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Verborgen in 221b

von

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Mrs. Hudson

Ich habe es gewusst! Ich habe es immer gewusst! Und jetzt ist es offensichtlich.

Meine beiden Mieter sind nicht mehr meine beiden Mieter. Die nicht! Sie summieren sich derzeit zu mehr als zu den zwei alleinstehenden Junggesellen, die sie bisher waren. Nun bilden die Gentlemen eine Einheit, ein Miteinander beim Offenlegen ihrer Empfindungen bezüglich der Qual ohneeinander oder der Entsagung voneinander. Der Horizont ist weiter geworden, als der, den der Doktor in seiner Veröffentlichung über den Fall der Himmelsrichtungen gesteckt hat.

Nicht, dass es mich etwas angehen würde, oh nein. Meine Lippen sind versiegelt. Aber ich möchte betonen, ich habe es gewusst! Schon bevor die Niederschrift in Druck gegangen ist und ich sie gelesen habe.

Meine Augen mögen ihre besten Zeiten hinter sich gelassen haben. Sie sind keiner glanzvollen Klarsicht mehr freigegeben, wie die hier herumliegenden Lupen. Eher wie andere, nennen wir sie `skurille Dinge`, die da im 1. Stock wie Reliquien gehalten werden und einer Politur in schändlicher Weise entbehren. Dennoch, wer so lange unter einem Dach lebt, muss nicht alles sehen, man entwickelt ein Gespür füreinander.

Der kleine Teetisch steht jetzt woanders. Auch die Anordnung der Maskeradeartikel ist überhaupt erst eine Anordnung geworden, die grell-penetrante Schmiererei aus Tuben, die dem weiblichen Subjekt von der Straßenecke alle Ehre machen würden und der zerzauste Perückenschopf, einst das Besitztum einer Tänzerin aus sonstwas für einem verkommenen Varieté, liegen wohlsortiert in einem Schubfach. Ich habe den Plunder nicht zusammengeräumt, nichtmal anfassen würde ich…

Aber was sagte ich gerade? Ja, richtig, wer so lange unter einem Dach mit einem Detektiv des Meisterklassenformats lebt, entwickelt ein Gefühl für die kleinen Bedeutsamkeiten in anderer Leute Leben. Für Wortgewandtheiten zwischen Mitbewohnern, die neuerdings tiefgreifender klingen, unterlegt mit Momentaufnahmen, die von mehr erzählen. Für das Streifen von Blicken, die eingefangen werden, gepaart mit dem kurzen Klopfen einer männlichen Schulter vielleicht, oder dem gegenseitigen zur Hand gehen beim Aufheben heruntergefallener Utensilien.
 

Als der arme Doktor mitten in diesem Auftrag um die Hamperson-Familie angegriffen wurde und wir nicht daran zu denken wagten, dass es noch schlimmer kommen könnte, habe ich Mr. Holmes bei der Versorgung des Verletzten natürlich zugearbeitet. Aber Zweifel, dass er es ebenso gut allein geschafft hätte, seinen eigenen Arzt zu kurieren, hatte ich nicht eine Sekunde. Weil es ihm ein Bedürfnis war!

Als die Tage grauer und grauer wurden, bis sie in einem tiefen Schwarz versanken, die Tragödie ihren Lauf nahm und durch den zweiten Angriff dann Mr. Holmes` Krankenbett beinahe zum Sterbebett wurde, wandte sich zwar das Blatt der hilfebedürftig gewordenen Person, zu der nun er selbst geworden war, nicht aber das der Intensität des Kümmerns. Mit einer Selbstverständlichkeit übernahm fortan der wiederhergestellte Doktor die komplizierte Begleitung eines Patienten, der schon immer mehr für ihn gewesen war und nun nach Leibeskräften vor seinen Augen ums Überleben kämpfte. Gegen die Stagnation antretend, forderte dieser Körper das Letzte von seinem behandelnden Arzt, aber dieser schien zu keinem Zeitpunkt in Frage zu stellen, wo sein Platz war. Er hatte seine liebe Not mit dieser Zeit der Sorgen und Unsicherheiten. Trotzdem wurde er nicht müde, seinen Übereifer auszuüben und nebenbei noch klebrige Textilien zu wechseln, aus Ampullen zu tränken und aufmunternde Worte zu setzen.

Ich stand oft daneben und war nicht halb so handlungsfähig, denn ich steckte voller Angst und voll von Rührung, was die beiden vor meinen Augen schafften.

Ich habe in meiner kleinen Küche gesessen und mir die Augen an einem Schürzenzipfel getrocknet.

Hier unten ist mein Reich. Hier konnte ich das Gemüse schrubben und meine zu klein geratenen Hände dabei unziemliche Grobheit walten lassen und die düsternen Akzente meiner Befürchtungen mit den Kartoffelschalen entsorgen. Ich konnte den Gedanken an ein vorzeitiges Ableben meines exzentrischen, aber bemerkenswert einzigartigen, Untermieters nicht ertragen. Ich fühlte, wenn es tatsächlich dazu kommen würde, würde es nicht lange dauern und es müsste ein zweites Grab geschaufelt werden. Für seinen Retter, der ihn nicht retten konnte.
 

Als es hier endlich wieder etwas munterer zuging, die beiden aus ihrem bezwingenden Geschundensein, das sie eingewickelt gehalten hatte wie ein Schnürband, erwachten, bekam ich etwas Irritierendes mit.

Ich habe sie streiten gehört, meine Mieter, als ich mit einem Gehrock in der Hand den oberen Treppenabsatz erreichte: ”Was soll das schon bringen?“

So harsch wie Mr. Holmes den Doktor anfuhr, fürchtete ich, seine geistige Konstitution hätte schweren Schaden genommen.

Oh je, was habe ich mir im ersten Moment Sorgen gemacht, das dieses Leiden nie ein Ende finden würde. Aber der weitere Verlauf ihrer Diskussion war schlußendlich gar nicht von zornerfüllten Segmenten unterlegt. Er bildete sich viel eher zu einem Fundament und schon der nächste Satz, den ich hörte, war aussagekräftig genug, meine Befürchtungen zu widerlegen: “Was immer Sie brauchen.”

Trotz all der Herausforderungen an ihn und seine Geduld, ließ sich Dr. Watson nicht aus der Reserve locken. Er sagte nicht viel, aber doch alles in einer Atmosphäre von ruhevoller Eleganz, mit diesen bedachtsam und doch unangreifbar gesetzten Worten, die ihm zum Moralgedanken geworden waren. Zu unser beider Leidwesen war ihm früher oft widersprochen worden, wovon jetzt keine Rede mehr sein konnte. Nun wusste ich, sie hatten sich auf einer anderen Ebene eingependelt.
 

Das sie nicht nur so dahingesagt gewesen waren, fand seine Bestätigung in einer der Episoden, die mich normalerweise zu beunruhigen pflegten, deren diesmalige Handhabung mich aber milde stimmte. Wiederholt war ich in jenen Tagen Zeuge folgender Szenerie geworden: Mein verletzter Mieter hatte die Beine um das untere Ende der zusammengerollten Decke gewickelt, seine schlanke Gestalt war darum gewunden, etwa wie eine Liane. Das obere Deckenende lag zwischen seinen Armen und das Gesamtwerk war ihm dabei dienlich, einen Gegendruck zu dem inneren Ziehen aufzubauen, das ihn permanent quälte. Sobald eine dieser Attacken vorüber war, ließ er sich zurückfallen und sperrte alles um sich herum aus, um in sich selbst zu neuer Kraft zu finden. Niemals hätte er sich und seinen Leib früher freiwilliger Schonung unterzogen, solange sein Hirn dabei noch funktionierte. Was habe ich immer geschimpft und gefleht! Das durchzusetzen, schaffte nur einer. Neuerdings, wie man festhalten muss. Und meinen störrischen Untermieter dazu in die Fremde zu verfrachten, auch.

Mir gegenüber war nie die Rede davon, aber die letzte Instanz für die Entscheidung, die Kurfahrt in mein wunderbares Heimatland anzutreten, war das Wohl des Doktors selbst gewesen, auf den nun neuerlich mitgeguckt wurde. Und das war der springende Punkt!

Eines verregneten Tages wurden sämtliche Bürden in Koffer verfrachtet und auf Reisen geschickt. Und mit ihnen diese zwei ausgedorbenen Körper, die sich immer mehr aufeinander einließen. Ich ließ sie nicht gerne ziehen. Als ich aber sah, wer zurück kam, sah ich zwei andere Männer, die etwas Besonderes durchlebt hatten, sich ihrer Haltung zueinander in anderer Weise sicher geworden waren.

Da füllte sich mein altes Herz mit längst vergessenen Erinnerungen an stürmische Jugendtage und einen Verehrer, der mir damals den Hof und einen anderen Menschen aus mir gemacht hatte, weil er mein ganzes Seelenheil bedeutete. Als ich seinerzeit am Liebesquell getrunken hatte, war mein Glück auf den Gutwill der Feindeshand begrenzt gewesen und hat kein gutes Ende nehmen können. Von außen aufoptroierte Zwangsjacken der Standeszugehörigkeit hatten mein Herz zusammengeschnürt, bis es nicht mehr genug dagegen pumpen konnte und unter diesem Druck brechen musste. Herrje, was habe ich gelitten!

Auch der Mann meiner Träume hatte diesen schelmigen Ausdruck, den die beiden da über mir sich teilen. Meistens ist es Mr. Holmes, der diesen Blick aufsetzt, wenn er etwas angestellt hat und überzogen Reue zu präsentieren sucht, so dass es schon wieder mitleiderregend wirkt, ich könnte so manches Mal weich werden. Man fühlt sich augenblicklich entwaffnet, aber man kann ihm nicht böse sein, und das geht nun schon gar nicht, wenn man sich voneinander angezogen fühlt.
 

Letzten Monat war es. An einem Donnerstag, nein Freitag. Noch hatte sich der Tag nicht ganz verabschiedet, da habe ich sie wieder reden gehört, die Entbehrung jeder Normalität lag auch in diesem Gespräch. Abends, am Feuer, als schon nicht mehr mit einem Klienten oder Patienten zu rechnen war. Dafür aber mit meiner Anwesenheit in unmittelbarer Hörweite.

Beim ersten Mal erschrak ich, als ich gewahr wurde, welch warmer Ausdruck in ihren Stimmen lag, welch freimütiger Anklang von Intimität. Ich versalzte das Hühnercurry, weil ich so damit beschäftigt war, eine Erklärung für eine Vorsicht zu finden, die ich vermisst hatte, weil sie nicht getroffen worden war, von dem hier wohnenden Künstler im Aufdecken vermeintlich unwichtiger Feinheiten. Die nicht vor mir verborgen gehalten wurde, hinter Schlüssellöchern und Türangeln, meinen Ohren doch hatte unmöglich zugetragen werden sollen und auf einmal so klar zur Schau gestellt wurde.

Beim zweiten Mal erkannte ich eine Holmes´sche Absicht. Es war die Probe aufs Exempel, dass die Tür vom großen Zimmer nur angelehnt war, als man dahinter Dinge besprach, wie: „Vertrauen Sie mir, lieber Doktor! Alles andere wäre noch gleich mehr unserem Untergang geweiht, als dieses Unterdrücken zu Gunsten der Rechtssprechung.”

„Es ist die Vergänglichkeit meiner eigenen Moral, die dahinter steht. Wer gibt uns Garantie, dass wir so ein despektierliches Leben führen können? Ein Wettlauf mit unseren Gefühlen und der Politik gegen Gleichheit.“

“Niemand guckt hinter unsere Mauern hier, wenn wir es nicht zulassen. Dieses Haus ist unsere Festung und ich werde Sie mit nichts als meinem Verstand sichern!”

Mr. Holmes wollte es nicht verheimlichen. Entweder ich schluckte den Köder oder ich bereitete unserer Wohnsituation ein Ende. Als der Doktor noch haderte, hatte er bereits für sich beschlossen, keine Energie darauf zu verschwenden, sich hier, an seinem privatesten Zufluchtsort, zu verstellen.
 

Ich werde nicht jünger. Die Vergänglichkeit des Lebens und die Konfrontation mit undefinierbaren Gestalten auf meiner Schwelle, hat mich ermuntert, in vieles Dubiose einen zweiten Blick zu investieren, anstatt es zu verurteilen- manch andere Dinge aber besser nicht zu hinterfragen.

Ich habe meine Entscheidung getroffen. Jeden Abend ziehe ich die schweren Vorhänge zu und erlaube mir stumm, diesen zwei sagenhaften Männern, die unsere Stadt, in der mein Haus steht, von gewalttätigen Schurken befreien, den in meiner Macht stehenden Schutz unter meinem Dach anzubieten. Und jeden Morgen, einen weiteren Tag der Unversehrtheit miteinander zu gönnen, sich darin fest zu verwurzeln, damit sie ihren Frieden mit ihrer neuen Thematik finden. Genauso, wie ich es meinen eigenen Söhnen wünschen würde.

Inspektor Letstrade

Sie munkeln. Zwei von meinen Jungs auf dem Revier tuscheln geheimniskrämerisch hinter ihren Schnauzbärten, stehen aber sofort stramm, wenn ich vorbeiziehe. Wie tollwütige Waschweiber benehmen sie sich!

Über den Umstand ihrer Unterhaltung haben sie mich nicht so recht ins Bild setzen wollen, als ich sie eines Morgens dabei erwischte. Die Wiedergabe ihrer ureigenen Interpretation einer gewissen delikaten Angelegenheit sei womöglich missverständig aufzufassen, sagten sie- oder würde mehr Schaden als Nutzen anrichten.

Kurz vor Dienstschluss bekam ich dann doch noch Bericht erstattet. Der mit Abstand gescheitere der beiden, ein frischgebackener Sergeant, hätte den Doktor und den Detektiv in meinem Büro eindeutig gestikulieren sehen. Neulich, zur Mittagszeit, als die Sonne hereinschien. Und das machte alles so wirksamkeitsdeutlich, wie das Monokel seines Stiefvaters dessen Seheffizienz, betonte er.

Die Methoden des Holmes seien ihm nicht fremd genug, um sie nicht genau auf ebenjenen anzuwenden und eins und eins zusammen zu zählen, wo sich hier die Gelegenheit bieten würde. Wozu er sonst das Strand Magazine studiere, frage er sich, wenn nicht, um selbst eines Tages die Besetzung eines höheren Postens im Präsidium anzustreben. Liest das Blatt wohl stets mehrmals, bis es ganz abgegriffen ist. Diese Jungspunde haben vielleicht Zeit! Na, hoffentlich tut er es nach Dienstschluss.

Sein gewonnener Eindruck ließe ihm keine Ruhe. Die angestrebte Karrierelaufbahn, seinen polizeilichen Dienstgrad bald zu erhöhen, gestatte schließlich keine Umwege. Und deshalb meinte er, mir nun doch Meldung darüber machen zu müssen und seine Weste rein zu halten.

Mir! Als ob ich mir nicht selbst ein Bild machen könnte, aus dem, was an Hinweisen vor mir liegt. Wenn denn da Hinweise wären!

Es war also so, dass mein Sergeant, der an dem Tag, an dem wir den Hamperson-Fall endlich lüften konnten, die Tüte mit den Kompassen in mein Büro gebracht hatte. Kurze Zeit später kehrte er noch einmal dorthin zurück, weil er darüber hinaus ein Ermittlungsprotokoll nachliefern sollte. Während er vor meiner Glastür auf mich, der nicht mehr zugegen war, wartete, hätte er der drinnen stattfindenden Auseinandersetzung eine anzügliche Thematik entnommen. Was, teils aus Verwirrung, teils aus Mangel an Gewohnheit, für das Wecken seines Interesses verantwortlich zu machen wäre. Eine fallengelassene Bemerkung, die zu deuten als Hinweis auf einen überaus vertrauenswürdigen, ja fast zu vertrauenswürdigen Umgang zwischen Holmes und Watson schließen ließe, wäre doch sicher in direkten Zusammenhang mit grober Unzucht zu stellen, so seine Auffassung.

Watsons Insistenz, das heimische Bett aufzusuchen und das, was der Sergeant noch so alles durch die Scheibe, von der abgeneigt meine beiden Besucher standen, gesehen und gehört hätte, sei für die Bildung seines Verdachts ursächlich gewesen.

Eine regelrechte Episode an Assoziationen, dass es sich in meinem Arbeitszimmer nicht bloß um die rein sachliche Analyse eines Kriminaldeliktes handeln würde, sei ihn ihm geweckt worden. Aus dem, was ihm zu Ohren gekommen sei, die im Übrigen sogleich errötet wären, könne er sich was denken. Und zwar, wie die ständigen detaillierten Wissensbekundungen von Holmes zu Stande kämen. Nämlich genaus so, wie möglicherweise bald vor mir präsentierte Aneignungen darüber, was gesellschaftliche Verbannung nach sich ziehen würde. Ich solle mich nur in Acht nehmen, denn er glaube, dass dieses ganze skurrile Detektiv-Wissen, auch das über gewisse Praktiken, auf persönliche Erfahrungen zurückzuführen sei.
 

Nun ja, das sind schwerwiegende Anschuldigungen, das ist wohl wahr. Aber diese Unterstellungen sind nicht meiner Überzeugung entsprungen.

Die hier Bezichtigten weisen sich durch eine nonchalante Ungezwungenheit im Miteinander aus und nehmen kein Blatt vor den Mund, auch nicht vor mir. Halten zusammen wie Pech und Schwefel, erst jüngst wieder, als ich sie zwei Tage, nachdem sich der Doktor diese Gehirnerschütterung zugezogen hatte, besuchte. Holmes hat ihn ja fast vor mir heilig gesprochen, ihn schwer verteidigt und die Angriffsfläche, die er dem Übeltäter auf dem Gehweg geboten hatte, als Heldenmut herausgestellt.

Sie befassen sich doch mit allerlei abnormen Zeug, da bildet besagte Unterhaltung keine Besonderheit. Ich habe sie Techniken anwenden sehen, die nahe an der Grenze zum Illegalen waren. Verdrehen einem auch gerne mal das eigene Wort, so dass Auflösungen dem Ende eines Rätsels passend gemacht werden. Aus Mangel an zeitlichem Kontingent belasse ich es zugegeben oft dabei, drücke schon mal ein Auge zu, wenn dadurch der eine oder andere nichtige Fall abgeschlossen wird. Ich kann mich nicht ewig an Kleinigkeiten aufhalten, so ist es manchmal günstig, wenn man meine Wege abkürzt, wo ich selbstredend, aber eben später, selbst zum Abschluss finden würde.

Kein Grund also, in die verdorbene Richtung zu spekulieren, sind ja schließlich zwei gesetzestreue Burschen. Wer weiß, was der Jungspund gehört hat und womit Holmes da schon wieder geprahlt hat. Vielleicht hat er nur wieder eine neue Monografie entworfen, wissenschaftlich ausgeleuchtete Aspekte von illegalen oder sonstwas für Praktiken in der Arbeit mit Gewaltverbrechern, oder so ähnlich…diese Einzelschriften aus seiner Hand sind doch recht kompliziert zusammenzufassen.
 

Warum der Doktor das alles mitmacht? Keine Ahnung. Ist ein solider Bursche, war ein paar Mal mit ihm Kartenspielen. Weiß der Himmel, was den armen Mann dazu bewegt. Ist es vielleicht schlicht und einfach Mangel an Abgrenzungsvermögen, Hang zu Unterwürfigkeit, fehlendes Selbstvertrauen?

Was auch immer, er hat genug mit Holmes als Freund zu tun, so sehe ich das. Dann noch diese Arzt-Patienten-Konstellation, die sie da leben und die bestimmt nicht immer nur von schönen, kleinen Bagatellen und Schürfwunden erzählt, sondern sicher auch von unappetitlich Blut-bespritzten Körperteilen, die zusammenflickt werden müssen, von härteren Maßnahmen ganz zu schweigen.

Ja, der Doktor ist immer zur Stelle, das ist schon auffällig. Immer eng dabei eben. Habe es gar nicht als anstößig empfunden, aber es stimmt, bei vielen ermittlungstechnischen Verzwickungen und bei daraus resultierenden Einschnitten in Seele und Konstitution, war er im Spiel. Wie seinerzeit, als dieser Professor der Mathematik, seineszeichen kriminalistisches Genie, es auf die Spitze getrieben und persönlich Hand angelegt hat. Nun, ich sollte besser darüber schweigen…unschöne Sache damals.

Auch diesmal war es so. Aus aktuellem Anlass kam er mit in das verfallene Hinterhaus, zu der Verhaftung. Da gab es keine Verletzten, nur Papierschnipsel, die ja ach so bedeutsam waren. Aber einen Polizeiarzt hatte ich eigentlich nicht bestellt. Mh.

Bei der grausamen Attacke mit dem Messer, und natürlich jede Sekunde danach, hat er auch wieder an Holmes` Fersen geklebt. Als wir gemeinsam den ganzen Fall aufgelöst haben, Täter und Tatwaffe zuordnen konnten, war er mit hier. Verfiel Holmes da nicht in dieses leichte Taumeln? Doch, ich erinnere mich, er hatte noch ein paar kleine Ergänzungen im Feinschliff beizutragen, ganz ohne seine Wichtigtuerei kommt er ja nicht aus, und ich dachte kurz, er würde immer noch kränkeln. Watson hat ihn dann aufgefangen, ja. Ganz anständig sah das aber eigentlich aus. Das Schwanken war ja dann auch so schnell verflogen, wie es gekommen war und Holmes ging zu seiner liebsten Herausforderung an sich selbst über, nämlich der, sein Gehirn zu strapazieren und Watson beiseite zu lassen.

Bei dem Angriff mit dem Messer hatte der Doktor etwas von seiner Professionalität verloren, glaube ich. Er sah genauso bleich aus, wie der Verletzte, sehr wenig distanziert für einen routinierten Arzt, aber so betroffen wie ein Angehöriger. Kann man so oder so deuten. Im Zweifel für den Angeklagten, mir selbst war auch elend zumute, als sich das Leben aus dem Verwundeten weichen sah.

Ein paar angstbesetzte Tage später war ich dabei, als er uns Besucher des Krankenzimmers verwies, ziemlich bestimmend zur Tür hinaus. Aber eigentlich sagt Watson doch ständig Dinge wie: “Lassen wir ihm seinen Schlaf! Er braucht ihn”, also habe ich mir nichts dabei gedacht, ausser, dass er ihm Ruhe verschaffen wollte und darauf bestand, sich ihm zu widmen. Und da soll womöglich noch was anderes im Spiel sein? Wollte er ihn tatsächlich für sich allein haben, nach all der Zeit der Unsicherheit? Selbst wenn, kann man das wohl getrost auch noch als Freundschaftsdienst durchgehen lassen. Diese ständige Nähe ist doch quasi berufsbedingt, die ist durch nichts anderes ausgelöst, als durch Interesse am Heilungsverlauf!

Der Doktor ist doch zahm, wie Nachbars Katze. Meiner Einschätzung nach fällt er in die Kategorie derer, die eine starke Anziehungskraft auf die Ladies dieses Landes verübt. Militärischer Typus. Der sollte nach den Strapazen von Verbrechensaufklärung und Verbrecherobduktion, die unbarmherzig das Allerletzte von einem fordern kann, abends bei einer Frau liegen. Die Weichheit des anderen Geschlechts suchen, die keine Anforderungen an den angegriffenen, wenn auch augenfälligen Körper und Geist eines Veteranen stellt. Um sich hineinzubetten in die Idylle eines konventionellen Lebens. Und er hätte es eigentlich schon längst haben können, so beurteile ich das, jawohl! Ihm fliegen die Herzen der Damen sicher zu.

Wo auch immer ich zwischen Rechtssystem und Eisenstangen, zwischen Klinikgang und Pathologie auf ihn treffe, da hätte sich schon die eine oder andere finden lassen. Klientinnen und Patientinnen gibt es doch wie Sand in Brighton. Scheint hohe Ansprüche zu stellen, dass er noch nicht zugegriffen hat. Hat er mir gegenüber nicht selbst einst seine Abenteuer auf den Kontinenten angedeutet? Ja, das war er. Etliche Jahre muss das schon her sein. Wie die Zeit vergeht…Ich stelle mir eine gediegen Elegante für ihn vor, gepaart mit einem kleinen Hauch Exotik vielleicht..., so eine hätte ich auch gerne. Mit einem Talent, das geweckt werden muss. Nur Verstand sollte sie haben. Genug, um ihn beim häuslichen Plauderstündchen nicht mit Kuchenglasuren und Kirchenbasaren zu langweilen, aber nicht so viel, wie er in seinem jetzigen Heim aushalten muss. Und genug, seinen Kauz an bestem Freund in ihr Leben zu integrieren. Nun ja, vielleicht ist das so betrachtet doch etwas unrealistisch. Aber wenigstens Bürgerlichkeit und Gleichklang, das hätte er zumindest verdient.

Worüber mache ich mir hier Gedanken? Eigentlich bin ich immer davon ausgegangen, dieses Ziel zu erreichen, stünde in den nächsten Jahren auf seinem Lebensplan. Aber wer weiß, vielleicht will er etwas ganz anderes?

Alles in allem klingt das jedenfalls recht machbar und früher oder später wird es ihn auch treffen, habe es oft genug gesehen. Eine Schar Kinder dazu und vergessen sind die alten Freunde.
 

Sich mit Holmes die Bleibe zu teilen, kann doch keine Dauerlösung sein. Der hat ein viel zu unbezwingbares Wesen. Der einzige, der ihn bändigen kann, ist ausnahmslos Watson. Und das nur, wenn Holmes es zulässt.

Gewissermaßen besitzt auch er ein ästhetisches Charisma. Ja, könnte mir vorstellen, dass es viele so sehen…sicherlich ist er nicht uninteressant als Objekt für jemanden, der Eroberungsdrang in sich spürt…das würde wieder passen, zum Doktor, meine ich. Sie rangeln um die Dominanz, hab´s hin und wieder registriert. Sie reiben sich verbal…da lässt sich keiner die Butter vom Brot nehmen.

Den Herrn Privatdetektiv umgibt diese markante Mischung aus rau-sanfter Schönheit, zugegeben. Wenn ich das schon wahrnehme, kann es durchaus sein, dass Watson das genauso sieht und es ihn mehr anspricht, als jedes Weib.

Interessante Indizien, das alles. Und da ist noch mehr: Er ist ein Träumer. Ein hochintellektueller, der seine Träume sicherlich zerlegt, aber auch einer, der in Muse und Poesie flüchtet. Er kann es also, sich von einer Sache lossagen, um sich einer anderen zu öffnen. Aber in die Arme eines anderen Mannes flüchten? Grober Unfug!

Sobald er an der Entwirrung eines Tatherganges dran ist, träumt er, aber anders als man es gemeinhin ab Mitternacht tut. Abwesend kapselt er sich von dem Drumherum ab, wird schroff und taucht in seine Thesen ein, als wäre das alles, was noch zählt.

Manchmal kommt etwas Handfestes dabei heraus, ich gebe es zu. Aber soweit, Sünde sagen manche dazu, würde er doch nicht gehen, nein, nein. Besagten Doktor ignoriert er dann ja schließlich auch, seine Detektei ist eindeutig alles, wofür er lebt.
 

Dieses Wort allein, Sodomie. Hört man immer häufiger, von solchen Verstrickungen, in letzter Zeit. Gerade hier, im Yard. Deswegen muss man ja nicht bei jeder thematisierten Liaison, die womöglich viel weiter gesteckt ist, als es zu vermuten steht, sofort daran denken! Ich habe bisher auch nie darüber nachgesonnen, hatte nie Assoziationen an mehr als ein Vertrauensverhältnis, das zwischen den beiden herrscht. Und das zu mir, das mit der Bewahrheitung dieser wüsten Theorie wegbrechen würde.

Gut, um der Pflicht genüge zu tun, kann ich ja mal genauer achtgeben, wenn ich das nächste Mal auf einen Schlummertrunk in der Baker Street vorbeischaue. Ist ja ab und an ganz nett, unter gleichgestelltem Intellekt zu weilen, sage ich mir. Und den einen oder anderen meiner aktuellen Problemfälle bekommt man dort immer wieder gerne von mir vorgetragen. Kann sicher nicht schaden, sie durchzusprechen, sie häufen sich, weil ich so lange an der Hamperson-Verhaftung saß, zu der ein gewisser Sherlock Holmes ständig neue Ideen beizutragen hatte, die mich aus meinem Konzept brachten. Schnell ist er ja. Wäre ein guter Inspektor geworden, hier in meiner Abteilung, wenn er gewollt hätte. In welchem Amt auch immer, ab und an gibts ganz nützliche Denkanstöße von ihm und seinem Freund, sind eben eingespielt.

So ist es eigentlich meistens. Ist mir noch gar nicht weiter aufgestoßen, so alltäglich ist das, sie auf dem Revier und an Tatorten als Gespann anzutreffen, auch, wenn manchmal nur die Dienste von einem verlangt werden. Na ja, sie brauchen etwas, worüber sie reden können, nehme ich an. Vom Frühstück bis zum Dinner, denen fehlt sonst die Kurzweiligkeit in ihrem Junggesellenhaushalt, das wird`s sein! Haben eben die gleichen Interessen. Sie nehmen es nicht so krumm, können die Schauerschauplätze, zu denen ich sie zitiere, gut abstrahieren. Nicht wie ihre Vermieterin, die ich in letzter Zeit ständig Stoßgebete zum Himmel schicken höre, wenn ich ihre Türglocke ziehe.
 

Wie sollte ich mich überhaupt positionieren, wenn da was an anderes ans Licht käme? Vollstreckung der Rechtssprechung des Systems, dem ich unterstellt bin und an das ich glaube? Ich bin ein diensteifriger Polizist, aber ich bin nicht wie Stanley, Tobias und Athelney. Ich meine natürlich Hopkins, Gregson und Jones, die obendrein noch skrupellos werden können.

Nein, ich muss diese wirre These ruhen lassen. Mehr darf da nicht sein und deshalb ist es nicht so! So sind sie nicht.

Es gibt keine Beweise, keine Indizien, keine Schlussfolgerungen zu ziehen- wie Holmes sagen würde. Er ist ein guter Mann, hat mir schon Ehre zuteilwerden lassen, die ihm gebührte und die ich gebrauchen konnte.

Das gäbe ja einen Aufstand. Sämtliche Polizeiarbeit wäre fortan für ihn tabu. Holmes ist schlau genug zu wissen, dass ich mir das denken kann. Aber soweit denke ich nicht, das ist doch alles Humbug. Ich bleibe bei den Fakten, die ich sehe und ich sehe nur Spekulationen, noch lange kein kriminelles Delikt.

Die beiden sind mit ihrer Arbeit verheiratet, wie ich. Ehrbare Bürger, die das Verbrechersyndikat zerstören und nicht selbst dem Laster darin frönen. Das Ganze ist doch offenkundig gegenstandslos, wenn ich meiner eigenen Menschenkenntnis glaube und auf die kann ich mich wohl verlassen, nach zwanzig Dienstjahren.

Ich werde mir den Sergeant zur Brust nehmen!

Wiggins

Ich bin ein Opfer meiner Herkunft. Es ist nicht so, dass ich mich schäme- es hätte keinen Sinn. Ich versuche angestrengt herauszurudern, bedaure dabei zu sehen, wie viele von meinesgleichen in diesem Elendsschlamm feststecken und keine Lücke finden, um den Teufelskreis zu durchbrechen. All meine Zukunftsvisionen, Vorstellungen und Sehnsüchte, die ich von einem Dasein mit Versorgtheitsgarantie und nichts Extravaganterem als dem prüden Gestilltwissen menschlicher Grundbedürfnisse habe, sie reichen manchmal nur bis zum nächsten Tag. Dann zerbrechen sie und ich werde auf den Boden der Tatsachen zurückgeschleudert. Steinhart ist er, denn auf ihm liegen Reize verstreut, deren man erbarmungslos erliegen kann: Er ist gepflastert mit einer Welt voller Freiheiten. Sie sind verlockend, weil sie mich keinen gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen. Sie sind genauso satanisch, denn diese Freiheiten kosten mich den täglichen Kampf mit elenden Rahmenbedingungen an einer Front, wo der grundgefährliche Krieg der Namenlosen gegen ihren eigenen Untergang tobt.

Hier hause ich. Ich komme zurecht. Ich bin ein Teil dieses Systems und werde akzeptiert, was ich mir im Schweiße meines Angesichts und im Austausch gegen meine Unversehrtheit erarbeiten musste. Ich werde weitestgehend in Ruhe gelassen, bis neues Bettlergesindel vorbeizieht und in Frage stellt, ob Hunger und Habgier noch in Akzeptanz mit dem Dulden meiner Person in diesem Loch gehen.

Schon kurz nachdem mein Leben begonnen hatte, habe ich roten Backstein, schwere Ziegel und feuchten Lehm von Fabrikwänden zu sehen bekommen, während all die pausbackigen Kinder der herrschaftlichen Leute mit ihren bunten Bauklötzen um sich geworfen haben. Heute ist es nicht viel besser, aber heute gucke ich hinter diese Wände und erkenne, wie mich der Anblick geformt hat und wie mich jede einzelne Winternacht, die mir ihre Eiseskälte durch meine löcherigen Schuhe jagte, so dass mir fast die Zehen erfroren wären, stärker gemacht hat. Nun sind meine Füße ausgewachsen und ich setze meine Schritte fester, jetzt werde ich von meiner eigenen Stabilität getragen.

An allen Tagen nämlich, begleitet mich dieselbe Zielstrebigkeit: Ich will, und womöglich wird es mir noch gelingen, mindestens so gescheit und geschickt werden wie jemand, zu dem mein steiniger Weg mich geführt hat: Mr. Holmes.

Ich habe das Zeug dazu, das hat er selbst gesagt und mir einen verschwörerischen Klaps mit seiner Kappe gegeben. Der kennt sich hier in meinem Revier bestens aus und mit den Sitten, die hier herrschen auch, also wird er es beurteilen können. Hier ticken die Uhren anders, auch die gestohlenen, darüber sind wir uns einig.

Und er hat gemeint, dass ich schon jetzt einer jener unentbehrlichen Nachfolger in der Verbrechensbekämpfung sei, die es hier in einigen Jahren bräuchte. Ich solle all die Strukturen und Muster der Missetäter nur weiter studieren und mich darauf spezialisieren, dabei unsichtbar zu werden.

In dieser Hinsicht will ich mal auf ihn hören, auch wenn das sonst nicht meine Art ist, nach anderer Leute Pfeife zu tanzen.

Dann hat er mir auf den Kopf hin zugesagt, entweder ich trainiere meine Fertigkeiten als Untergrundschnüffler oder ich verkomme in der Gosse und kein Hahn kräht mehr nach mir. Es ist meine Entscheidung. Stimmt soweit. Ich habe mich schnell entschieden.
 

Auch wenn er nicht wirklich erreichbar für mich ist, im Gegensatz zu mir, der ihm auf Abruf bereitsteht, eins verbindet uns, denn mitunter zieht er durch mein Viertel und wühlt im selben Dreck wie ich. Er beschränkt seine Ermittlertätigkeit nicht auf die Häuser der betuchten Reichen, ihre Güter und Landsitze. Auch in den Elendsvierteln bewegt er sich mit solch einer unauffälligen Sicherheit, als wäre er in allen Schichten heimisch. Ich weiß nicht, wie er dazu kommt, ich traue mich nicht, ihn zu fragen. Aber herausfinden werde ich es, denn es interessiert mich. Auf dem Schmierzettel, den ich unter meiner Kappe trage, mache ich mir dazu Notizen- mit meinem Kohlestift.

Vielleicht kann ich ihm schon bald etwas näher kommen, indem ich in meinem Umfeld mit meinen Gaben und meinem Geschick herumhantiere. Die Armutskriminalität ist mir vertrauter als ihm, ich bin auch ein Teil dieser Gemeinschaft.

Obwohl er sich die soziale Schicht herunter bewegen kann, ist es mir selbst nicht vergönnt, mich lange unbemerkt in anderen Kreisen zu aufzuhalten. Ich kann aber seine Arbeit hierhin übertragen und, wer weiß, mich vielleicht eines Tages hocharbeiten?

Ich bin kein Nachahmer, ich überliefere nur seine Technik in meine Region und drücke ihr meinen Stempel auf, weil ich die Sprache der Straße perfekt beherrsche.

Es ist nämlich egal, unter welchen Umständen ich eines Tages krepiere, entscheidend ist, dass ich mein Potenzial bis dahin richtig einsetze und mir selbst meinen Aufenthalt so angenehm wie möglich mache.

Ich kenne viele Kreaturen, verlauste, einbeinige, Krüppel. Am Ende habe ich jedoch nichts und niemanden, der nach mir schaut, der nach mir sucht, wenn wenn mein Organismaus mal stagniert. Ich habe keinen Watson.

Ich kann Mr. Holmes helfen, auch wenn ich auf mich selbst gestellt bin und vielleicht helfe ich mir dadurch eines Tages selbst ein Stück weit hier raus. Ich kann nach seinem Erfolg streben, aber ich werde wohl nie all die Möglichkeiten ausschöpfen, wie sein lieber, sauberer Doktor von Rang und Namen. Der, der allein durch die räumlichen Voraussetzungen und die berufliche Interessenüberlappung hundert Vorteile gegenüber meiner Person hat. Und der immer näher an seinen besten Freund rückt.
 

Ich will dem guten Mann bestimmt nichts unterstellen, aber wenn ich Tag für Tag, Jahr für Jahr so einen herausragenden Detektiv von unsagbarer Klugheit und Bildung um mich hätte, würde mir wohl auch jeder andere Mensch in meiner Nähe nichtig erscheinen und ich würde mein Interesse an ihm vertiefen.

Mr. Holmes ist normalerweise gut in Form. Seine Kräfte können gnadenlos sein, die mentalen und die seiner Fäuste und Füße. Als Dr. Watson wäre ich bestimmt auch nicht der Anstrengung willens, mich auf mindere Intellekte einzulassen und würde zusehen, dass ich mich ihm unersetzbar mache.

Als Wiggins, selbsternannter Detektiv-Assistent, bin ich allerdings nicht rund um die Uhr bereit, dafür aber flinker. Flexibel genug scheint der Doc ja selbst zu sein, fürchte ehrlich, der ist ihm derzeit sogar lieber als Helfer und so weiter- und noch dazu ist er in seinem Alter. Die reisen ja ständig zusammen irgendwohin, sogar nach Übersee oder letztens zu dieser privaten Kurmaßnahme ins Gebirge, wohin ich das Telegramm schicken sollte.

Mich permanent zur Verfügung zu stellen, kann ich momentan noch nicht gewährleisten, muss auch meinen anderen Geschäften nachgehen. Aber es gibt ja eine Zukunft. Müsste mich ein wenig vorbereiten auf so ein Leben. Und vielleicht ein bisschen üben, wie man sich so gibt, bei den Vornehmen.

Macht am Ende eh keinen Unterschied in welcher sozialen Klasse man sich bewegt und mit wem, überall geht es irgendwann nur noch um Leben und Tod. Und bevor es soweit ist, kommt diese ganze elende Auseinandersetzung mit vermeintlichen Verbündeten, die einem auf der Strecke begegnen, sich in den Weg stellen oder, fernab einer noch so düsteren Vergangenheit entscheiden, mitzulaufen. Bei mir sagt man Bande dazu. Man findet sich und dient demselben Zweck.

Banden gibt es da oben auch, aber sie haben sich nicht selbst geknüpft. Bei denen da, in den Vierteln, wo Probleme und Not nicht existent sein dürfen, heisst es Kollegenschaft, Verlobung, Ehe- möglichst klassengerecht. Ahnenlinien sind sauber zu halten, mit kalligrafischer Feinheit werden Stammbäume erstellt, Lebenswege in halb versteckten Wasserzeichen vorgezeichnet.

Ob das besser ist, bezweifle ich. Ich deduziere an vorbenannten zwei Herren, dass sie solche Linien durchbrechen, soweit die Öffentlichkeit es zulässt. Sittsamkeit würden sie wahrscheinlich gerne auslöschen und Moralklüngel ist ihnen egal. Die zwei, von denen ich spreche, definieren ihren Platz in der Gesellschaft weitestgehend nach ihrem Dafürhalten, aber immer noch angepasst genug, um nicht aufzufallen. Sie sind auch eine kleine Bande, denn sie haben ja sich, um das eine oder andere Risiko zu wagen. Ihre Bande ist ein Bund.

Einen so engen Freund zu haben, hat schon was. So richtig mit Haut und Haaren, sich seiner unanfechtbaren Loyalität gewiss zu sein, meine ich. Dass es soweit gekommen ist, deduziere ich seit unserer letzten gemeinsamen Ermittlung, vorher hatte ich nur Vermutungen. Mir macht keiner was vor, ich bin von Hause aus immer auf der Hut. Mittlerweile verschlägt mir meine Erkenntnis nicht mehr die Sprache, sondern ich kann mich in drei Worten dazu äußern: Nun also doch!
 

Der Doc kam aus dem Barts zu mir und sah schlechter aus, als wohl der übelste seiner Patienten. Das fiel mir als Erstes auf, als er hier stand, in meinem Quartier aus einem Mehr an Dunkelheit als an Licht, wo die Ratten vorbei- und ab in den Kanal zischen. Hier, an der klammen Kälte Wurzel, dem zu Hause gewissenloser Schreckgespenster, die einem die Starre ins Gesicht treiben können. Er wirkte auf mich, als hätte er selbstpersönlich hier genächtigt. Ganz sicher würde er das niemals tun, aber Mr. Holmes schon, der hat das einmal getan.

Dr. Watson gab mir eine Handvoll Silbermünzen. Er und Mr. Holmes würden weitaus mehr von mir erwarten, als infantile Unreife, sagte er. Na ja, etwas übertrieben, dieser erzieherische Ton, bin ja nicht ihr adoptierter Zögling oder so. Aber vor stolzgeschwellter Brust steckte ich die Talerchen natürlich in meine Weste, um sie später in meinem Versteck bei der Werft zu deponieren.

Der Abgesandte mit dem Geld war also allein gekommen. Allein. Ungewöhnlich. Kreuzt selten bei mir auf, wenn schon, dann kommen sie zu zweit. Und er geht immer etwas auf Abstand, berührt nie mein Mobiliar, höchstens mit dem Gehstock.

Ich wusste schon vorher, was passiert war. Aber hätte ich nicht von den zwei Überfällen erfahren, hätte mich sein Äußeres darauf schließen lassen, dass ihm irgendeine Geschichte gerade sehr naheging. Meinen Ableitungen nach zu urteilen, konnte es sich dabei nur um dem Chef handeln. Wenn ein praktizierender Medizinmann so verzweifelt über den Tatbestand einer Verletzung dreinschaut, obwohl die Zusammenflickerei sein täglich Handwerkszeug ist, kann es ja nur ein Versippter sein, dessen Zustand er betrauert. Oder jemand, von vergleichsweisem Stand, den man als verschwistert und verschwägert betrachtet.

In der Gosse ist das einerlei. Blut ist dicker als Wasser, habe ich mal gehört, gilt hier auch nicht, wie gesagt. Und der Doc hat kaum Familienmitglieder, das lässt sich rasch kombinieren. Sehe ihn fast immer in der Baker Street, am Weihnachtsmorgen genauso wie in der Neujahrsnacht. Immer beschäftigt, ausufernde Arbeitszeiten hat er auch, dann diese ganzen Fahrten zu den Tatorten ins Umland. Keine holde Maid, die ihm irgendwo den Hof macht. Auch früher, nie einen Ring am Finger getragen, nur den unsichtbaren- das Band zu Mr. Holmes eben.

Der ist seine eigentliche Familie. Eben nur ohne Feiertagstrara. Aber mit gesteigertem Interesse an einander Gesellschaft. Reichlich Gelegenheit macht Liebe, das hab ich auch aufgeschnappt. Es wird ihnen wohl so reichen, sonst könnt mans ja ändern, denk ich mir. Kein Blatt passt dazwischen, die kleben nur noch aneinander in letzter Zeit, seitdem das mit der scharfen Klinge passiert ist.
 

Obs mir für meine Pläne gefallen tut oder nicht, ich kanns verstehen und mir bildhaft vorstellen, was eine Tragödie mit einem macht, dass sowas unumkehrbar prägt und zusammenschweisst. Vielleicht sogar mehr, als man zulassen will. Wenn ein Unglück so brachial über einen hereinbricht, kann man von Glück reden, die richtigen Leute um sich zu wissen. Und das der Schrecken so tief sitzt, dass die beiden sich bis an ihr Lebensende zu schätzen wissen werden, wage ich auch nicht anzuzweifeln.

Was so ein Wigginsbursche ist wie ich, der wird ja durchaus selbst mal Zeuge von blutrünstigen Attacken. Letztes Jahr erst, der Anblick dieser dunkelroten Lache, die damals aus dem Körper einer verletzten Köchin quoll, verfolgt mich noch heute. Wurde von einer organisierten Gruppe erdolcht, nicht ganz hinterrücks, das war mir klar, als ich ihre Abwehrverletzungen gesehen habe. Die bezeugten natürlich, dass sie versucht hatte, zu entkommen. Ist nicht glücklich ausgegangen, die Frau erlag ihren Verletzungen noch auf der Straße und wurde schließlich weggekarrt.

Ich denke oft daran und die Parallelen zu der Hamperson-Tat. Ich greife dann immer in meine Joppe und ziehe mein eigenes Messer. Hab es mir zurückgeholt vom Inspektor. Die Geschichte, die es erzählt, muss neu bewertet werden. Am besten von jemandem, der einen Blick für das hat, was übrigbleibt, wenn Ruhm und Geld nichts wert sind, jeder Titel irrelevant wird für die Erhaltung der Gesundheit. Wenn im Körper nur noch der Überlebenswille pulsiert und mit dem letzten Atemzug um die Wette ringt. Und wenn dann jemand zur Stelle ist, der das Messer aus der fleischigen Wunde zieht und das, was an der daraus resultierenden Gedankenspirale um das eigene Sein aufgerissen wird, in seinen eigenen Gefühlskanal abfließen lässt, um die Wucht des Schocks über dem knapp entgangenen Tod zu mildern.

So denke ich mir das. Ich weiss natürlich nicht, ob es sich so anfühlt, ob dadurch wirklich eine neue Beziehungsqualität in Gang gesetzt wird. Denn mich hat noch nie einer aufgefangen. Mir war immer nur kalt, hier hinter den Abwasserschächten. Aber mir bleiben die warmen Gedanken.

Ich kenne hier auch so ein Gespann in meinem Gefolge. Halten schon ewig zueinander, als wenns ums Überleben geht. Mh, geht es ja auch oft. Mir wär das ja nichts, diese jahrelange Abhängigkeit, ich sehe zu, dass ich alleine Land gewinne.

Na, müssen sie alle selber wissen, auch meine beiden Auftraggeber aus der Baker Street. Bin ja nur sowas wie ein spezieller Laufbursche. Hauptsache, ich habe mein Messer wieder. Ist ein hochwertiges. Das Blut reib ich ab.

Ich würde es im Ernstfall auch benutzen. Würde auch das Fesselwerk durchschneiden, in das man in so einer Beziehung gelegt wird. Die Rede ist von festzwängenden Seilen, die einem keinen Raum mehr lassen, natürlich nur in der emotionalen Vereinigung, nicht im Anbinden an Händen und Füßen…

Verdorbener Bengel, sagt die Alte vom Pub an der Ecke immer zu mir. Recht hat sie. Ich habe mehr mitbekommen, als einem Jungen in meinem Alter zusteht, sprudelnde Leidenschaften zwischen allen erdenklichen Leibern. Ruppig, hitzig und sinnlich. Darunter mehr Abnormitäten als sie manch betagter Greis jemals zu sehen bekommen hat. Bin eben geprägt von einem Leben in Misere und Elend, frei von Beschönigung. Es hat sich mir gezeigt, wie es ist. Nackt und kalt. Grau. Fertig aus.
 

Würde mich wirklich mal interessieren, ob die zwei Gentlemen das Ding mit dieser Verbündigung auch bis ins Letzte durchziehen.

In den Stunden zwischen Tag und Nacht, in deren fließendem Übergang sich unhörbare Dinge ereignen und in die Lautlosigkeit schleichen.

Grabesstille lag des nächtens über ihrer Straße, als ich dort gestern an der Laterne herumlungerte. Noch nichtmal die Drehorgel vom Blinden am Droschkenhof war zu hören. Nur ein paar Gestalten, die im Nebel auftauchten und im selbigen wieder verschwanden, Stück für Stück von ihm erfasst wurden, bis sie sich schließlich auflösten, als wären sie das Nichts persönlich.

Vereinzeltes Gepolter, von Mensch oder Pferd, die ihre Schritte setzen, durchbricht sie ja sonst hin und wieder, bildet aber keinen Vergleich zu den grellen Schreien, kreischenden Mägden und trunkenboldenen Kerlen, die um diese Zeit in meiner Gasse erst zum Leben erwachen.

Ob es hinter der Häusermauer nach Einbruch der Dunkelheit genauso ruhig zuging wie davor, wagte ich in dem Moment zu bezweifeln, als ich zur 221b hinaufblickte.

Brannte noch Licht im vorderen Zimmer, nicht wirklich hell ausgeleuchtet allerdings. Wozu brennt da so ein Licht, fragte ich mich? Entweder man dreht es stark genug auf, um schalten und walten zu können oder man dreht es ab, um zu schlafen. So läuft das doch bei den Herrschaften in dieser Gegend. Na, wer weiß, sogar reiche Kaufleute und Bankiers, die nach Wohlstand und Besitz streben, haben Tugenden, aber eben auch Laster- eigentlich genau wie die im Armenviertel.

Und die beiden da? Konnte nicht so recht daran glauben, dass sie sich um diese Uhrzeit ein tristes Mahl teilten, in ihrem gemeinsamen Zimmer. Wohl eher versucht, andere Gemeinsamkeiten herauszufinden…
 

Den Herrn Inspektor habe ich gestern jedenfalls nicht ausfindig machen können, kreuzt ja sonst auch ab und an meinen Weg, wenn ich vor Ort bin.

Ich war auch froh darum, denn mich schon wieder mit dem auseinanderzusetzen, dafür hab ich keine Zeit.

Wenn ich meine Zukunftspläne allerdings zu Ende verfolge, muss ich mir den mit ins Boot holen. Der hält ja so gar nichts von mir und meiner Truppe. Pech gehabt. Dem tät ich am liebsten was erzählen. Über seine eigene Garde und was die so treibt, wenn sie Wache schieben soll, hier, nahe beim Fluß, wo sich die Prominenz der Bettler und Taschendiebe tummelt. Das mein neues Bandenmitglied nun ausgerechnet der Helfershelfer von Joe Hamperson war, wird er mir wohl ewig unter die Nase reiben. Würde mich dafür sicher am liebsten Prügel beziehen lassen.

Nun, Wiggins, vielleicht hast Du es verdient, sage ich mir, bist ja nicht ganz unschuldig an der ganzen Katastrophe. Gut, ich werde nie wieder mit weniger Achtsamkeit durch die Gassen streifen, als wäre ich die unersetzbarste Person für Mr. Holmes persönlich.

Was nicht ist, kann ja noch werden. Ich will kein Opfer meiner Herkunft bleiben.

Dr. Coyle

Ich weiß nicht, an welchem Punkt sie genau stehen. Ich weiß nur, von wo aus sie losgegangen sind.

So bin ich Zeuge zaghaft sich nach oben ziehender Mundwinkel geworden, die inniger wirkten, als all jene Gesichtsausdrücke der Zuneigung, die Holmes und Watson jemals zuvor in meiner Gegenwart ausgetauscht hatten. Ich erhaschte hin und wieder einen Blick darauf, wie sie sich in heimlicher Anwandlung gegenseitig ins Visier nahmen.

Die beiden Londoner geben sich vorsichtig. Ich bin nicht sicher, wie klar sie sich einander in den letzten Wochen positioniert haben. Ich bin nicht mal sicher, ob sie sich, wenn sie es getan haben, sicher sind, diesen Weg bis zum Ende gehen zu wollen. Pausenlos mit den amtlichen Gesetzeshütern im Haus.

Aber ich bin mir sicher, dabei gewesen zu sein, als aus Fremdeinwirken, Schädigungen, Komplikationen und nachweisbaren Ausfällen im Genesungsverlauf etwas Eigenes entstanden ist.

Mittlerweile haben Sie sich zumindest in einer neuen Weise erkannt, soweit bin ich mir gewiss. Aber haben sie sich zugelassen? Diese Einschätzung wiederum obliegt mir eigentlich nicht.

Ich will es trotzdem versuchen, denn auch ich kann mich in Vorhaben festbeißen, wenn sie mein Interesse erregen- und das tut die Symbiose dieser zwei Menschen. Dazu muss ich eine Obduktion ihres Zusammenseins vornehmen und das Ergebnis in meinen Kontext einbetten. Ich muss sie sezieren, um den einen Kerngedanken freizulegen, den ich habe, den ich noch nicht aufgeben will:

Dr. John Watson eines Tages für mich selbst zu gewinnen.
 

Sie werden zwangsläufig auf die Thematisierung ihres enger gewordenen Zusammenspiels stoßen, so meine Vermutung. Und wenn das eine Nuss ist, die zu hart für Holmes ist, weil sie von befremdlichen Emotionen ummantelt, von unauflösbar scheinenden Empfindungen umhüllt ist, wird das eintreten, was stets und ständig passiert: Watson wird sich durch seine Funktion als Prüfer und Kontrastgeber von Holmes' Ideengut als unverrückbares Gegenbild einbringen und sich ebenso in die Auseinandersetzung begeben. Sie werden sich an Fragen und Optionen, Irritationen und Varianten wetzen. Bis ihre neue Neugier aufeinander ein wenig Sättigung erfährt und aus der Brutstätte, dem Agieren miteinander, noch ein Stückchen mehr Vertrautheit entsteht.

Meine Theorie lautet, dass es nicht lange dauern wird, bis Holmes etwas entwerfen wird. Er strahlt in Abständen eine enorme Unruhe aus, Umtriebigkeit, muss immer etwas zu tüfteln haben, gräbt quasi nach dem nächsten Problem. Durch seinen analytischen Scharfblick kann er gar nicht übersehen haben, wie Watson sich gebärdet. Das wird ihn stutzig machen und dazu antreiben, dieses Verhalten mit seiner Vorstellung über ihre Verbindung abzugleichen, weshalb er es auch nicht unkommentiert lassen wird. Ja, ich denke, er konstruiert ein Lösungsmodell, erarbeitet, wie sie auch ihren persönlichen Fall knacken können, dessen Opfer- und Täterhaltungen niemand anderes als sie selbst einnehmen.
 

Watson ist geradlinig, diszipliniert, korrekt.

Wird er langfristig soweit gehen, sich auf mehr als seine freundschaftliche Verbindung einzulassen?

Kann er seinen Status als Partner erweitern, eine gewagte Beziehung aufnehmen zu einem Mann, der in Extremen wandelt, an seinen schlimmsten Tagen einer Ausgeburt von Wildheit gleicht? Kann er ihm widerstehen, wenn dieser ihn in manchen Nächten so eindringlich und zahm anschaut, als würde er mühsam um nichts anderes als seine ganze Beachtung und Anerkennung flehen?

Womöglich kann er das, aber will er das? Wird er es sich so leicht machen?

Für jemanden, der im Dienst der Gesundheit steht, schien er mir schon immer verhältnismäßig wagemutig zu sein. Erst die Verpflichtung zum Militärdienst, dann diese risikobehafteten Unternehmungen in der Ermittlerbranche…
 

Ich kenne die beiden. Holmes und Watson. Watson und Holmes. Es kommt aufs Selbe hinaus. Sogar einzeln kann man sie gut gebrauchen, dachte ich immer. Da geben sie allerdings nicht halb so viel her wie im Duett, in ihrer ganzen Komplexität. Ein engagierter Arzt und ein erfolgreicher Detektiv, das sind sie für sich genommen. Nicht mehr und nicht weniger.

Ein Mehr an Erfolg, darüber hinaus mitunter großartige Leistungen, bekommt man, wenn beide zusammen wirken lässt. Als ich in Phasen ihres Schaffens und nun auch noch in die misslichen Ereignisse involviert war, wurde mir erst so richtig vor Augen geführt, was in jedem von ihnen steckt. Diese Bilder lassen sich nicht aus meinem Gedächtnis vertreiben. Sie belagern mich, obgleich ich Zeuge ähnlich gelagerter Tragödien geworden bin, und lassen mich einen Entschluss fassen.
 

Watson hat mich von seiner inneren Stärke überzeugt, als er sie an unserem Patienten angewendet hat. Ich habe ihn auch an anderen schwächelnden und stöhnenden Kranken hantieren sehen, gewiss nicht schlechter als die kompetentesten Köpfe unserer Berufsmitstreiter, sie alle haben sich einfühlsam gezeigt. Aber bei ihm habe ich eine andere Intensität wahrgenommen, einen extremen, allumfassenden Eifer. Tag für Tag spürte ich deutlicher, wie ich selbst dadurch in unsichtbare Schranken gewiesen wurde, innerhalb derer sich ein guter Arzt bewegen sollte.

Er war schon dabei, als Holmes mit diesen schlimmen Schmerzen bei uns eingeliefert wurde.

Der Schwerverletzte quälte sich lange an der Hartnäckigkeit seiner Wunden. Die fiebrigen Attacken hielten ihn in Schach, schlotternd kämpfte er sich hindurch, von einer bis zur nächsten. Es war Watsons Prägnanz, die sie mit ihm aushielten, nicht weniger unbeirrbar begleitet und therapiert.

Als es Holmes so miserabel ging, dass uns jeder Blick auf den Befund fürchten ließ, er würde den nächsten Tag nicht mehr erleben, assistierte ich so gut ich konnte. Als mein Kollege nicht mehr voran kam, seiner Angst nicht Herr wurde und der infektiösen Ursache dafür eben sowenig, versuchten meine Hände zwar zu mildern, am liebsten hätte er den Heilungsverlauf aber erst gar nicht aus den Händen gegeben.

Er saß an seiner Seite, bis er munter wurde. Wenn ich anbot, ihn abzulösen, während Holmes seinen Kopf im schlaftrunkenen Wahn wälzte, bestand er darauf zu bleiben, bis er erwachte.

Von dem Tag an, als die Messerschärfe des Detektivs Verstand Gefahr lief, für immer durch die Messerschärfe in seinem Leib zu verstummen, war sein Arzt nicht mehr er selbst. Paradoxerweise würde ich auch sagen, er war nichts anderes, als das reine Selbst- triefend vor innerem Zerbersten. Ich erlaube mir die Behauptung, dass genau das die Geheimrezeptur ausmachte, mit der er sich seinen Freund zurückholen konnte. Im Endeffekt waren es weniger die Arzneiverordnungen, Tupfer und Skalpelle als seine Authentizität, seine Philanthropie und sein Durchhaltevermögen.

So begann er, Förderung und Forderung aus den eigenen Reihen zu dosieren, schottete Holmes sogar vor dieser Person aus dem ranghohen Polizeiwesen ab. Mir wurde recht deutlich vermittelt, welche Energie er aufwenden musste, um Inspektor G. Lestrade wieder aus dem Barts herauszumanövrieren. Eine sehr autoritäre Gestalt, die weiß, was sie will.

„Ich wünsche Sherlock Holmes zu sehen!”, polterte der Inspektor bestimmt den Gang entlang. “Und mit seinem Arzt zu sprechen!”

„Der Doktor ist noch bei ihm“, gab ihm die Schwester Auskunft, was ihn nicht davon überzeugen konnte, auch nur fünf Minuten Wartezeit in Kauf zu nehmen.

“Kommen Sie raus aus dem Zimmer!”, hörte ich meinen kategorisch entschlossenen Kollegen wenig später den Polizisten auf Abstand bringen. “Holmes ist noch nicht stabil!”

“Ich habe nur ein, zwei Fragen an ihn”, versuchte er, sein Anliegen durchzubringen.

“Später, Lestrade. Er ist heute schon fiebrig erwacht. Lassen wir ihm seinen Schlaf! Er braucht ihn.”

Der Inspektor hat sich dann tatsächlich seinem Wunsch gebeugt und ist gegangen. Er machte nicht den Eindruck, oft nach anderer Leute Anweisung zu handeln. Ich brachte ihn selbst zurück zum Hauptausgang, um ihm wenigstens grob Auskunft über den Gesundheitszustand zu geben, wenngleich das wohl nicht seine dringendsten Fragen beantwortete. Als ich ins Krankenzimmer zurückkehrte, rückte sich Watson gerade einen Stuhl neben dem Bett zurecht, in dem Vorhaben, sich auf eine längere Nachtwache einzurichten.

“Vergessen Sie den harten Stuhl und holen Sie sich Ihren eigenen Schlaf, Watson!”

Der Bettlägerige war von der Unruhe wachgeworden und blinzelte müde.

“Es geht schon, Holmes.”

“Sie haben Nachholbedarf”, legte Selbiger mit schläfrigen Lidern fest und schmunzelte wissend.

“Ja. Vielleicht. Sind Sie sicher, dass ich kurz gehen kann?” Zustimmendes Nicken, die Augen waren schon wieder zugefallen. Ich selbst jedoch stand nicht weit entfernt und so sah ich noch, wie Watson mit seiner üblich prüfenden Mimik die patienteneigene Verfassung abzuschätzen suchte. Sie schien mir eine Gradation zu persönlich, als dass sie mit beruflichen Ehrgeiz zu erklären gewesen wäre. In das kahle Zimmer hatte sich eine eigene Warmherzigkeit gemischt. “Also gut, mein Bester. Ich lege mich drüben ein bisschen hin, im Vorbereitungsraum. Sie machen sich bemerkbar, wenn was ist?”

“Gehen Sie schlafen, Doktor.”
 

Holmes hat es noch nie sonderlich gemocht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Weder in einer medizinischen, noch in einer öffentlichen, wo er wachsende Bekanntheit erlangte. Aber ohne dieses Gelotst werden hätte er sein Krankenlager nicht mehr verlassen, so lautet meine bittere Einschätzung als Heilfachmann.

Dieser Arzt war der Beste, den er sich wünschen konnte. Ich streue meine eigenen Zweifel aus, ob ein anderer, mit fachlich Mehr an Kompetenzen, ihn in seinen Jetzt-Zustand zurückzulotsen vermocht hätte. Richtig vermocht, durchgehalten, bis zum Ende.

Wahrscheinlich ist er auch der Beste, der ihn auf eine Entdeckungsreise zu verwegenen Winkeln der Zuneigung begleiten kann, wenn sie sich dahin aufmachen. In ein Land, das Holmes vielleicht schon flüchtig betreten, das Watson aber gewiss viel ausdauernder erforscht hat, in das er ihn sehr umsichtig führen muss, geschmeidig. Er wird wissen, dass er nicht zu viel fordern darf, genug jedoch, um Interesse zu manifestieren und Beständigkeit zu erweisen, in die Holmes sich fallen lassen kann. Etwas, das ihm schwerfallen wird. Der Umgang mit seinen Gemütsbewegungen scheint mir etwas gestört zu sein.

Diese Reise wird anders sein, als die nüchternen Ausfahrten in verbrechertolle Gegenden, auf denen Holmes die Funktion des vorauseilenden Gelehrten zuteil geworden ist. Besonderheiten und Empfindlichkeiten werden ihren Platz einnehmen, entweder nur peripher, womöglich aber auch mittendrin, im Breitenspektrum der Künste der Liebe.
 

Erste Türen sind bereits geöffnet worden.

Das Mitleid in Watson habe ich immer wieder aufflammen sehen, stille Verzweiflung, die sich mit leiser Hoffnung ein Wechselspiel geliefert hat. Vielleicht öffnet sich ein ganzer Raum, in dem sich vieles entfaltet.

Er ist nicht ausgeleuchtet mit irgendwelchen romantischen Kandelabern, solchen Zierrat brauchen die beiden nicht. Aber sie brauchen den Nervenkitzel. Wenn sie weitergehen, werden sie eine erste Begierde aufeinander entdecken.

Eine weitere Tür kann sich öffnen, hinter der sich vielleicht ein richtiger Rausch verbirgt.

Nicht nur die reine Formung und Beschaffenheit von Muskeln, Sehnen, Haut und Haaren, sondern all das in einem anderen Licht, in dem Zusammenspiel als eine anatomische Augenweide, wird es dort von Watson gesehen werden. Jetzt, da die nüchterne Bewertung des gesundheitlichen Zustands nicht mehr so vordringlich ist, sondern er dazu übergehen kann, auch anderen Impulsen zu lauschen. Nicht mehr nur medizinisch relevante Körpersäfte im Rahmen seiner Untersuchungen zur Kenntnis zu nehmen, sondern jene Körpersekrete näher in den Fokus seines Interesses zu stellen, die nur dem von Krankheit unbeeinträchtigten Mann im Zustand körperlichen Wohlbefindens entweichen.

Vielleicht werden sie wieder die alte Massagetechnik in Betracht ziehen, die sich erweitern lässt, zu den Geheimnissen einer intimen Körperlichkeit Die Einsatztechnik vor medizinischem Hintergrund habe ich Watson richtig anwenden sehen. Ob er sich mit den Artikeln zur Enstehungsgeschichte im Fernen Osten vertraut gemacht hat, wie sie in den Büchern beschrieben ist, die ich ihm entliehen habe, sich Zusatzwissen über sinnliches Erleben, aphrodisierende Streichtechniken und betörende Öle angelesen hat, ist mir nicht bekannt.

Aus dem, wie er bisher vorgegangen ist, weiß ich, er besitzt die Fähigkeit, seinen Freund durch alles und jede Tür hindurch zu geleiten. Ob diesbezüglich genug Gegenseitigkeit da ist und Aussicht auf ein Annehmen besteht, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wer es rausfinden wird.
 

Ganz abseits dieser Entwicklungen, habe ich mit großem Interesse ihre Karrieren verfolgt.

In den letzten Jahren, vor allem in den letzten Wochen, habe ich eine Hochachtung vor ihnen entwickelt. Vor beiden, vor dem, was sie da treiben, was sie sich aufgebaut haben. Kritiker kenne ich selbst, wenn man Einzelkämpfer ist, impliziert das, andere Außenseiter zu erkennen. Wie sie hinter ihren Aufgaben stehen, ist meinen Einsätzen zu ähnlich, als dass sie durch böse Unterstellungen und Anschuldigungen beschmutzt werden sollten. Auch wenn es ungesetzlich ist, dem moralischen Ehrencodex eines Mannes von meinem Fach unangebracht, urteile ich nicht wie andere Menschen darüber, die solche Partnerschaften willentlich in Verruf bringen. Nur, weil sie aus gleichgeschlechtlichen Liebenden bestehen. Ich kann keine Verachtung empfinden.

Sie haben sich ein eigenes Refugium geschaffen. Holmes wollte Watson als Kollegen, aber war das immer alles? Das habe ich mich schon vor zwei Jahren gefragt. Sie zelebrieren die Zweisamkeit darin und schreiben sie geschickt um. Autor, Chronist, Mitbewohner, verpackt in all diese Bezeichnungen. Das ist nicht alles! Das kann nicht alles sein, das müsste eigentlich jeder sehen, der sich genauer mit der Menschheit tiefsten Bedürfnissen befasst hat. Bei den Massen an inneren Regungen, mit denen man sich in so einem Spannungsfeld gezwungenermaßen auseinandersetzen muss: Ängsten, Verlusten, Euphorie…dem damit einhergehenden Bedürfnis, das aufzuarbeiten.

Sie durchleben eine turbulente Zeit, sie unterliegen einer Entwicklung, sind den Gesetzen des menschlichen Erlebens ausgesetzt. Das macht was mit ihnen.
 

Als ich meinen Abschied von der Stadt nahm und in die Kurklinik zurückkehrte, bot ich ihnen an, mir zu folgen.

Nicht die reine Entlastung und nicht ausschließlich die Behandlungsanleitung waren meine Beweggründe, ihnen meine eigenen vier Wände zur Verfügung zu stellen, sondern ich hatte etwas in meinem Besitz, das ich ihnen gerne überlassen wollte. Etwas, das sie zu Hause nicht hatten, keine materiellen Güter dieser Welt aufwiegen würden.

Denn auf eine Art bin ich ihnen zu ewigem Dank verpflichtet. Für durch meisterliche Leistung, Intuition und Intellekt kombinierte Hilfestellung.

Was sie einst für Ealasaid, meine Tochter, die mir als Einzige geblieben ist und mich getan haben, sollte in Austausch gebracht werden mit einer ideellen Währung, der fundamentalen Festigung ihrer Einheit. Ich wollte ihnen dafür ein Dach über dem Kopf und einen passenden Rahmen bieten.
 

Ich erinnere mich, sogar schon vor 26 Monaten den Gedanken gehabt zu haben, ob dieses Gespann sich interessant finden könnte, solange Watson nur nicht versuchen würde, Holmes einzuengen oder ob das womöglich gerade reizvoll für Holmes werden könnte, einzig aus dem Grund, dass es spannendes Neuland für ihn wäre. Schon bei ihren Ermittlungen an meiner Familie, als die Entwicklung mit dem Jüngling ihren Lauf genommen hatte, bemerkte ich, dass Watson ab und an in die Haltung des Bewunderers rutschte. Aber damals überspielte Holmes jegliche verbale Äußerung, die in diese Richtung abzielte, fiel ab und an sogar in eine leichte Überheblichkeit, die es mir nicht ermöglichte, ihm in die Karten zu blicken. In meinen Augen flüchtete er bei jedem Anflug, der ihn aus seiner gefestigten Bahn von Rationalem zu werfen drohte, in die Arbeit. Mit einem hohen Maß an Präzision, wie man festhalten muss, und ich verwarf meine Gedankenansätze, als wir uns eine Zeitlang aus den Augen verloren.

Jetzt, in London sind sie wieder hochgekocht. Er wirkt auch weicher als früher, zugänglicher, verändert. Etwas hat ihn verändert. Die zwei reagieren anders aufeinander. Langsamer. Vorsichtiger, nicht mehr mit dem alten Selbstverständnis und der Lockerheit. Behutsamer.
 

Auf eine andere Art reicht der Dank für ihre Hilfe nicht, um nicht selbst nach vorne zu blicken. Ein Arzt von Watsons Kaliber verspricht ein stützendes Polster zu werden, wenn man, wie ich, in seinem Fachgebiet als Exot betrachtet wird und zudem von der Presse zerrissen, wo die Medizin noch in ihren Kinderfüßen steckt.

Als er sich richtig gezeigt hat, wurde mir deutlich, wie sehr mir an Watsons Präsenz gelegen ist.

Seit ich die Kraft dahinter hier in meinem eigenen Cottage wieder registriert habe, will ich genau diesen starken Einsatzwillen nutzen, ihn allzu gerne übertragen in mein Arbeitsumfeld. Er wäre der Richtige, sich einzulassen auf eine Aufgabe und eine Karriere, er bringt die Voraussetzungen mit, jedes Hindernis zu überwinden. Spott und Hohn der Kritiker, die sich gegen die Idee einer Behandlungsmethode stellen, sanft und weitestgehend unbedenklich, möchte ich ausmerzen. Dafür braucht es Leute, die Alternativen in der Medizin, eine Ergänzung zu harten Medikamenten, zu etablieren helfen.

Kurzum, ich würde ihn mir gerne an die Seite holen. Ich habe ebenso gerne darüber nachgedacht in den letzten Wochen, bin aber davon abgekommen, aktiv in die Richtung vorzugehen.

Denn momentan würde es zu einer zusätzlichen Belastungsprüfung für ihn werden, sich zwischen der Metropole und den Bergen entscheiden zu müssen. So wie er und sein Freund auf mich wirken, ist es nicht der richtige Zeitpunkt, es ist zu früh für meine Anfrage, so oder so. Wenn, dann wollte ich, dass er sich aus Interesse an meinen Projekten voll und ganz auf diesen Wechsel einlässt. Nicht aber, weil er ihn dazu nutzt, aus einem diffizilen Verhältnis zu einem Mann zu flüchten. Und nicht, bevor er sich nicht sicher ist, ob er es überhaupt eingehen soll und das mir gegenüber transparent wird.

Ich brauche niemanden, der nur halb bei der Sache ist, weil sein Kopf woanders steckt als sein Körper, sondern einen Mitarbeiter, einen Freund vielleicht, der zu mir steht.

Meine Arbeit bedeutet mir ausgesprochen viel, denn das Leben hat mir nicht mehr viel anderes gelassen. Ich habe immer nach beruflicher Anerkennung gestrebt, war lauernd bereit, jede Möglichkeit zu nutzen. Nicht, um Beachtung meiner Person zu finden, wohl aber, um publik zu machen, was in die Wissenschaft eingebettet werden muss.

Es wäre gelogen, zu sagen, mich drängt nichts. Aber manchmal ist es klüger, zu warten und nicht gleich zuzugreifen.
 

Ich werde diese Einheit nicht zertrümmern, sie vorerst nicht mal anrühren. Nicht jetzt, wo jede Ablenkung von der Stärke, die sie zusammen in sich tragen, und die sie brauchen werden, wenn sie sie ausbauen wollen und Widersachern die Stirn bieten müssen, sie schwächt. Ich darf nicht eingreifen, so werde ich Watson nicht gewinnen, sondern gegen mich stellen.

Allerdings werde ich sehr genau hinschauen und wenn meine Gelegenheit kommt, stehe ich bereit, ihm eine Alternative zu bieten.

Ihn erst zu sich selbst finden zu lassen, verspricht mir, die bessere Ausgangsbasis zu sein, um irgendwann auf diesen Arzt zurückgreifen zu können. Stabilität in der Frage, wo er sich sieht, statt eines endlosen Schwebezustandes.

Auch wenn es seltsam anmuten mag, mir ist klar, dass ich genau da ansetzen muss. Wenn sie sich gewählt haben, bin ich nicht so naiv, zu glauben, dazwischen zu passen.

Ihren Weg beschleunigen, wie durch meine Einladung, das ja. Um sie das eine oder andere klären zu lassen und so wiederum für eine schnellere Weichenstellung zu agieren.

Ich sehe mich in der glücklichen Lage, ausdauernd zu sein.

Darüber hinaus verfüge ich über ein kleines Erfahrungspotenzial in derlei Angelegenheiten. Ich bin mit mangelnden Kenntnissen ausgestattet, aber sie sind nicht einseitiger Natur.

Wenngleich ich mich in dem wunderbaren Zustand befinde, eine Tochter in die Welt gesetzt zu haben, war ihre Mutter die Frau, deren Liebe ich nicht verdient habe.

Ich schaue mit anderen Augen, erkenne ein gewisses Gefahrenpotenzial, auf das sich Holmes und Watson zubewegen, weshalb ich der Entwicklung ihren Lauf lasse, ohne ins Visier zu geraten und ohne vorzeitig einzugreifen. Bei ihrer engen Verbindung zur Polizei müssen sie verdammte Vorsicht walten lassen, auch sonst, nach dem zu urteilen, was sie mir hin und wieder erzählen, gibt es Dutzende, die nur darauf warten, Vergeltung an ihnen zu üben.

Allerorts gibt es genug Menschen, die ihre moralische Entrüstung äußern werden, sobald sie darauf stoßen.
 

In näherer Zukunft habe ich ein persönliches und ein berufliches Interesse daran, den Kontakt zu halten und zu sehen, wie es weitergeht und die Entwicklung für mich zu protokollieren.

Holmes

Er ist überall. Meine Gedanken zu bündeln, das ist etwas, was mir momentan schwerfällt. Sie streuen umher, in alle erdenklichen Richtungen, verknüpfen sich und lösen sich wieder. Unbändig beschreiten sie wirre Pfade. Enden tun sie allesamt beim selben Fixpunkt, bei Watson.

Nein, ich verschmähe die Feststellung nicht. Nicht mehr. Ich kann sie nicht mehr leugnen, sämtliche Indizien, die mir vorliegen, untermalen den Fakt.

Da ist dieser Mann, dessen sanfte Stärke ihre Bahnen zieht. Länger und weiter, bis zur hintersten meiner Zweifel. Er kratzt an meiner Funktionalität, hilft mir, sie einzuordnen oder auszuräumen, um sich selbst in Form neuer Impulse hinein zu säen. Er ist so tief verwurzelt, dass er mich fühlen kann, wie ich ihn lesen. Als würden wir in des anderen Körper stecken, die sich so sehr ähneln, dass sich anzunähern unter Strafe verboten ist- und die gleichzeitig grundverschieden sind.

Der Homo sapiens in seiner Spezies ist das vorhersagbarste und doch diffizilste, das mir je begegnet ist.
 

Es war zu eng für uns beide, dieses Zugabteil, eines jener kleinen Abgeschiedenheiten, in dem locker sechs Personen Platz finden.

Während wir in unser altes Leben, darüber hinaus in eine neue Lebensführung transportiert wurden, fiel unsere Aufmerksamkeit auf ein eigentümliches Gepäckstück, welches enormen Raum einforderte. Man konnte es nicht sehen, sein Ballast wurde blindlings schwer und schwerer. Mit jeder Stunde, in der sich ihm neue Komplikationen hinzufügten.

Aktiv zu werden hatte gar nicht in meiner Absicht gestanden, als die gefährliche Mischung aus Verwirrung und Unwohlsein dazu führte, diese rätselhafte Bürde anzugehen, ihre Naht zu Bruch zu bringen. Es war wohl aber an der Zeit, uns zu befreien, von einer Last, die wir gemeinsam bis hierher geschleppt hatten, von der wir wussten, was sie wog und wie sie sich anfühlte und die doch noch keine Bezeichnung bekommen hatte. Weil wir uns beide davor fürchteten.
 

Ich hatte diverse Bemerkungen über Hampersons mögliches Tatmotiv und Familienbunde fallen lassen und mich im Zuge dessen leichtfertig zu einer angrenzenden Thematik geäußert: “Ich muss gestehen, die großen Geheimnisse der menschlichen Natur zu knacken, sind doch die reizbarsten. Sie werden wohl noch für geraume Zeit die langwierigsten sein.”

Wie tölpelhaft von mir, das war unbedacht! Kaum war die Aussage von mir getroffen worden, bis ich mir auf die Zunge und begann damit, sehnlichst auf das Eintreten des Zugpersonals zu lauschen. Die Fixierung auf die Kinnlinie meines Reisegefährten hätte nicht zu Lasten meiner Konzentration gehen dürfen, rügte ich mich.

Was, wenn Watson sie als meinen Kommentar zu jener Erinnerung interpretierte, die mich soeben befallen hatte, seine zögerliche Gebärde auf dem Felsen, die mir von unterdrückten Ambitionen erzählt hatte? Was, wenn er sie als Einladung verstehen würde, ein Gespräch über unser Miteinander zu führen und gewissen, schweigsam von uns kommentierten, Gemütsregungen aus den Vortagen nun verbalem Ausdruck zu verleihen?

Ich konnte Hinweise zu allen erdenklichen Problemlagen aufspüren, aber ich tat mich keineswegs leicht damit, meine eigene Akzeptanz zu finden, dass besagte Vorfälle unbelastet von Bezügen zu unserer nahen Verbindung gewesen sein sollten. Ich arbeitete mich noch zu einer Interpretation vor, zu meiner stillen Interpretation.

Die nun eigens verschuldete Atmosphäre aus verdichtenden Andeutungen und versehentlich freigelegten Bezugnahmen auf ihn und mich, kam mir dabei voreilig in die Quere. Es fiel mir zusehends schwerer, das alles auszuhalten.

Ihm musste es genauso gehen wie mir.

Wenn jemand geschickt darin war, seine eigenen Irritationen über unser enger werdendes Bündnis zu vertuschen, dann sicher der langjährige Partner eines Detektivs. Er war nur nicht geschickt genug. Ich hatte sie registriert, versucht auszulegen und war unter der heimlichen Beschäftigung damit zur Identifizierung meiner eigenen Verwirrung gelangt. Inzwischen sah ich mich gezwungen, den Tatsachen ins Auge zu blicken: Die ständige Nähe zwischen uns manifestierte sich an allen Ecken und Enden. Partiell bedrohlich, fing diese Ausweitung unseres altgewachsenen Systems an, leichte Beklemmungen in mir auszulösen.

Eilig schob ich das Fenster hoch.

“Holmes. Da draußen herrschen arktische Temperaturen!”

Mein Gegenüber sah mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Ich nickte, drei Sekunden später war das Fenster zu.

Nicht lange und ich erwischte mich dabei, das Spiel an der Schiebetür zu wiederholen. Ich stand zwischen Gang und Abteil und wusste weder ein noch aus.

Eine Hand, Watsons Hand, legte sich von hinten auf meine Schulter, zog mich zurück, schob die Glastür in ihre vorherige Stellung und mich in meinen Sitz. Er setzte sich gegenüber, rutschte nach vorn, bis unsere Knie sich fast berührten und beugte sich vor, so dass ich unmissverständlich zum Objekt seiner diagnostischen Beurteilung wurde. Der Gegenstand meines eigenen Interesses war meine staubtrocken gewordene Zunge, die mit einem Mal an meinem Gaumen zu kleben schien.

Watson begann damit, eingehend mein Gesicht zu betrachten. Ich war versucht, ihn zu fragen, was er darin Interessantes zu finden gedachte. Ein Wortschwall aus Abwehr und Empörung wollte aus mir losbrechen, um diesem Etwas eine Begrifflichkeit zu verpassen, mich aus diesem diffusen Unbehagen zu befreien und ad hoc in eine vertraute Form zurückzubringen: auf den altverträglichen Abstand.

Ich ließ es bleiben, Mund und Glieder zwangen mich auszuharren, der bohrenden Betrachtung standzuhalten und Watson gab sich schweigsam.

Ich konnte mich nicht äußern. Statt mich anders hinzusetzen, musste ich dem lähmenden Gefühl nachgeben. Statt zu sprechen, konnte ich nur wie hypnotisiert zurückstarren. Er sah so anders aus. War da schon immer diese kleine Falte auf seiner Stirn? Woher kam auf einmal dieses Blitzen in seinen Pupillen? Wer war dieser Freund überhaupt? Unsere Blicke trafen sich und begannen, eigenmächtig Informationen auszutauschen.

Ich öffnete den Mund. Watson bewegte seinen Kopf, zweimal von rechts nach links.

Ich schloss den Mund. Watson bewegte seinen Kopf, zweimal von oben nach unten.

Es gibt Leute, auf die üben technische Details von Eisenbahnen und die Eindrücke, die man während ihres Einsatzes auf Schienen gewinnt, eine Faszination aus. Für andere ist das Zugfahren Mittel zum Zweck. Bei mir war es ein wenig von Beidem, als wir uns aus logistischer Notwendigkeit heraus frontal konfrontiert sahen. Ungewohnt innig. Ungewohnt fremd.

Die Geschehnisse während der Zugfahrt kamen dem eben noch vorherrschenden Fluchtimpuls auf ihre Art mit Hilfe zuwege. Ihm nachzugeben, war mir nicht möglich. Stattdessen konnte ich nur noch etwas Neuem, Eintritt in mein Empfinden gewähren. Etwas, wovon die Beklemmung alsbald überdeckt wurde.

Etwas weitaus komplexeres als eine zwanglose Unterhaltung während einer Reise auf Rädern hatte sich uns gezeigt, eine aus der Faszination geborene Neugier, gekoppelt an eine aus der Neugier geborene Faszination war der ungebremsten Auseinandersetzung freigegeben worden. Es öffnete sich das Tor, an das Fragmente unserer Körper- und Gebrauchssprache schon länger geklopft hatten. Der Weg zu neuen, ehrlichen Formulierungen war frei und wir sahen uns erstmalig in der Situation, dem anderen die Klinke in die Hand zu geben, um ihm die Sicht auf die eigene Strecke zu erlauben und die Mitnahme anzubieten.
 

Schließlich haben wir es zurück nach London geschafft. Wir haben die Route, ein gutes Stück weg von klar umrissenen physischen Leiden, dafür aber hin zu nicht greifbaren psychischen, unter der Bravour einer letztendlich nicht wirklich zur Sprache gebrachten Kernproblematik absolviert. Wir waren noch vorsichtig, zu vorsichtig, um so bald schon etwas Endgültiges, wie zu Gehör gebrachte Worte, über das, was wir gespürt hatten, sprechen zu lassen. Nunmehr nicht ganz ungelegen, wurde uns die abzuschließende Aufgabe zuteil, im Yard in traditionelle Muster zurückzufallen und zunächst der Auflösung des Verbrechens zu widmen.

Ich stand mit Watson im Büro und faselte meine Ergebnisse herunter, aber ich war nicht so einfältig zu glauben, er hätte meine Bemerkung im Zug überhört, sie für allgemeines Geplauder gehalten. Nicht, nachdem er mich mit seinem Kopfnicken angewiesen hatte, das Unaufschiebbare zu akzeptieren: die Thematik zu thematisieren.

Bis zu Hause bangte und hoffte ich tatsächlich gleichermaßen, dass er hellhörig geworden war. Dann leitete ich mir, mangels Kenntnisstand, meine eigene Ansicht her: Er hatte sich direkt angesprochen gefühlt und wollte Klärung. Warum auch Ruhe geben? So war Watson nicht. Es hat ihn gewurmt. Ganze drei Nächte, in denen er auf und ab lief, nicht ein einziger Abend, den er in der Baker Street verbrachte. Er ist durch feuchte Gassen geirrt, es war nicht sonderlich herausfordernd, die Handvoll Gastgewerbe zu benennen, die er garantiert betreten hatte. Die Hosentaschen irgendwann leer und den Kopf genauso voll wie vorher.

Mittlerweile habe ich ihn aussprechen gehört, was er für angebracht hielt: “Wir müssen darüber reden!”

Bereits zuvor hatte ich selbigen Sinngehalt vernommen, aus seiner offenen Gestik, aus seiner versteckten Gestik. In allen Gebärden hatte er gesteckt. Artikuliert hatte mein Freund sich kein einziges Mal.

Und so redeten wir.
 

Ich war damit beschäftigt, alten Tabak aus meiner ältesten Pfeife auf dem Kaminsims auszubreiten, um mich im Laufe des Tages der mikroskopischen Untersuchung der getrockneten Restbestände zu widmen. Viel mehr eigentlich, um mich mit irgendeiner Sache zu befassen, die mich fesseln konnte. Die mich nicht herausforderte, das anstrengende Schweigen zu überhören, in dem wir seit vierundsechzig Stunden mehr oder weniger festhingen, das künstliche Ignorieren, das uns zur Unterhaltungskultur geworden war.

Feste Schritte näherten sich hinter meinem Rücken, kamen unerwarteterweise dichter und wurden lauter.

“Ich muss es aus Ihrem Mund hören!” Die feste Stimme, die dazu gehörte, ließ mich herumfahren. “Sagen Sie mir alles! Jetzt! Ihre ganze verdammte Ansicht dazu, dass ich mich lächerlich gemacht habe. Verschonen Sie mich nicht und glauben Sie bloß nicht, dass ich nicht in der Lage bin, Ihre bissigen Kommentare einzuordnen, in eine hochmütige Belustigung über niedere menschliche Befindlichkeiten.”

Schock und Entsetzen umklammerten mich. Das war es absolut nicht, was ich glaubte, was ich glaube.
 

Die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr weiß, woran ich glauben soll. Mein einstiges Gefüge aus fest in mir verankerten Grundsätzen löst sich immer weiter auf, seit sich ein Messer darin gedreht hat. Ganz gemächlich hat es seine Spur gezogen, immer weiter, immer dicht an Watsons Handlungen entlang und immer noch, als die Klinge schon längst nicht mehr in mir steckte. Wie ein riesiger Splitter, unnachgiebig hindurch gebohrt, bis am Ende eine offene Wunde zurückgeblieben ist, hitzig und unbetäubt, deren Blutung sich einfach nicht stillen lässt Sie zieht sich von meiner Mitte bis zu meinem Kopf.

“Was genau gedenken Sie, mir mit diesem unangebrachten Vorwurf zu entlocken?”, fragte ich.

“Ich gedenke,…unangebracht?” Mein aufgebrachter Freund geriet ins Stottern. Aber er hatte wohl bloß Anlauf genommen, denn er kam bald auf den Punkt. “Strafen Sie mich Lügen, Holmes?”

”Gewiss.”

“Was ist das hier? Was war das auf der Rückfahrt?”

“Ich weiß es nicht”, sagte ich resigniert und senkte den Kopf.

Nur weil ich gewöhnlich keine Reaktionen auf Emotionen zeigte, hieß das nicht, dass ich keine kannte, keine hatte. Es waren zu viele geworden. Watson war das im Laufe der Zeit sichtbar geworden. Bis dahin war ich mir schon vor unserer Rehabilitationsfahrt im Klaren. Trotzdem ist er geblieben. Aus dieser Erkenntnis heraus blieb er wohl auch in diesem Moment.

“Wenn das neulich keine Erprobung meiner Toleranz war, müssen wir andere Hintergründe für definitorische Unklarheiten in Erwägung ziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das sehen wollen.”

“Wir? Watson! Wenn, dann sind seit jeher Sie derjenige, der solche Dinge erklärbar machen kann, Worte kennt für schwebende Zustandsbeschreibungen zwischen Himmel und Erde, die sich meiner Erfahrung größtenteils entziehen.”

“Zwischen Mann und Frau, ja, aber nicht…”

Er hielt inne.

“Ich weiß nicht, wo wir angelangt sind…“

Schlagartig nahm ich mich zurück, weil ich zu freizügig gewesen war und fühlte mich sofort wieder erschöpft.

“Sind Sie der Meinung, dass die Zwischenfälle im Cottage gar nicht dafür gedacht waren, im Zug Ihrem Sarkasmus zum Opfer zu fallen?” Er trat näher an mich heran. Ich konnte meinem eigenen leichten Unbehagen nachspüren. Seine Fragen klangen nicht seicht. Nur noch hart und fordernd. “Verhält es sich mit Ihren verqueren Zugängen zu sich selbst etwa so wie mit meinen,...”

“Das kommt darauf an…”, unterbrach ich ihn. Leichtes Frösteln ergriff Besitz von mir.

“…den konfusen Gefühlen eines Normalsterblichen für seinen unersetzbaren Freund!” Die Verblüffung, dass er die Regsamkeit seines Gefühlserlebens so klar zuordnete und mehr noch, sie hinausposaunte, muss mir ins Gesicht geschrieben gewesen sein. “Ach, gucken Sie mich nicht so an, wir diskutieren hier Mysterien, die sich Ihrer feinsinnigen Beobachtungsgabe doch schon lange vor mir gezeigt haben müssen!”

Wenn mir das kraftvolle Sprechen noch ab und an schwerfällt, ob aus Gründen schwächelnder Konstitution oder Bedrängnis, beschränke ich mich darauf, kurze Floskeln von mir zu geben, genau genommen gleichen sie dann wohl einem Hauchen. Wenn mir von der Person meines größten Vertrauens, die sich angriffslustig gibt, obwohl uns beiden klar ist, dass die Ursache für dieses Auftreten keinesfalls in einer Bösartigkeit begründet liegt, wuchtig Konfrontationen entgegen geschmettert werden, kommt es vor, dass sich meine Verwunderung in der auf ein Minimum reduzierten Lautstärke meiner Antwort niederschlägt.

“Seien Sie versichert, genau das meine ich.”

Er drehte sich um und ließ mich stehen.
 

Seit diesem Tag ist nichts mehr wie es war. Ich muss erfassen, was wir uns in dieser Unterredung eingestanden haben und dazu muss ich sie ergründen. Unaufhörlich frage ich mich, was meiner Betrachtung und Kontemplation entgangen ist, welche Situation diese problembehaftete Beziehung ins Leben gerufen hat, wo vorher nur freundschaftliche Absichten vorherrschten. Unweigerlich rückt eine Überlegung in den Vordergrund: War da tatsächlich etwas im hohen Norden, in der nackten Wirklichkeit des urgewaltigen Schottands, das dazu geführt hat, dass er auf meine Bemerkung hin so explodiert ist? Ich muss tiefer in mich hineinhorchen lernen.
 

Als mein ganzer Körper durch die Missstände in diesen elenden Zustand geraten war, so zerstört, dass nur das Nötigste realisiert wurde, weil mein Kopf nicht imstande war, etwas anderem die Aufmerksamkeit zu widmen, als der Vorbereitung auf die nächste Welle von Schmerzen oder der letzten nicht zu erliegen, spürte ich nicht nichts. Watson war mein ständiger Lotse, ein Teil von mir registrierte, wenn er irgendwo da draußen außerhalb des Bereiches auftauchte, auf den ich mich fixieren konnte und wie er immerzu irgendetwas Besänftigendes säuselte, mir Mut zusprach. All die schleppend verstreichende Zeit lang, bis ich unter seiner Anleitung endlich wieder Herr meiner Kräfte und Gedanken wurde. Weitere Erinnerungen fehlen mir. Ich habe Lücken. Und ich habe niemanden, der sie mir objektiv auffüllen wird. Zumindest das Wissen um zwei Episoden ist mir aber geschenkt worden:
 

Meine Beine hatten mir einmal mehr ihren Dienst versagt. So kauerte ich auf der Ottomane, krank vor Krampf und Kummer.

Meine Augen hatten das Zimmer noch nicht abgesucht, da sah ich ihn bereits, meinen wohlvertrauten Freund- und ich sah ihm einen Moment lang zu. Wie er mit wenigen Bewegungen, die eine gemeinhin vorhandene Zielsicherheit vermissen ließen, seine Tasche einräumte, Pinzetten und Kompressen sortierte. Ich sah ihn in einem anderen Licht damals, jede seiner Gesten war zögerlicher geworden, als noch am Tag zuvor. Als hätte er sich selbst auferlegt, sich keinen Zwängen von Uhrzeiten, Tag- und Nachtrhythmen mehr zu unterwerfen. Als er fertig wurde, sich niederließ und in alter Routine meinen Puls prüfte, war er nicht voll von den üblichen Mahnungen, sondern verbreitete eine innere Ruhe, in der ich mich getrost gebettet sehen und er überdenken konnte, was als nächstes nötig sei.

In der völligen Unaufgeregtheit, nach der zu handeln ihm seine Professur und seine Wesensart erlaubten, bekam ich das Gefühl einer zeitlosen Sicherheit vermittelt, als sei sämtlicher Druck von meiner Brust genommen worden, lediglich die Lider wurden wieder schwer. Ich meine, in dem Moment regte sich etwas in mir.
 

Wenn ich jetzt an seinen Ausbruch denke, bei dem er Dinge zur Sprache brachte, die ihn vielleicht damals schon beschäftigten, stelle ich ihn in Relation. Seine Impulsivität mutet um Vieles milder an, wenn sie unter dem Ausdruck seiner selbstgesetzten Priorität betrachtet wird. Einfach da zu sein, war sein Bestreben, aber sicher nicht halb so leicht, wie es klingt.

Einmal mehr streckte sich sein Arm aus, griff nach der Decke und ich merkte, wie er sie mir bis zum Schlüsselbein zog, soweit eine ihm zur Gewohnheit gewordene Geste. Seine linke Hand jedoch zog sich nicht nach altem Brauch zurück, sondern verweilte noch für fünf Sekunden. Er ließ die Hand unkommentiert auf mir liegen und ich ließ sie ihn liegen lassen. Ich nahm an, dass er mich zurück im Land der Träume glaubte und tat nichts, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Tatsächlich war es das Land der Verwirrung, in dem ich mich befand. Durchzogen von Schwere und Wärme war es eine Hand, die diesen Griff schon etliche Male getätigt hatte. Aber es war eine andere Art von Berührung, eine, die mein Interesse weckte. Hautschicht auf Hautschicht, abgetrennt nur durch den dünnen Stoff der Decke, war die Wärme alles andere als unangenehm.

Leicht irritiert wie ich war, wagte ich nicht, die Augen aufzuschlagen und seinen Gesichtsausdruck mit meinem Befinden abzugleichen, eine andere Absicht als die der Zweckmäßigkeit zu erkunden. Denn unweigerlich hätte ich eine Aussage darin gelesen, auf die ich hätte reagieren müssen.

Als ich mir endlich zutraute, meine Verstörung zu überspielen, öffnete ich sie und richtete sie direkt auf die Kaminuhr. Ich versuchte, die Zeiger Kraft meiner Willensstärke zum Stillstand zu bezwingen. Das war ebenso aussichtslos, wie die Illusion, mich dadurch ablenken zu können.
 

Konträr zu diesen ruhe getränkten Minuten schloss sich bald darauf an, was mir nur als Ausdruck seiner eigenen Zerrissenheit zu deuten bleibt, welche Watsons Weg in das neue Territorium ebnet.

“Tun Sie nicht so!”, fauchte er mich ein paar Stunden später an. “Ihr Körper kann sich nicht selbst reparieren, also laufen Sie nicht so viel im Cottage umher!”

Mein lieber Doktor war schon immer der Meinung, dass ich einen nachlässigen Umgang mit meiner Gesundheit pflegte.

“Kein Grund, zu dramatisieren.”

Als ich mich seinen medizinischen Auflagen widersetzte, weil ich mich ein wenig abzulenken und aufzuwärmen gedachte, wurde er über alle Maßen ungehalten, unterstellte mir, ich würde leichtsinnig mit meinem Leben hantieren, seine unermüdlichen Fürsorgen nicht länger ertragen und am Ende selbst mein körperliches Verrecken provozieren.

“Dramatisieren? So bezeichnen Sie das alles?” Fuchsteufelswild sah er plötzlich aus, die Wangen rot vor Zorn baute er sich im Türrahmen auf. “Spielen Sie nicht mit mir, Mr. Sherlock Holmes! Nie mehr!”

Erstaunt über dieses selten gezeigte Gesicht extremen Widerstreits ahnte ich bereits, wie mild ich mich vergleichsweise anhören würde, bevor ich den nächsten Ton herausbrachte und meine Annahme bestätigt sah.

„Ich spiele nicht, habe nie gespielt“, sagte ich betroffen und noch leicht rau und hoffte inständig, ihn im Ausbruch seiner aufwallenden Emotionen zu beschwichtigen. Ich wollte seine alten Kopfschmerzen nicht heraufbeschwören, zerbrach mir allerdings meinen eigenen Kopf. Wie konnte er das nur denken? Glaubte er etwa, ich wüsste seinen Einsatz nicht zu schätzen? Es war mir genauso ernst, ihn in der Nähe zu wissen, wie ihm. Wir wären beide des anderen größter Verlust.

Heute weiß ich, dass mehr dahinter steckte. Es war die blanke Angst, nicht nur seine an mich adressierte Wut, die er mir ab und an mit dem Vorwurf eines leichtsinnigen Patienten zuteilwerden ließ, sondern die Angst um etwas Größeres, vor etwas Größerem.
 

Nachdem sich der im Haus aufgezogene Sturm in seiner anschließenden Gefühlsentladung gelegt hatte, rutschte ich an der Kaminleiste hinunter. Ich fühlte mich erschöpft von dieser Detonation an Eindrücken. Was pochte da so heftig? Mein Herzmuskel? Konnte er sich nicht einfach eintakten, anstatt so hemmungslos zu pulsieren? Ich landete auf dem kalten Dielenboden, blieb sitzen und fing an, die Astlöcher zu inspizieren. Kreisförmige Aussparungen, denen sicher nie ein Mensch besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sich unsymmetrisch einfügten, wo sie schon immer gewesen waren und als gegeben hingenommen wurden. Wären sie nicht da, wäre es seltsam. Dann würde etwas fehlen. So war es auch mit meinem alten Gefährten.
 

Es dauerte nicht lange und ich spürte ihn neben mir, nahm leicht das Aroma des Essens wahr, das er vorhin für uns angerichtet hatte. Ich bildete mir ein, dass der Geruch aus seinem Haarschopf stieg und spürte die alte Ablehnung aufkommen, auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen.

Schulter an Schulter kauerten wir am Boden und starrten selbigen an, während mein leerer Magen zu revoltieren anfing. Ich richtete meinen Blick auf und lenkte ihn auf mein Inneres, wo ich den Gedanken an die nächste Mahlzeit weit von mir schob, um Platz zu machen, für diesen neuen Klumpen, der dabei war, sich wie ein befremdliches Kribbeln, ein Flattern, auszubreiten.

Seltsam. Aber durchaus nicht uninteressant, der näheren Analyse wert.

Mir war nicht mehr kalt, obwohl mich das Flattern zunächst erstarren ließ wie einen Eiszapfen Es kam ein wohliges Brennen hinzu, das mich an den fiebrigen Wahn erinnerte. Aus der dunklen Verschleierung untergrabener Eindrücke empor zu einer hellen Wachheit, der erschreckenden Realität ausgeliefert.

In diesen Stunden vereinbarten wir stumm, kommunizierten, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Mit keiner Silbe hätte der Schrecken über das was mit uns passierte, in Sätze gefasst werden können.

Es war die Vereinigung unserer Seelen, das, was die Körper noch aussparten. Wir rangen beide um die Bewältigung dieser Erkenntnis, die uns zu erschlagen drohte, dann aber Milde walten ließ und uns nur in die Lähmung zog.
 

Das sind die Bilder, die ich vor mir sehe, die nicht verblassen wollen. Rückblickend erkenne ich, was mir damals verwehrt geblieben ist, weil meine Wahrnehmung entweder zu benebelt war oder in dem Bemühen behaftet, Telegramme und Buchschriften auszuwerten. Beide Male hat Watson meines Erachtens recht eindeutig gehandelt. Ob willentlich oder nicht sei dahingestellt, heute kann ich sein Tun in den Kontext unserer Verstrickung einordnen.

Auch mich muss ich als Gesamtperson hinein ordnen, die wenigen Teile von mir, die noch außen vor sind und sich ambivalent fühlen.

Mich holt die mentale Wiederbelebung früherer Ereignisse ein, an ein ähnlich befremdliches Empfinden, welches mich in der Auseinandersetzung mit den Gefühlen um meine Hilflosigkeit schon einmal befallen hatte. Damals, nach dem Angriff auf ebenjenen Kompagnon, der sich unersetzbar gemacht hat. Der mir nicht nur mein Leben zurückgegeben hat, sondern mir auch seit jeher bei der Bewältigung assistiert. Und der sich immer weiter meinem Kern genähert hat, von deren Kompliziertheit er sich nie abschrecken ließ, sondern so lange seine schützende Hand darüber legte, bis er auf wundersame Weise weicher wurde. Aus Verbündeten wurde Verbundenheit.

Nun fühle ich mich zweigeteilt. Entgegen meiner Befürchtung ist durch seine Hinwendung das Phänomen entstanden, dass ich doppelt so vielen Empfindungen nachspüre, wie zuvor. Auch den schillernden.

Ich deduziere, dass seine Nerven seit Wochen blank liegen. Ich bin Schuld. In jeder Hinsicht. Und deshalb werden wir uns Zeit lassen. So wie wir Zeit und Mut und diese Kurreise gebraucht haben, zu unserem Eingeständnis zu finden, werden wir Zeit und Mut und vielleicht noch eine Reise brauchen, ein Einvernehmen über die Zukunft zu finden. Wenn nicht heute, dann morgen. Die Unsicherheit, die ich bei ihm sehe, wird überdeckt werden, jeder Tag spielt für uns.

Langsam, ganz behutsam, versuchen wir beide, uns dem zu stellen, was der Wahnsinn um das Hamperson-Geblüt uns hinterlassen hat. Wovon es kein Zurück gibt.

Bis dato observiere ich mich selbst. Ich muss mich erst anfreunden, mit der Vorstellung von einem neuen Freund. Mein alter bester Freund war mir immer genug. Ich habe keinen anderen Watson vermisst, bis zu dem Tag, an dem ich merkte, was mir gefehlt hat. Ich wollte es nicht wahrhaben, da war er bereits zur lebenden Perfektion für mich geworden.

Der erste Schritt ist gesetzt. Ich bin nicht der Einzige, der darüber erschrocken ist. Der gute Doktor war schon immer vorsichtiger als ich, weniger wagemutig. Was ihn zurückhalten lässt, diese Angst vor der Angst, ein neues Uns zuzulassen, ist bei mir die Furcht vor mir selbst und lässt mich vorsichtiger agieren als gewöhnlich.

Ich bin irritiert, aber mich treibt mein Wissensdurst, weiterzugehen. Er ist irritiert, aber ihn bremst seine Vernunft.

Er wird lernen, das Widernatürliche in eine Beziehung mit natürlichem Empfinden zu integrieren, sein Weltbild zu korrigieren. Man könnte auch sagen, das Außergewöhnliche. Und damit bewegen wir uns einen Schritt in seine Richtung, denn das Außergewöhnliche, das Gefahrvolle war es seit jeher, was ihn gelockt hat. Und das lässt mich an ihn glauben, dass er es schaffen kann, sein Erlebnishunger den Kampf gegen seine Prinzipientreue eröffnen wird. So wie er immer an mich geglaubt hat, erst recht nach dem Angriff und wie er lange zuvor gelernt hat, meine Marotten auszuhalten. Es wird noch weitere Wagnisse brauchen, gemeinsame Fälle vielleicht, aber keiner wird uns mehr zu Fall bringen als dieser hier.

Mein Freund ist auch ein Wettfreudiger. Ich bin ein Denker. Deshalb beziehe ich die These in meine Überlegungen ein, dass er mich einholen kann, dem Reiz als Erster erliegen. Und dann verwerfe ich sie, weil sie mich selbst noch ängstigt.
 

So oder so kann ich ihn nicht zu mir ziehen. Erstens ist es zu früh, es ist mir recht, wenn auch mir noch Raum bleibt, mich mit mir zu arrangieren. Anderenfalls überschwemmt mich die Furcht. Wenn ich sie nicht im Zaum halten kann, löse ich mich auf.

Ich muss erst ein Stück von mir wiederfinden, damit ich mich nicht verliere und mich stabilisieren, bevor ich mein neues altes Pendant dazu und für immer ganz in mir aufnehmen kann.

Und zweites würden wir beide ins Stolpern geraten, wenn wir im Fußmaß des anderen liefen. Meine verlässliche Logik ist zum ersten Mal in meinem Leben ein Scherbenhaufen und legt mir Steine in den Weg, die ich nach und nach beseitigen muss, abtragen wie Schichten aus Scheu und Unwissen. Er muss selbst hindurchgehen. Denn wenn ich ihn ziehen würde, würde der Mann, der mir am teuersten ist, Schaden nehmen, sich schneiden an scharfen Splittern. Er muss seine eigene Schrittfolge setzen, ich muss nur dafür sorgen, dass er unversehrt bleibt.

Meine Herleitung ergibt, dass eines Tages Bewegung reinkommen wird, zwangsläufig, das erfordern die Gesetzmäßigkeiten der Dynamik zwischen ihm und mir, davon bin ich überzeugt. So wie ich überzeugt davon bin, dass in die Entwicklung der photographischen Bildgebung Bewegung kommen wird, eine Patentierung von an Wände projizierten Lichtspielen, das ist der vorhersagbare Ablauf einer technischen Revolution. Erst jüngst haben wir darüber diskutiert, Watson wollte mir partout keinen Glauben schenken, dass sie sich reformieren wird.

Jetzt ist er zwar hier, aber momentan ist er unerreichbar. Ich kann mit ihm diskutieren, worüber ich will, er hat immer seine eigenen Argumente. Ich kann ihm auch seine Bedenken über uns nicht nehmen und er kann das Auslöschen der meinen nicht beschleunigen.

Irgendwann wird die glühende Hitze lange genug gebrodelt haben, um hervorzubrechen wie heiße Lava und aus dem Wunschdenken ein Stück Wirklichkeit zu formen.

Manchmal brechen schon Funken durch. Dann gehen wir an unsere Grenzen, die nicht fest genug sind, für immer unerschütterlich aufrecht stehen zu bleiben. Gedanklich noch weg von hier, von den Zwängen und der Enge der Stadt, aber schon nah genug an unseren eigenen Grenzen, die das Nahtoderlebnis zum Einsturz gebracht hat, erahnen wir, was wir sehen werden.

Die dunkelsten Ecken werden ausgeleuchtet und wir blicken auf das Wissen um die Gefahr, uns selbst weiter zu entdecken und dadurch entdeckt zu werden. Es wird nicht immer so beherrscht ablaufen, wie sich alles angebahnt hat.

Wenn ich die Augen schließe, weil die grellen Funken mich blenden, fühle ich seinen festen Griff. Beide dieser kräftigen Hände, die zu Watson gehören spüre ich an meinem Kragen, der mit einem Mal schnürt, obwohl er geöffnet ist. Dann sehe ich, wie ich ihn energisch zurück drücke und höre uns all das hinausschreien, was die grottige Schlacht der Emotionen heraufbeschworen hat.
 

Der Blick auf uns selbst ist ein anderer geworden.

Wir sind beide die Verlierer unserer Autonomie, die uns immer unangreifbar schien, und haben doch so viel gewonnen. Soweit bin ich immerhin schon mit meinen Prüfungsvorgängen, weitere werde ich anstellen. Wir kennen Menschen, die uns begleitet haben, die mir meine Eindrücke relativieren helfen, ob ich sie frage oder nicht. Ich werde akribisch vorgehen, bei allen Recherchen, damit ich nicht merke, wie viel Zeit vergeht, während ich bei jedem Zeigerschlag der Uhr die Hoffnung hege, dass er sich zu mir gesellt. Bald.

Wir werden einen Weg finden. Ich weiß noch nicht wie, aber ich sitze an einem Labyrinth aus Entwürfen und Theorien, die ich alle aufspare, damit wir sie abarbeiten können. Jede Stunde, die er bei mir sein wird, können wir damit verbringen, sie zu verwerfen, eine nach der anderen, bis sich die richtige aus der Reihe abhebt.

Eine wird am Ende übrigbleiben, sage ich mir und ich würde es auch ihm so gerne sagen. Und ich bestärke mich selbst in dem Glauben, dass er nicht die Alternative wählt, weil er es nicht aushalten würde, mich ziehen zu lassen. Es würde ihn zerstören und all das, woraus er in den letzten Wochen seinen Lebensmut gezogen und wohinein er seine Energie gesteckt hat. Er wird es nicht müssen.

Dr. Watson

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Inspektor Lestrade

Eine seltsame Stimmung ist es, die da herrscht. Man möchte meinen, sich inmitten eines kurz bevor stehenden Duells zu befinden, das Zentrum einer Federung aus Wortgefechten und Querelen zu bilden, unbeteiligt und doch hineingezwungen.

Ich war eben oben, in der gemeinsam geführten Wohnstätte der sich als Junggesellen ausgebenden Herren, um von meiner erfolgreichen Festnahme zu berichten. Aber von Gemeinsamkeit und Euphorie habe ich nicht viel gespürt. Mir wurde keineswegs in dem munteren Plauderton begegnet, den zu hören ich zur heutigen Stunde des Besuchs erwartet hatte. Eher angeschlagen. Holmes klang buchstäblich skeptisch Watson gegenüber und selbiger befremdlich missmutig.

Sie feinden sich nicht an, das nicht. Nicht laut. Eher subtil. Sie sind penibel darauf bedacht, nicht in derselben Zimmerecke zu verweilen. Fallen lieber mir ins Wort als sich gegenseitig. Einem Inspektor fällt sowas natürlich auf.

Möchte mal wissen, was da los ist. Hängt der Haussegen schief? Ich rieche die Lunte. Lagerkoller! Zu lange aufeinander gehockt? Irgendwie kann es das nicht sein, denn das tun sie doch im Grunde genommen schon immer. Ihre gegenseitige Gesellschaft bevorzugen sie seit jeher am meisten, ob körperlich beeinträchtigt oder kerngesund.

Schlechte Auftragslage? Ich hätte genug Arbeit, aber der grantige Blick des Doktors lässt mich innehalten, jedes mal, wenn ich dieser Tage davon zu sprechen ansetze. Ich muss versuchen, seinen Schützling allein zu erwischen. Kaum einer, der es mit Holmes aufnehmen kann, wie sich abzeichnet, seit sein exzentrischer Ideenwahnsinn in der Londoner Ermittlerbranche ausgefallen ist.

Einstweilen machen sich Lücken bemerkbar, dort, wo er nicht zur Verfügung steht. Hoffe doch, er ist bald wieder richtig hergestellt. Sind ab und an ein gutes Kriminalistenteam, der Herr Privatdetektiv und ich, der Polizeidetektiv. Zumindest dann, wenn ich einen Zuarbeiter von seinem Kaliber brauche, der meine Geistesblitze auch in die Tat umzusetzen versteht. Habe schließlich auch oft genug seinen Firlefanz an schrulligen Theorien erduldet. Na ja, irgendwie kamen wir doch meistens zu einer einvernehmlichen Lösung und das Resultat ist es ja schließlich, was zählt. Die Statistik meiner Inhaftierungen kann sich sehen lassen.
 

Wenn ich nur an den provisorischen Galgen in der Brick Lane zurückdenke, der hatte es in sich. Ich hätte beinahe auf Holmes' Mundart der Beweisführung zurückgreifen müssen, weil niemand von meinen Jungspunden kühn genug war, meinem methodischen Vorgehen enthusiastisch zu folgen. Stolzgeschwellter Brust kann ich berichten, diesen, meinen jüngsten Fall gelöst zu haben. Wies gewisse Ähnlichkeiten auf, zu einem anderen Delikt, bei dem Holmes mir einst unter die Arme gegriffen hat. Die Erinnerungswürdigkeit war nicht ganz unnütz in Hinblick auf ein paar Parallelen.

Das Jahr war noch jung gewesen, damals, der Tag noch keine fünf Stunden alt. Der Diwan, um den es ging, hatte dafür umso mehr Jahre auf dem Buckel. Edle Seidenstoffe von guter Verarbeitung standen im Kontrast zu seiner Abnutzungserscheinung und zierten eine Lehne, unter der sich das kleine Versteck mit dem kompromittierenden Schriftstück befand. Längenvergleiche von Bürste und Seifenlauge führten Holmes zur Dienerschaft, unter der sich dann die wahre Dame des Hauses zeigte. Im Kaminzimmer als falsche Zofe entlarvt, zog sie schließlich die Waffe, fließend in der Bewegung, als hätte sie nie etwas anderes getan- und belastete sich selbst. Ein Streifschuss traf meinen Uniformierten, der die Briefe aus dem Diwan gefischt hatte.

Holmes misstraute der Zofe von Anfang an. Er misstraut den meisten Frauen. Mehr als den Männern, soviel ist gewiss. In den edelsten Damen des Landes sieht er potenzielle Biester. Merkwürdig finde ich das, wo ich jetzt darüber nachdenke. Ich habe nie ergründet, warum das so ist. Aber es erklärt seinen Lebensstil.
 

Briefe. Immer wieder sind es Briefe mit inne stehenden Informationen, die Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen. So auch bei meiner Stippvisite, die zeitgleich mit mir eingetroffene Depesche machte die komische Atmosphäre nur noch unklarer.

Kaum, dass ich geklingelt hatte, als die Vermieterin zur Haustür geeilt kam. Die Tür war noch nicht zur Gänze geöffnet worden, da vernahm ich schon das flötende “Wen darf ich melden? Ah, Sie sind das, Herr Inspektor! Reichen Sie mir Stock und Umhang. Oh, Moment, da kommt der hinkende Bote mit einem Schreiben, adressiert an den Doktor. Nehmen Sie es gleich mit hoch? Und erschrecken Sie nicht über den verkohlten Dunst, der stammt nicht von meinem Braten, sondern von der heutigen Versuchsanrichtung, die noch nicht abgezogen ist!"
 

“Sie haben ihn geschnappt!”, wurde ich am Ende der siebzehn Stufen begrüßt. Zeit, mir Gedanken zu machen, woher Holmes schon wieder von meinem Tagewerk wusste, blieb keine, denn Watson nahm mir das Schriftstück aus der Hand und begab sich damit zur Lichtquelle. “Wo hat der Gauner gesteckt, in dem ausgebauten Eichenfass des River Inn oder südlich der Docks auf dem Dachboden des Vetters vom Pfandleiher?”, drängelte Holmes derweil und trat hinter einer Aufreihung Reagenzgläser hervor, in denen giftgrüne Substanzen schillernd leuchteten. Zwei Augenpaare richteten sich fest auf mich.

“Ich denke jetzt lieber nicht darüber nach, wer Ihnen das zugetragen hat”, erwiderte ich scharf und machte es mir zwischen Zeitungsblättern rechtschaffen bequem. Holmes bot mir kommentarlos mit der Kohlenzange ein angesengtes Mehlgebäck an, das ich, weil es eindeutig unter zu großer Hitzeeinwirkung gestanden hatte, knurrenden Magens zurückwies.

“Das beantwortet meine Frage nicht!”

“Hinter den Dachbalken.”

“Ha, ich hab´s gewusst!”

Holmes knallte ein zusammengerolltes Tagesblatt auf den Tisch.

Watson stockte kurz beim Studium seines Schreibens, vertiefte sich aber sogleich wieder darin und ich überlegte kurz, ob der Inhalt oder sein Freund ihm so sichtlich aufs Gemüt geschlagen war. Wahrscheinlich war er diese Art Temperamentsausbrüche aber gewohnt. Eher als ich zumindest, der nur zu Gast war.
 

Als er mit seinem Brief fertig war und erstaunten Gesichts das Blatt zusammenfaltete, wurde ich Zeuge einer Unterhaltung, die zu führen nicht den Anschein erweckte, als wenn meine Anwesenheit in irgendeiner Wiese hinderlich wäre. Holmes war ebenfalls involviert und wurde ebenso zunächst im Unklaren gelassen. Manchmal wirkte die Unterhaltung allerdings, als würden Bekundungen wohlwollender Gunst nur hinter einer gewissen Scharfzüngigkeit zurückfallen.

“Schlechte Nachrichten, Doktor?”, fragte ich nach.

“Ach wo, nur eine Anfrage von Dr. Coyle.” Ich konnte beobachten, wie er wieder das Gesicht verzog. In ihm spiegelte sich bei genauerem Hinsehen nun eine Art Genugtuung wider, vielleicht ein wenig Wohlgefallen. ”Nun, dazu später. Was gibt es von Hampersons und Helfern zu berichten?”

Holmes kam meinem Bestreben, nähere Ausführungen über die Festnahme preiszugeben, mit einer anders gearteten Frage zuvor. Ich will auch nicht ausschließen, dass ihm der Inhalt meiner geplanten Darlegungen sowieso schon bekannt war.

”Werden Sie zusagen, Watson?”, fragte er.

“Können Sie von da hinten über Kopf lesen?”

Sein Ton war etwas schroff angelegt, nicht so freundlich wie üblicherweise. Holmes hingegen ließ zwei kicherige, hohe Laute vernehmen, bevor er mitteilte: “Ich erkenne nur die Schriftneigung. Und ich kenne Coyles Intention.”

Wir wurden nun doch über den Brief aufgeklärt: “Ich soll ihm ein paar Wochen im Barts assistieren.”

“Sie können mir assistieren.”

“Ich assistiere Ihnen, wenn Sie wieder soweit sind, als Detektiv angefragt zu werden. Er ist sehr bald für einige Projekte auf der Durchreise und bleibt ein paar Wochen in der Stadt.”

“Warum hat er dann keinen medizinischen Helfer dabei, wenn er herumreist?”

Holmes ließ von nun an seine gewisse Lässigkeit vermissen, Watson zuckte die Schultern und wandte sich mir zu, um sich auch meiner Fragerei zu stellen.

“Was sind das denn für Tätigkeiten, denen Sie da im Amt seiner Assistenz nachgehen sollen?”

“Was eben so anfällt, es wird sich genug ergeben. Ich bin gerne gewillt, Beschäftigung auf neuem Territorium anzunehmen, das kann den Horizont nur erweitern, nicht wahr, Holmes?”

“Möglich. Ich bevorzuge, angerissene Studien an Leib und Leben erstmal zu beenden, bevor ich mich in neue flüchte. Variablen, ganz gleich welche, kann man vertauschen, wenn die Gleichung nicht aufgeht.”

Watson runzelte die Stirn und ich versuchte zu ergründen, was Holmes angetrieben hatte, so genau nachzuforschen, denn ich bemerkte wieder diese leichte Unstimmigkeit. So ging ich dazwischen, verbal und Macht meiner Körperpräsenz.

“Haben Sie ihm denn in der Highlander Klinik auch geholfen, Doktor?”

“Nein. Keine Gelegenheit. Leider”, wurde mir knapp Auskunft erteilt. “Ich konnte Coyles Behandlungsmethoden bisher nicht allzu oft beiwohnen. Meines Erachtens haben wir den Kurort sowieso viel zu früh verlassen, um die angestrebte kontinuierliche Stabilität zu erzielen. Wir hätten uns mehr Zeit lassen sollen. Und auch bekommen, wie ich anmerken möchte, wenn der Hamperson-Fall nicht mit einem Mal so dringlich aufzuklären gewesen wäre.”

Ich hörte ein Grunzen.

“Er war nicht mit einem Mal dringlich geworden, sondern vom Tag der ersten Konfrontation mit diesen rabiaten Ganoven an“, mischte Holmes, der sich angesprochen fühlte, wieder ein. Ausnahmsweise sprach mir sein vorlautes Mundwerk, das bei sich bietender Gelegenheit wie dieser selten still stand, aus der Seele.

“Das hier ist auch dringlich”, knurrte Watson, tippte auf seinen Zettel und machte sich auf, das Zimmer zu verlassen. Wie er uns mitteilte, wollte er seinen Kalender holen und zeitnah eine Antwort verfassen gehen. Wir blieben zurück, ich zog die Augenbrauen hoch, bevor ich ansetzte: “Also, Holmes…”

Er hob seufzend die Arme.

“Fragen Sie mich nicht…”

“Woher wissen Sie, was ich fragen wollte?”

“Weil es offensichtlich ist, wenn man Ihre Gedankengänge kennt.”

Kein Wunder, dachte ich eine Sekunde und das nicht frei von Gehässigkeit, dass der Doktor sich zurückgezogen hatte.

Ein leichter Zornesschauer überkam mich. Nicht nur, weil mir diese Durchschaubarkeit einmal mehr präsentiert worden war, sondern auch, weil es ihm sichtlich Freude bereitete, mich zu traktieren.

“Schön. Ich weiß nicht, ob mir diese Vorhersehbarkeit schmeicheln soll, aber ich frage Sie nicht nach Watsons Gemütslage.”

“Ich versichere Ihnen, ich habe keine Ahnung, warum er nicht in besserer Stimmung ist und muss gestehen, dass ich seiner Laune nicht folgen kann.”

“Nun ja…”, hörte ich mich stammeln. Ich begann, mir einen Zusammenhang zu dem Schotten auszumalen, der plötzlich zum Mittelpunkt allseitigen Interesses geworden war. “Ich will mich ja nicht einmischen, aber vielleicht tut unser Freund hier wirklich gut daran, sich auch mal wieder mit anderen Schicksalen als dem Ihren zu befassen. Er wirkt ziemlich angespannt durch all die Ereignisse, die seinen Einsatz erfordern.”

Schattierungen aus Unverständnis zeichneten sich auf Holmes' Gesicht ab und ließen mich ahnen, mit welcher Fehlbarkeit manche Befindlichkeiten vor Ort behandelt wurden.

“Sie meinen, er erscheint Ihnen durcheinander?”, bestätigte er meinen Verdacht durch seine nächsten Worte, getränkt in Ahnungslosigkeit. Ich war schon immer der Ansicht gewesen, dass er ein wenig Problemstellung bei diesbezüglicher Differenzierung nötig hatte, weshalb ich es mir nicht nehmen ließ, meinen Eindruck noch einmal zu beschreiben.

“Gefühlsmäßig bewegt, ja.”

“Nun, vielleicht hat er nicht solche Nerven aus Stahl, wie Sie, mein Guter. Aber vertiefen wir uns nicht in Mutmaßungen!

Warum schielen Sie über meine Schulter? Hat es Ihnen die Flasche angetan? Wollen Sie sich einen Schluck genehmigen? Keine Angst, das ist kein Produkt meiner eigenen Braukunst. Unser lieber Arzt ist auch schon die ganze Zeit erpicht auf das Öffnen dieses schottischen Tropfens, hat bloß permanent seine Schonkostverordnung verlängert.”

“Nein danke, bedauerlicherweise. Aber vielleicht, so habe ich tatsächlich gerade überlegt, sollten Sie ihm einen stimmungsaufhellenden Schlummertrunk anbieten”, schlug ich vor. “Bin selbst leider noch zwei Stunden im Dienst.”

“Noch zweieinhalb.”

“Ja, zweieinhalb. Dann werd ich mal wieder. Aber hören Sie, nehmen Sie ihm seine Entscheidung nicht krumm! Ihr Hirn gräbt ja regelrecht nach neuen Rätseln. Erstens habe ich sicher bald das eine oder andere für Sie und zweitens habe ich diesen Neuwissenschaftler auch ein paar Mal erlebt. Er scheint einen bleibenden Eindruck beim Doktor hinterlassen zu haben. Der stellt dessen umstrittene Fertigkeiten ja über die des gesamten Klinikpersonals”, versuchte ich, etwas Beschwichtigung herbeizuführen. Wie sich herausstellte, löste meine Bemerkung nur noch mehr Unruhe aus.

“Woran machen Sie das fest?”

“An meinem berufsbedingten Instinkt.”

“Dessen untrügliches Können sich worin niederschlägt?”

Ich dachte nach, suchte ein Beispiel. Sein konzentrierter Gesichtsausdruck ermutigte mich nicht gerade, irgendein beliebiges aus meiner Erinnerung hervorzukramen. Schließlich fand ich eins, das mir aussagekräftig schien.

“Sie waren bereits ein Weilchen im Barts, da sprach ich mit Watson. Viel Hoffnung, dass ich bald etwas aus Ihnen herausbekommen würde, hat er mir nicht gemacht und die, längere Dialoge über die Ecken und Kanten des Falles mit Ihnen zu führen, erst recht nicht. Allerdings habe ich gehört, was Sie sicher nicht gehört haben, jedenfalls sahen Sie nicht so aus…”

“Ersparen Sie mir die Details, Lestrade! Was ist mit Watson?” Ein scharfer Blick traf mich. “Worüber sind Sie stutzig?”

“Nun, nicht direkt stutzig. Aber die ganze Zeit hat er Sie gehegt und gepflegt. Und dann, eines Tages, hörte ich ihn fordern: ´Ich brauche hier Hilfe, ein Rückfallpatient! Ich will einen zweiten Arzt für Mr. Holmes, besorgen Sie mir Dr. Coyle! Und eine Krankenschwester, letztere rund um die Uhr, wenn ich mal nicht hier bin!´ Noch nicht mal mich hat er aus den Augen gelassen, als würde ich eine potenzielle Gefahr abgeben. Als ich Sie befragen wollte, stand er keine zwei Fuß neben mir, mit verschränkten Armen rückwärts an Ihre Liege gelehnt und soufflierte mir regelrecht per Augenkontakt, wie weit ich gehen durfte.”

“Was war mit Coyle?”

“Das war so ziemlich der Einzige, den er an Sie herangelassen hat. Und es gibt durchaus hoch qualifizierte Ärzte im Barts, Dr. Flammeryn und Professor Edge beispielsweise. Sie trafen ihn mal in der Pathologie. Das ergibt doch in einer Notlage keinen Sinn, oder?”

“Coyle war dann auch ständig um mich herum, sagen Sie?”, fragte er mich achtsam und mit, wie ich fand, auf einmal leicht blass getönten Wangen.

“Soweit ich das gesehen habe, ja. Nun, Sie kennen sich ja schließlich schon ein paar Jährchen, oder? Während Ihrer Bewusstlosigkeit haben Sie sicher versäumt in Erfahrung zu bringen, ob er zu den Quacksalbern übergetreten ist, wie manche ihn schimpfen.”

“Ganz recht. Wir haben ja wohl beide nicht die Profession, das zu beurteilen, Inspektor. Aber, sofern Sie einen triftigen Grund kennen, warum Watson nicht mit ihm zusammen arbeiten sollte, nennen Sie mir einen!”

“Den habe ich nicht, war nur so ein leichtes Gefühl von Missempfinden. Und ich dachte, das sollten Sie wissen, wo sich sein Assistentenangebot so ungereimt darstellt. Wollte Ihnen bloß einen Informationsvorschub leisten. Sie sind in dieser Hinsicht schließlich recht machtlos durch die damaligen Versäumnisse Ihrer Wahrnehmung.”

“Was soll das sein, ein gefühltes Missempfinden? Übersetzen Sie mir das! Sie sind Polizist, nennen Sie mir greifbare Fakten, wenn Ihnen welche vorliegen!”

“Oh, langsam, Holmes! Das war vielleicht eine ungünstige Wortwahl. Ich wollte ganz gewiss nicht zum Ausdruck bringen, dass…”

“Versprecher hin oder her. In jeder Aussage steckt ein Stückchen Absicht, nicht wahr?”

“Da müsste ich erst genauer drüber nachsinnen. Vielleicht gibt es ja auch gar keinen Grund für mein mulmiges Gefühl. Und wenn doch, nun, vielleicht spüren Sie irgendwann selbst einen auf.”

“Ich könnte Ihnen jetzt schon sieben nennen, die dieser Eventualität unterliegen.”

“Sieben? Nein, jetzt wirklich nicht, später vielleicht. Ich habe genug mit meinen Untersuchungen in der Brick Lane zu tun. Ich sollte endlich gehen. Wegen der anderen Sachen werde ich Sie kontaktieren, wollte Sie nur auf dem Laufenden halten. Und meine Eindrücke nicht vorenthalten.” Da mir in unserer Unterhaltung nicht entgangen war, wie sein Gefährte zum neuen Opfer seiner gesteigerten Neugier posiert war, blickte ich mich noch einmal um. Ich suchte nach möglichen Anzeichen einer hier geführten illegalen Beziehung, während ich zum Abschied an meine Hutkrempe tippte. Der Raum sah allerdings unverändert aus und bedenklich liebevoll waren seine Mieter auch nicht miteinander umgegangen, weitere Hinweise entzogen sich meiner Kenntnis. Davon ganz abgesehen, war ich zu beschäftigt und nicht gewillt, dieser These heute noch weitere Beachtung zu schenken. “Und…”, setzte ich deshalb zur Verabschiedung an.

“Ja?”, fragte Holmes, ließ sich auf dem Sofa nieder, zog die Füße vor die Brust und griff nach dem Whisky.

“Meine besten Grüße an den Doktor.”

“Ja, ja, Lestrade. Ach, und nebenbei bemerkt, waren es Winkel und Schnittlänge der Fingernägel, die auf die schlecht ausgeleuchtete Dachkammer gedeutet haben.”

“Wie meinen?”, fragte ich in der Hoffnung, den Zusammenhang zu meinem Fall noch genauer erläutert zu bekommen. Vergebens, er inspizierte bereits Etikett und Inhaltsstoffe. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Holmes

Immer noch ist er derjenige, der sich scheut, entrückt ist. Interessanter Fakt, wenn man bedenkt, dass ich der Grund bin, der ihm zu schaffen macht. Und interessante Wendung. Er war ganz unten, hat den totalen Zusammenbruch erlitten, mich angeschrien und abgewiesen. Mich begehrt. Es war heftig. Er war heftig, mein lieber Watson.

Wenn er so unzivilisiert auftritt, erkenne ich ihn nicht, unbarmherzig expressiv mit seinen Vorstellungen posierend, unverschnörkelt und rein. Obszön angelegte Begrifflichkeiten ohne übrigbleibende Interpretationsfreiheit in den Raum werfend, im Zeigen seiner Impulse regelrecht nackt.

Wie man die getätigte Beobachtung auch deutet, Tatsache bleibt, er hat es geschafft, alles herauszulassen, was an Aufgebrachtheit in ihm steckte. Ungebremst. Ganz ohne Tabu. Ohne Alkohol, ohne Kanüle sowieso.

Ein grandioses Rückgrat besitzt dieser Mann. Er war in der Lage, mir seine Schwächen einzugestehen, wenngleich noch nicht, sich seine eigene Fehlbarkeit zuzugestehen. Er ist sich selbst zuwider.

Seitdem er sich mir gezeigt hat, ist er ruhiger, weniger nervös, guckt nicht mehr so finster. Ich habe ihn absichtlich herausgefordert und mein Plan ist aufgegangen. Er hat sich entladen, würde der chemikalisch Gelehrte kundig dozieren.

Ist der Weg nun frei oder treibt der Schwelbrand eine unsichtbare Kluft zwischen uns?

Ich will zwar keinen zweiten Ausbruch riskieren, denn Temperament ist etwas Gefährliches und Menschen, die sich nicht im Griff haben, die das Begehren überkommt, sind unheilvoll, verschreckend und bedrohlich. Aber ich bin geneigt, im Zweifelsfall eine Wiederholung zu akzeptieren, seine Wut auf die Falle, in der wir sitzen, noch einmal auszuhalten, damit er ihr Luft macht. Soll er toben, mit seiner Tür knallen, anstatt sich leise an der meinen vorbei zu drücken. Diese unlaute Botschaft, alles dafür zu geben, nicht gehört zu werden, brennt mir in den Ohren. So kann ich ihn nicht einordnen, nicht vorhersagen, ob er sich provoziert fühlt, er etwas Unbedachtes tun wird.

Die Künste sind es, die die Liebenden besingen, ihre Qualen beschreien. Die Königsdisziplin der Kunst ist es, den Mittelweg zwischen meinem Angebot und seinem Annehmen unserer geistigen Vereinigung zu finden, zwischen seinem nötigenden Drang und meiner respektvollen Vorsicht vor dem, was in vorhersehbare Weise seinen Platz in der Reihe der natürlichen Ordnung der Dinge wäre: der körperlichen Besiegelung zweier ohne einander verlorener.

Explodiert er ein weiteres Mal, bin ich vorbereitet. Dann habe ich einen Grund, aktiv zu werden, die Detonation der Zerrissenheit umzuleiten. Noch muss ich mich in Geduld üben, prüfen, ob das Aushalten ein Ende unseres zermürbenden Tanzes verspricht. Solange werde ich die Spannung konstruktiv umzuwandeln versuchen, denn nutzlos herumzustehen, ist mir nicht gegeben. Ich kann derweil die Begriffe, die auf meinen besten Freund zutreffen zerpflücken, bis ihre einzelnen Komponenten in ein System von Rationalität und Verstand passen: zweites Ich? Angebeteter? Sagt man nicht so?

Ich nehme so vieles an ihm wahr. Und an mir. Ich überrasche mich selbst bei dem Versuch, alles davon in mir aufzunehmen, um es zu ergründen, wie dieser Undefinierbare wohl sagen würde. Und, um es eines Tages vielleicht ganz anzunehmen, wie ich mir sage, mit allen Konsequenzen.

Ich sehe das alles. Ich sehe bekanntermaßen scharf. Ich sehe, wie Watson sich in der Episode einer depressiven Verbitterung gefangen fühlt, dass er bemüht, ist, um Zugeständnisse herumzuschleichen. Wie er sich behutsam vortastet, entlang der Wände dieses Sicht-getrübten Tunnels, der zwei Ausgänge hat. Einen Schritt stolpert er vor, zwei zurück, bis es ihn erneut in Stücke reißt. Daraus schließe ich einen erfassbaren Grad an Skepsis, seine Annäherung noch sichtbarer zu machen, wo die Überzeugung im Inneren bereits kocht, auch das sehe ich. Er würde sich rigoroser verhalten, hätte er sich zu hundertprozentiger Quote gegen uns entschieden.

Auch ich setze kleine Schritte, reiße zudem an mich, was ich an Fakten zusammenraffen kann. Lauere auf seine Zeichen, Bedenken, die er offenbart, wie seine Ehrfurcht vor der Gesetzeslage. Entdecke ich eins, triumphiere ich, es ist mir ein aufgedecktes Motiv. Dann habe ich etwas in der Hand, um der Unbeholfenheit etwas entgegensetzen zu können und mir einen Gang in ein interessant verstricktes Forschungsfeld, in sein diffiziles Befinden, zu graben.

Wenn er dann und wann etwas rauslässt, ist er geradliniger als sein Schreibstil vermuten lässt. Der alte Romantiker übertreibt es gerne auf dem Papier. Ihn selbst zu beschreiben, braucht es keine verspielten Metaphern, wie diese aus seiner Feder stammenden Überzeichnungen. All die Worte, die er nicht in den Mund nimmt, landen kontinuierlich in einem Topf voll Niederschriften.

Nun quillt das ganze Übermaß aus ihm heraus. Und er zieht sich zurück. Hält sich für einen Versager, weil er keine Distanz mehr halten kann, zu mir und zu mir als seinen geschundenen Patienten. Schiebt seinen überzogenen Selbstanspruch und sein Berufsbild vor. Hat ein Ehrgefühl, das nicht zwischen uns passt, dabei kann man doch offensichtlich von einer ganz fundamentalen Entdeckung ausgehen: Wenn schon, dann bin ich der Versager. Die unwiderbringlich festgeschrieben geglaubte Schmelztemperatur meiner vereisten Emotionalität hat versagt, jämmerlich gescheitert bin ich, an meiner Kontrollfähigkeit. "Meine Güte", würde auch er jetzt sagen, "Holmes, Sie haben Größe bewiesen, über Ihren eigenen Schatten zu springen." Warum nur, kann er sich diesen Sprung selbst nicht zugestehen? Ich stehe bereit, seine Landung abzufedern.
 

Nachdem der Brief mit Coyles Ersuch eingegangen war, verkrochen wir uns in die Schweigsamkeit der Sessel. Mit Alkohol-getränkter Zunge wagte Watson sich vor, testete eine erste Reaktion. Er artikulierte nicht mehr und nicht weniger als meinen Namen, rückversicherte sich meiner Bereitschaft mit nur einem Wort, das alles sagte. Etliche Male ausgesprochen und dennoch fremd klingend, von der Artikulation bis zum Nachhall. Mein Freund erlaubte sich, ihn vor einem anderen Hintergrund auszusprechen. Nicht vorwurfsvoll, aufrufend oder fragend, wie meist. Vielmehr, als benenne er etwas, das näher zu erfassen ihm gelingen würde, wenn er es mit den Lippen ausformte. Soll er. Soll er mich so oft rufen, wie es nötig ist, wenn es hilft, das Unbegreifliche zu akzeptieren.

Begonnen hat es damit, dass er sich in mein persönliches Zerwürfnis geschlichen hat. Aus der Notwendigkeit meiner Verunsicherung heraus, war er bestrebt, in meine Gedankenbahnen zu dringen, sie zu begradigen und meinem Fühlen in Bezug auf den Überfall, der uns vor unserem Haus ereilt hat, die Schwere zu nehmen. Als ich damals gegen mich selbst angetreten bin, zeigte er sich unermüdlich, zusammen mit mir in Korrektur meiner eigenen Norm zu gehen. Nicht einer komfortableren Umgänglichkeit mit ihm auf engstem Raum wegen, nicht um seinetwillen. Einzig um mein Seelenwohl zu potenzieren, rückte er immer wieder heran.

Die Erkenntnis über diese ringenden Bemühungen, all seinen Mut, sein bedingungsloses Engagement, mich zu lehren, wie ich einen Zugang zu mir und der Verzweiflung bekomme, war mir so suspekt, dass ich eingangs wie über einen Störfaktor darüber urteilte. Nein, ich versuchte mir einzureden, dass es einer sein musste, ein abzulehnender Störfaktor. Bald, als sich dieses mulmige Etwas in mir zu verändern begann, gestand ich mir ein, dass es nicht ganz so war. Welcher Prozess lief da ab, einer der den Gesetzen von chemischen Substanzen, Verbindungen und Reaktionen folgte? Das erregte mein Interesse. Anfänglich hat die Beschäftigung damit wie ein Gewächs aus fernen Tropen geschmeckt, bitter und verboten. Dann mit einem dieser süßlichen Aromen unterlegt.

Diesen Beschützerinstinkt, den er mir gegenüber auslebt, ich weiß nicht, ob mir das schmeicheln soll. Es ist auch hinfällig, ob es das tut, denn er hat sich schon immer aufgeführt wie ein überbehütender Schutzherr. Ich bin kein unmündiges Subjekt. Er aber fährt die Krallen aus, sobald mir jemand nur ein Haar krümmt und rezitiert mir seine eigene Litanei an Mahnungen bezüglich meines Körpereinsatzes und besser auf mich Acht zu geben.

Über kurz oder lang ist er zum maßgeblichen Hüter meiner außen- und inne liegenden Schwachstellen geworden. Achtsam wacht er über meine Gemütszustände, als hätte er nie etwas anderes getan, als würde jedes Kippen den nächsten Verbrecheraufstand heraufbeschwören. Watson ist das wahre Genie hinter unseren Türen.

In der Hinsicht weiß er wirklich, was er will und wie er seine Hartnäckigkeit ausspielt und einmal mehr sein Bemühen darauf auszurichten, mir aus meiner Debatte mit mir selbst zu helfen, weil das ebenso an seine Vorstellung von Gesundheitspflege grenzt wie das Flicken von Fleischwunden, dieses mit sich im Reinen zu sein.

Und jetzt knickt er selbst ein! Blanke Hingabe ist es, die er für mich empfindet, so stark, dass sie ihn zermürbt. Hingabe auf allen Ebenen des schwachen willigen Körpers.

Zum ersten Mal bin auch ich jemandem so zugetan, nahezu...verfallen. Nun ja, der lapidare Schluss ist nahe, dass dieser untrügliche Fakt darin begründet liegt, dass mir noch nie jemand wie Watson begegnet ist oder jemand, der es annähernd mit mir ausgehalten hätte. Und ich erlaube mir zu untersuchen, was ich mir früher verboten hätte: ob da noch mehr existiert zwischen Himmel und Erde als die Dinge, die aus kühner Erklärbarkeit naturwissenschaftlichen Studien zugrunde liegen. Eine geheimnisumwobene Ebene, geboren aus einer unvollendeten Erfassbarkeit, eine globale Wissenslücke, die sich auf Rudimente gründet. Trotz aller Einflüsse auf die menschliche Kühnheit, nicht weniger reizvoll.

Für das andere Geschlecht habe ich noch nie viel übrig gehabt. Mein Partner schon. Für ihn ist es die Umstellung von weiblicher Raffinesse zu männlicher...tja, was? Ich sollte es vielleicht unbefleckt -Gesellschaft- nennen. Für mich ist es die Umstellung von einem Sich einlassen auf mich selbst auf das mit einer weiteren Person.

Einige Frauen haben meinen Weg gekreuzt. Alte, als ich jung war und jüngere, in deren Gegenwart ich mich alt fühlte. Sie glichen einer Schar scheinheiliger, falscher Heuchler, zumindest eine beträchtliche Anzahl unter ihnen. Entweder sie sind es oder sie lassen mich glauben, dass sie es sind. Diesseitig ist mein Bedarf gedeckt, kein furchtloses Miteinander mehr zu forcieren. Sollen sie auf ihrer Seite bleiben, mich beeinflussen sie im sachlichen Denken: Strukturieren, abstrahieren, begreifen.

Der stattliche Soldatentypus im Nebenzimmer, dessen angeraute Vergangenheit in kaltblütigen Schlachten geschliffen wurde, ist im Vergleich zu diesen Frauenzimmern rein. Gerade schmutzig genug für mich und mein Berufserfordernis, das Wühlen im Elend und am Abgrund. Standfest und hemmungslos unerschrocken beim Erkennen und Benennen aller erdenklichen Befindlichkeiten, aber labil, was seine Affinität für einen Mann betrifft. Womöglich hat er sich ausprobiert, als er einst inmitten der überfüllten Lazarette hausierte, Erfahrungen an der Front gesammelt. Ich habe mich noch nicht daran gemacht, seine Betätigung in dieser Richtung näher in Augenschein zu nehmen, zumindest nicht bis ins winzigste Detail.

Wie das besagte Objekt meines Interesses mich bewertet, weiß ich hingegen ganz genau. Mir wurde rückgemeldet, ich wirke bedrückt auf ihn. Verloren und verunsichert. Enttäuschte Blicke saugten den letzten Funken Willenskraft aus ihm. Watson sagt, ein Teil von mir sei auf eigenartige Weise zahmer geworden. Früher behauptete er immer, ich sei rebellisch. Mag sein, dass er recht hat und mich nicht nur geprägt. Für meine Begriffe war das, was er mir unter Einfluss des Whiskys geschenkt hat, sein eigener rebellischer Auftakt. Dieser ungekünstelte Blick, den er sich in vollen Zügen an Getränkes statt auszukosten erlaubte. Lüstern und offen zog er sich an meiner Statur entlang, von oben an den Haarspitzen, die zu berühren es ihn in den Fingern zuckte, bis unten, wo mich dieselben Füße tragen, auf denen ich einen Monat zuvor wohl noch davongelaufen wäre. Ich bin nicht prüde, aber diese intimgeschwängerten, mit Nähe gefüllten Zusammenkünfte lassen mich zurückfallen in alte Zurückhaltung- jedoch längst nicht mehr zyklisch.
 

Am heutigen Morgen war es wieder einmal nicht zum Aushalten. Unfassbar, wie er das macht. Ich möchte in mich hineinleuchten, um die Zusammensetzung physischer Erregungszustände knüpfen zu lernen. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, der, einen Tag nach seinem Zusammenbruch, meinen Denkapparat und mein Blut in Wallung brachte, kaum dass er den Raum betreten hatte. Mit strikter Linientreue einfach zur Tagesordnung übergehend, sich nicht drängen lassend, versuchte er krampfhaft, seine Fassung zu wahren. Indem er festhielt an alten Strukturen. Nichts weiter als Strategien, die ihm Stabilität gaben, waren das. Künstliche Stabilität.

Wir nahmen Platz und wie immer, wenn ihn etwas erzürnt, rollte er die Zeitung und legte sie an der Tischkante ab. Zudem verschüttete er das Salz, ein bis zwei Prisen. Er verschüttet nie etwas, er führt eine ruhige Hand, mein Doktor. Ebenjene, seine Hände, zogen meine gesamte Aufmerksamkeit. Ich war fokussiert auf ihre Ausdrucksweise, eine Diktion, mit der sie von einer Kraftintensität erzählten, die sonst keine Zielgenauigkeit vermissen ließ. Ich konnte nicht anders.

Ist Watson verärgert, fragte ich mich? Über sich, weil dieses verwirrende Emotionsgeschwanke über ihn hereingebrochen ist? Über mich, weil ich ihm mit meiner konfrontierenden Anwesenheit Grund für seine düstere Wut liefere? Etwas in der Richtung konnte ich lesen, aus dem, wo nichts weiter stand, als dass ich ihn besser in Ruhe lassen sollte, nicht auch noch als Galan titulieren. Einer fixen Annahme nachgehend, würde ich denken, der Gute war beschämt. Worüber, kann ich nur mutmaßen, ist er doch noch nie der Gewissenlose gewesen. Aber weiter im Text. Leise dabei, besser, ich behalte den Flüsterton meiner Gedanken bei. Ich vermute nämlich, dass da noch etwas ist, seit er so eifrig sein Interesse an Coyles Angebot bekundet hat. Watson sucht meine Gegenwart, zugleich sucht er mich zu meiden- er flieht.

Und Coyle zieht ihn, er ist Mann seines Faches genug, um zu erkennen, was mit dem armen Watson los ist. Ich schließe nicht aus, dass er es sich seine innere Zerrissenheit zunutze machen wird, sobald er wieder leibhaftig neben ihm im Operationsraum steht. Dieser nüchterne Schotte passt in die karge Umgebung seiner Heimat. Er versteckt etwas, eine Geschichte inmitten der weitläufigen Berglandschaft.

"Wie ich folgere, werden Sie übermorgen wieder im Barts anfangen", brachte ich ein neutral ausgerichtetes Frühstücksgespräch in Gang und glaubte, dass mein Gegenüber es dankbar teilen würde. Er belehrte mich eines Besseren.

"Wie Sie folgern? Holmes, das sind meine Unterlagen! Lassen Sie mir mein Leben, um Himmels willen!"

"Schön, schön."

Er schob das kaum benutzte Geschirr beiseite, vom Essen, das für uns gedacht war, hatten wir wenig angerührt. Dann verschob er seinen Stuhl, indem er ihn leicht anhob und platzierte sich akkurat, direkt dahinter. Wieder waren es seine Hände, die mich über sein Ringen, am Althergebrachten festzuhalten, aufklärten. Auf Augenhöhe mit mir in sitzender Position umkrallten sie fest die obere Strebe der Lehne, während die Person dahinter, völlig konträr diesem kraftstrotzenden Bild, abgespannt und mit leichter Reue in der Stimme, Milderung anzubieten suchte.

"Nun, Holmes, ich ersuche Sie inständig um zwei Dinge: Unterlassen Sie für den Moment die nähere Analyse meiner Ausfälle, Sie würden sie sonst einer Wertung unterziehen und ich könnte es nicht ertragen, mehr als nötig damit konfrontiert zu sein." Er setzte noch einmal an, wurde leiser. "Zum zweiten möchte ich Sie um Verzeihung bitten. Es tut mir leid, dass ich die Fassung verloren habe und was oben in meiner Kammer geschehen ist. Wenn ich Sie verletzt und verstört habe mit meinem Ausbruch, kann ich mich nur wiederholen. Ich bin nicht ich selbst. Verzeihen Sie mir meine rauen Worte."

"Ich verzeihe Ihnen Ihre Worte", setzte ich ihn umgehend ins Bild. Sein Brustkorb hob sich erleichtert", aber nicht die Selbstgeißelung darüber, dass Sie als Mediziner Ihren Kopf in der Schlinge sehen. Das ist es, wohin die Schwachstelle gesellschaftlicher Normen uns zu treiben vermag! Sie sind zerteilt und wenn Sie es zulassen, werden Sie zertreten. Wo ist der Soldat in Ihnen, der das Risiko sucht, nicht, es zu umgehen? Unter Skepsis betrachtet decken Ihre emotionalen Bedürfnisse sogar..."

"Zu analytisch, oh, verschonen Sie mich heute damit! Nur weil ich Sie gekränkt, so grob von mir gewiesen, habe, braucht es keine zusätzlichen Rechtfertigungskomplikationen."

"Sie haben mich nicht gekränkt, mir nur aufrichtig den wahren Zustand Ihres Erlebens präsentiert. Und nur deshalb und aus seiner quälenden Botschaft heraus, erlaube ich mir überhaupt, zur Sprache zu bringen, was in Ihnen lodert, wogegen Sie sich sperren."

Mittlerweile ruhelos hielt mich nichts mehr auf dem Stuhl, ich erhob mich ebenfalls.

"So einfach ist das nicht." Er trat von seinem Sitzmöbel weg, stand ohne Stütze da und wandte sich in Erklärungsnot. Sein Blick lief an mir vorbei. "Ich bin nicht empfindungslos", begann er sich überflüssigerweise deutlich zu machen, was auf der Hand liegt, sobald man auf Watson trifft. "Es geht hier um etwas, dass Sie nicht für uns zu berechnen versuchen sollten, um verzwickt komplexe Muster." Es folgte eine Pause, ich zählte: 21, 22... "Bedürfnisse. Ängste. Bedrängnisse und Forderungen."

Die Anspannung reizte mich, meine Kopfhaut begann schon leicht zu brennen.

"Das ist mir bekannt. Was mich betrifft, fordere ich nicht. Das sagte ich bereits. Ich trete lediglich den Rückzug an. Lassen Sie mich vorbei, ich muss zur Bibliothek. Und zum Yard!"

Der verdammte Salzstreuer fiel um. Wer hatte den versilberten Kappverschluss von dieser stilwidrigen Kristallflasche geschraubt und diese dann, im Ausdruck instabilen Halts, schräg angekantet am Untersetzer stehen lassen, anstatt sie in die Menage zu hängen? Keiner bemühte sich, aber es war klar, dass Watson das irgendwann richten würde. Er hinterlässt keinen Dreck. Nie lässt er schmuddelige Dinge zurück, solange er die Chance hat, seine Hände rein zu waschen.

"Was soll denn das, Holmes? Was wollen Sie auf einmal beim Yard, etwa jetzt schon einen neuen Fall annehmen?"

Es wäre töricht gewesen, ihn näher in meine Absichten einzuweihen und darüber, warum der Plan über meinen anstehenden Besuch beim Inspektor Prämisse hatte, gleichwohl nichts mit irgendeinem Auftrag zu tun. Ich musste dringend einer Vermutung nachgehen, die einige Stunden hintenan gestanden hatte und von der er nichts erfahren durfte. Punktgenau meldete sich mein altes Stechen unterhalb des Rippenbogens.

"Selbstverständlich werde ich neue Fälle annehmen", antwortete ich nüchtern und schielte noch einmal umher, vordergründig auf die Patina des Gewürzglases. Unweit davon entdeckte ich das, wonach ich gesucht hatte: ein Gesicht voller Fragen.

"Ja, natürlich werden Sie arbeiten, was wohl sonst? Der Geist braucht neues Futter, komplizierte Raube, vertrautes Terrain wie Einbrüche und Morde", zischte er mich an.

Obwohl ich es nicht guthieß, konnte diesmal ich kaum an mir halten. Ich war derjenige, der aus Höflichkeit und Zurückhaltung ausbrechen musste, allesamt unpassend, da sie hier nicht realisierbar waren. Über seine widersprüchlichen Gebaren aus abweisenden und annähernden, provozierenden und entschuldigenden Insistierungen und der daraus resultierenden Irritationswirkung wurde ich unwirsch. Nun war es an mir, das richtige Maß dessen zu finden, wieweit ich ihn gewährenlassen konnte oder wo ich noch heute Positionierung anstrebte.

"Watson!", machte ich mich so deutlich, wie es mir nur die Aussicht auf den gebahnten Fluchtweg gestattete. "Abschließend! Was wollen Sie?" Ich bekam keine Antwort, hob demzufolge meinen Blick und erntete dafür einen unglücklichen, der mir mit altbekanntem Selbstverständnis an Offenheit gezeigt wurde. Ich riss die Zimmertür auf und wies Mrs. Hudson an, eine Kutsche zu ordern. Dann drehte ich mich ein letztes Mal zurück. "Wählen Sie!"

"Für alle Zeiten, Holmes, gewiss nichts anderes als Sie!" Mit hängenden Schultern wandte er mir den Rücken zu, verblüffenderweise, ohne sich an die Beseitigung des Unrats auf dem Tisch zu machen und verschluckte beinahe die letzte Silbe, als er murmelte: "Es macht mich rasend, aber ich schaffe es nicht."
 

Das Justizsystem lyncht einen. Unser Gesetzesvertreter, unser allwissender Inspektor, ahnt nichts. Er traut sich nicht zu ahnen. Es würde ihn seiner zwei gern beanspruchten externen Helfer berauben, wenn die Intuition über ihr illegales, im Prozess des Knüpfung befindliches, Band ihm recht gäbe. Passt man nicht auf, passt man nicht in die Legalität, wird man das Zuchthaus von innen zu sehen kriegen. Watson ist sich dessen sicher, dass es so kommen wird, eines Tages. Der Doktor lebt mit diesem Wissen. Er würde sogar dafür sterben. Er ist nur noch nicht so weit, das Wissen gänzlich zuzulassen. Aber er wird nicht damit leben können, dass er nicht versucht hat, sich dem Äußersten auszusetzen, um das Möglichste für das Stillen seiner Verlangensphantasie zu riskieren.

Für seinen Medizinerkollegen und dessen unlaute Interessenlagen bilden wir eine interessante Objektstudie. Der guckt genauer als Lestrade, den ich von uns abzulenken versuche, anstatt wie gewöhnlich seinen Blick auf meine Sichtweise zu richten. Des Inspektors Sticheleien lassen nicht mehr viel Raum für meinen Spott, auch wenn er Coyle für unehrenhaft hält, war das, was er mir über ihn erzählte, in der Tat beunruhigend.

Ich muss auf uns aufpassen. Für jemanden wie diese zwei, oder für jemanden wie Mycroft, der findig und mächtig ist, verdichten sich die Hinweise auf Watson und mich. Mein Bruder wünscht mich im Laufe der Woche zu sprechen.

Sie ist verschwunden, die Festigkeit, die immer in Watsons Stimme gelegen hat. Die mich irgendwie erreicht hat, als ich nicht bei Sinnen war, und lediglich von Mrs. Hudsons zitterndem Singsang abgelöst worden ist, wo ich ihn nicht ausblenden konnte. Der ruhig-bestimmte Ton, der mich immer gelotst hat, er fehlt nun.

"Nichts ist gut, Holmes", sagte er kürzlich mit genau diesem Ausdruck von Wankelmut. "Ich mache mir Gedanken", ein andermal.

"Gedanken? Um die Geheimhaltung unseres Geheimnisses?" Da ich mich herausgefordert fühlte, rollte ich mich vom Sofa und ersann in Sekundenschnelle einen Plan, wie wir uns diskret geben könnten.

"Um alles was uns beschäftigt hält! Muss ich auch beunruhigt sein?"

"Sie müssen sich weder übermäßig Gedanken um unsere Sicherheit machen, noch beunruhigt sein! Sie vergessen, dass das mein täglich Handwerk ist."

"Was ist mit dem Risiko des Entdecktwerdens? Die desaströse Wolke der Gefahr schwebt über uns!"

"Das ist nichts Neues, alter Knabe."

"Wenn uns unsere Worte aber verraten?"

"Wir dürfen sie natürlich nicht umstellen. Behalten wir unsere formellen Anreden bei, Doktor!"

"Wenn jemand eines Tages stichhaltige Details bemerkt, was dann?"

"Ich wüsste niemanden in der näheren Umgebung, der so geschult darin ist, Sie vielleicht?"

Watson musste verneinen.

"Mycroft vielleicht. Hat er deshalb um ein Treffen gebeten?", setzte er nach.

"Der ist gesondert zu betrachten, ich spreche mit ihm. Mit Ihnen aber werde ich trainieren, wenn es Sie beruhigt."

"Trainieren? Holmes, Sie sind noch mein Untergang!"

"Die kleinen verräterischen Details weg trainieren, ja." Ich musste schmunzeln, bei der Vorstellung, wie ich ihn belehre, dermaßen in Haltung und Ausdruck korrigiere, dass es letztendlich nur steif auf Außenstehende wirken kann. Aber ich wurde bitterernst, als er mich zur Vorsicht mahnte. "Wir kreieren ein paar handfeste Lügen für den Notfall und brennen sie uns gegenseitig ins Hirn. Ich fange morgen an zu suchen. Nein, noch heute Nacht. Haben Sie Vertrauen in mich, Watson, mein engster Vertrauter, mein skeptischster Kritiker!"

"Gewiss, gewiss doch. Und was den letzten Punkt betrifft: Sie waren doch stets Verfechter von Recht und Ordnung, nicht des Kriminellen, wie also...?"

"Ich bin Verfechter dessen, was ich für die Gerechtigkeit halte", gab ich ihm zur Antwort. "Es bleibt immer ein Risiko, wenn zwei sich verbinden, ähm, verbünden. Uns wird keiner nehmen, was unseren ureigenen Definitionen darüber entwächst. Aber ich werde mein letztes für das Bewältigen dieser Herausforderung geben! Und wenn es mein Leben ist."

Watson hob seinen Arm, um zu protestieren, ließ ihn aber wieder sinken. Und schwieg.
 

Es ist nur leicht besser geworden mit all den marternden Algesien. Natürlich versuche ich, jeden Mangel an Vitalität, jeden Rückschritt weitestgehend vor meinem Seelenbruder zu verbergen. Hinzu kommt dieser neue fiese Gemütsschmerz, der den alten Wundschmerz überdeckt und dessen Wirkungsgrad auf meinem Herzmuskel mir noch nicht bekannt war. Ich muss ihn reifen lassen, um ihn zu ergreifen- und dann zu zerlegen. Oder, so fürchte ich, ich werde an dieser Aufgabe zerbrechen.

Noch fühle ich mich matt und bei Weitem nicht so agil wie einst, manche Tage verlaufen schon ohne größere Zwischenfälle. Wenn die Tage sich dem Ende neigen, liege ich nicht mehr nächtelang wach und ersehne, vor dem Morgengrauen Erlösung zu finden. Gegenwärtig bin ich wach und grübele über Wege, die Situation zu entschärfen, mich zu entspannen. Ich wälze mich, munter und zugleich von Müdigkeit erfasst. Diese momentane Unlösbarkeit, die ich trotz all meiner mir gegebenen Fähigkeiten nicht zu beenden in der Lage bin, kriecht mir in die Knochen. Ich beneide meinen lieben Doktor, der die Gabe besitzt, stets und ständig weg zu schlummern, sobald er nur die Füße hochlegt. Meinen Freund und Kollegen.

Unsere üblicherweise genutzte Vorstellungsfloskel hört sich sonderbar an, oberflächlich und unzureichend, stelle ich dann fest. Wir machen uns dieser Tage mit niemandem bekannt. Wir müssen uns erst selbst kennenlernen.

Mit ihm im Haus sind meine Nächte nun einsamer als zuvor, wie wenn er auf Reisen war, auf Patientenrundgängen oder an verruchten, leer geliebten Orten, die ich mir für ihn nie wieder wünsche. Ich hege die stille Hoffnung, dass er wieder die Decke richten kommt, die ich absichtlich von meiner Matratze gleiten lasse. Seine Handfläche ist noch immer spürbar, dort, wo er sie das letzte Mal auf meinem Schulterblatt ruhen lassen hat und weitaus mehr an Zuversicht in mich fließen, als ich sie ihm nun zurückzugeben in der Lage bin.

Ich warte darauf, dass er mein Schlafzimmer, das er nun meidet, wie in unseren alten Zeiten betritt. Das meine Hände über seine Rückenpartie fahren oder die seinen nur noch einmal meinen Arm streifen. Dass er meine Wunde ausleuchtet, um sie zu versorgen, wie er meine Seele ausgeleuchtet hat, um mir ihre Tücken zu erklären und mich an seinem menschgerichteten Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen.

Ein weiters Stechen kündigt mir die aufkeimende Enttäuschung an, sie fordert ihren Platz in der Realität. Ich erkenne meinen Freund nicht mehr, aber ich kenne ihn genug, um zu wissen, dass er noch immer tunlichst darauf achten wird, die Finger von all dem zu lassen.

Noch stecke ich in den Grenzen fest, in die ein angegriffener Körper mich weist. Mein Geist aber ist frei, sich über alle Horizonte unerträglicher Qualen hinweg zubewegen. Über Gesetze. Über Fantasien, dass Watson seine eigenen Grenzen lockern wird.

Während ich mich kompensatorisch auf alle Eventualitäten vorbereite, finde ich ersten Geschmack daran, mich mit unsittsamen Gedankenspielen zu umgeben, mir eins zu erhaschen und ihm nachzugehen. Sehnsuchtsvoll erlaube ich mir in trockener Theorie zu ergründen, welche Wahrscheinlichkeiten einer natürlichen Folge unterliegen, einzutreten.

Bevor mich schließlich ein neuartiger Erschöpfungsschlaf übermannt, wünsche ich mir, dass es nicht immer nur der Mond ist, der mir Gesellschaft leistet. Es folgt immer ein neuer Morgen.

Strukturieren! Ich gestehe meine heimlichen Versuche. Einschlägige Literatur ließ sich in unseren vollgestopften Bücherschrank, dessen fehlende Systematik mein Mitbewohner bis dato gerne beklagte, nirgends finden.

Mangels Interessenverarmung entstandene Lücken, gilt es nun, an einsamen Abenden über neu beschafften Lesestoff gebeugt, aufzufüllen. Viel findet sich nicht darüber, jetzt existieren ein paar Skizzen, die wie verdrehte Hieroglyphen von mir festgehalten werden. Ich habe sie in meinem Schubfach eingeschlossen. Nicht in dem, wo Watsons Scheckbuch überwintert, in dem schräg darüber.

Abstrahieren! Das Verlangen muss umdefiniert werden, ist es mir doch bisher nur in der Form begegnet, dass es mich nach Giften verlangte, die mich beflügelten. Der Doktor weiß einiges über solche Präparate, ist mein Alchemist, der mich kontrolliert und gekonnt zerlegt wie klar umrissene Grundelemente. Der sich selbst mit Bedacht als Gegengift einsetzt, das Verlangen nach synthetischen Substanzen durch das Verlangen nach menschlichem Gegenüber, nach ihm, ersetzt. Der die Gefahr drohender Verbrennungen von mir abwendet und mich gleichzeitig aus mir selbst befreit- in einer Explosion, die mächtiger nicht sein könnte. Und mich und meine Wahrnehmung in die Ohnmacht lenkt.

Begreifen! Ich nehme diese Umwandlung der Essenzen in meinem Körper zur Kenntnis. Meist ist sie noch kontrollierbar. Gut. Solange ich sie kontrollieren kann, kontrolliert sie nicht mich. Gefühle der Zuneigung werden gemeinhin als etwas Positives, Erstrebenswertes, Befriedigendes beschrieben. Dieser erschöpfende Zustand aus Abwarten und Nichtwissen, dieses brennende, anschwellende Verlangen, gepaart mit einer verkrampfenden Furcht davor, wie es bald bedient werden könnte, soll glücklich machen? Beschwingen? Insektenartige Flügelschläge rumoren wieder in meiner Mitte, welches Tier kommt dem am nächsten? Ich brauche visualisierbare Begrifflichkeiten! Eine Biene vielleicht?

Mithilfe von Beobachtung und Auswertung seiner Bewegungen, Sprache und Gestalt traue ich mich, vorsichtig weitere Fäden zu spinnen, einen nach dem anderen. Wer nun ist dieser Mann, der meine Vorstellungskraft so reizt? Falls er sich weitere intime Momente erlaubt, wie die seltenen, die wir geteilt haben, wie wird er diese Zweisamkeit zelebrieren? Unsacht oder einfühlsam? Wie soll ich das herleiten, frage ich mich, zunehmend von Nervosität erfasst. Ich funktioniere nicht mehr, jetzt, wo es drauf an kommt!

Soweit ich aus der Auseinandersetzung mit seiner Selbstverachtung ableite, wird er im Fall der Fälle das maskuline Keuchen zu verschlucken suchen, damit es in den Räumen bleibt, wo es geboren wurde und wo es hingehört.

Wenn ich den Schriftzug seiner Vorsicht studiere, zentrieren sich die Zeichen zu folgender Annahme: Watson wird seinen Feldzug damit eröffnen, dichter an mich heranzutreten, sodass ich die Luft zischen höre, wenn er sich einen Moment Zeit nimmt, sich zu regulieren. Er wird einmal bewusst einatmen, nicht um vor mir stehen zu bleiben, wenn es auch zwei Handbreit dichter ist als früher, sondern um mich innerhalb der nächsten zwei Minuten langsam näher an sich zu bringen. Ich gehe davon aus, dass er mich hinter meiner Erstarrung herauszulocken sucht, die unmittelbar einsetzt, als er anfängt, mit den Fingern an meiner Taille zu spielen. Sie lassen sich darauf nieder und wollen eine Leichtigkeit symbolisieren, der ich misstraue, da umfassen sie mich sanft und laufen seitwärts hinab. Schon ziehen sie mich mit zielsicheren, fließenden Bewegungen näher. Mit einem bisher vermissten Selbstverständnis von Gestattet sein zwischen uns ist es eine aufwühlende Geste, deren augenscheinliche Selbstverständlichkeit nur aus Erprobungen rühren kann. Wenn ich zögere, wird er wissen, was zu tun ist, sobald er es tun will.

Weiterhin gehe ich davon aus, dass er vorhat, mein Gesicht in seine Handfläche zu betten. Das wird der Moment sein, in dem ich zerberste und mir verlorener als ein Fremdling in meinen eigenen Kleidern vorkomme. Ich bin reglos und deshalb sieht Watson keinen Grund, mit der Berührung aufzuhören. Er sieht nicht genau hin, wie oft habe ich ihm gesagt, er soll beobachten!

Das Kinn kratzt, wird er kurz denken, alsbald wollen seine tadellos gepflegten Hände sicher mehr Haut umfassen, weiter hinab gleiten über Hals und Kehle. Auf meinen Schultern schließlich, legt er sie ab, schwer und kurz nur, denn schon lässt er sie mit neu gefasster Entschlossenheit von dort in meinen Nacken gleiten.

Ich selbst kann nichts tun, solange ich erstarrt bin. Nein, ich fange jetzt leicht zu zittern an, muss mich konzentrieren, die Kontrolle über mich zurückerlangen. "Schhhht", wird er in seiner besänftigenden Heilermarnier flüstern und weiter das Handeln für uns zwei übernehmen.

Er ist der bessere Menschenkenner, ein Arzt, wie er immer beteuert. Als solcher würde er sofort an mir erkennen, wenn ich stockte, versuche, meinen Körper etwas verheimlichen zu lassen. Uns ist klar, er ist jetzt dran, weil nur er dazu fähig ist, uns ab hier zu lenken. Ab der Stelle, bis wohin ich seinen Geist tagelang gelotst habe. Er wird mich das Richtige zu tun führen, ich habe unerschütterliches Vertrauen. Und wundere mich selbst darüber, aber Wille und Fleischeslust sind das erste Mal in meinem Leben stärker als die Hemmung. Sündig. Es ist gut so, denn er ist gut. Ich bin fest davon überzeugt, eine andere Überzeugung würde ich auch nicht akzeptieren, wenn es um ein solch quälerisch brisantes Thema geht.

Vorsichtig berührt er nun mit dem rechten Daumen mein linkes Ohr und lässt es wie zufällig aussehen. Aber wir wissen beide, dass es alles andere als Zufall ist. Noch während ich versuche, den Realitätsbezug in dem chaotischen Empfinden aufzuspüren, dass mich nun überrollt, nehme ich wahr, wie etwas ganz und gar Befremdliches passiert. Gleichwohl fühlt es sich recht informationell an, was geschieht, wie sich unsere Münder verschließen, um alle Worte einzuschließen, die auszudrücken sie nicht in der Lage sind. All dies an Eindrücken, die es zu erfassen gilt, während ich innerlich hektisch werde, versuche, Begrifflichkeiten zu finden für trockene Lippen, feuchte Mundhöhlen, harte Zähne, weiche Zungen, fremden Geschmack. Ich rotiere und überdrehe in Strudel der Eindrücke. Aber er, er ist nun umgekehrt proportional zu mir. Er wird ganz ruhig.

Wenn ich an Watsons selbstanklagende Beichte von gestern denke, neige ich hingegen dazu, ihm eine latente Grobheit zuzuschreiben. Er hat mir seine Warnung zukommen lassen. Möglicherweise wird er doch eher das reine, ungesteuerte Suchen sein, offensive Herangehensweise, festes zupacken, weil er nach all der Zeit der Entbehrung, während des Wartens auf die Erlaubnis seines eigenen Gewissens, nicht mehr an sich halten kann. Jetzt, da er sich eingesteht, wonach es ihn verlangt, wird er fordernder- und ich furchtsamer. Und trotz alledem versteckt sich da paradoxerweise noch mein zehrender Wunsch nach ihm. Ich brauche seine Geistesverwandtschaft, begehre seinen Leib, empfinde für ihn. Einmal mehr für seine Offenheit, sich mir ungekünstelt vorzuleben.

Relativ wahrscheinlich ist, dass ich auch bei dieser Alternativvariante die Augen schließen werde und mich vor dem Anteil an Unbehagen, der in mir schlummert, versteife.

Irre ich mich so sehr, sind Illusion und Trugbild tatsächlich nur meiner Fantasie entsprungen oder sind das realistische Erwartungen? Ich bin nicht länger Herr meiner Sinne. Er ist es, ganz eindeutig, er macht mich schummerig im Kopf, intensiver und allumfassender als andere Laster, die ich je gehabt habe.

Er lenkt mich ab, hin zu dieser törichten Hitze in meinem Körper, es macht mich süchtig, über all dies nachzudenken. Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme hinter dem Kopf, um mich auf die Suche nach meditativen Gedankenexperimenten zu begeben. Wieder taucht er dicht vor mir auf, schiebt alles andere beiseite. In meiner Vorstellung zentriert sich Glut in mir wie beißender Rauch.

In meinen Lenden beginnt es zu ziehen und ich muss mich überprüfen, ob es wirklich nur die Einbildung ist, die an mir nestelt.

Mein Blick folgt der gedachten Linie, die sich so echt anfühlt und gleitet über mein Hemd, das mir Freiheit in meinen unvermögenden Fesseln gibt, mich nur locker umschmiegt, bis zum Hosenbund, der hingegen von einem braunen Gürtel umschnürt festgehalten wird, dessen beengenden Druck ich in diesem Moment spüre. Ich atme tief ein, ledrigen Duft.

Seit Montag ist er um eine Lochöffnung enger eingerastet, wie ich bemerke. Plötzlich ist da noch etwas, an das zu erinnern es mich drängt. Das Vergessen kämpft dagegen und hinuntergemischt ist ein unangenehmer, kein mildtätiger, Beigeschmack. Bizarr und verzwickt. Ich setze mich auf, reibe mir die Stirn und klopfe dagegen. Verdammt, was ist es nur?



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