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Es war einmal im Dezember

von

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Warte ich fange nochmal ganz von vorne an

[Russlands Sicht]
 

Lange Jahre hatte es gedauert... Ich habe geweint, geschrien, Schmerzen ertragen... Doch jetzt war es anders. Nach schier nicht enden wollenden Jahren, war ich stark und mächtig geworden! Die anderen alliierten Nationen ließen mich nun mitspielen und niemand wagte mehr mich zu verletzen. Es war ein herrliches Gefühl nicht mehr der Prügelknabe für alle zu sein. Wie oft ich ihre Wut, den Hass und die Ablehnung spüren durfte, habe ich schon lange aufgehört zu zählen. Aber es hat mich zweifellos verändert. Die Narben vergangener Zeiten schmücken immer noch meinen Körper, obwohl sie aufgehört hatten zu schmerzen, brannten sie manchmal noch auf meiner Seele.
 

Denn Hoffnungslosigkeit ist ein grausames Gefühl, es kesselt einen mit seinen schlimmsten Ängsten und Befürchtungen ein. Flüsternde Zweifel an der eigenen Person, werden zu scheinbar unüberwindbaren, unverzeihlichen Fehlern. Der Hass und die Verachtung, die andere einem entgegenbringen scheinen schlagartig berechtigt und wirken unendlich. Jede Träne und jedes Schluchzen hallen nur in der Leere wieder, die man fühlt, wenn man nicht gerade Schmerzen erträgt. Natürlich versucht man zunächst zu entkommen... Dabei werden, ein gefälschtes Lächeln, viele erlogene schöne Gedanken und längst verlorene, jedoch weiterhin vorhanden geglaubte Unschuld eine kalte Maske. Leider kommt irgendwann für jeden der Tag an dem diese Maskerade nicht mehr ausreicht. Und das ist es, was man wahre Hoffnungslosigkeit nennt. Nicht jeder findet lebendig einen Ausweg, doch die, die es tun, schaffen es nie allein.
 

Wie ich es geschafft habe? Durch Hilfe von einer jungen Frau, die es schaffte Licht in die Dunkelheit und die Kälte zu bringen, welche meine Seele fest umklammert hielten. Ihr Name war Anastasia Romanov, sie hatte feuerrotes Haar, grüne hoffnungsvolle Augen, weiße, dünne Haut, wie aus Porzellan... Aber das wunderbarste an ihr, war ihr Lächeln, das selbst die dickste Eisdecke zum Schmelzen bringen konnte. Wie sie mich aus diesem düsteren Loch herausgeholt hat? Warte ich fange von ganz von vorne an...

Ein kleines Wunder

Es war ein kalter und grauer Wintermorgen, im Jahr 1901. Am 31. Dezember dieses Jahr, war mein Land soweit angewachsen, dass ich endlich mein 19. Lebensjahr erreicht hatte. Langsam fielen schwere, weiße Schneeflocken vom Himmel und verdickten die Schneedecke zu meinen Füßen. Heute war ein bedeutender Tag, es wirkte als würde das ganze Land die Luft anhalten. Seit den frühen Morgenstunden lag die Gattin, Alexandra Romanov, meines Bosses Nikolaus Romanov in den Wehen. Ich war natürlich sehr aufgeregt, immerhin war ihr Nachkomme der Thronfolger und somit irgendwann mein Vorgesetzter.
 

Es waren schwere Zeiten für mein Land und mich... General Winter übertrieb dieses Jahr wieder gehörig und hatte viele Ernten zerstört. Meine Bevölkerung litt Hunger und die erbarmungslose Kälte brauchte nicht nur Zittern, sondern auch Krankheiten mit sich. Darum war ein freudiges Ereignis, wie ein Geburt, etwas das Hoffnung versprach. Ungeduldig, wie ein Tiger in einem Käfig, stapfte ich draußen vor dem Ipatjew Anwesen auf und ab. Laut knirschten Schnee und Eis unter meinen schweren Stiefeln, mein Atem fror in kleinen, weißen Wölkchen vor meinem Gesicht und sanfte Schneeflocken sammelten sich auf meiner Kleidung. Schwarze Ringe unter meinen Augen, untermauerten die Tatsache, dass ich seit Tagen schon nicht mehr geschlafen hatte. Es war nichts Neues für mich, meine ständigen Albträume raubten, mir seit meiner Kindheit, die nächtliche Ruhe. Immer wieder hörte ich die Stimmen der anderen in meinem Kopf, sie beleidigten mich, nannten mich „nutzlos", „schwach", „Monster". Obwohl ich es mittlerweile gewöhnt hätte sein sollen, schmerzte es mich immer wieder. Seit kurzem war ich ein freies Land geworden, niemand unterdrückte mich mehr. Doch die Wunden auf meinem Körper waren noch nicht verheilt. Der größte Verlust, den ich jedoch erlitten hatte war, der Glaube an Hoffnung, Liebe und das Gute in dieser Welt. Seit damals war da eine Kälte, die von meinem Herzen aus, auf meinen ganzen Körper übergriff und ihn geradezu gefühllos machte. Nur leider nicht ganz, Angst, Zweifel und Hass konnte ich weiterhin spüren. Egal was ich tat, ich hatte das Gefühl jeder verurteilte mich. Jede Mühe, die ich mir machte, um Freunde zu finden, schien vergeblich, für alle war ich nur der Fehler, das Monster oder der Sklave. Wie sehr ich sie alle doch hasste oder hasste ich mich selbst? Dafür, dass ich es nicht ändern konnte? Die Maske, das unerschütterliche Lächeln auf meinen Lippen drohte zu bröckeln, ich ballte die Hände zu Fausten und drängte Tränen zurück.
 

Das Quietschen der massiven Holztür, die gegen die Schneemassen ankommen musste, riss mich aus meinen Gedanken. Vor mir stand einer der Diener, er verbeugte sich tief, weshalb war mir ein Rätsel. Immerhin besaß ich keinen Adelstitel, ich war nur ein Land... „Der Zar möchte Sie sehen." Eröffnete mir der Angestellte. Schnell trat ich ein, da ich nicht wollte, dass die Kälte sich ins Haus schlich. Mit meinem üblichen Lächeln auf den Lippen, doch eher gemischten Gefühlen im Bauch, folgte ich dem Boten. Verwundert blickte ich mich um, als wir einen Teil des Hauses betraten, der definitiv zum Privatteil gehörte. Unbeirrt bog der Diener um die Ecken der Gänge. Hier drinnen war es angenehm war, warmes Kerzenlicht erhellte die Flure und der rote Samtteppich unter meinen Füßen dämpfte unsere Schritte. An den Wänden hingen Bilder vergangener Zaren. Bevor wir um die letzte Ecke bogen stach mir ein spezielles Gemälde ins Auge. Die Stimmung darauf war eher düster, schwere Gewitterwolken und kahle Bäume waren abgebildet, jedoch gab ein Detail, das dem Ganzen einen Hoffnungsschimmer verlieh... Es war ein kleines Sonnenblumenfeld, das mit seinem leuchtenden Gelb, die Bedrohlichkeit der Wolken zurückdrängte. Ich habe diese Blumen schon immer geliebt, sie waren für mich das Wunderschönste auf der Welt. Für einen Augenblick hielt mich der Anblick gefangen, doch dann besann ich mich auf meine Pflichten und schloss schnell wieder auf.
 

Der Diener blieb vor einer Zimmertür stehen und klopfte leise. Sofort klang eine vertraute Stimme nach draußen. „Herein." Es war die Stimme von Nikolaus. Immer noch etwas verdutzt darüber, was ich hier sollte, trat ich am Boten vorbei und öffnete die Tür. Drinnen stand Herr Romanov vor dem Fenster und blickte nach draußen in den verschneiten Innenhof. Seine schwarze Uniform, mit den goldenen Schulterpolstern und der Zarenscherpe, wirkte unordentlich. Auch seine Stimme hörte sich müde an, jedoch war sie nicht traurig. Das war jedoch kein Grund für mich, zuversichtlich zu werden. Unsicher trat ich ein und verbeugte mich kurz. „Ihr wolltet mich sehen Zar.". „In der Tat, das wollte ich." antwortet er und drehte sich zu mir um, auch unter seinen Augen waren schwarze Silhouetten. „Wir wollten dich sehen." ertönte plötzlich eine weitere Stimme. Erschrocken fuhr ich herum und blickte in das erschöpfte Gesicht seiner Frau. Schnell verbeugte ich mich auch vor ihr, sie sah wirklich schlecht aus. Ihr sonst immer geordnetes Haar war zerzaust. „Weshalb?" fragte ich etwas besorgter. Die Zarenfamilie war mir sehr wichtige geworden, auch wenn sie diese Gefühle nicht zu erwidern schienen, wer tat das schon? Natürlich war mir bewusst, dass dieses Anliegen hier etwas mit der Geburt zu tun haben musste. Aber die Stimmung im Raum verriet nicht, ob es gut oder schlecht verlaufen war. Plötzlich brach die steinerne Maske meines Vorgesetzten und er lächelte mich an. Selten hatte ich ihn Lächeln sehen und auch Alexandra schien überglücklich. „Um dir jemanden vorzustellen." Antwortete sie und zeigte mir das in Decken gewickelte Bündel, welches mir zuvor vollkommen entgangen war, in ihren Armen. Nachdem ich etwas genauer hinsah, eröffnete sich mir eines der wunderbarsten Dinge, die meine Augen je erblickt hatten. Seelig schlief das Baby mit dem feuerroten Haar, das es zweifellos von ihrer Mutter hatte. Das ansonsten so falsche Lächeln auf meinen Zügen, wurde ehrlich. Das Kleine wirkte so unschuldig und glücklich. Seine kleinen Hände, das liebliche Gesichtchen und der zierliche Körper schienen so verletzlich und winzig. Dennoch war es wunderschön. Ich wagte nicht es zu berühren, gerade wusste ich nicht mal, ob ich atmen sollte... „Darf ich vorstellen Anastasia Nikolajewna Romanov, zukünftige Zarin Russlands." verkündete Nikolaus stolz und stellte sich neben mich. „Ein Mädchen also..." flüsterte ich vor mich hin. Was ich damals noch nicht wusste, wie sehr dieses kleine Ding mein Leben verändern würde. Doch vom ersten Moment an, hatte sie etwas geschafft, dass seit Jahrzehnten niemand mehr gekonnt hatte... Sie hatte mein Herz so etwas, wie Freude fühlen lassen. „Möchtest du sie halten?" fragte mich ihre Mutter und strich ihrer Tochter behutsam das Haar aus dem Gesicht. Schlagartig wurde mein Gesicht bleich und ich begann nervös zu werden. Immerhin war ich so groß und hatte meine Hände selten für etwas Feinfühliges benutzt. Zusätzlich was wäre würde ich sie fallen lassen? Oder schlimmeres, sie verletzten. Wie konnten sie mir, dem der von allen nur als Monster bezeichnet wurde, anbieten das wertvollste das sie besaßen, zu halten? Alexandra schien meine Unsicherheit und Besorgnis zu bemerken und fackelte nicht lange. Das hatte sie noch nie. Ehe ich mich versah hatte sie meine Arme in die richtige Position gerückt und mir Anastasia auf den Arm gelegt. Vor Schock erstarrt stand ich da und betrachtete sie, wie verzaubert. Plötzlich begann sie sich zu regen und ich geriet noch mehr in Panik. Aber sie schlug nur die wunderschönen blauen Augen auf und sah mich an. Ich vermutete sie würde gleich anfangen zu weinen, doch ihr Mund formte sich zu einem Lächeln. Mein Herz setzte einen Schlag aus, sie war so wunderschön. Noch nie hatte ich ein so unschuldiges und ehrliches Lachen gesehen, ihre großen Augen sprühten vor Freude... Ganz vorsichtig drückte ich sie etwas an mich, sie war warm. Ihre Ausstrahlung brachte die dicke Eisschicht, welche seit Jahren mein Herz umgab zum tauen. Da es peinlich für einen Mann gewesen wäre zu weinen, tat ich es nicht, auch wenn ich mich überglücklich fühlte. Sie hatte meinen Blick an sich gefesselt, als sie sich bewegte, bekam ich wieder Angst. Doch sie streckte nur ihre winzige Hand aus. Etwas irritiert fragte ich mich wonach, bis ich merkte, dass sie an meinem Schal zupfte. Vorsichtig hielt ich sie auf, da mir das Kleidungsstück sehr wichtig war. Kurzerhand hielt sie meinen Zeigefinger fest und weigerte sich ihn wieder loszulassen. „Sie scheint dich zu mögen." meinte Alexandra und lächelte mich beglückwünschend an. Ich hielt den Atem an, nichts konnte beschreiben, wie glücklich ich im Moment war. Nach einiger Zeit, die für mich, wie ein perfekte Ewigkeit wirkte, „entriss" man mir die Kleine wieder. Sofort vermisste ich ihre Wärme und ihr kleines Händchen, das meine Finger fasziniert festhielt. Während Alexandra zu stillen begann, nahm Nikolaus mich mit nach draußen.
 

Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, bis ich die Stille brach und murmelte „Sie ist wunderschön." Stolz lächelte mich der Zar an und antwortete „Sie ist perfekt, ich weiß. Irgendwann, wenn du mal Kinder hast, wirst du verstehen, was für ein atemberaubendes Gefühl es ist sein eigenes Fleisch und Blut in Armen zu halten." Diese Aussage versetzte mir doch einen schmerzhaften Stich, wer sollte mit mir schon Kinder haben wollen? Außerdem glaubte ich nicht daran, dass ich jemals lieben würde. Weshalb sollte ich dann Nachkommen haben? Um keinen Streit vom Zaun zu brechen nickte ich nur stumm und lächelte ihn wieder falsch an. Schnell wechselte ich das Thema „Die Dörfer im Norden verhungern vor ihren leeren Tellern." Nikolaus seufzte laut und nickte, das Grinsen auf seinen Zügen erstarb. „Ich weiß Ivan, aber was soll ich tun?" fragte er verzweifelt und blickte mich an. Hätte ich eine Antwort gewusst, hätte ich sie ihm gegeben, doch alles was ich tun konnte war die Schultern zu zucken. Den Rest des Tages verbrachten wir damit über mögliche Lösungen zu diskutieren, leider erfolglos.

Beschützerinstinkt

Die nächsten Tage verbrachte ich die ganze Zeit auf dem Anwesen. Nicht nur, weil mein Vorgesetzter dort war, sondern auch weil ich bei der kleinen Anastasia sein wollte. Noch nie hatte ich jemanden so fest ins Herz geschlossen, ohne das er etwas für mich getan hatte. So viel ich konnte, kümmerte ich mich um sie. Ganz egal was es war, ob ich sie schlafen legte, ihre Windeln wechselte oder ihr das Fläschchen gab... Alles erfüllte mich in einer Weise, die ich ansonsten nicht kannte.
 

Ich hatte sie gerade ins Bett gebracht und ihr beim Einschlafen zugesehen. Es war herzzerreißend süß, wie sie ihr die Augen langsam zufielen, während ich ihr vorsang. Dann steckte sie ich ihren Daumen in den Mund und nuckelte daran, bevor sie ganz einschlief. Danach hatte ich mich selbst in mein Zimmer begeben. Ärgerlicherweise war das Feuer im Kamin ausgegangen, also entschloss ich mich, da mir sowieso immer kalt war, es aus zu lassen. Der einzige Ort an dem ich mich nicht fühlte, als wäre mein Körper aus Eis, war, wenn ich mit der Zarentochter zusammen war. Erschöpft ließ ich mich in die Kissen meines warmen Bettes sinken. Endlich war die Hungersnot etwas besser geworden, doch gelöst war das Problem noch lange nicht. Die Müdigkeit übermannte mich und ich sank in einen tiefen Schlaf. Leider war dieser nicht traumlos, das war er bedauernswerterweise nie. Mein Unterbewusstsein begann mit mir ein diabolisches Spiel zu spielen.
 

Zuerst sah ich mich selbst, wieder als Kind. Verzweifelt bahnte ich mir den Weg durch den verschneiten Wald, der Schnee knirschte unter meinen Füßen. Heiße Tränen rannen meine von der Kälte geröteten, schmerzenden Wangen hinab. Das Atmen fiel mir schwer und meine Füße protestierten schon länger dagegen mich zu tragen. „Geh weg! Ich will das nicht! Was habe' ich euch getan?!" wimmerte ich und Tränen trübten meinen Blick. Plötzlich knickte mein rechtes Bein schmerzhaft unter mir weg, doch unter Todesangst versuchte ich aufzustehen und weiter zu rennen. Leider zu spät, ich fühlte den Kräftigen Griff meines Verfolgers um meinen Fußknöchel. Eine weitere Welle von Tränen bahnte sich ihren Weg meine Wangen hinunter. „Bitte nicht." schluchzte ich und spürte wie mir das Blut in den Kopf schoss, da mich mein Feind kopfüber festhielt. Bevor ich es wagen konnte zu zucken, wurde ich kräftig gegen den nächsten Baum gedonnert. Ein erstickter Schrei blieb in meiner Kehle stecken, als ich meine kleinen Knochen gefährlich knacken hörte. Sofort schmeckte ich etwas Metallisches auf der Zunge... Blut. Kräftige Schmerzen durchzuckten meinen ganzen Körper, wie tausende Glasscherben, die sich von innen in mein Fleisch bohrten. Verzweifelt begann ich um Gnade zu flehen „Bitte nicht... Ich werde mehr Waffen produzieren... Nicht." Erneut traf mich ein Tritt in die Seite, wieder schrie ich auf. Mein kleiner Körper hatte selten solche Pein ertragen müssen... Mir wurde richtig schlecht davon... Plötzlich wurde alles schwarz.
 

Überraschenderweise fand ich mich in meiner Hauptstadt wieder. Schockiert erkannte ich, dass sie in Flammen stand. Überall waren Schreie zu hören und panisch rannten Menschen umher. Besorgt rannte ich los in Richtung des Palastes. Ich musste die Romanovs um jeden Preis beschützen. Doch als ich dort ankam war alles schon ein schwarzer Aschehaufen. Verzweifelt begann ich in den Trümmern zu wühlen. „Das darf nicht sein!" murmelte ich immer wieder. Ich schnitt und schürfte mir die Hände auf, doch es war mir egal. Noch nie hatte ich mir so krampfhaft eingeredet, dass es nicht passiert war. Noch nie hatte ich so schmerzhafte Tränen geweint. Pure Hoffnungslosigkeit ergriff mich, als ich die Überreste von Anastasias Krippe aus den Trümmern zog. Nun vollkommen zerstört sank ich auf die Knie und begann rückhaltlos zu weinen „Wieso?! Wer hat das getan?!" fragte ich verzweifelt. Bis ich eine eisige Präsenz hinter mir wahrnahm. Es stellten sich mir die Nackenhaare auf und ich wagte es nicht mich umzuwenden. Eine Stimme mit amüsiertem Unterton flüsterte leise „Deine Schuld... Du warst zu schwach... nutzloses kleines Ding." Wie ein Echo hallten diese Worte in meinem Kopf wieder... Dann schreckte ich aus dem Schlaf hoch, schweißgebadet und keuchend. Die Gefühle überforderten mich und ich begann zu weinen... Die Stimme in meinem Traum hatte Recht, ich würde die Zarenfamilie nie beschützen können... Frustriert und verärgert über mich selbst wischte ich mir die Tränen ab und starrte in die Dunkelheit meines Zimmers. Von diesem Tage an, schwor ich mir, stärker und stärker zu werden. Bis ich jeden der mir wichtig war, hauptsächlich Anastasia vor allem beschützen konnte. Der Rest der Nacht war mal wieder schlaflos für mich, die Dämonen der Vergangenheit krochen aus den Ecken meines Gedächtnisses hervor und suchten mich heim.
 

Als der Tag anbrach stand ich auf und legte meinen Mantel ab. Nur mit einem dünnen Hemd am Leib trat ich nach draußen in die erbarmungslose Eiseskälte. Sofort begannen meine Muskeln heftig zu zittern und meine Zähne zu klappern, doch ich zwang mich loszugehen. Meile um Meile legte ich zurück, immer darauf aus meine Grenzen auszuweiten. Sie zu überschreiten und neu zu setzen. Nach kurzer Zeit waren meine Gliedmaßen blau und mein Atem fühlte sich an, als würde ich Nägel atmen. Aber ich zwang mich weiter voran. Als die Sonne am Höchsten stand erlaubte ich mir umzukehren. Ich wollte nicht wissen, was für einen erbärmlichen Anblick ich bot, doch das würde ich ab sofort jeden Tag tun. Nur um stärker zu werden, um zu schützen, was ich liebte. Zu Hause angekommen wärmte ich mich auf, bis nur noch die gewöhnliche Kühle in meinem Körper zurückblieb. „Ivan wo bist du gewesen?! Ich habe schon überall nach dir gesucht!" fragte mich mein Vorgesetzter verärgert. Ich schluckte schwer und erfand schnell eine Ausrede, mit der er zum Glück auch zufrieden war. Mir blühte ein zermürbend langes und frustrierendes Meeting mit den führenden Kräften meines Landes. Das Ergebnis war, wie immer, das selbe. Uns waren weitgehend die Hände gebunden und das Volk wurde zunehmend unruhig. Der Tag wollte einfach kein Ende nehmen. Nach schier endlosem Warten kam endlich meine Lieblingszeit. Meine Füße flogen richtig durch die Flure, bis ich mein Ziel erreichte. Alle Muskeln in meinem Körper und mein Kopf schmerzten von diesem zermürbenden Tag, doch als ich eintrat und Anastasia friedlich in den Armen ihrer Mutter sah, wurde mir bewusst, dass es das alles wert war. Alexandra sah auf und lächelte mich zur Begrüßung freundlich an. Irgendwie wirkte sie erschöpft und müde. Darum entschied ich ihr ein Angebot zu machen „Ich werde heute Nacht nach Ana sehen, damit du dich ausschlafen kannst. Du siehst gar nicht gut aus." sagte ich besorgt und nahm ihr vorsichtig das Baby aus den Armen. Sofort zeichnete sich auf meinen und Anastasias Lippen ein Lächeln ab. Wir hatten uns schon seit längerem gegenseitig unglaublich ins Herz geschlossen. „Ich weiß nicht Ivan... Du hattest auch einen harten Tag." widersprach die Zarin und betrachtete uns lächelnd. „Nyet, ist schon gut. Ich mach das gerne." antwortete ich und wog die Kleine etwas hin und her. Sie ließ ein erfreutes Lachen hören und spielte wieder mit meinem Schal. Mittlerweile durfte sie selbst das, da es ihr Freude bereitete. Mit einem lauten Seufzen gab sich ihre Mutter geschlagen und nickte „Ich werde den Dienern sagen, sie sollen ein paar Fläschchen vorbereiten, falls Ana Hunger bekommt." Sie riss mich aus meinen Gedanken, da ich sie nur am Rande verstanden hatte, nickte ich nur knapp. Alexandra gab Anastasia einen Gute-Nacht-Kuss und strich ihr liebevoll durchs Haar „Sei schön brav und mach Ivan keinen Ärger, da?" ermahnte ihr Mutter sie. Ihre Tochter antwortete nur mit etwas Gebrabbel und klammerte sich fester an den Schal. „Keine Sorge, sie ist immer brav." beschwichtigte ich die Zarin. Diese nickte nur und verließ dann das Zimmer.
 

Obwohl mir durchaus bewusst war, dass Anastasia noch viel zu klein war, um mich zu verstehen, geschweige denn zu antworten, begann ich mit ihr über alles zu sprechen. Manchmal gab sie ein Quietschen von sich oder versuchte zu reden. Sie war so süß, einfach perfekt. Nach einer schönen, kleinen Ewigkeit schlief sie in meinen Armen ein. Irgendwie war ich noch nicht bereit sie loszulassen, darum setzte ich mich mit ihr aufs Bett und betrachtete sie, wie sie schlief. So zierlich und verletzlich sie auch war, sie gab mir eine Sicherheit, ohne die ich nicht mehr leben wollte. Ich weiß nicht mehr wann, aber irgendwann muss ich auch eingeschlafen sein. Überraschenderweise schlief die Kleine sogar durch, was sie ansonsten nie tat. Doch am nächsten Morgen weckte sie mich sehr unsanft, indem sie anfing zu weinen. Nachdem ich nachgesehen hatte, ob eine volle Windel der Grund für ihr unwohlfühlen war und damit falsch lag, schloss ich daraus, dass sie hungrig war. Schnell wies ich einen Diener an, er solle mir eines der vorbereiteten Fläschchen bringen. „Nicht weinen mein Sonnenblümchen. Gleich kriegst du was zu essen." versuchte ich sie zu beruhigen und wog sie sanft hin und her. Ich hatte ihr den Spitznamen „Sonnenblume" gegeben, da sie auch die dunklen Wolken in meinem Leben in den Hintergrund drängte.
 

Endlich brachte mir der Angestellte die Flasche, vorsichtshalber testete ich, ob sie nicht zu heiß war. Dann begann ich Ana zu füttern und ihr Weinen verstummte. Mit ihren kleinen Händen konnte sie das Fläschchen noch nicht selbst festhalten, trotzdem klammerte sie sich daran. Ich unterstütze sie beim Halten und sah ihr beim Trinken zu „Da hat aber jemand großen Hunger." bemerkte ich schmunzelnd. Kurz ließ sie den Sauger los und antwortete mit etwas Gebrabbel. Mein Herz ging jedes Mal wieder auf, wenn sie das tat. Ich fuhr fort sie zu füttern, als ihre Mutter hereintrat. Sie sah viel ausgeruhter und besser aus. „Guten Morgen Russland. Mein Mann sucht dich schon." begrüßte sie mich und nahm mir ihre Tochter ab. Diese klammerte sich an meinen Mantel und wurde quengelig. Einerseits war ich stolz, da sie mich so zu lieben schien, andererseits wusste ich, dass ich an die Arbeit musste. Sanft machte ich ihre kleinen Finger los und flüsterte „Ich komme heute Abend wieder Sonnenblume." Die Zarin lachte, als sie den Spitznamen hörte und war froh, dass Anastasia aufgehört hatte zu protestieren. Wehmütig winkte ich den beiden zu und verließ dann das Zimmer.

"Ivan!"

Es gab keinen Tag, den ich nicht bei ihr verbrachte. Jede freie Sekunde, die ich neben meinem Training und meinen Pflichten erübrigen konnte, verbrachte ich mit meiner kleinen Sonnenblume. Oft sah ich einfach nur zu, wie sich Alexandra um sie kümmerte. Zeitweise übernahm auch ich das, da Zar Nikolaus sich nicht wirklich um seine Tochter sorgte. Manchmal war seine Frau sehr traurig, da Ana eine bessere Bindung zu mir haben zu schien, als zu ihrem Vater. Auch ich hatte schon öfter versucht mit Nikolaus darüber zu sprechen, doch die Antwort war jedes Mal, die Selbe „Ich bin der Führer dieses Landes... Wenn ich könnte, würde ich mehr Zeit mit ihr verbringen. Aber sieh dir doch die Lage an." Leider musste ich zugeben, dass er Recht hatte, der Hunger, General Winter und die umliegenden Länder machten uns schwer zu schaffen. Durch mein Training hatte mein Körper angefangen Muskeln aufzubauen und ich war etwas gewachsen. Nun hatten noch mehr Leute Angst vor mir, das war absolut nicht das Ziel meiner Bemühungen gewesen. Da es aber dazu beitrug, dass ich das für mich Wichtigste auf der Welt beschützen konnte, nahm ich diese Konsequenz in Kauf.
 

Die Tage wurden zu Wochen, diese verwandelten sich in Monate und schon bald in Jahre. Die Zeiten waren häufig sehr hart. Doch ich kämpfte mich durch, leider trug der ständige Kampf nicht zu meiner geistigen Gesundheit bei. Früher hatte ich immer Prügel bekommen, jeder war auf mir rumgetrampelt. Niemand hatte Interesse daran, wie es mir ging oder ob mich etwas verletzte. Mittlerweile hatte ich ihnen Respekt beigebracht, viel Respekt... Furcht. Obwohl ich mir immer Mühe gab freundlich zu lächeln und meine Maske aufrecht zu erhalten, fühlten sich die anderen unwohl in meiner Gegenwart. Mehr als je zuvor hatten sie angefangen mich zu meiden und redeten schlecht, hinter meinem Rücken, über mich. Um es mir ins Gesicht zu sagen, fehlte ihnen der Mut. Feige war das. Zu dieser Zeit war auch der Kontakt zu meinen Schwestern sehr brüchig und vorbelastet. Letztendlich kämpfte jeder allein für sich selbst. Nur war ich nie wirklich allein, die Stimmen in meinem Kopf, die mir befahlen schreckliche Dinge zu tun, waren immer da. Genauso, wie sie mir pausenlos vor Augen führten, welche Fehler ich hatte. Nur eine kleine Zuflucht hatte ich und das war die Zeit mit Anastasia. Sie war ganz schön gewachsen. Ihre strahlend blauen Augen hatten ein leuchtendes dunkelgrün angenommen und ihre Haaren waren um einiges länger geworden.
 

Seit neustem beherrschte sie das Sitzen. Ich war so stolz auf sie gewesen, als ich es das erste Mal beobachten konnte. Meine kleine Sonnenblume lernte ausgesprochen schnell. Als sie anfing herumzurollen, war ich nur noch in Sorge, da sie die Entfernung zur Bettkante nur schwer abschätzen konnte. Alexandra war genauso beeindruckt, wie ich, jedoch auch sehr gestresst. Ihr kleines Mädchen hatte schon seit ein paar Monaten angefangen zu zahnen. Jede Nacht wachte Ana ein paar Mal auf, da es sehr weh zu tun schien. Da ich schon immer versuchte ihre Mutter zu entlasten, blieb ich nachts beim Baby und sie sollte sich ausschlafen. Irgendwann hatte die Kleine entdeckt, dass meine Finger anscheinend gut schmeckten, denn sobald sie die ersten kleinen Vorderzähne hatte, begann sie auf allem herumzukauen. Eben auch auf meinen Fingern. Natürlich ließ ich sie nicht, was uns schon manchen Streit eingebracht hatte. Mir war bewusst, dass ich nicht ihr Vater war und das wollte ich auch nicht sein, ich fühlte mich eher, wie ein Beschützer. Jeden Abend erzählte ich ihr von meinem Leben, auch wenn sie nichts verstand. Für mich war es befreiend und sie schien es gern zu hören. Dann kam das Krabbeln, noch nie war ich abends so erschöpft gewesen, wie damals. Wer hätte gedacht, dass ein kleines Mädchen so schnell sein konnte und vor allem so leicht verschwinden konnte. Ließ ich sie einmal aus den Augen, war sie schon wieder irgendwo anders. Eine emotionale Achterbahnfahrt, war das. Immerhin war ich unglaublich stolz sie. Doch sie war trotzdem noch so verletzlich und klein. Was, wenn sie sich verletzte?
 

Ihre damalige Lieblingsbeschäftigung war es Schränke auszuräumen. Das hielt die Diener sehr in Atmen. Es war unwichtig, was sich im Schrank befand, meistens waren es Bücher oder Decken, alles wurde ausgeräumt und ausgiebig erkundet. Natürlich war ich auch zu dieser Zeit ständig um sie herum, um sie vor gefährlichen Dingen zu schützen. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn meiner kleinen, unschuldigen und süßen Anastasia etwas zugestoßen wäre. Dann kam ihr erster Geburtstag. Viel wurde nicht gefeiert, aber ich war unglaublich froh. Jedes Mal, wenn ich sie lachen sah, dankte ich Gott, dass es wenigstens ihr gut zu gehen schien. Was man von meinem Land nicht behaupten konnte. Wir hielten uns gerade so über Wasser, doch meine Einwohner wurden widerspenstig und waren unzufrieden. Durch beschwichtigende Maßnahmen konnte man die schlimmsten Tragödien jedoch abwenden. Anastasias erste Sprechübungen begannen. Zuerst hatte sie große Probleme mit Worten, wie „Mama" oder „Papa". Doch schon bald hatte sie den Bogen raus. Kurze Zeit später kamen „Nein", „Hunger" und „Ana" hinzu. Auch „Aua!" beherrschte sie ausgezeichnet. Wenn ihr etwas nicht passte und man auf das Wort „Nein" nicht reagierte, begann sie einfach „Aua" zu sagen. Als sie das, das erste Mal bei mir gemacht hatte, war ich unglaublich erschrocken. Bis mir die Zarin die List erklärte.
 

An einem Abend, es war ein langer, deprimierender Tag gewesen, passte ich einmal wieder auf sie auf. Sie war sehr aufgeweckt heute und hielt sich auf meinem Arm nicht still. „Na dann setzten wir dich eben ab." meinte ich mit einem Seufzen und setzte sie auf den roten Teppich. Sie brabbelte etwas und begann herumzukrabbeln. Um sie im Augen behalten zu können, ließ ich mich auf einem großen, roten, samtenen Ohrensessel neben ihr nieder. Manchmal sah sich zu mir um, als würde sie erwarten, dass ich ihr folgte. Ich winkte ihr nur und lächelte sie verzückt an. Ganz egal, wie groß sie geworden war, sie war immer noch zuckersüß. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, das Bett, klammerte sie sich an der Matratze fest und versuchte aufzustehen. Natürlich, stand ich sofort auf, um sie fangen zu können falls sie umkippte. Doch diesmal war das gar nicht nötig, sie stand. Meine kleine Sonnenblume stand auf eigenen Beinen. Ungläubig, sah ich ihr zu, wie sie auf ihren wackligen Füßchen stand und sich freute. Sofort freute ich mich mit ihr, ich war so unglaublich stolz, stolzer als je zuvor. „Du stehst! Ana du stehst!" jubelte ich. Immer noch zittrig auf den Beinen ließ sie das Bett los und klatschte erfreut in die Hände. Mir entfuhr ein verzücktes „Aaaw!" Mit großen Augen sah sie mich an und ich musste sie einfach hochheben. Sie lachte und begann sofort wieder mit meinem Schal zu spielen. Lächelnd ließ ich sie und konnte immer noch nicht fassen, was sie gerade geschafft hatte. Wäre es nicht schon so spät gewesen, hätte ich es gleich ihrer Mutter gezeigt. Ich spürte ein festes Ziehen an meinem Schal und wollte ihre Hände gerade davon lösen, als sie laut quietschte und „I...Ivan!" stotterte. Überrascht erstarrte ich „Wie bitte?" fragte ich ungläubig. „Ivan!" rief sie immer wieder und lachte so wunderschön, wie immer. Nachdem ich es realisiert hatte, traten mir Tränen in die Augen. Meine kleine Anastasia, konnte meinen Namen sagen... Noch nie war ich so glücklich gewesen. Sanft drückte ich sie an mich und weigerte mich, sie je wieder loszulassen. Das sagte ihr nicht wirklich zu und sie begann sich zu wehren. „Entschuldige mein Sonnenblümchen." murmelte ich grinsend. Sie sah zu mir hoch und lächelte mich wieder an, dann kaute sie auf meinem Schal herum. Da das nicht wirklich gesund sein konnte und ich es auch nicht wollte, nahm ich ihn ihr weg. Sofort verzog sie bockig das Gesicht und fing an zu weinen. Mit einem lauten Seufzen wog ich sie hin und her „Schsch bitte hör auf zu weinen." murmelte ich mehrmals. Da sie sich nicht beruhigen wollte, legte ich sie vorsichtig in ihr Bettchen und nahm meinen Schal ab. Seit Jahren hatte ich das nicht mehr getan, außer zum Duschen. Schweren Herzens gab ich ihr das geliebte Stück Stoff, schlagartig war sie wieder ruhig. Zuerst sah sie das pinke, flauschige Etwas nur fasziniert an, dann begann sie damit zu spielen und darauf herumzukauen. Gedankenversunken strich ich über die dicken, schlecht-verheilten Narben an meinem Hals und wehrte mich gegen die grausamen Bilder, die in meinem Kopf zu erscheinen drohten. Glücklicherweise riss mich Ana aus meiner Starre „Ivan!" brabbelte sie wieder und streckte die Arme nach mir aus, als wolle sie hochgenommen werden. Auf meinen Zügen breitete sich wieder ein seliges Lächeln aus und ich hob sie hoch. Fest hielt sie meine Schal umklammert, während ich sie umhertrug. Wieder begann ich mit ihr zu sprechen „Weißt du, nicht jeder Mensch ist so nett, wie ich. Viele sind grausam und hasserfüllt. Manchmal quälen sie sich gegenseitig, nur aus Spaß. Oder um Dinge, wie Geld und Ruhm anzuhäufen. Wie es anderen dabei geht oder ob jemand darunter leidet ist ihnen egal. Solche Menschen sind nur herzlos. Vor ihnen werde ich dich beschützen." Fürsorglich lächelte ich sie an und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Verwirrt sah sie mich an und nuckelte an ihrem Daumen, den sie in meinen Schal gewickelt hatte „Da! (ja!)" rief sie und gähnte süß. Ich lächelte und wog sie etwas langsamer hin und her, damit sie einschlafen konnte. Leise fing ich an ihr Schlaflied zu singen. Das half meistens, wenn sie nicht einschlafen wollte und so war es auch diesmal. Als sie tief und fest eingeschlafen war, legte ich sie ins Bett und betrachtete sie liebevoll. Tief und fest schlummerte sie und vergrub ihr Gesicht in meinem Schal, während sie an ihrem Daumen saugte. Sie war viel zu süß, als dass ich ihr ihre neue „Schmusedecke" hätte wegnehmen können. Nachdem ich ihr eine Weile zugesehen hatte, gähnte auch ich. Erschöpft von diesem Tag und trotzdem glücklich ließ ich mich auf das Bett, neben der Wiege fallen. Wenige Minuten später war ich auch schon wieder eingeschlafen. Überraschenderweise seit Jahren einmal ohne Albträume zu haben... Wie sehr hatte mich die Kleine doch verzaubert...

"Hunger! Bett!"

Der nächste Morgen ließ nicht lange auf sich warten und mit ihm kamen auch die Probleme. Ich wurde geweckt durch ein lautes Wimmern. Sofort war ich wach und sah mich noch etwas verschlafen um, bestimmt war Anastasia aufgewacht. Schwerfällig erhob ich mich von meinem warmen Bett und sah in die Wiege hinein. Obwohl sie noch schlief, wimmerte sie, ihr Gesicht war verzerrt, kräftig klammerte sie sich an meinen Schal und wurde immer unruhiger. Zuerst dachte ich sie hätte einen Albtraum, doch als ich vorsichtig versuchte sie zu wecken, fiel mir auf, wie warm ihr Kopf war. Eindeutig Fieber. Sofort rief ich den Hofarzt und hob sie behutsam hoch. Verschlafen blinzelte sie mich an und fing dann an zu weinen. Beruhigend ging ich mit ihr auf und ab, wickelte sie der Wärme wegen in ihre Decke, strich ihr über den Rücken und versuchte sie zu beruhigen. „Shsh der Arzt kommt gleich. Alles wird gut." wiederholte ich und redete es mir währenddessen auch selbst ein. Natürlich hatte ich Angst, große Angst. Denn so stark ich auch war, die einzigen zwei Dinge vor denen ich meine Sonnenblume nicht beschützen konnte waren, die Zeit und Krankheiten. Meiner Meinung nach viel zu spät traf der Doktor ein, er hatte eine Ledertasche unter dem Arm und sah selbst noch sehr verschlafen aus. Ana hatte aufgehört zu schreien, aber war immer noch unruhig, wimmerte ab und zu. „Sie müssen ihr helfen, sie hat Fieber und bestimmt auch Schmerzen!" forderte ich den Mann etwas unfreundlich auf. Er gab nur ein unverständliches Brummen zurück und streckte die Arme nach Anastasia aus. Zögerlich übergab ich sie ihm, ich hasste es sie Fremden zu geben. Immerhin konnte sie fallen, außerdem hasste sie Fremde. Als sie den Mann sah, klammerte sie sich an meinen Schal und weinte erneut. Irgendwie versetzte mir das einen Stich ins Herz. „I...Ivan!" brabbelte sie verzweifelt und schien zu vermuten, dass ich sie weggab. Was ich natürlich nie tun würde, also streckte ich ihr meine Hand hin, sofort umschloss sie meinen Finger mit ihrer winzigen Hand und beruhigte sich etwas, fing an daran zu nuckeln. Ausnahmsweise durfte sie das, immerhin würde sie sonst wieder Tränen vergießen.
 

Bald schon traf auch Alexandra wieder ein, sie trug ihren roten Morgenmantel und ihre Haare waren offen, ein Anblick den man nur selten zu Gesicht bekam. Besorgt fiel ihr Blick auf ihre kleine Tochter „Was hat sie?" fragte sie. Leider konnte ich nicht mehr als nur die Schultern zucken. Doch dann legte der Arzt das Fieberthermometer und Stethoskop aus der Hand und überreichte die Kleine ihrer Mutter. „Es ist nur eine Erkältung, außerdem hat sie eine leichte Zahnfleischentzündung." erklärte er und ich atmete auf. „Ich werde ihr etwas Salbe anrühren, damit muss man dann ihren Mundraum behandeln. Außerdem wird sie Zäpfchen erhalten." Dass mit der Creme war kein Problem für mich, immerhin nuckelte sie sowieso ständig an meinen Fingern, aber Zäpfchen. Nein lieber nicht, das sollte Alexandra übernehmen. Die Zarin nickte nur etwas abwesend und wiegte das Baby hin und her. Ana hatte sich zum Glück jetzt vollständig beruhigt, ich hob meinen Schal auf und band ihn mir wieder um. „Nikolaus erwartet dich. Geh jetzt lieber." empfahl mir Alexandra. Sofort nickte ich und verließ den Raum. Sorge trübte meinen Blick, aber nicht nur um die Zarentochter, auch um mein Land. Mein Boss wollte mich immer nur sehen, wenn es Probleme gab. Außerdem fing ich jetzt schon an die Kleine zu vermissen. Es war als wenn jedes Mal, wenn ich das Zimmer der Kleinen verließ, dass was mein Herz erfüllt wieder erfror und verschwand. Irgendwie fühlte sich das sogar schmerzhaft an. Doch Anastasia brauchte jetzt Ruhe und ich hatte meine Pflichten zu erledigen. Jetzt wo sie krank war, würde es wohl noch etwas dauern, bis ich ihrer Mutter demonstrieren konnte, wie sie laufen konnte. Ein leichtes, aber ausnahmsweise ehrliches Lächeln umspielte meine Lippen, beim Gedanken daran. Obwohl sie mir viel zu schnell erwachsen wurde, war ich froh darüber, dass sie es wurde. Je älter sie werden würde, desto weniger verletzlich war sie. Natürlich würde ich sie für immer beschützen! Im Verlauf meines Lebens habe ich das schon bei vielen versucht und bin oftmals kläglich gescheitert. Wurde dafür gequält, verachtet. Die vielen Narben auf meiner Haut sind das Zeugnis dafür. Trotzdem könnte ich nicht behaupten, dass ich es nicht gern getan hatte. Damals zu versuchen meine Schwestern zu beschützen, war eines der besten Dinge, die ich in meinem Leben getan hatte. Kläglich war ich gescheitert und die Tartaren hatten mich deshalb schrecklich bestraft. Sie haben das in mir getötet, was man die Unschuld eines Kindes nennt, die Fähigkeit Freude an einfachen Dingen zu haben, haben in mir die Belustigung am Verletzten und Töten geweckt, aber auch den Hass, den ich jedes Mal verspüre nachdem ich es getan habe. Sie und viele andere haben das Monster geschaffen, als das sie mich zu Unrecht bezeichnen. Denn sie sind die Monster, waren sie schon immer gewesen. Aber Anastasia würde ihnen nie zum Opfer fallen, dafür würde ich sorgen. Ihr Leben würde, nein musste, glücklich verlaufen oder ich habe erneut versagt. Nachdem ich die endlos wirkenden Gänge entlanggelaufen war, stand ich endlich vor dem Arbeitszimmer des Zaren. Zögerlich hob ich die Hand und klopfte an, wartete auf die Erlaubnis einzutreten. „Herein." erklang seine tiefe, müde klingende Stimme. Schnell trat ich ein und schloss die Tür wieder leise hinter mir. „Ihr erwartet mich?" fragte ich nach einer kurzen Verbeugung. Der Mann hinter dem Mahagonischreibtisch nickte und blickte von seinen Dokumenten auf. Dicke, schwarze Ringe thronten unter seinen Augen, seine Haut war bleicher als sonst. Besorgnis breitete sich in meinem Gesicht aus „Ihr seht nicht gut aus. Wann habt Ihr das letzte Mal geschlafen?" fragte ich und schätzte, dass er seit mindestens zwei Tagen wach sein musste. Ein müdes Lächeln huschte über seine Züge „Kommt darauf an, welcher Tag heute ist." Sofort entfuhr mir ein Seufzen „Aber Zar, denken Sie doch mal an ihre Familie. Ihr könnt Euch hier nicht kaputt arbeiten!" ermahnte ich ihn. Ein bitteres, aber auch minder belustigtes Lachen erfüllte kurz den Raum, dann blickte er mich ernst an „Ich arbeite hier, damit das Land stabil ist, damit Anastasia es mal übernehmen kann. Apropos wie geht es ihr?" fragte er und schien doch interessiert an ihr. „Sie hat etwas Fieber und eine Erkältung, Eure Frau ist bei ihr." erklärte ich schnell und er nickte nur knapp „Hoffentlich wird sie bald wieder gesund." murmelte er und ordnete ein paar Papiere auf seinem Tisch. „Also ich habe dich herbestellt, da die Lage immer schlechter wird. Im Osten gab es wieder Aufstände, die Kälte reißt nicht ab und die Bevölkerung hungert." erklärte er sehr besorgt, die Stirn voller Sorgenfalten. „Ich weiß, ich kann es spüren." antwortete ich und sah zu Boden. „Ich werde die Steuern etwas senken, um das Volk wieder zu beschwichtigen." informierte er mich und unterschrieb den Antrag. Wortlos stimmte ich mit einem Nicken zu. Es folgten weitere Erklärungen und Auskünfte, manche wichtig, viele unbedeutend. Gegen Nachmittag fand die Reihe der Hiobsbotschaften endlich ein Ende. Total zermürbt und von Kopfschmerzen geplagt, als hätte man mir einen Eiszapfen durch den Stirnlappen gerammt, verließ ich das Zimmer.
 

Ich sah auf die Uhr, nur um festzustellen, dass Anastasia jetzt ihren Mittagsschlafen halten musste, trotzdem schlich ich mich in ihre Gemächer. Dort überprüfte ich nur, ob sie auch wirklich fest zugedeckt war, es war im Raum war und es ihr gut ging. Wie ein kleiner Engel schlief sie in ihrem Bettchen, nuckelte mal wieder herzallerliebst an ihrem Daumen. Schlagartig vergas ich meine Kopfschmerzen und die schlechten Neuigkeiten, alles was zählte was sie. Das schmerzhafte, leere Gefühl in meinem Brustkorb wurde von etwas warmen Angenehmen abgelöst. Vorsichtig strich ich ihr über die Wange und ihr dünnes Haar zurecht. Nach ein, zwei unzufriedenen Geräuschen beruhigte sie sich wieder. Da ich nichts Anderes vorhatte, ließ ich mich wieder im Sessel nieder und wartete bis sie aufwachte. Glücklicherweise hatte sich ihre Stirn kühl angefühlt, was mich ungemein beruhigte. Ungefähr eine Stunde später wachte die Kleine auf, sie weinte nicht, sondern quietschte erfreut, als würde sie wissen, dass ich da wäre. Ich stand auf und hob sie aus ihrer Wiege „Ivan!" begrüßte sie mich und zog an meinem Schal. „Da Sonnenblume, hast du gut geschlafen?" fragte ich schmunzelnd. Sie sabberte etwas und kaute auf ihrer Hand rum „Hunger!" beschwerte sie sich und verzog das Gesicht. Schnell wies ich einen Diener an, ein Fläschchen zu bringen. Währenddessen setzte ich auf sie auf den Teppich, einen ihrer Lieblingsorte. Verzückt sah ich zu, wie sie brabbelnd rumkrabbelte und versuchte sich überall hochzuziehen. Irgendwann half ich ihr, indem ich ihre beiden Händchen in meine nahm und sie vorsichtig auf die Füße hob. Verwundert sah sie zu mir hoch und lachte dann aber, hüpfte sogar etwas. Von ihrer Erkältung war zum Glück nichts mehr zu merken. Hin und weg beobachtete ich sie. Zaghaft ließ sie meine Hände los und ging ein paar Schritte allein. Wieder war ich unglaublich stolz auf sie. Endlich kam der Diener mit der Flasche und überreichte sie mir. Ich beschloss Ana etwas zu fordern und kniete mich hin „Anastasia Essen! Komm her." ermutigte ich sie und wollte, dass sie aus eigener Kraft zu mir kam. Zuerst sah sie mich hilflos an, doch als sie merkte, dass ich sie diesmal nicht hochheben und füttern würde, stand sie auf. Ein trotziges Grinsen lag auf ihren Zügen, als sie vorsichtig in meine Arme stolperte. Fest schloss ich sie in meine Arme „Ich bin so stolz auf dich!" lobte ich sie. Sie lachte und klammerte sich an meine Jacke, versuchte ihr Nachmittagsessen zu erreichen „Hunger!" jammerte sie erneut. Sofort gab ich ihr die Flasche, mittlerweile konnte sie diese schon fast selbst halten. Manchmal half ich ihr noch etwas damit. Allein ihr zu zusehen machte mich überglücklich. Während des Trinkens spielten ihre Beine nicht mehr mit und sie viel auf ihren Po. Ich lachte leise und sah ihr weiter zu. Wenn sie fertig war und mich mit großen Augen ansah, beschwerte sie sich erneut „Hunger! Ivan Hunger!" Etwas verwundert, dass sie so etwas Ähnliches wie einen Satz formulieren konnte, aber auch, da sie noch Hunger zu haben schien machte mich etwas stutzig. Dann fiel mir ein was die Zarin gesagt hatte, seit schon etwas längerer Zeit nahm die Kleine auch feste Nahrung zu sich. Wieder wies ich einen Diener an etwas zu holen. Diesmal kehrte er früher zurück. Ich nahm den Früchtebrei entgegen und lächelte, dann hob ich Ana in ihren Babystuhl. Das gefiel ihr gar nicht, sie begann zu zappeln und zu strampeln, versuchte rauszukommen. „Sonnenblume bitte halt still." bat ich sie, nach wenigen weiteren Anläufen gab sie auf. Um ihre Kleidung zu schützen, band ich ihr ein himmelblaues Lätzchen um. Natürlich konnte sie auch das nicht leiden. Aber bevor sie daran ziehen konnte, reichte ich ihr einen kleinen Holzlöffel und stellte die Schale mit Brei vor ihr ab. Alexandra hatte gemeint, sie sollte lernen Besteck zu benutzen. Die Betonung lag auf lernen. Das meiste landete in ihrem Gesicht, auf dem Tisch, ihrem Gesicht und als ich ihr helfen wollte letztendlich auf mir. „Oh Ana, bitte hör auf." bat ich sie erneut und nahm einen Löffel Essen, steuerte damit auf ihren Mund zu. Die ersten paar Male machte sie noch brav mit, doch dann schlug sie mir den Löffel immer wieder aus der Hand. Als er mir letztendlich ins Gesicht flog, hatte ich das Gefühl, dass sie satt war. Etwas angewidert wischte ich mir das Gesicht ab und dann auch sie. Leider reichte das nicht, es war eindeutig ein Bad fällig. Gesagt getan.
 

Glücklicherweise liebte Anastasia das Baden, sie hatte noch nie ein Problem damit gehabt, wenn ich sie badete. Vorsichtig wusch ich ihr Gesichtchen, während sie sich mit einem Holzschiffchen vergnügte und planschte. „Ana bitte halt still, du machst ja alles nass." ermahnte ich sie und war jetzt schon durch und durch nass. Sie lachte nur erfreut und machte fröhlich weiter. Da ich ihr den Spaß nicht verderben wollte, ließ ich sie und fing an ihre Haare vom Apfelmus zu befreien. Als ich fertig war, spritzte sie mir Wasser direkt ins Gesicht und lachte „Ivan baden!" kicherte sie und schubste das Boot etwas herum. Ich schmunzelte „Nyet, ich bade später, wenn du im Bett bist." Als ich das Wort Bett erwähnte hob sie die Hände über den Kopf, als wollte sie herausgenommen werden. Sanft hob ich sie heraus und wickelte sie in ein flauschiges, extra angewärmtes Handtuch. Während ich sie trocken rubbelte, zog sie an meinem Schal und lachte. Dann entkam ihr ein Gähnen „Bist du Müde Sonnenblume?" fragte ich und zog ihr, ihr Nachthemdchen über den Kopf. „Bett." murmelte sie und ihre Augenlieder waren merklich schwer. „Ja wir bringen dich jetzt ins Bett." antwortete ich und nahm sie hoch. Fest klammerte sie sich an mich und schlief auf dem Weg vom Bad in ihr Zimmer ein. Für sie war es ein aufregender Tag gewesen, außerdem war sie immer noch nicht ganz gesund. Behutsam legte ich sie in ihr Bettchen, betrachtete sie, wie sie da so selig schlief. Wunderschön. Lange sah ich ihr zu, bis auch ich gähnen musste. Langsam stieg ich ins Bett, um sie nicht zu wecken. Auch heute blieben mir die Albträume fern...

Schlilttenfahren

Wieder verging die Zeit, ein schlechter Sommer folgte auf den nächsten, die Winter wurden immer härter, die Vorräte gingen zur Neige, das Volk wurde widerspenstiger. Durch den schlechten Zustand meines Landes, hatte auch ich angefangen nachzulassen, öfters wachte ich nun mit Rückenschmerzen auf, hatte zeitweise unglaubliche Migräne und ein Gefühl des Unmutes, aber auch der Erschöpfung war mein stetiger Begleiter. Nikolaus war im gleichen Maße überarbeitet und ausgelaugt, wie ich, doch er gab nicht auf, tat weiterhin sein Bestes. Seit er und Alexandra einen riesigen Streit gehabt hatten, kümmerte er sich mehr um Anastasia. Natürlich gefiel ihr das, ich stand dem Ganzen eher mit gemischten Gefühlen gegenüber. Immerhin tat er es hauptsächlich aus Zwang und nicht aus wirklichem Interesse an seiner süßen Tochter.
 

Mittlerweile war sie 5 Jahre alt. Sie hatte immer noch diese strahlenden, grünen Augen, schulterlanges, rotbraunes Haar und das bezauberndste Lachen auf der ganzen Welt. Mittlerweile konnte sie einbahnfrei laufen, hatte angefangen Reitstunden zu kriegen und liebte Puppen. Außerdem hatte sie einen neuen Freund dazu gewonnen, da das Spielen mit Erwachsenen auf die Dauer keine Lösung gewesen war, hatte man sie mit dem Sohn einer Wache bekannt gemacht. Sein Name war Sergey, ein schüchternes, aber liebes Bürschchen. Ana und er gingen durch dick und dünn, egal was angestellt wurde, man wusste sofort, dass es beide gewesen waren. Hin und wieder stimmte es mich doch sehr traurig, dass sie schon so groß war. Jetzt brauchte sie mich nicht mehr so sehr, trotzdem verbrachte ich liebend gerne Zeit mit ihr und ihrem Spielkameraden. Natürlich war ich stolz auf sie, seit Neustem musste sie die Hofetikette erlernen, was ihr so gar nicht gefiel. Sobald der Lehrer das Zimmer wieder verlassen hatte, wurde die Schleife aus dem Haar gerissen und die Höflichkeit gleich mit in die Ecke geworfen. Sie war ein kleiner Wildfang und damit das komplette Gegenstück zu Sergey. Der kleine, aschblonde, Junge mit den blauen Augen und dem sturen Charakter versuchte immer Ana zu beschützen. Doch sie lachte darüber nur, sie brauchte niemanden, der sie beschützte, ihrer Meinung nach zumindest. Ich würde sie immer beschützen mit allem was ich habe. Überraschenderweise liebte sie den Winter, ganz im Gegensatz zu mir. Am liebsten war sie dann draußen, Schlittenfahren oder Eislaufen. Mittlerweile beherrschte ich das Zweite auch, da sie sich geweigert hatte, das Eis zu betreten, wenn ich nicht mitkam. Immer noch fand ich alles was sie tat süß, selbst wenn sie etwas anstellte, konnte ich ihr nicht lange böse sein. Für mich blieb sie meine Sonnenblume. Seit es sie gab, machte sie mein Leben schöner, dank ihr fand ich wieder Freude an Dingen und fasste langsam wieder den Glauben, dass nicht jeder auf diesem Planeten schlecht und verdorben war.
 

Gestern Abend hatte ich eine lange Besprechung mit dem Zaren gehabt, darüber, was wir als Nächstes tun sollten, da General Winter eine weitere Ernte zu Nichte gemacht hatte. Natürlich forderten die Bauern Ersatz, doch wir konnten nichts hergeben, was wir nicht hatten. Die Steuern hatten wir schon auf ein Minimum gesenkt, doch nichts schien zu helfen. Bis tief in die Nacht hatten wir diskutiert, Nikolaus war verzweifelt, genau wie ich. Letztendlich beschlossen wir, dass wir den Bauern doch Geld geben mussten, da wir sie nicht dem Hungertot überlassen konnten. Mit dieser, eigentlich unbrauchbaren, Endlösung waren wir auseinandergegangen und ich hatte mich schlafen gelegt. Frühmorgens weckte mich eine glockenhelle Stimme und das Schwanken meines Bettes, da jemand darauf herumsprang. Langsam machte ich die Augen auf und blinzelte ein paar Mal verschlafen. Mir war klar, wer mich da aufweckte. „Wach auf Ivan! Es hat die ganze Nacht geschneit! Komm wir gehen Schlittenfahren!" forderte mich Anastasia auf und versuchte weiter mich zum Aufstehen zu bewegen. Ich gähnte lange und setzte mich dann auf „Ist gut Ana, gib mir noch einen Moment." bat ich sie und rieb mir die Augen, richtete meinen Schal zurecht. Da sie, wie jedes Kind in ihrem Alter, sehr ungeduldig war, sprang sie weiter auf und ab und protestierte „Nyet jetzt sofort." Bockig verschränkte sie die Arme vor der Brust und schmollte. Bei dem süßen Anblick konnte ich nur schmunzeln, blitzschnell packte ich sie und fing an sie zu kitzeln. „Sei nicht immer so schnell bockig.". Sie quietschte erschrocken, fing dann aber schnell an zu lachen, verzweifelt versuchte sie davon zu kriechen. Doch ich hatte sie fest im Griff und fuhr fort sie zu kitzeln. Immer verzweifelter kämpfte sie gegen mich dann, doch dann gab sie auf „Stopp! Ich gebe auf!" keuchte sie. Sofort hörte ich auf und lächelte. Zumindest war ich jetzt vollständig wach, auch wenn mir die Erschöpfung noch ins Gesicht geschrieben war. Doch für meine Sonnenblume raffte ich mich gerne auf. Obwohl mein Körper immer noch auf dem Stand eines 18-jährigen war, hatte ich Rückenschmerzen, wie ein alter Mann. Das lag nur an dem schlechten Zustand meines Landes. Mit einem Seufzen, versuchte ich die Wirbel wieder in ihre richtige Position zu rücken. Natürlich funktionierte es nicht ganz, aber naja, wenigstens etwas. Ana sah mit großen Augen zu mir hoch und lächelte aufgeregt. „Ich muss mich jetzt umziehen, also husch." forderte ich sie mit einem warmen Grinsen auf. „Ich warte draußen." antwortete sie und verließ das Zimmer. Es überraschte mich nicht, als sie die Tür öffnete und Sergey schon draußen stand. Fest eingepackt in mindestens zwei Jacken und einer Schneehose. Obwohl er sehr dünn war, sah er gerade so rund aus, wie ein Schneemann. Leicht schmunzelte ich bei dem Gedanken und schloss dann die Tür hinter Ana. Schnell zog ich mich um, richtete meinen Schal zurecht und knöpfte meinen Mantel zu. Dann schlüpfte ich in meine Schuhe und öffnete die Tür. Zu meiner Überraschung, war dort keine Spur von den Kindern. Suchend sah ich den Gang entlang. Plötzlich flitzte etwas an mir vorbei und ich konnte einen Blick auf rotes Haar unter einen brauen Pelzmütze erhaschen. Schon bald folgte ein etwas schwerfälliger Schneemann. Hinter ihnen hörte ich Geschimpfe. Ich verkniff mir ein Lächeln und fing die beiden ein „Was habt ihr denn wieder angestellt?" fragte ich gespielt vorwurfsvoll „mmh Nichts." antwortete Sergey, hatte aber vergessen die Törtchen, die sie gerade aus der Küche stibitzt hatten runterzuschlucken. „Also wirklich Sergey, man schluckt runter bevor man redet!" äffte Anastasia ihren Benimmlehrer nach und stemmte die Hände in die Hüften. Beide fingen an zu lachen und ich verdrehte die Augen „Ihr wisst ganz genau, dass ihr vor dem Mittagessen nicht naschen sollt." tadelte ich sie und hob dann beide hoch. Fest schloss Ana ihre Arme um meinen Hals und kicherte „Ja Ivan." meinte sie in übertrieben entschuldigenden Ton. Wieder musste ich grinsen. Damit uns die Köchin nicht erwischte, trug ich sie schnell nach draußen.
 

Eiskalter Wind peitschte über die verschneite Wiese hinter dem Anwesen. Langsam tanzten kleine Schneeflocken vom Himmel und unsere Fußspuren zeichneten die zuvor perfekte Schneedecke. Ana und Sergey bewarfen sich mit Schneebällen, ich schaffte es immer wieder auszuweichen, obwohl ich eigentlich ein viel größeres Ziel abgebe, als die Zarentochter. Immer wieder wurde sie getroffen, doch sie lachte nur und versuchte zurückzuwerfen. Nach einem kurzen Marsch, den verschneiten Hügel hoch, stellte ich den hölzernen Schlitten ab. „So bitte aufsteigen." forderte ich die beiden auf, die mittlerweile schon vollkommen mit Schnee paniert waren, die Gesichter rot von der Kälte, doch beide grinsten breit. Da Sergey aufgrund seiner Winterkleidung, seine Mutter hatte es wirklich übertrieben, Probleme hatte aufzusteigen, hob ich ihn auf den Schlitten. Hinter ihm kletterte Ana hoch und hielt sich an ihm fest. Trotz, dass er einen Schal trug und seine Wangen rot waren, konnte ich ganz genau sehen, dass er noch roter wurde. Da ich nicht wusste, wie meine Sonnenblume für ihn fühlte, schmunzelte ich nur „Festhalten." ermahnte ich sie und schubste sie den Hügel runter. Beide lachten und versuchten nicht runter zu fallen. Glücklich sah ich ihnen zu, plötzlich hatte ich alle meine Probleme vergessen. Ich war so froh, dass es ihr gut ging, dass sie glücklich und gesund war. Bis jetzt schien ich meine Aufgabe ganz gut zu erfüllen. Irgendwie machte mich das stolz. „Komm schon Ivan, wieder hoch!" rief Anastasia vom Fuß des Hügels nach oben. „Ich komme." antwortete ich und lachte, ging nach unten, rutschte fast aus, doch erreichte die beiden ohne zu fallen. Da die beiden keinerlei Anstalten machten aufzustehen, zog ich sie einfach mit dem Schlitten wieder nach oben. Immer wieder wiederholten wir das, bis uns einer der Boten wieder nach drinnen zitierte, zum Mittagessen. Leider war es Sergey nicht erlaubt, mit der Zarenfamilie zu essen, also blieb er in der Küche. Anastasia betrat die Küche und sofort kam ihre Zofe zu uns gelaufen, sie fing an zu schimpfen „Wie siehst du denn aus? Total durchgefroren und diese Kleidung? Wo sind deine Kleider? Und wo ist deine Schleife?" fragte sie und bedachte mich mit einem bösen Blick, da ich nichts gesagt hatte. Ich zuckte nur die Schultern. Als Ana mich hilfesuchend ansah, hob ich sie hoch und sagte beschwichtigend zu der immer noch schimpfenden Frau „Das lässt sich ja alles wieder richten. Das Essen wartet, verschwenden Sie keine Zeit damit Sie zu schimpfen, sondern ändern sie es." Beleidigt und empört sah mich die Magd an, schnappte sich Anastasia und ging mit ihr in ihr Zimmer. Wenigstens hatte sie das Schimpfen aufgehört. Die Zarentochter blickte über ihre Schulter zu mir zurück und winkte mir dann. Ich winkte schmunzelnd zurück und ging dann in mein Zimmer. Aufgrund dessen, dass mir immer kalt war, zog ich mich einfach so um. Heute hatte sich wieder mal Besuch angekündigt, also musste auch ich dem Essen fernbleiben. Ich vertrieb mir die Zeit mit Lesen, da ich keinen Hunger hatte. Ungestört saß ich in meinem Sessel, bis meine Zimmertür wieder aufflog. Sofort sah ich von meinem Buch hoch und grinste, vor mir stand Ana. Ihre widerspenstige rote Mähne, war in eine Hochsteckfrisur gezwungen worden, zusätzlich hatte man auch noch eine dieser, von ihr so gehassten, rosa Schleifchen dazu gesteckt. Sie trug ein Kleid im selben pink, welches sie eigentlich verabscheute. Hilfesuchend sah sie mich an, doch ich konnte nur ein Lachen zurückhalten. „Und wie war das Essen?" fragte ich dann vorsichtig. Frustriert ließ sie sich auf den Boden fallen und begann ihre Frisur zu zerstören, die ihr sowieso nicht wirklich stand. „Doof." antwortete sie knapp und warf die Schleife durchs Zimmer. „Weshalb das denn?" harkte ich nach. „Dies Herzogsfamilie hatte ihre Tochter dabei, die war total doof. Sie hat mir meine Puppe weggenommen und behauptet, dass ich ungehobelt sei." Meine Gesichtszüge verdunkelten sich etwas „Dann ist sie tatsächlich doof." antwortete ich nur. „Sag ich doch." meinte Ana selbstgefällig und hatte endlich ihre Haare wieder offen, welche ihr nun zerzaust ins Gesicht fielen. Meine kleine, freche Prinzessin... Dachte ich kurz und hob sie auf meinen Schoß. Neugierig sah sie das Buch an, das neben mir lag „Was liest du da?" fragte sie neugierig. „Goethes Faust." antwortete ich und nahm das Buch wieder zur Hand. Fragend sah sie mich an „Worum geht's da?" fragte sie weiter, sie war schon immer sehr neugierig gewesen. Ich holte tief Luft und fing dann an zu erklären. Irgendwann unterbrach sie mich und schüttelte den Kopf „Dieser Goethe scheint ja ganz schön verrückt gewesen zu sein." meinte sie verwirrt und sah das Buch skeptisch an. Ich lachte und legte es wieder beiseite. „Kannst du mir was vorlesen?" fragte sie dann und sah mich mit großen Welpenaugen an. „Natürlich Sonnenblume." ich küsste sie auf die Stirn und setzte sie aufs Bett. Langsam ging ich zum Bücherregal und zog ein großes Märchenbuch heraus. Nach kurzem Suchen fand ich die Geschichte von Dornröschen. Ich setzte mich wieder neben sie und sie kletterte auf meinen Schoß. Neugierig sah sie sich die Bilder an, während ich anfing zu lesen. Zwischendurch stellte sie mir immer wieder Fragen oder machte Anmerkungen. Bis zum Ende kamen wir nicht, denn sie schlief auf meinem Schoß ein. Ich konnte es verstehen, sie hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Langsam legte ich das Buch weg und hob sie hoch. Leise verließ ich mein Zimmer und brachte sie ihn ihres. Süßerweise klammerte sie sich an mir fest, während sie schlief. Nachdem ich sie hingelegt und festzugedeckt hatte, sah ich ihr beim Schlafen zu. „Schlaf gut Sonnenblume. Hab dich lieb." murmelte ich und strich ihr durchs Haar. Sie war so süß und unschuldig, wenn sie schlief. Ganz anders, als wenn sie wach war. Aber nichtsdestotrotz war sie immer noch meine kleine Prinzessin und ich liebte sie über alles. Nach einer Weile kehrte ich in mein Zimmer zurück.
 

Leider waren meine Schmerzen wieder schlimmer geworden, jeder Schritt tat weh, als würden meine Gelenke Glasscherben zerreiben und mein Rücken schmerzte als hätte man mich ausgepeitscht. Dann auch diese unerträglichen Kopfschmerzen. Seufzend trank ich einen großen Schluck Wodka, in der Hoffnung, dass der Alkohol mir helfen würde. Wie gewohnt tat er das auch in größeren Mengen, langsam begann ich einzuschlafen, doch leider verfolgt von Albträumen.



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