Überschlag dich nicht, ich will dich schließlich heile mitnehmen, also mach keinen Stress.
 

Pah, das sagt der so einfach. Er ist wohl scheinbar schon in den Startlöchern, was sie von sich ja nun überhaupt nicht behaupten kann. Aber mit einem hat Óskar trotzdem recht, sie sollte sich nicht übernehmen und sich damit in ein Unglück stürzen. Sie steht nicht wirklich auf gebrochene Knochen und die werden unweigerlich kommen, wenn sie sich unüberlegt jetzt auf den Rückweg macht und nicht auf sich und andere achtet. Annabell verzichtet jetzt auch auf eine Antwort, denn sie will nicht dafür noch unnötige Minuten verschwenden, welche sie für ihren Heimweg gebrauchen könnte, um zumindest halbwegs pünktlich gegen sechs Uhr zu Hause zu sein. Das Handy verstaut sie nun auch noch in ihrem Rucksack, dann schwingt sie sich diesen auf die Schultern und setzt sich auch schon in Bewegung.
 

Leider kommt sie nicht ganz so schnell vorwärts, wie sie es gerne hätte, da irgendwie jetzt alle Menschen auf einmal aus der Umgebung unterwegs sind. Sie kann keine drei Meter gemütlich fahren, weil ihr immer jemand in die Quere kommt. Ganz egal ob Fußgänger oder sogar Fahrradfahrer, die schon drohen vom Fahrrad zu fallen, so langsam lassen diese sich rollen. Der Gegenverkehr dabei ist auch nicht zu verachten und Annabell flucht nicht nur einmal laut in ihrem Kopf herum, weil sie einfach nicht an der stinklangsamen Kolonne vorbei kommt. Zu ihrem Erstaunen strengt dieses ganze unnötige Abbremsen und langsam fahren mehr an, als wenn sie mit ordentlicher Geschwindigkeit den Fahrradweg entlang brausen würde.
 

Nach für sie unendlicher Zeit, kann sie die Truppe endlich überholen. „Ich würde es mal mit Treten versuchen“, kann sie sich dann doch nicht verkneifen, als sie nach und nach an ihnen vorbei zieht. Ein erbostes Schimpfen, von wegen „Die jungen Leute, kein benehmen mehr“, schallt ihr hinterher, doch dafür hat sie jetzt keine Zeit. Außerdem hat sie den Verkehr ja nicht aufgehalten, sondern die alten Schachteln, die sich wahrscheinlich von ihren Motorbetriebenen Rädern durch die Gegend schieben lassen, aber trotz allem muss man ab und zu doch mal in die Pedalen treten, sonst nützt einem der Motor nämlich auch nichts.
 

Ein bisschen erleichtert atmet sie auf, als sie endlich die Kugelbake passiert und sich dort gleich drei mögliche Wege für sie präsentieren. Normalweiße fährt sie immer direkt am Küstenstreifen entlang, auch wenn sie aufpassen muss, dass sie da nicht in den einen oder anderen Sand- oder Muschelschalenhaufen fährt. Annabell könnte auch direkt auf dem Deich entlang fahren, dort ist der Weg allerdings recht schmal und dafür müsste sie sich jetzt viel zu sehr konzentrieren, damit sie nicht den Hang hinunter stürzt oder gar einen anderen Passanten über den Haufen fährt. Deswegen entscheidet sie sich heute für den Weg hinterm Deich. Dort sieht man vom Meer leider gar nichts, aber dafür kommt sie direkt an ihrem Wohnhaus raus und muss nicht noch den Deich erklimmen, der für Zeitdruck nun alles andere als angemessen ist. Der asphaltierte Weg ist auch relativ wenig befahren und so kommt Annabell jetzt wenigstens mal in einem ordentlichen Tempo voran und wenn sie mal ein Hindernis hat, kann sie das ganz bequem umschiffen und muss nicht unnütz abbremsen.
 

Als ihr Wohnhaus in Sicht kommt, glüht Annabells Gesicht regelrecht und ihr ist alles andere als kalt. So auf Teufel komm raus zu fahren und auf Dauer noch die Geschwindigkeit zu halten, dass strengt ganz schön an und sie merkt mal wieder, dass sie vielleicht doch öfters mal ein wenig Sport treiben sollte. Die paar Runden mit ihren Inlineskates scheinen nicht gerade ausreichend zu sein. Aber gut, das ist jetzt eh egal. Sie lenkt in den kleinen Kreisverkehr ein, der direkt an ihrem Haus liegt und nimmt mit Schwung die Kurve zur Einfahrt ihres Wohnhauses, als sie da schon unsanft ausgebremst und im Kreis herum gewirbelt wird. Ein harter Griff um ihre Oberarme hält sie aber soweit an Ort und Stelle, dass sie nicht noch mit der Nase voran auf den Pflastersteinen landet, bevor ihr Gleichgewicht sich nach hinten verlagert und sie mit einem ganzen schön herben Plumpsen auf ihrem Hintern landet. Die Bank, auf welcher sie Glücklicherweise gelandet ist, rutscht durch den starken Aufprall an die Hauswand und das Holz knarzt unschön unter ihrem Gewicht. Keuchend hält sie sich einige Sekunden an den Armen fest, welche sie noch immer fest im Griff haben, bevor sie ihren Blick hebt und in graue Augen schaut, welche ein wenig erschrocken, aber auch amüsiert zu ihr hinunter schauen, bevor sich eine blonde Strähne löst und genau in dieses Gesicht fallen.
 

„Óskar“, stellt Annabell ein wenig platt fest, bevor sich von alleine ein erfreutes Lächeln auf ihre Züge schleicht. „Du bist ja schon da.“, sagt sie das unübersehbare.

„Und du bist ganz schön stürmisch. Mal wieder.“

hr Männer seid immer Schuld, auch wenn ihr nichts dafür könnt.

"Ihr Männer seid immer Schuld, auch wenn ihr nichts dafür könnt."
 

Sicht Óskar
 

Óskar muss schon zugeben, dass er ganz schön unruhig wurde, als er den Vorschlag mit dem Kino an Annabell geschickt hat, sie aber Ewigkeiten nicht auf seine Nachricht reagierte. Da half es auch nicht, dass er dauernd geschaut hat, ob sie nicht in der Zwischenzeit online gewesen ist. Aber nach wie vor stand ein und dieselbe Uhrzeit am oberen Rand. Selbst die ausgedehnte Gassirunde mit Max hat nicht gerade geholfen, dass er runter kam. So nervös kannte er sich selbst nicht und Óskar muss von ganz alleine grinsen, während er einen Zug von seiner Zigarette nimmt, während er mit dem Hintern an seiner Maschine gelehnt dasteht und darauf wartet, das die zierliche junge Frau ihren Hintern zu sich nach Hause bewegt.
 

Kaum, als er die Nachricht erhalten hat, dass sie an seinem Abendprogramm teil nehmen mag, hat er sich in seine Klamotten geworfen und seine Maschine angeschmissen und ist zu ihr gefahren. Ihm ist klar, dass er immens zu früh ist, aber zu Hause hat er es nicht mehr ausgehalten, zudem Max auch schon ganz unruhig wurde, weil er eben keine Ruhe gefunden hat. Bevor er sie beide also noch in den Wahnsinn trieb, hat er sich lieber auf die Socken gemacht.
 

Sein Motorrad hat er in der Einfahrt geparkt und er hofft, dass seine Begleitung heute Abend keine Scheu vor solch einer Maschine hat. Heute wird er die letzte Fahrt mit ihr absolvieren können, danach wird das gute Stück einen ordentlichen Winterschlaf halten. Und auch, wenn es von den Temperaturen vielleicht schon ein bisschen zu kalt sein könnte, Óskar wollte sich den letzten Ritt nicht nehmen lassen.
 

Einen letzten langen Zug nimmt er von seiner Zigarette, bevor er sie in einem kleinen versteckten Aschenbecher ausdrückt, welcher unter einer kleinen Holzbank ein bisschen verborgen ist. Die Bank steht rechts neben dem Hauseingang und dient wohl für einen kleinen Plausch unter Nachbarn an der frischen Luft, wenn das Wetter dazu einlädt.
 

Óskar quält sich unter der Bank hervor und dreht sich gerade wieder herum, als eine kleine Gestalt um die Kurve angerast kommt und direkt Kurs auf ihn nimmt. Gerade so kann er die Arme packen und versucht es irgendwie so zu koordinieren, dass weder er, noch die junge Frau sich auf die Nase legen. Kurz entschlossen dreht er sie beide, bis sich die Bank in seinem Blickfeld stielt und er sie einfach beherzt darauf fallen lässt. Óskar muss zugeben, es war recht schwungvoll, aber es knarzt nur die Bank, was dann doch recht beruhigend ist.
 

„Óskar“, er erkennt Annabell wahrscheinlich gerade im gleichen Augenblick wie sie ihn, aber sie ist schneller und er kann nicht anders, als darüber amüsiert zu sein, wie sie schon wieder in ihn hinein gerauscht ist. „Du bist ja schon da.“, benennt sie das unübersehbare.

„Und du bist ganz schön stürmisch. Mal wieder“, kann er sich daraufhin nicht verkneifen. Ihre Wangen werden noch dunkler, obwohl man sich das kaum vorstellen kann. Allgemein hat sie schon eine sehr gesunde Gesichtsfarbe und ihr Gesicht ist von einer dünnen Schweißschicht bedeckt und entgegen seiner Worte ist sie wohl schneller unterwegs gewesen als er es ihr vorgeschlagen hat. Unter dem schützenden Helm stehen ab und an ein paar zerzauste und leicht verschwitze, blonde Haarsträhnen hervor und lassen sie ein bisschen wild aussehen.
 

„Ich kann doch nichts dafür, dass du immer dort stehst, wo ich gerade lang will“, plustert sie die Wangen auf und Óskar kann nur breiter grinsen.

„Jetzt bin ich also wieder Schuld“, amüsiert er sich und lässt sich langsam neben Annabell auf die schmale Bank nieder, nachdem er ihre Oberarme los gelassen hat, da sie ja nun sicher auf der Bank sitzt.

„Ihr Männer seid immer Schuld, auch wenn ihr nichts dafür könnt“, antwortet sie frech und Óskar kann nur schnauben. Dummerweise hat sie aber recht, egal was ist, die Männerwelt ist daran schuld. Er empfindet es jetzt allerdings besser seine Klappe zu halten und er beobachtet lieber, wie Annabell den Rucksack von ihrem Rücken zieht und darin so lange herum kramt, bis sie ein paar Schuhe findet und diese vor sich auf den Boden fallen lässt. Die haben ihre besten Tage definitiv schon hinter sich, aber das scheint die junge Frau nicht zu stören, da sie ohne Worte beginnt ihre Inlineskates aufzuschnüren und sich mit einem Schnaufen nacheinander aus den schweren Schuhen quält.
 

„Oh Gott, ich brauche dringend eine Dusche“, stöhnt sie und verzieht gleichzeitig ihr Gesicht.

„Wieso? Käsefüße?“, muss Óskar sich einfach danach erkundigen und kann sich das Grinsen mal wieder nicht verkneifen. Himmel, wenn das so weiter geht hat er am Ende ihres Treffens noch Muskelkater in den Wangen, weil er die ganze Zeit grenzdebil vor sich hin grinst.

„Das ist noch untertrieben“, murmelt sie, bevor sie ihn mit einem entschuldigenden Blick anschaut. „Habe ich noch Zeit für eine Dusche? Ich kann so unmöglich unter Leute gehen, die rennen ja alle weg.“

„Umso mehr Platz und Ruhe hätten wir“, rutscht es Óskar prompt heraus, bevor er aber nickt. „Klar, eine Stunde später kommt der gleiche Film noch einmal“, nickt er dann aber „Falls dir eine Stunde reicht?“, das sollte er vielleicht noch klar stellen, schließlich handelt es sich hier um eine Frau. Kaum ausgesprochen, kann Óskar zusehen, wie Annabells Augen sich verengen und sie ihn ganz kurz böse anschaut, was auf ihn aber eher eine entzückende Wirkung hat, denn bedrohlich sieht sie damit keinesfalls aus, doch er versucht seine Kontenance zu wahren und hält ihren Blick stand, der sich dann recht bald wieder verändert und nun schaut sie ihn aus spöttischen Augen an.

„Nur, weil ich eine Frau bin, heißt das noch lange nicht, dass ich zwei Stunden im Bad brauche. Wenn du jetzt eine aufgetakelte, bis ins unkenntlich geschminkte Frau erwartest, dann muss ich dich enttäuschen“, gibt sie sogar recht patzig zurück, was Óskar erstaunt, aber auch imponiert.
 

Noch besser findet er aber, dass sie eben nicht so eine Dame ist, die mit Schwung in den Farbkasten gesprungen ist. Zwar kann er nicht abstreiten, dass er schon das eine oder andere Exemplar dieser Spezies im Bett hatte, aber für mehr hat es eben auch nicht gereicht und bei manchen war er am Ende sogar regelrecht erschrocken, als er sie ohne oder mit halb verlaufenem Makeup gesehen hat. Das muss er nicht auf Dauer haben. Er will seine Freundin oder Frau schließlich immer sehen können und bei Gott, die meisten Mädels haben es nicht mal nötig sich unter Tonnen von dem Kleister zu verstecken, nur so nebenbei. Ergeben hebt Óskar seine Hände und ergibt sich somit.
 

„Ist ja schon gut, ich wollte dich nicht angreifen“, schiebt er noch schnell hinterher und beobachtet nebenbei, wie sie den Rucksack wieder schließt, ihre Inlineskates sich schnappt und zur Tür läuft. „Warte, die nehme ich dir ab“, beeilt er sich hinter ihr her zu kommen und greift beherzt zu. Erst etwas unsicher, aber dann dankbar nickt sie ihm zu, bevor Annabell ihren Schlüssel aus der Hosentasche kramt und den dann doch recht schwungvoll in das Türschloss rammt. So viel energische Kraft hat er ihr gar nicht zugetraut, aber so schwerfällig wie der Schlüssel sich im Schloss drehen lässt, muss das wohl so sein.
 

Unter leisem Ächzen gibt die Tür auf und schwingt nach innen. Óskar lässt Annabell den Vortritt, da er eh nicht weiß, wohin sie müssen. So wirklich durchdacht hat er sich seinen Plan allerdings nicht, denn sein Blick fällt ganz automatisch auf den in einer recht engen Jogginghose verpackten Apfelpo, der sanft vor seinen Augen hin und her schwingt, als Annabell gemächlich die paar Stufen nach oben steigt, die sogleich zu ihrer Wohnungstür führen. Der Flur davor ist so schmal, dass er unweigerlich hinter ihr auf den Stufen stehen bleiben muss und seine Augen haben deswegen gar keine Chance woanders hin zu gucken. Das grenzt gerade ein bisschen an Folter, dass muss er schon zugeben. Óskar ist sogar ein wenig erleichtert, als die große, weiße Tür endlich nach innen aufschwingt und sie nicht mehr genau vor seiner Nase mit ihrem süßen Hintern herum tanzt. Dadurch aus seinen Gedanken gerissen, schüttelt er innerlich seinen Kopf und eilt ihr hinterher.
 

„Wo kann ich die Teile ablegen?“, fragt er und bekommt mit einer Handbewegung eine Stelle zugewiesen, die gleich rechts neben der Tür ist. Vorsichtig stellt er die Inlineskates an der Wand ab. Das ratschen von Klettverschluss, wenn dieser geöffnet wird, lässt ihn sich umdrehen und Óskar beobachtet schweigend, wie Annabell sich einen Schützer nach dem anderen abzieht, bevor sie ihren Helm vom Kopf nimmt, worunter ein komplett verstrubbeltes blondes Haupt hervorkommt, was teilweise auch ziemlich verschwitzt ist. Wahrscheinlich sollte er bei diesem Anblick nicht so begeistert sein, wie er es gerade ist. Nach wie vor sind ihre Wangen leuchtend rot, was diesmal aber noch von ihrer körperlichen Betätigung kommt, und ihre blauen Augen glänzen wunderschön in dem Licht, welches sie mittlerweile an geschalten hat, da die Sonne langsam aber sicher schon den Rücktritt anstimmt. Wenn man nicht weiß, dass sie vor zehn Minuten noch mit ihren Inlineskates durch die Gegend gedüst ist und einen Helm auf dem Kopf hatte, da könnte man wirklich annehmen, dass Annabell ihre letzte Stunde mit was ganz anderem verbracht hat. Sie schaut einfach wunderbar aus und Óskar hat zu tun sich zurückzuhalten und sie einfach in seine Arme zu ziehen und von oben bis unten abzuknutschen.
 

„Willst du was trinken?“, wird er aus seinen Gedanken gerissen, worüber er auch recht froh ist, denn wer weiß, wohin das Ganze sich sonst noch entwickelt hätte.

„Ein Wasser, wenn du hast“, antwortet Óskar recht hastig und macht sich daran ihr zu folgen, nachdem er sich seine Boots von den Füßen gestreift hat. Im gehen öffnet er seine leicht gefütterte Lederjacke und schaut sich nebenbei um. Ihre Wohnung ist im Großen und Ganzen recht hell und macht einen wirklich einladenden Eindruck.
 

„Hier, mach es dir ruhig bequem, ich muss unbedingt unter die Dusche“, drückt Annabell Óskar ein volles Glas Wasser in die Hand und nach einem schüchternen Lächeln drückt sie sich an ihm vorbei und Óskar kann beobachten, wie sie sich in einem der Zimmer verdrückt. Nun ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht wendet er sich um und läuft weiter ins Wohnzimmer, welches ihn mit einer gigantischen Couch empfängt, die nach Gemütlichkeit regelreicht schreit. Bevor er sich aber auf dieser nieder lässt, schlendert er lieber zu dem riesigen Regal, welches beinahe aus allen Nähten platzt. Bücher, CDs und DVDs streiten sich darin beinahe schon um ihre Plätze und Óskar muss zugeben, dass er zwar mit vielen Büchern gerechnet hat, aber keinesfalls mit so vielen Musikplatten.
 

Neugierig wandern seine Augen über die einzelnen Reihen, die fein säuberlich nach Interpreten und deren Diskografie sortiert sind. Ein bisschen verrückt empfindet er es schon, aber wenn man mal was sucht, findet man es gleich. Das sollte er bei sich zu Hause vielleicht auch mal machen, damit würde er sich sicherlich die eine oder andere sinnlose Minute sparen. Viele von den Interpreten sagen ihm allerdings so gut wie nichts. Neugierig zieht Óskar eine CD heraus, die sich ‚Vulgar‘ nennt. Das ist nur ein Exemplar der unzähligen, die alle von einem oder einer gewissen ‚DIR EN GREY‘ sind. Er hat keine Ahnung, ob es sich um eine Band handelt oder um einen Sänger oder Sängerin.
 

„Hör einfach rein, wenn du neugierig bist“, ertönt plötzlich Annaballs Stimme hinter ihm und Óskar zuckt erschrocken zusammen.

„Himmel, schleich dich doch nicht so an. Mein Herz“, keucht er aufgeregt und fasst sich kurz an die Brust, wo sein Herz wie verrückt in seinem Brustkorb herum donnert.

„Sorry, das wollte ich nicht“, lächelt sie entschuldigend und dann kann Óskar ihr schon gar nicht mehr böse sein. Okay, das war er vorher auch schon nicht, aber der Schreck hat trotzdem gesessen.
 

„Ich bin dann mal im Bad. Wie gesagt, probier einfach aus, was die interessiert“, sagt sie noch, bevor sie sich umdrehen will.

„Ach, bevor du dich noch mal umziehen musst“, fällt ihm Gott sei Dank noch recht zeitig ein. „Zieh dir am besten was Warmes an, das wirst du brauchen“, zwinkert er und erntet von Annabell ein verwunderten Gesichtsausdruck.
 


 


 

Sicht Annabell
 

Annabell muss zugeben, dass sie die Blicke von Óskar sehr wohl bemerkt hat. Er hat ihr damit regelrecht das Gefühl gegeben begehrenswert zu sein, auch wenn sie total verschwitzt ist und ihre Haare alles andere als perfekt auf ihrem Kopf liegen. Irgendwie hat sie sogar das Gefühl, dass ihm genau das gefallen hat, was aber schon wieder total bekloppt ist, denn wer mag schon eine so derangierte Frau gerne anschauen?
 

Als sie nach ihrer Klamottensuche aus dem Schlafzimmer kommt, sieht sie amüsiert dabei zu, wie ihr Gast sich durch ihre CD-Sammlung wühlt und letzen Endes neugierig eine ihrer Lieblingsplatten aus dem Regal zieht. Dass der große Mann allerdings zusammen zuckt, als sie ihn anspricht, damit hat Annabell nicht gerechnet, aber irgendwie macht es ihn schon wieder sympathisch. Ihren Vorschlag, dass er ruhig in die Platte rein hören kann, über diesen scheint Óskar tatsächlich nachzudenken und auch wenn ihm die Musik vielleicht nicht gefallen mag, alleine dass er zumindest mal neugierig darauf ist, das findet sie toll.
 

Bevor Annabell wirklich ins Badezimmer verschwinden kann, wird sie noch mal stutzig. Warum in aller Welt soll sie denn bitte warme Klamotten anziehen? Heute ist es schließlich eher mild, auch wenn man abends tatsächlich eine Jacke mehr vertragen könnte.
 

„Was hast du denn vor?“, fragt sie neugierig, doch Óskar grinst nur und zwinkert ihr zu.

„Lass dich überraschen“, mehr bekommt sie nicht zu hören. Verwundert schüttelt Annabell ihren Kopf, bevor sie kehrt macht und endlich den Weg in ihre Nasshöhle findet. Sie hat noch nicht mal alle Klamotten ausgezogen, da ertönt die Anfangsmelodie von audience Killer Loop, welches das Openig von Vulgar ist. Annabell hält kurz inne, lauscht der Musik die doch dann recht rabiat leiser gedreht, aber nicht ausgeschalten wird. Schmunzelnd lässt sie ihre letzten Hüllen fallen und danach begibt sie sich endlich unter die Dusche. Sie kann durchaus verstehen, dass Óskar aus purer Überraschung spontan die Musik leiser gedreht hat. Es handelt sich schließlich um ein Hardrock-Album und diese Musikrichtung ist nicht jeder Manns Sache.
 

Annabell beeilt sich mit ihrer Körperhygiene und nach nicht mal zwanzig Minuten legt sie den großen Föhn zur Seite, der bis eben ihre blonde Mähne noch ordentlich durch die Gegend gepustet hat. Wie immer machen ihre Haare was sie wollen und nicht was sie sollen, aber daran hat sie sich schon längst gewöhnt. Kurz durchkämmt Annabell ihre Haare noch einmal, dann schlüpft sie schnell in ihre zurecht gelegten Klamotten. Bald darauf steckt sie in einer engen, dunkelroten Skinnyjeans und einem gemütlichen, Figur betonten Pullover. Wirklich dick ist der aber nicht, weswegen sie sich wohl noch eine Strickjacke aus dem Schlafzimmer holen muss, da das nicht ganz zur Definition warm anziehen passt. Ganz zuletzt tuscht sie nur noch ihre Wimpern, dann spaziert sie nach exakt zwanzig Minuten aus dem Badezimmer.
 

Im Wohnzimmer empfängt sie nach wie vor die Musik von ihrer absoluten Lieblingsband und Óskar steht ebenfalls noch beinahe genau an der Stelle wo sie ihn zurück gelassen hat. Allerdings hat er jetzt das Booklet in der Hand und scheint irgendwie zu versuchen bei den Texten mitzukommen. Annabell bleibt einen Moment in der Tür stehen und beobachtet ihn, wie er beinahe schon verzweifelt seine Stirn runzelt und dabei gleichzeitig seinen Kopf ungläubig schüttelt.
 

„Das versteht doch kein Mensch“, murmelt er vor sich hin, was Annabell nun zum Lachen bringt. Daraufhin schaut Óskar auf und schaut sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Du hast komische Chinesenmusik, weißt du das? Dabei dachte ich immer die machen nur so komisches Ching-Chang-Chung-Zeug“, wedelt er mit dem Booklet herum.

„Das ist ja auch Japanisch“, antwortet sie amüsiert. Da Óskar aber auch nicht fragt, wie sie denn auf diese Musik gestoßen ist, belässt sie es dabei. „Ich bin fertig, wir können los, wenn du dich losreißen kannst.“

„Darauf habe ich gewartet“, grinst der Mann dann schon wieder, was Annabell selbst zum Schmunzeln bringt. Óskar scheint steht’s gut gelaunt zu sein. Allgemein wirkt sein Gemüt sehr positiv und fröhlich.
 

Óskar legt die CD wieder weg, stellt die Musikanlage aus und gemeinsam laufen sie zurück in den Flur. Annabell huscht noch einmal kurz in ihr Schlafzimmer und sucht sich dort ihre Lieblingsstrickjacke raus, welche sie im Laufen gleich überzieht.

„Schuhe egal?“, fragt sie und deutete auf ihre ausgelatschten Turnschuhe, verschiedenen Stiefel und ein paar Highheels.

„Zieh die Boots an, die sehen am wärmsten aus und deinen Mantel, den wirst du ebenfalls brauchen“, zeigt ihr Gast auf all die Sachen „Mütze und Handschuhe solltest du auch mitnehmen.“ Sofort fragt sie sich wieder, was der Mann mit ihr eigentlich vor hat, dass sie sich so einpacken soll. Klar, es ist Oktober und die Temperaturen sind schon lange nicht mehr für ein T-Shirt geeignet, aber für das Zwiebelprinzip ist es eigentlich auch noch ein bisschen zu früh.

„Verrätst du mir endlich, was du vor hast?“, versucht sie es noch einmal, doch Óskar schüttelt nur den Kopf und öffnet anschließend die Wohnungstür, als Annabell fertig ‚verpackt‘ ist.
 

Umsichtig schließt sie ihre Wohnungstür ordentlich ab. Das gleiche macht sie mit der Haustür. Danach verstaut sie den Schlüssel in ihrer Jackentasche. Óskar geht wieder vor und biegt nur um die Ecke ab, bevor sie direkt in der Auffahrt und vor einem – für sie kleine Frau – gigantischen Motorrad stehen bleiben. Das Teil ist ihr vorhin gar nicht aufgefallen und mit großen Augen starrt Annabell das riesige Gefährt an, bevor sie ihren Blick wieder auf Óskar lenkt, der mit zwei Helmen da steht und sie neugierig anschaut.
 

„Bist du bereit mit mir die letzte Fahrt des Jahres zu absolvieren?“, fragt er und Annabell kann nicht anders als ihn mit offenem Munde anzustarren.

„I-ich soll auf das Ding da drauf steigen?“, fragt sie stotternd und mit einmal wird ihr klar, warum sie sich so warm anziehen sollte. Er hatte das die ganze Zeit schon geplant und wohl mit Absicht nichts gesagt, damit sie gar nicht sofort einen Rückzieher machen kann. „Damit falle ich doch um, wie ein nasser Sack“, rutscht es ihr heraus. Davon mal abgesehen, dass ihre Füße definitiv nicht bis auf dem Boden reichen, das Gewicht der Maschine könnte sie ebenfalls nie tragen. Óskars amüsiertes Lachen lenkt sie von dem Monstrum wieder ab und sie kommt nicht umhin zu denken, dass er einfach nur toll aussieht, wenn er mit glitzernden Augen vor ihr steht. Die kleinen Lachfältchen um seine Augen machen ihm dabei noch viel sympathischer und selbst wenn sie es wollte, sie könnte ihm dabei nicht mal eine Abfuhr erteilen.
 

„Du sollst das Ding ja auch nicht lenken, sondern einfach hinter mir sitzen und dich kutschieren lassen. Also was ist jetzt? Traust du dich, oder sollen wir laufen?“, umspielt ein Lächeln seine Lippen, was Annabell gleich noch schwächer werden lässt, was seine Anziehungskraft angeht.

„Okay, aber wehe du lässt mich fallen.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück