Zum Inhalt der Seite

Das eiskalte Herz

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Es war tiefschwarze Nacht, welche nur von den gleißenden Blitze zerschnitten wurde, die wie scharfkantige Klingen vom Himmel herab zischten. Lautes Donnergrollen erschallte hoch oben über seinem Kopf und der Regen prasselte wie Nadelstiche unaufhörlich auf ihn hernieder.
 

Schon seit Stunden irrte er durch die Straßen und Gassen der nächtlichen Stadt. Irreführend war sein Weg, der ihn einfach nicht zum Stillstand kommen ließ. Er wollte weg. Einfach nur ganz weit weg von diesen Gefühlen und Gedanken, die ihn schon seit jeher quälten.
 

Zitternd schlang er die dünne Jacke enger um seinen abgemagerten Körper. Schneller, immer schneller, wurden seine Schritte. Doch seine Umwelt verschwamm immer mehr vor seinen müden Augen. Er hatte kaum noch Kraft sich auf den Beinen zu halten und doch blieb er nicht stehen.
 

Viel zu weit war er nun schon gekommen, um noch einen Rückzieher machen zu können. Panisch huschten seine Augen von links nach rechts. Ob sie schon nach ihm suchten? So gut es ging, wurden seine schwerfälligen Schritte noch schneller, bis er eine stickige Seitengasse erreichte, in die er einbog. Erschöpft lehnte er sich an die kalte, raue Wand und rutschte schließlich an dieser herab, bis er auf dem schmutzigen Boden ankam.
 

Es störte ihn nicht. Weder der Gestank, noch der Dreck. Doch diese Kälte... Er merkte schon seit geraumer Zeit einen deutlichen Temperaturanstieg von sich ausgehen. Wenn er nicht bald eine Bleibe finden würde, dann... Seine Gedanken brachen abrupt ab, als er Schritte näher kommen hörte. Klackende Schritte, wie die einer Frau, die auf hohen Schuhen unterwegs war.
 

Aber was trieb eine Frau zu solch einer späten Stunde in solch einer schäbigen Gegend, vor der selbst die Ratten Reißaus nahmen? Er war zu müde sich dies bezüglich Gedanken zu machen. Stattdessen lauschte er aufmerksam weiter diesen Schritten, die immer näher zu kommen schienen, und hoffe, das sie – wer auch immer sie war – ihn nicht entdecken würde.
 

Er war bekannt. Nicht nur einmal war sein Bild in den Medien zu sehen gewesen. Man würde unnötige Fragen stellen, wenn man ihn hier und in solch einer Verfassung auffinden würde. Fragen, die er nicht beantworten wollte.
 

Die Schritte verklangen.
 

„Du frierst.“
 

Erschrocken und überrascht zugleich, hob er den Kopf. Unweit von ihr stand eine junge Frau. Schwarzes Haar. Strahlende, rote Augen. Das Linke wurde von einer Narbe geschmückt. Sie war schön, doch strömte sie auch gleichzeitige eine eisige Aura aus. Sein Zittern verstärkte sich.
 

Er hatte sie nicht kommen hören.
 

„Wer sind Sie?“
 

Ein leises Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen, als sie langsam – und vollkommen geräuschlos – näher trat und schließlich vor ihm in die Hocke ging.
 

„Was möchtest du denn, wer ich sein soll?“
 

Er war irritiert. Was meinte sie mit dieser Frage? Wer war sie nur – diese Frau, deren blutrote Seen, die Finsternis durchbrachen?
 

„Hab keine Angst. Ich bin hier, um dir zu helfen.“
 

Langsam erhob sie sie sich wieder und steckte ihm auffordernd ihre Hand entgegen, die er nach kurzem zögern ergriff.
 

Hand in Hand verschwanden sie in der Dunkelheit...
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

„Kai?“
 

Murrend öffnete er die Augen. Er musste wohl eingeschlafen sein. Ein leiser Fluch drang über seine Lippen. Wie konnte er sich nur so eine Blöße geben?
 

„Was willst du, Kon?“
 

Angesprochener zuckte zwecks der schneidenden Stimme ein Stück weit zurück, bis er sich wieder weitestgehend im Griff hatte und tief durchatmete. Das Kai auch immer gleich so schlecht gelaunt reagieren musste. Der Russe würde ihm wohl auf ewig ein Rätsel bleiben.
 

„Ich wollte dir nur Bescheid sagen, das die Anderen nun weg sind. Max Mutter hatte sie doch für eine Woche eingeladen...“
 

Mehr als ein Brummen erhielt der Chinese jedoch nicht als Antwort. Doch wenn Kai ehrlich war, hatte es ihn damals ziemlich verwundert, das Rei die Einladung ohne ersichtlichen Grund abgelehnt hatte. Nun, im Endeffekt konnte es ihm egal sein, solange der Andere in Ruhe ließ. Damit erhob er sich, was seine Knochen ungesund knacken ließ, und drängte sich an Rei vorbei.
 

Kurz darauf verließ er das Haus, welcher er bereits seit einigen Monaten mit seinem Team bewohnte.
 

Seufzend blieb Rei zurück und setzte sich nun stattdessen auf den Sessel, der noch vor kurzem von dem Russen in Anspruch genommen wurde. Warum war Kai nur immer so abweisend?
 


 

Besagter schlenderte gemütlich durch die abendlichen Straßen Tokios. Das tat er oft, wenn er Zeit zum nachdenken brauchte oder einfach nur Ruhe haben wollte. Ruhe, die ihm selten zu gute kam, seit er sich mit diesen Kindern ein Heim teilte. Obwohl sie rechtlich gesehen schon lange keine Kinder mehr waren...
 

Seine Schritte stoppten, als er den Park erreichte, der von einzelnen Laternen in einem dämmrigen Licht erstrahlte.
 

Schon lange war er nicht mehr hier gewesen. Zwei Jahre sicherlich. Obwohl er doch schon länger wieder in dieser Stadt wohnte. Irgendwas hatte ihn bisher immer davon abgehalten, diesen Ort zu betreten. Waren es seine Träume, in denen sich die Vergangenheit widerspiegelte?
 

Warum ausgerechnet jetzt, fragte er sich, während er langsam einen Fuß vor den anderen setzte und schließlich vor einem kahlen Apfelbaum erneut inne hielt.
 

Es war Sommer und dennoch trug er weder Früchte noch Laub. Sommer... Auch damals war es jene Jahreszeit, in der er unter diesem Bauch erwacht war. Orientierungslos und verwirrt. Ohne jegliche Erinnerung an das, was die Nacht zu vor geschehen war. Alles an was er sich erinnerte, war ein ziehender Schmerz in seiner Brust.
 

Bedächtig legte er eine Hand auf die raue Rinde.
 

Fast war ihm, als könnte er einen Herzschlag spüren. Über sich selbst schmunzelnd, schüttelte er den Kopf. So ein Schwachsinn, würde es doch bedeuten, das dieser Baum lebte. Dabei war er nichts weiter als morsches Holz. Gerade noch gut genug, um es zu verfeuern.
 

Seufzend machte er Kehrt.
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Zitternd klammerte er sich in die kalte Hand, die ihn führte. Wohin, das blieb ihm verwehrt. Immer näher kamen sie einem Ziel, welches wohl nur die Fremde kannte.
 

Mittlerweile hatte der Regen gestoppt, doch seine Schritte auf dem regennassen Asphalt hallten dafür umso deutlicher in seinen Ohren wieder. Das Rauchen des Windes vermischte sich mit diesem Geräusch. Ein leises Wimmern entrann seiner kratzenden Kehle.
 

„Hab Geduld. Bald wird es dir besser gehen.“
 

Er zweifelte nicht an ihren Worten, dennoch wusste er nicht, ob er ihr auch wirklich trauen konnte. War es wirklich richtig ihr zu folgen? Abschätzend blickte er hinauf in ihr Gesicht, welches von Monotonie beherrscht wurde. Keine Gefühlsregung konnte er auf ihren Zügen ausmachen.
 

Schließlich blieb sie stehen.
 

Er schaute auf. Vor ihm stand ein kleines Haus. Es wirkte unscheinbar und heruntergekommen. Efeuranken schlängelten sich fast über die ganze Fassade. Die Fensterläden hingen schief und lose herunter. Und der Putz bröckelte langsam ab. Drinnen würde es wohl nicht besser aussehen.
 

„Komm mit mir.“
 

Schüchtern nickte er, war zu nichts anderem mehr im Stande, und folgte ihr schließlich ins Innere des Hauses, welches Wiedererwarten völlig Intakt war. Hell und einladend strahlte der Innenraum ihm entgegen. Weiße Wände mit abstrakten Verzierungen. Eine verschnörkelte Holztreppe, die in den zweiten Stock hinauf führte. Und ein Spiegel mittig zweier Türen, die in angrenzende Zimmer führten. An der Decke ein teuer aussehender Kronleuchter. Wahrscheinlich aus Messing. Richtige Kerzen steckten in den Fassungen.
 

„Der erste Eindruck ist nicht immer der Richtige. Das solltest du dir gut merken.“
 

Sie löste seine Hand aus ihrer und ging auf eine der Türen zu, um diese zu öffnen. Zaghaft folgte er ihr, auf ihren Wink hin, und betrat eine Art Wohnraum. Viel gab es jedoch nicht zu sehen. Sein einziges Augenmerk galt der riesigen Couchgarnitur, welche fast den ganzen Raum einnahm.
 

„Setz dich. Ich werde dir derweil einen Tee zubereiten.“
 

Folgsam kam er dieser Aufforderung nach. Erst jetzt registrierte er, das seine Sachen komplett trocken waren. Dabei war er doch kürzlich noch... Verwundert zog er die Stirn kraus, bevor er beschloss nicht weiter darüber nachzudenken und sich stattdessen weiter umsah.
 

Interessiert besah er sich das Bild welches ihm gegenüber an der Wand hing.
 

Als hätte es der Teufel persönlich erschaffen... Es strahlte etwas Düsteres aus. Etwas, dessen er sich einfach nicht entziehen konnte. Fast schien es, als würde es genau seine Seele widerspiegeln. Schwarz und verloren. Denn trotz seines jungen Alters hatten seine Augen bereits Dinge erblickt, die manch einen Menschen seines Verstandes beraubt hätten.
 

Und je weiter er auf das Bild sah, umso mehr nahm es ihn gefangen.
 

„Gefällt es dir? Mein Bruder hat es gemalt.“
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Keuchend erwachte Kai aus einem Traum, der eigentlich keiner war.
 

Zwölf Jahre lag es nun schon zurück. Damals war er gerade erst sechs gewesen. Ein kleiner verängstigter Junge, der sich vor den Schatten der Nacht fürchtete und zuhause weggelaufen war, weil...
 

Nein, ein Zuhause war es nie für ihn gewesen. Es war stets ein Ort des Graues, der ihn mit eisigen Klauen gefangen hielt und ihn jäh seiner Kindheit beraubt hatte. Flucht war die einzige Lösung, die ihm blieb. Und noch heute fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
 

Ein zaghaftes Klopfen an seiner Tür, durchbrach seine Gedankengänge.
 

„Kai, darf ich rein kommen?“
 

Er sprach eine kurze Erlaubnis, die Rei dazu veranlasste, die Tür zu öffnen und einzutreten. Unschlüssig blieb er kurz darauf stehen.
 

„Was willst du?“
 

„Ich... Der Sturm ist mir nicht geheuer und... Darf ich die Nacht bei dir bleiben?“
 

Erst jetzt vernahm Kai das tobende Brausen des Windes, welcher die Äste des Baumes vor dem Haus, gegen die Fenster peitschen ließ. Dennoch wusste er, das Rei log. Er sah keine Angst in seinen Augen, stattdessen ehrliche Sorge in einem Blick, mit dem er ihn bedachte.
 

Er gab dem Schwarzhaarigen ein Zeichen, das dieser näher treten sollte, was er auch sofort tat.
 

„Warum bist du wirklich hier, Rei?“
 

Schuldbewusst senkte der Angesprochene seinen Blick. Er benahm sich zu auffällig. Viel zu auffällig, nach Kais Geschmack. Längst schon hatte er ihn durchschaut und wusste um die Gefühlswelt des Chinesen. Er hätte es nie so weit kommen lassen dürfen...
 

„Ich...“
 

Ein Seufzen entrann Kais Kehle. Es fiel ihm immer schwerer die Maskerade aufrecht zu erhalten.
 

Es waren diese Momente, in denen er seine Entscheidung bereute.
 

Ob es ein Zurück gab? Nein, nicht für ihn. Nicht für seine Seele, die der Dunkelheit versprochen war. Nicht für sein Herz, welches schon viel zu lange nicht mehr in seiner Brust schlug. Nicht für seinen Geist, der längst schon gebrochen war.
 

„Ich kann dich nicht lieben...“
 

...auch wenn er sich manchmal nichts sehnlicher wünschte.
 

Und noch ehe Rei im Stande war etwas zu sagen, war Kai verschwunden. Unauffällig und lautlos, so wie ein Schatten in der Nacht.
 


 

Es war nun schon das zweite Mal innerhalb eines kurzen Zeitraums, das Kai den Apfelbaum aufsuchte. Und obwohl der eisige Wind an seiner Kleidung zerrte, verspürte er weder Kälte, noch anderweitige Empfindungen, die ihn an dieser Stelle wohl heimsuchen müssten.
 

Er fühlte nichts. - Nichts außer endloser Leere.
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Er war so unsagbar müde und doch schaffte er es mit letzter Kraft seine Augen offen zu halten. Diese Frau – auch wenn sie noch so nett zu ihm war – machte ihm Angst. Ihr Blick, mit dem sie ihn bedachte, war so kalt und unergründlich, wie ein bodenloses, schwarzes Loch, welches mit Blut durchtränkt wurde.
 

„Man sollte nichts fürchten, außer der Furcht selbst. Also sag mir, wovor fürchtest du dich, kleiner Kai?“
 

Sein Atem stockte. Woher kannte sie ihren Namen? Schützend schlang er die Arme um seinen zitternden Körper, wie als könnte sie das davon abhalten, ihm etwas anzutun. Er wusste es besser. Er sah es in ihrem Blick. Dieses lodernde Feuer, welches ihn zu verbrennen schien. Das eiskalte Feuer der Hölle.
 

Dennoch blieb er sitzen.
 

„Ich weiß es nicht...“
 

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, als sie näher kam und sich neben ihn setzte. Sanft umfasste sie seine Hand. Und auf einmal – er konnte es sich selbst nicht erklären – verspürte er keine Angst mehr. Sie war wie weggeblasen, so als hätte sie nie existiert. Verwundert erwiderte er ihren stechenden Blick.
 

„Lass mich dir helfen. Ein Leben ohne Angst und ohne jegliche Gefühle, die dich schwach machen.“
 

Ein Leben ohne Angst...
 

Wie ein Mantra hallten diese Worte in seinen Ohren wieder. War so etwas möglich? Konnte sie ihm wirklich die Angst nehmen? Er fand die Antwort in ihren Augen und sie ihre in den seinen.
 

Es war also beschlossen.
 

„Alles was ich dafür verlange, ist dein Herz.“
 

Ein Pakt den er ohne nachzudenken einging und somit sein Schicksal besiegelte.
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Seufzend lehnte er seine Stirn an die harte, raue Rinde, während seine Hand auf seiner Brust zum erliegen kam. Er spürte einen regelmäßigen Herzschlag, der sich doch so falsch anfühlte. Ein Gefühl, welches Kai selber nicht erklären konnte. Vielleicht war es die Nähe zu diesem Baum, die ihn dieses Gefühl vorgaukelte. Vielleicht war es auch etwas gänzlich Anderes. Jedoch hatte er sich lang nicht mehr so lebendig gefühlt, wie in diesem Augenblick.
 

Seine Lider sanken herab.
 

Mit Wehmut dachte er an das, was er verloren hatte.
 

Sein Herz. Seine Seele.
 

Sein Leben.

„Kai!“
 

Seine Augen öffneten sich. Ihm war als hätte er etwas gehört. Ein Stimme, die unnachgiebig seinen Namen rief.
 

„Kai!“
 

Tatsächlich. Seine Sinne hatten ihm also keinen Streich gespielt.
 

Er trat einen Schritt zurück und drehte sich um. Unweit von seinem Standpunkt entfernt, sah er eine Gestalt näher kommen. Und je näher diese kaum, desto mehr überfiel ein Zittern Kais Körper. Rei. Was machte er hier?
 

Keuchend blieb der Schwarzhaarige wenige Meter vor ihm stehen.
 

„Ich habe dich überall gesucht.“
 

Er wollte nach dem Warum fragen, doch kannte er die Antwort längst schon. Er sah die Liebe in Reis Augen. Ein Gefühl welches ihm galt und welches mit so viel Schmerz verbunden war.
 

„Du solltest nicht hier sein, Rei.“
 

Kopfschüttelnd trat der Angesprochene näher. Nun waren es nur noch Zentimeter, die sie voneinander trennen. Eine unüberwindbare Spanne, wie Kai empfand. Dabei war es doch so einfach, den Anderen zu berühren. Er müsste nur seine Hand nach ihm ausstrecken.
 

Eine schimmernde Träne perlte aus Reis Augenwinkel.
 

„Weißt du, Kai: Du bist nicht der Einzige, der Angst hat. Mir geht es genauso, aber-“
 

„Du weißt nicht, was du sagst. Ich habe keine Angst. Vor nichts.“
 

Zumindest nicht mehr... Ein Gedanke, den er jedoch nicht laut aussprach.
 

„Was ist es dann? Warum quälst du mich so?“
 

Erst jetzt bemerkte Kai das Zittern des Schwarzhaarigen. Er fror. Kein Wunder in Anbetracht der derzeitigen Wetterlage. Noch immer tobte der Wind und zog unnachgiebig an jeglichen Hindernissen. Mittlerweile hatte auch ein feiner Nieselregen eingesetzt, der immer stärker zu werden schien.
 

„Du solltest gehen.“
 

Mit diesen Worten wandte er sich ab und wollte diesen Ort verlassen, doch hatte er die Rechnung ohne seinen Teamkameraden gemacht, der zügellos seine Hand ergriff und ihn zurück hielt. Bewegungsunfähig hielt Kai inne, drehte sich jedoch nicht um.
 

„Ich verlange nicht von dir, dass du meine Gefühle erwiderst, Kai. Doch lass mich wenigstens dein Freund sein. Lass mich dir helfen.“
 

Lass mich dir helfen...
 

Worte, die auch sie einst verwendete. Worte, die sein ganzes Leben veränderten. Worte, die alles zerstörten.
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Sie versprach ihm Macht und ein Leben ohne Schmerz. Hingegen verlangte sie nur sein Herz.
 

Ein fairer Deal, wie er befand.
 

Was wollte er auch mit Gefühlen, die ihn schwach machten? Er wollte nicht schwach sein. Nie mehr. Angst... Hass... Liebe... All diese Emotionen würden auf ewig aus seinem Bewusstsein verschwinden. Endlich würde er perfekt sein. Eine Perfektion, die sein Großvater schon lange bei ihm anstrebte. Ob er wohl stolz auf ihn wäre?
 

Mit einem Kopfschütteln vertrieb er diesen Gedanken schnellstmöglich wieder.
 

„Bist du bereit?“
 

Fast schon liebevoll konnte man jenen Blick beschreiben, mit dem sie ihn bedachte. Ein Wort, welches so gar nicht zu ihr zu passen schien. Nein, liebevoll war sie keineswegs. Eher eiskalt und berechnend. Wie der, des Satans jüngerer Schwester...
 

„Wird es weh tun?“
 

Sanft strich sie ihm über den Kopf. Eine Geste, die seine Mutter oft zu tun pflegte. Damals, als sie noch bei ihm war. Vor dem Unfall, der sie ihm für immer entriss.
 

„Es werden Höllenqualen, doch du wirst dich danach an nichts mehr erinnern.“
 

Sie war ehrlich, versprach nichts, was sie nicht halten konnte. Eine Eigenschaft, die sie ihm durchaus sympathisch machte. Und doch entrann ein leises Wimmern seiner Kehle.
 

„Was...was wird mit meinem Herz geschehen?“
 

Sie sprach von 666 Monaten und von einem Gefäß, welches ebenso tot sein würde, wie sein Innerstes.
 

Worte, die er erst viel zu spät begriff...
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

522 Monate, die ihm noch verblieben. In denen er weiterhin, wie ein Geist auf der Erde wandeln würde. Ein ewiger Teufelskreis, der ihn einfach nicht zur Ruhe kommen ließ.
 

„Warum liebst du mich?“
 

Zuerst war Rei verwirrt über diese Frage, dann beschloss er diese jedoch ehrlich zu beantworten. Für Kai. Das war er ihm schuldig.
 

„Weil du etwas ganz Besonderes bist. Vielleicht bist du nach außen hin stark, mutig und aufopferungsvoll, doch innerlich bist du noch immer ein kleiner, verängstigter Junge, der vor den Geistern der Vergangenheit flieht.“
 

Ein leises Seufzen drang über Reis Lippen.
 

„Es lässt sich schwer in Worte fassen, aber- … Kai, was ist mit dir?“
 

Halt suchend hatte Kai eine Hand in die Rinde des Apfelbaumes verkrampft, während sein Körper unaufhörlich zitterte.
 

...doch innerlich bist du noch immer ein kleiner, verängstigter Junge, der vor den Geistern der Vergangenheit flieht...
 

Wie hatte es Rei geschafft, ihn so leicht zu durchschauen? Niemand wusste etwas über seine Vergangenheit. Niemanden hatte er sich je anvertraut. Woher wusste er also darüber Bescheid? Und warum quälte ihn der Gedanke daran nur so sehr...?
 

Um ihn herum begann sich alles zu drehen, während die Zeit gleichzeitig wie eingefroren schien.
 

Und dann wurde alles schwarz.
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Er fand sich in einem großen, kahlen Saal wieder. Lediglich ein Schreibtisch mit einem Bürostuhl waren darin vorhanden. Die Wände waren blutrot, während der Boden aus schwarzem Stein bestand. Die Fackeln an den Wänden spendeten nur spärliches Licht, welches geradeso ausreichte, um alles erkennen zu können.
 

„Tritt näher.“
 

Er hatte keine Gewalt über seinen Körper, als er der herrischen – und eindeutig weiblichen – Stimme tatsächlich nachkam. Es war, als handelte sein Geist eigenständig. Übelkeit stieg in ihm auf. Erst jetzt registrierte er den leichten Hauch Schwefel, der in der Luft lag.
 

War er etwa in der Hölle?
 

Der Stuhl drehte sich ihm langsam entgegen. In ihm erkannte er eine Frau. - Schwarzes Haar. Blutrote Augen. Ein kaltes Lächeln auf den Lippen tragend.
 

Sie war es. Sie, die ihm diesen Fluch auferlegt hatte.
 

„Hast du unsere Abmachung denn bereits vergessen?"
 

Sie lehnte sich ein Stück über den Tisch und stützte ihr Kinn auf ihre zusammengefalteten Hände. Abwartend sah sie ihn an, bis sie ein leises Seufzen ausstieß und kurz – nur für wenige Sekunden – die Augen schloss.
 

„Ich habe mich an den Vertrag gehalten und dir gegeben, wonach du verlangt hast. Und nun forderst du tatsächlich zurück, was mir rechtmäßig zusteht?“
 

Ihre Worte ergaben gar keinen Sinn und doch wusste er sofort, was sie meinte. Es gab nichts daran misszuverstehen. Sie hatte ihn durchschaut, noch bevor er selber begriffen hatte, was er sich am sehnlichsten erwünschte.
 

Sein Herz.
 

„Sag mir, was gedenkst du, das ich nun tun soll?“
 

Nachdenklich blickte er gen Boden, wagte es nicht auszusprechen, was ihm auf der Zunge brannte. Konnte er es wirklich wagen, mit dem Teufel zu verhandeln? Nein! Man durfte ihr einfach nicht trauen.
 

Sie kicherte leise.
 

Es machte ihr keinerlei Mühe, seine Gedankengänge zu erraten. Sie sah ihm den Zwiespalt an seiner Haltung an. Und hätte sie einen Blick in seine Augen erhaschen können, hätte sie ihre Bestätigung erhalten. Menschen waren doch alle gleich. Sie waren einfältig und dumm.
 

Ein spöttisches Lächeln zierte ihre zinoberroten Lippen.
 

Langsam hob er seinen Blick wieder. Seine Augen wirkten den ihren plötzlich gar nicht mehr so unähnlich. Sie waren kalt und leer und doch erkannte sie etwas in ihnen, ganz tief unter der Oberfläche verborgen, was sie nie geglaubt hatte, darin vorzufinden.
 

Etwas, das es selbst vermochte, ihr – der Höllenfürstin – einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen.
 

Sie sah das abgrundtief Böse in seinen Augen...
 

„Lucifer, was...?“
 

Anmutig und erhaben trat er näher, bis er schließlich dicht vor dem Schreibtisch stehen blieb. Eine flammende Fontäne schoss aus dem Boden hervor und als diese erloschen war, befand sich an deren Stelle ein majestätischer Thron, auf dem er sich sogleich niederließ.
 

„Du hast verloren, kleine Schwester. Das Herz dieses Menschen ist zu stark, als du es es verunreinigen hättest können.“
 

Ihr Gesicht war von Wut und Unglauben gekennzeichnet. Kein menschliches Herz besaß eine solch immense Macht, das es der Dunkelheit widerstehen konnte. Das war einfach unmöglich.
 

„Aber seine Seele...“
 

Er schüttelte den Kopf und brachte sie somit zum schweigen.
 

„Es ist wahrlich enttäuschend, dass du es scheinbar immer noch nicht begriffen hast. Nun, lass es mich dir erklären.“
 

Kurz machte er eine Pause, so als wäge er sorgfältig seine Worte ab, die er ihr sogleich näher bringen wollte, während sie weiterhin angespannt auf ihrem Platz verharrte.
 

„Die Seele dieses Menschen mochte zwar schwarz gewesen sein, doch unrein war sie keineswegs. Stattdessen war sie allenfalls von Schmerz und Leid besudelt. Gefühle, die du ihm jedoch genommen hast. Verstehst du es jetzt?“
 

Eine tiefe Furche entstand in ihrer Stirn, als sie seine Worte auf sich wirken ließ und sorgfältig über das Gesagte nachdachte.
 

„Das würde ja bedeuten...“
 

„Ganz Recht, Lilith. Du hast ihn erlöst. Eine schwache Leistung für eine Dämonin, meinst du nicht auch?“
 

Hohn schwang in seinen Worten mit. Es traf sie schlimmer, als Lucifers anderweitige Bestrafungen es je könnten. Wie konnte ihr nur so ein dummer Fehler unterlaufen?
 

„Und bevor ich es vergesse:“
 

Er beugte sich ihr entgegen. Seine Augen blitzten ihr mit spöttischer Belustigung entgegen.
 

„Was ist dir über den Engel Rhamiel bekannt?“
 

Bevor sie seine Worte gänzlich auffasste, schoss erneut eine Flammenfontäne empor, die Lucifer mit sich nahm. Lediglich ein kleiner Junge mit blaugrauen Haaren blieb zurück und sah sie aus trüben rotbraunen Augen an.
 

Seufzend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.
 

Das durfte doch alles nicht wahr sein...
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Ruckartig schoss Kai in die Höhe, die Augen dabei weit aufgerissen. Jedoch fuhr ihm gleich darauf ein höllischer Schmerz durch seinen Schädel, weswegen er wieder gepeinigt die Augen schloss und sich langsam zurück in die Kissen sinken ließ.
 

Was war geschehen?
 

„Schön, du bist endlich wach.“
 

Mit einem Tablett beladen, betrat Rei sein Zimmer und kam geradewegs auf ihn zu. Vorsichtig lud der Schwarzhaarige das Tablett – auf dem eine dampfende Kanne, sowie zwei Tassen standen – auf dem Nachtisch neben dem Bett ab und setzte sich anschließend auf den Stuhl, der gleich in unmittelbarer Nähe dort platziert wurde.
 

„Wie geht es dir?“
 

Zaghaft öffnete Kai wieder die Augen, brauchte kurze Zeit um sich an die Helligkeit zu gewöhnen, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit auf Rei lenkte, der ihn abwartend und liebevoll zugleich ansah.
 

Und auf einmal schien seine Kopfschmerzen wie weggeblasen.
 

„Ging mir schon mal weniger beschissen.“
 

Eine Aussage, die Rei zum lachen brachte. Kai mochte dieses Geräusch. Das tat er schon immer, doch erst jetzt registrierte er die Wärme, die sich dabei in seinem ganzen Körper auszubreiten schien.
 

Wärme, die er viel zu lange schon vermisst hatte.
 

„Rei, wegen dieser Sache...“
 

Sanft legte der Angesprochene ihm einen Finger auf die Lippen, um ihn zum schweigen zu bringen. Er wusste doch eh schon, was der Andere sagen wollte. Also warum unnötig Worte verschwenden, wenn doch Taten um so vieles schöner waren?
 

Damit beugte er sich herab und legte seine Lippen tastend auf die von Kai.
 

Nur eine kurze Berührung, die das Herz des Russen fast zum zerbersten brachte, so schnell und kraftvoll, wie es plötzlich in seiner Brust schlug.
 


 

Und als Kai am nächsten Tag mit Rei den Park aufsuchte, legte sich ein warmes Lächeln auf seine Lippen. Zärtlich ergriff er die Hand seines Geliebten, während ihrer beiden Augenpaare auf dem Apfelbaum lagen, der endlich wieder Früchte trug.
 


 

+~+~+~+~+~+~+~+~+~+
 


 

Und weiter oben, über den Wolken, schaute Gott auf seinem fleißigsten Engel herab, während er belustigt an die Wette zurück dachte, die er einst mit Lucifer geschlossen hatte.
 

„Ich sagte doch, es gibt mehrere Möglichkeiten, ein Herz zu stehlen...“
 

Amüsiert lauschte er den wüsten Schimpftiraden Liliths, die sogar noch im Himmelsreich gut verständlich empfangen wurden.
 

Noch einmal würde es Lucifer wohl nicht wagen ihn herauszufordern, oder...?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück