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Tokyo: Real Vampire

Zwischen Gothic und Legende
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank schonmal an die fleißigen Freischalter, die gerade eine Menge zu tun haben, wie ich sehe. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, genug Alltags-Vorgeplänkel, jetzt geht´s endlich zur Sache. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wieder danke an die fleißigen Freischalter - ich lade derzeit ziemlich zügig nacheinander hoch. ^^
Da die Story in Tokyo spielt, hätte ich hier eigentlich in Yen rechnen müssen. Da ich es dem Leser aber nicht zumuten wollte, den Umrechnungskurs Yen > Euro aus dem Kopf wissen zu müssen, hab ich darauf mal nur am Rande Rücksicht genommen. Komplett anzeigen

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Erstkontakt

„Shit, man.“ Oniji ging etwas langsamer, als er die beiden finsteren Gestalten vor sich in der dunklen Gasse herumlungern sah. Sollte er umkehren? Ach was, die würden ihm schon nichts tun. Entschlossen klappte er den Kragen seiner Jacke hoch, schob die Hände dann in die Taschen zurück und stürmte mit eingezogenem Kopf weiter. Sie würden ihm nichts tun. Sie würden ihm ... Oniji seufzte leise, als einer der Kerle aufsprang und sich ihm in den Weg stellte. Mist!

„Hey, Kleiner.“, tönte ihm der Sack entgegen. „Wohin des Weges?“ In der Finsternis blitzte eine Messerklinge.

Der junge Mann blieb stehen, starrte erst den Räuber vor sich abschätzend an, dann seinen Kollegen, der noch immer am Rand auf dem Fußboden saß.

„Was ist? Hast du deine scheiß Zunge verschluckt?“

„Was wollt ihr?“, presste Oniji gedämpft hervor.

„Was sollen wir schon wollen, Junge? Hast du Geld für mich?“

„Ich habe keins bei mir.“

„Kein Geld, man?“

„Kein Geld.“, bestätigte der Student.

Der Räuber sah sich kurz rückversichernd nach seinem Kollegen um. „Na, dann gib mir irgendwas anderes. Dein Smartphone! Los, rück´s schon raus!“

„Ich hab kein Smartphone.“ Vorsichtig und – ja, auch mit etwas zittrigen Fingern – holte Oniji sein altes Tastentelefon aus der Jackentasche. Das Ding war schon Jahre alt und es war auch gerade kein Guthaben drauf. Das wertvollste daran war der kleine, klingelnde Fächer-Anhänger, den er sich in einem Tempel in Osaka gekauft hatte. Oniji hatte das Gefühl, daß er bald richtig Ärger mit diesem Kerl hier kriegen würde, wenn er ihm nicht bald irgendwas geldwertes anbot. Wie zur Bestätigung riss der Schläger ihm das Handy aus der Hand, warf es wütend auf den Boden und trat so fest darauf, daß das Splittern der Plastik unmissverständlich durch die Gasse hallte. „Du nichtsnutziger Pisser!“, fluchte der Schläger und rammte Oniji seine Faust in den Magen, daß dieser jappsend über seinem Arm zusammenbrach. Es folgte noch ein grober aber harmloser Tritt gegen seine Hüfte, dann war plötzlich Ruhe.
 

Ein Fluch hallte durch die Gasse, ein verärgerter Wortwechsel. Stöhnend und ächzend drehte sich Oniji auf den Rücken und versuchte zu ergründen, warum man sich nicht mehr um ihn kümmerte. Die beiden Schläger hatten offenbar inzwischen andere Sorgen. In der Gasse war ein weiterer Mann erschienen, den Oniji aber vorerst nicht näher definieren konnte, weil es zu dunkel war und noch zu viele Sterne vor seinen Augen tanzten. Der Magenhieb war echt bitter gewesen.

„Mit euch beschäftige ich mich später. Verschwindet.“, drang es wie von weit her an sein Ohr und ruhige, feste Schritte kamen näher. Oniji blinzelte als ein stattlicher Gothic-Kerl mit langen, schwarzen Haaren und wehendem Ledermantel neben ihm in die Hocke ging und ihn besorgt musterte. „Bist du okay?“
 


 

Oniji bimmelte unglücklich mit dem Handyanhänger, warf einen letzten Blick auf das zersprungene Display und die fehlenden vier Tasten und steckte sein zerstörtes Handy dann in die Tasche, als die Kellnerin die Getränke brachte.

„Danke für deine Hilfe, Safall.“, meinte er. So hatte sich der Gothic-Typ ihm vorgestellt, mit dem er inzwischen in einer Kneipe saß, um seinen Kummer in einer Flasche Schnaps zu ertränken. Müde richtete er seine Jeansjacke und seine stacheligen, schwarzen Haare, bevor er sich den ersten Sake eingoss.

„Keine Ursache. Um dein Handy tut es mir leid. Ich hoffe, du hast eine kulante Versicherung.“

„Naja. So hab ich endlich einen Grund, mir ein neues zu kaufen.“, scherzte der Student und musterte Safall genauer. Er wirkte mit seinen langen, schwarzen Haaren und den dicken Kajalumrandungen um seine schwarzen Augen beinahe europäisch. Vielleicht war er sogar europäisch, das konnte man bei dieser Aufmachung kaum noch sagen. Safall war jedenfalls kein japanischer Name. Zwischen den Aufschlägen seines bodenlangen Ledermantel baumelte ein Silberanhänger mit roten Steinen um seinen Hals. Auch seine Finger stachen nur so von Silberschmuck, ebenso das freigelegte rechte Ohr, hinter das die dicken, langen Haare geklemmt waren. „Was hattest du in dieser Gasse verloren?“, wollte Oniji wissen.

„Ich habe in meinem Revier nach dem Rechten gesehen.“

Der Student kicherte und trank noch einen Schnaps. „Bist du Polizist?“

„Nein. Das Wort der Polizei hat hier kein Gewicht.“

„Was bist du dann?“

„Ein Vampir.“, gab Safall in vollem Ernst zurück.

Oniji prustete. „Ja sicher!“ Er lachte, goss sich nach, und lachte weiter. „Ein Vampir.“ Er kippte sich den nächsten Sake in den Rachen und grinste blöd.

Safall nahm es mit Humor. „Natürlich nicht so, wie es einem im Fernsehen gern vorgegaugelt wird. Wir können nicht fliegen, wir sind nicht unsterblich und wir verkohlen nicht in der Sonne.“

„Aber?“

„Aber wir schlafen in Särgen und trinken Blut.“

Oniji bemerkte, als Safall lächelte, daß er tatsächlich auffallend lange, spitze, sicherlich künstliche Eckzähne hatte. Das Lachen verging ihm langsam. „Du trinkst Blut, ehrlich? Von Tieren oder von Menschen?“

„Beides.“

„Du bist ja krank.“, diagnostizierte er und griff sich an die Stirn, als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. Er war fassungslos. Meinte der Kerl das ernst, oder band er ihm einen Bären auf? Misstrauisch beäugte er das Glas Wasser, das vor dem Gothic stand. Ganz gewöhnliches, stilles Wasser.

„Das kannst du sehen wie du möchtest.“
 

Oniji schob den Sake von sich und lehnte sich auf seinem Sitzplatz zurück. Der Appetit auf Alkohol und die Lust, sich zu betrinken, waren ihm vergangen, bei solcher Psycho-Gesellschaft. Er wollte lieber bei klarem Verstand bleiben.

„Und wie ... wie funktioniert das? Wie machst du das mit dem Bluttrinken? Überfällst du Leute und beißt ihnen in den Hals?“

Safalls Lächeln wurde breiter, was seine Eckzähne noch deutlicher zur Geltung brachte. Sie standen ihm gut, als gehörten sie ganz natürlich zu ihm. „Natürlich nicht. Wir tauschen nur mit Freiwilligen, im gegenseitigen Einverständnis. Entweder wir ziehen das Blut mit einer Kanüle oder wir schneiden uns mit einem Messer.“

„Krank!“, meinte Oniji schon wieder. Aber langsam überwand er den Schock und wurde neugieriger.

„Ich bin übrigens Vegetarier.“, fügte Safall humorvoll hinzu und brachte seinen neuen Bekannten damit wieder zum Lachen.

„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“

„Doch, absolut. Wir alle sind Vegetarier. Unser Respekt vor lebenden Wesen und dem Leben an sich ist groß.“

ausgeblutet und eingesargt

„Ich will ein Vampir werden!“

„Tatsächlich?“, meinte Safall mit einer gewissen, zynischen Theatralik und nippte an seinem Wasser. Da er öfters hier in dieser Bar verkehrte, war es für Oniji nicht schwer gewesen, ihn wiederzufinden. Er hatte Oniji inzwischen häufiger getroffen und betrachtete ihn schon als guten Bekannten, sogar als Freund. Oniji hatte schon mehrfach nachgebohrt, wie man sich das mit dem Vampirismus genau vorstellen müsse, aber natürlich hatte Safall ihm nur sehr wenig Auskunft geben dürfen. Außenstehende ließ man ungern in die Karten schauen.

„Führ mich in die Szene ein! Zeig mir alles!“

Safall lachte. „Meinetwegen, wenn du drauf bestehst ...“ Er griff in seine Manteltasche und holte einen dünnen, durchsichtigen Plastikschlauch heraus. Oniji erinnerte dieses Ding unangenehm an Krankenhäuser. Dazu brachte er eine steril verpackte Nadel zum Vorschein, die er auspackte und am Schlauch befestigte. Safall trank den Rest aus seinem Wasserglas aus, steckte dann das freie Ende des Schlauches hinein, schob unter Onijis entsetzten Blicken seinen Ärmel nach oben und stach mit geübter Hand die Kanüle in seine Ellenbeuge. Sofort quoll Blut daraus hervor, das durch den Schlauch ins leere Wasserglas tropfte. Oniji wurde es schlecht.

„Was hast du damit vor?“

„Du sollst es trinken.“

„Bist du verrückt? Das ist Blut!“

„Natürlich ist das Blut! Du bist gerade dabei, ein Vampir zu werden.“, entgegnete Safall ruhig und beobachtete gelassen, wie weiter der rote Saft aus ihm herausfloss.

„Das ist ... du bist ja ... wieviel?“, keuchte der Student entsetzt. Ihm schwirrte derart der Kopf vor Übelkeit und Fassungslosigkeit, daß er keinen klaren Gedanken mehr zustande bekam.

„Hm, nicht sehr viel. Der menschliche Magen verträgt nur eine gewisse Menge an Blut. Versucht man zuviel davon zu trinken, kommt einem alles wieder hoch.“ Fachkundig zog er sich die Nadel wieder aus dem Arm, rollte den Schlauch wieder auf und hielt ihm dann das Glas auffordernd hin.

Oniji starrte auf die rote Suppe, die vor seinen Augen herumschwappte und atmete tief und gleichmäßig durch, um sich nicht gleich hier und jetzt zu übergeben. Er nahm das Glas nicht an, kämpfte einfach nur mit seiner drohenden Hyperventilation, fast unfähig sich auch nur zu rühren.

„Du solltest es trinken, bevor es gerinnt.“, schlug Safall geduldig vor.

„Ich kann das nicht.“

„Oh, das solltest du aber, wenn du ein Vampir werden willst.“

„Scheiße, gib her!“ Oniji raffte seinen gesamten Mumm zusammen, schnappte mit dem Mut der Verzweiflung nach dem Trinkgefäß und hob es an seine Lippen. Und zögerte noch einmal. Er wollte sich einreden, es sei nur Rotwein. Dummerweise sah es nichtmal ansatzweise aus wie Rotwein. „Wie schmeckt das?“

„Wie Kupfer.“

Der Student holte tief Luft und stürzte den gesamten Sud dann in einem Zug hinter. Mit geschlossenen Augen. Er spürte die ausgekühlte Flüssigkeit kaum auf seiner Zunge, trotzdem schüttelten ihn ein grässlicher Schauer und der Würgereflex. Erst Sekunden später machte sich langsam der widerliche, metallische Geschmack in seinem Mund breit und lies ihn heftig husten, fast erbrechen.

Safall klopfte ihm bestärkend auf den Rücken. „Gut gemacht, Amigo.“
 

Oniji griff nach seinem Glas Wasser und spülte gründlich nach. Erst dann ging es ihm langsam wieder besser. Skeptisch hörte er in sich hinein. Irgendwie hatte er erwartet, daß jetzt irgendwas mit ihm geschehen würde, daß ihm spitze Zähne wuchsen, oder Flügel, oder Krallen, daß sich seine Sinne schlagartig verbesserten, daß sich eine telepatische Verbindung zu seinem Meister auftat, oder sei es auch nur, daß sein Körper spürbar starb, so wie es in den Filmen immer war. Aber es geschah absolut gar nichts. Nur sein Herz hämmerte immer noch wild in seiner Brust, wie schon vorher.

Als Oniji langsam wieder aufsah, holte Safall gerade mit einem listigen Schmunzeln eine neue, sterile Nadel aus seiner Manteltasche und riss die Verpackung auf. „Jetzt bist du an der Reihe.“ Oniji schlief das Gesicht ein. „Dachtest du, du bekommst so ein Geschenk ohne Gegenleistung?“, fügte der Gothic an.

Oniji schluckte den Fluch herunter, der ihm auf der Zunge lag, und versuchte sich damit zu trösten, daß er schon mehr als einmal bei der Blutspende war. Er hatte schon Erfahrung damit, angezapft zu werden. Als er mit mulmigem Gefühl dabei zusah, wie sein Blut ins nächste Glas tropfte, kam ihm der Gedanke, daß weder Safalls noch sein eigenes Blut gerade auf Aids oder andere Krankheiten untersucht worden war. Sie vertrauten einander blind, daß sie sich gegenseitig mit nichts ansteckten. Das war verdammt fahrlässig, aber nun nicht mehr rückgängig zu machen. Er konnte nicht hinsehen, als Safall sich das Glas schnappte und das Blut völlig ungerührt austrank. Allein bei dem Gedanken wurde ihm speiübel und er konnte sich kaum noch vorstellen, das auch gerade selbst getan zu haben.

„Du bist ganz schön grün um die Nase.“, lachte Safall.

Der Student murmelte nur etwas unverständliches in sich hinein und presste weiter das Taschentuch auf den Nadelstich in seiner Armbeuge, um die Blutung zu stillen.

„Geh heim und ruh dich aus. Morgen zeige ich dir die Szene und das Leben als Vampir. Und iss bloß kein Fleisch, sonst bekommst du Ärger.“

„Glaub mir, ich werde heute keinen Bissen mehr runterkriegen.“, winkte Oniji versichernd ab.
 


 

Oniji stand am nächsten Tag vor seinem Badezimmerspiegel und musterte sein Gesicht. War er blass? Hatte er Augenringe? Schweiß auf der Stirn? Oder irgendwas anderes, das darauf hindeutete, daß er krank wurde? Er fragte sich, was gestern in ihn gefahren war, Blut zu trinken. Noch dazu das einer anderen, ihm fremden Person, ohne irgendwelche Gesundheitstests. Er überlegte, zum Arzt zu gehen. Wie lange dauerte es bei AIDS wohl von der Ansteckung bis zur Nachweisbarkeit? Ob entsprechende Tests schon nach 18 Stunden anschlugen?

Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als es an seiner Tür klingelte. Oniji hielt sich den Hörer der Freisprechanlage ans Ohr. „Ja?“

„Hier ist Safall. Komm runter und hilf mir tragen!“, drang ihm gedämpft aus der Anlage entgegen. Oniji brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet. Was wollte der Gothic hier? Und warum hatte er so einen strengen Befehlston drauf? Hätte er nicht wenigstens <Hallo> sagen können? Seufzend schnappte sich Oniji seinen Wohnungsschlüssel und machte sich auf den Weg nach unten.

Vor der Haustür lehnte Safall am Motorraum eines Leichenwagens und wartete mit verschränkten Armen auf ihn. Daneben stand noch so ein hochgeschossener Gothic-Typ mit rasierten Kopfseiten, Irokosenschnitt und Lederklamotten mit vielen Bändern und Netzeinsätzen.

„Da bist du ja. Hier, schnapp dir das hintere Ende!“, wies Safall Oniji an, ging um seinen Leichenwagen herum und zog die Heckklappe auf. Darin stand ein schlichter Sarg aus rotem Holz. „Das war mein erster, bevor ich mir einen schöneren gekauft habe. Du kannst ihn nehmen, so für den Anfang. Betrachte ihn als Geschenk.“

„Was soll ich damit?“, gab Oniji überrumpelt zurück, packte aber ganz automatisch das Ende des Sarges an, der sich ihm entgegenschob.

„Na, drin schlafen, was sonst? Gib Zeda deinen Schlüssel, er hält uns die Tür auf!“

„Ich soll in einem Sarg schlafen? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Ängstlich schaute Oniji an der Fassade seines Hauses hoch. Er bildete sich ein, daß jeder einzelne Hausbewohner jetzt am Fenster stand und ihn beobachtete. War das peinlich!

„Du WIRST da drin schlafen!“, gab Safall ungeduldig zurück und schob ihn fast samt dem Sarg ins Haus hinein. „Du bist ein Vampir! Und glaube nicht, daß du dir nur die Sachen aussuchen kannst, die du gerade cool findest! Du wirst unsere Lebensweise komplett annehmen!““

„Bin ich deshalb jetzt dein Eigentum, oder was?“

„Nein, aber du bist jetzt mein Schüler! Und solange du das bist, verlange ich, daß du keine Mätzchen machst. Und sage bloß nicht, du hättest es nicht gewollt!“

„Du kannst doch nicht einfach so über das Leben anderer Leute bestimmen! Wie ich schlafe, ist ja wohl meine Sache.“, maulte der Student.

„Du wirst tun, was ich sage!“, verlangte Safall streng.
 

Inzwischen hatten sie den Sarg bis in den zweiten Stock gehievt. Die alte, griesgrämige Frau auf der linken Seite zog ihre Wohnungstür einen Spalt breit auf, musterte die Gruppe böse und schlug die Tür dann krachend wieder zu. Oniji zog etwas den Kopf ein. Er kam sich gerade schrecklich vorgeführt und peinlich vor.

„Hast du heute irgendwie schlechte Laune?“, wandte er sich wieder an den Gothic mit dem finsteren Gesicht.

Herrje, worauf hatte er sich hier bloß eingelassen? Noch eine Etage. Dann bugsierten sie den Sarg um drei Türen herum in seine Wohnung und sein Schlafzimmer. Vielleicht sollte er einfach erstmal mitspielen, damit Safall zufrieden war. „Wenn das so ist, dann danke für den Sarg.“ Er würde das Ding einfach brav in die Ecke stellen und trotzdem weiter im Bett schlafen, schwor Oniji sich.

Safall streckte seinen Rücken, der vom Schleppen der schweren Holzkiste verspannt war, und öffnete diese dann. Darin kam ein Werkzeugkasten zum Vorschein. „Zeda, hilfst du mir bitte mal?“ Unter den panischen Blicken des Studenten kramten die beiden Gothics Schraubenschlüssel daraus hervor und begannen dann euphorisch Onijis Bett abzubauen. „Zu meiner Zeit hätte er das noch selber machen dürfen.“, gab der Typ mit der Undercut-Frisur zurück. Die ersten Worte, die Oniji ihn sagen hörte. Seine Stimme war recht angenehm und warm, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß sie ihm hier gerade sein verfluchtes Bett klauten und ihn dafür einsargten wie einen Toten. Zeda schnappte sich die ersten abmontierten Teile und trug sie nach unten in den Leichenwagen.
 

„Ich stelle dir heute ein paar andere vor und zeige dir, wie das bei uns so läuft. Zieh dir was angemessenes an, so nehme ich dich nicht mit!“, meinte Safall mit einem Deut auf das Manga-T-Shirt, das Oniji gerade trug.

„Was soll ich denn anziehen? Ich hab keine Gothic-Klamotten.“

„Du wirst doch wenigstens irgendwelche schwarzen Oberteile haben.“

Oniji seufzte und öffnete seinen Kleiderschrank. „Meine Fresse, das sind ja sektenähnliche Zustände hier bei euch.“ Nagut, was sollte er anziehen? Das dunkelste was er hatte, war ein schwarzer Pullover mit einem Kobra-Bild auf dem Rücken. Ob Safall das gebührend genug fand? „Wer ist dieser Zeda?“, wollte er dabei wie beiläufig wissen, um weiterem Streit aus dem Weg zu gehen und ein bischen friedlichere Konversation zu betreiben.

„Ein Freund von mir.“, gab der Langhaarige wenig aussagefähig zurück und schraubte weiter am Bettgestell herum.

Als der Student sich endlich den Kapuzen-Pulli übergezogen hatte, kam Zeda zurück, musterte ihn und grinste. Auch er trug lange, künstliche, aufgesteckte Eckzähne, vermutlich maßangepasst.

kategorisiert

Irgendwie war es cool, in einem Leichenwagen durch das nächtliche Tokyo zu fahren. Die bunten Lichter und leuchtenden Reklamen der Stadt waren ihm schon ewig nicht mehr so schön und aufregend vorgekommen. Safall fuhr den Wagen, er selbst saß auf dem Beifahrersitz und Zeda hatte es sich hinten auf der Ablage bequem gemacht, wo normalerweise der Sarg stand. Wenn irgendein Polizist sie angehalten hätte, hätte es sicher Ärger gegeben, aber Safall steuerte das Auto mit solcher Selbstverständlichkeit durch die Straßen, daß diese Möglichkeit in utopische Ferne zu rücken schien. Oniji wusste nicht, wohin die beiden Gothics ihn brachten, aber egal wo er landen würde, er freute sich darauf. Bestimmt würde es ein scharfer Abend werden.
 

In einem Hinterhof lies Safall den Wagen stehen. Aus einer der Türen drang ihnen bereits gedämpfte Musik entgegen. Oniji erkannte die Band zwar noch nicht, aber sie kam ihm bekannt vor. Zeda hüpfte als erster euphorisch aus dem Kofferraum heraus, noch bevor die anderen beiden ausgestiegen waren.

„Safall, ich verabschiede mich.“, meinte er und deutete eine leichte Verbeugung an.

Safall erwiderte den kumpelhaften Handschlag. „Ist gut. Danke für deine Hilfe. Bis später, mein Freund.“

Zeda eilte voraus und verschwand in der Tür, die augenscheinlich zu einer Disco oder Rockkneipe führte. Safall und Oniji folgten ihm gemächlicher. „Er verbringt den Abend mit anderen Kumpels. Wir werden ihn heute vermutlich nicht mehr zu Gesicht bekommen.“, erklärte der Langhaarige.

„Ey, wer ist´n die Muschi?“, tönte ihnen da auch schon aus dem Eingang entgegen. Ein glatzköpfiger Türsteher mit breiten Schultern trat heraus und musterte Oniji missmutig von allen Seiten.

„Oniji. Er ist mein Schüler.“, gab Safall zurück.

„Du und ein Schüler? Das ich das mal erleben würde! Der kleine Pisser hat ja noch nichtmal Zähne, man.“

„Sei etwas nachsichtig. Er ist erst gestern zum Vampir geworden. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“

Der Türsteher bedachte den Studenten noch einen Moment unwillig, fand dann aber doch keinen Grund, ihm Hausverbot zu erteilen. „Nagut, er darf mit rein.“

„Das möchte ich dir auch geraten haben.“, gab Safall souverän zurück und ging voran. Mit eingezogenem Kopf schlich Oniji ihm nach.

Drinnen schlug eine sagenhafte Monsterwelle von Musik über ihnen zusammen. Der Bass ließen die ganze Tanzfläche vibrieren. Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf, als er die Stimme des Sängers erkannte, die hier aus den Boxen hämmerte wie ein Bulldozer. „Sie spielen hier The Gazette?“, stellte er begeistert fest.

„Ja, kommt vor. Häufig auch Alice Nine, Girugamesh, Mejibray, D´espairs Ray und so´n Zeug. Magst du solche Musik?“

„Ich bete diese Bands an! Jede einzelne davon!“

„Schön, dann wird es dir hier ja gefallen.“, lächelte Safall und deutete auf die Sitzgelegenheiten an der Seite, wo die Musik nicht so überlaut war und alle anderen Geräusche einfach wegdominierte. Viele machten ihm Platz oder warfen ihm respektvolle Blicke zu, als er voraus ging und einen leeren Tisch ansteuerte.

„Spielen die auch L.MC?“

„Nee, zu elektronisch.“

„Schade.“
 

„Okay, pass auf.“, begann der Gothic und machte ein Gesicht wie ein Lehrmeister, der etwas wichtiges zu sagen hatte. „Wir sind nicht zum Spaß hier. Ich will dir was beibringen und dir unsere Welt zeigen.“

Oniji kicherte leise. Unsere Welt. Seiner Meinung nach waren sie ja wohl immer noch in Tokyo, oder irrte er sich da? Und Safall und all die anderen Typen hier waren ganz normale Menschen, auch wenn sie schwarze Klamotten trugen und sich künstliche Gebisse einsetzten. Die Vampir-Idee hatte sich in seinem Kopf immer noch nicht so richtig durchgesetzt. Er hatte durchaus vor, sein ganz gewöhnliches Leben weiterzuführen wie bisher, ob Safall nun wollte oder nicht.

„Siehst du die Mädchen in den Samtkleidern da drüben? Das sind Pik-Vampire. Die Pik-Vampire haben einen Barock-Stil, sie laufen in traditioneller, klassischer, altehrwürdiger Kleidung herum. Sehen sie nach Barock oder Rococco aus, sind sie Pik.“

Safall sah sich um. „Der Typ am Tresen da drüben, mit dem vielen Leder, das ist ein Karo. Die sehen immer aus wie Sadomaso-Sex-Fetischisten, daran erkennt man sie sofort. Mit denen würde ich mich an deiner Stelle nicht so sehr anfreunden. Der Kerl daneben ist ein Kreuz, die erkennt man an dem vielen Silber. Die laufen immer schwer mit Schmuck behangen durch die Gegend.“

Karo, Pik, Kreuz, zählte Oniji in Gedanken zusammen. „Klingt wie ein Kartenspiel.“, bemerkte er dann.

„Ist es auch. Die verschiedenen Strömungen haben sich nach den Farben von Spielkarten benannt. Ich weis nicht warum, vermutlich der Einfachheit halber, oder weil sie keine bessere Idee hatten.“

„Dann gibt es innerhalb der Vampire also Klans? Oder Orden?“

„Hm, ich würde sie eher als Blutlinien bezeichnen. Man hat nicht wirklich Einfluss darauf, in welchen Kreisen man landet. Und man kann sie nicht wechseln. Wenn du kein Kreuz mehr sein willst, bleibt dir nur der Austritt aus der Szene. Aber du wirst niemals bei irgendeiner anderen Linie Anschluss finden.“ Safall sah sich wieder suchend in der Rockkneipe um. „Es ist natürlich kein Herz da, das hatte ich schon erwartet. Die lassen sich sehr selten hier sehen.“

„Du trägst auch ne Menge Silber. Bist du demnach ein Kreuz-Vampir?“, wollte Oniji wissen.

„Ja.“

„Was unterscheidet die Blutlinien denn, abgesehen vom Modegeschmack?“

„Ihre Interessenschwerpunkte. Wir Kreuze streben nach Wissenschaft und Kunst. Wir lernen viel und sammeln Weisheit. Die Pik sind eher in der Wirtschaft und den Finanzen zu Hause. Die wollen nur Geld. Und die Karo legen Wert auf Disziplin und Ordnung. Sie haben strenge Gesetze und Regeln und bestrafen Verstöße ungemein hart. Deshalb, wie gesagt, lass dich nicht zu sehr mit denen ein.“

„Und was tun die Herzen?“

„Tja ... das wüsste ich auch gern. Das weis keiner so genau.“

„Okay. Pik tragen Barock und wollen Geld, Kreuz tragen Silber und fördern Kunst und Wissenschaft, Karo sind Sexfetischisten und bestrafen Ordnungsverstöße. Und über Herz weis man nichts. Ich denke, das kann ich mir merken.“, resumierte Oniji wieder. „Stehen die Blutlinien sich feindlich gegenüber? Oder vertragen die sich?“

„Direkte Anfeindungen gibt es nicht. Aber sagen wir, die Blutlinien bleiben gern unter sich. Es kommt nur selten vor, daß Vampire verschiedener Lager echte Freunde sind. Ganz ausgeschlossen ist es allerdings nicht.“
 


 

„Bei dir duftet es aber lecker.“, stellte Safall fest, als er am nächsten Tag die kleine Wohnung des Studenten betrat. Sie waren zum Kaffeetrinken verabredet.

„Ich habe Kekse gebacken.“

„Gibt es die zum Kaffee?“

„Ich denke eher nicht.“

„Wieso nicht?“ Ungefragt bahnte sich Safall einen Weg in die Küche um zu schauen, was es mit dem leckeren Duft auf sich hatte.

„Sie sind nicht gut geworden. Sie werden einfach nicht fest.“

Safall entdeckte auch sogleich das auf der Anrichte geparkte Tablett und angelte mit spitzen Fingern vorsichtig einen der teigigen, bröseligen Klumpen. „Du hast vielleicht zuviel Butter genommen.“

„Schon möglich.“

„Schieb sie in den Kühlschrank, vielleicht werden sie noch, wenn sie richtig auskühlen. Wie hat dir eigentlich die Nacht im Sarg gefallen?“

Oniji verschränkte sauer die Arme. „Er ist bequemer als er aussieht, auch wenn ich es nur ungern zugebe. Aber ich finde es immer noch dreist von euch, einfach mein Bett mitzunehmen.“

Safall lachte gut gelaunt. „Das wird nicht das letzte gewesen sein, was wir dir wegnehmen. Heute ist dein Kühlschrank dran.“

„Spar dir die Mühe. Es ist kein Fleisch und keine Wurst drin.“

„Vorbildlich, ich bin begeistert von dir. Nagut, was hältst du dann davon, wenn wir dir mal ein bischen was beibringen? Bei uns Kreuz-Vampiren findest du Unmengen an Wissen. Was willst du lernen?“

„Was kann man denn bei euch lernen?“, wollte Oniji wenig begeistert wissen.

„Alles, was ansatzweise mit Okkultismus zu tun hast. Interessierst du dich für Wahrsagerei?“

„Ja, warum nicht.“

„Gut, dann bringe ich dich zu meiner Schwester, sie hat sehr viel Ahnung davon. Zieh dir gefälligst was ordentliches an!“

Der Student seufzte. Damit hatte es sich wohl mit dem Kaffeetrinken. Mürrisch zog er sich den hellgrauen Pullover aus und machte sich auf die Suche nach irgendwas schwarzem. Er würde wohl nicht umhin kommen, in den nächsten Tagen ein paar Klamottenläden abklappern zu müssen. Und Schmuckläden. Safall würde auf Dauer sicher darauf bestehen, daß sein Schüler Silber trug, um als Kreuz-Vampir erkennbar zu sein. Wenigstens lernte er nun mal noch ein paar Leute aus der Szene kennen, wie es schien. Safall hatte ihn gestern in der Disco mit niemandem mehr bekannt gemacht. Wohlmöglich waren einfach keine vernünftigen Leute aus seinem Freundeskreis da gewesen, überlegte er. „Deine Schwester ist auch Vampir?“, hakte nach, gedämpft mit dem Kopf im Kleiderschrank steckend.

„Durch und durch.“, bestätigte der Gothic.

„Ist sie deine echte Schwester? Also, habt ihr die gleichen Eltern? Oder ist das nur so eine Bezeichnung innerhalb der Vampirgemeinschaft? Ich meine, in der Kirche bezeichnen sich ja auch alle als Brüder, obwohl sie´s nicht sind.“

„Nein, sie ist tatsächlich meine Schwester. Mein Zwilling, um genau zu sein.“

vorgestellt

Ein recht aufdringlicher Weihrauchgeruch schlug ihnen entgegen, als sich die Tür zu der abgelegenen Hütte öffnete. Oniji hatte ja gewusst, daß Tokyo groß war und sich dahinter landeinwärts nur unwirtliches Gebirge befand, das sich nicht mehr als Bauland eignete. Aber um ehrlich zu sein, war er selbst noch nie bis an den Rand der Zivilisation gekommen, abseits der großen Verbindungsstraßen zwischen den Metropolen. Hier draußen also, auf halber Höhe eines Berghanges mit Blick über die ganze Stadt befand sich eine niedliche Berghütte mitten im Nichts. Heute fuhr Safall einen Geländewagen, und den brauchte man auch, um hier her zu kommen. Der alte, klapperige Leichenwagen, so wusste er inzwischen, hatte Zeda gehört. Was um Himmels Willen mochte hier für ein Mensch leben, so weit ab von besiedelten Gebieten? Unwillkürlich stieg in Oniji das Bild einer alten, grauen, grießgrämigen Kräuterhexe auf.

In der Tür erschien eine junge Frau, die ganz richtig in Safalls Alter sein musste. Natürlich war sie in seinem Alter, sie war ja sein Zwilling. Und die beiden hatten auch derart identische Gesichter, daß sie nichts anderes als Zwillinge sein konnten. Das war aber auch schon das einzige, was die beiden gemeinsam hatten. Sie hatte kurze, schneeweiße, hochgestellte Haare und trug ein ebenso schneeweißes Kleid, daß so kurz war, daß man unwillkürlich Angst hatte etwas zu sehen was man nicht sehen sollte. Sie war fast einen ganzen Kopf kleiner als ihr Bruder Safall und weitaus zierlicher und schmächtiger als er. Kurzum, sein genaues Gegenteil.

Der Gothic begrüßte sie so herzlich und überschwänglich, als habe er sie schon ewig nicht mehr gesehen. Dann stellte er Oniji und sie einander vor. Sie grinste ihn zurückhaltend an. Auch in ihrem Mund blitzten aufgesetzte Eckzähne. Das war also Sewill. Sewill und Safall. Etwas überrumpelt schüttelte Oniji den Kopf.

„Du hast jetzt also einen Schüler?“, meinte sie, während sie die beiden hereinbat und in die Wohnküche führte. „Darfst du das überhaupt?“

Safall zuckte nur abschätzig mit den Schultern.

Als Oniji sich umsah, entdeckte er all das, was es auch in normalen Haushalten gab. Elektrisches Licht, fließend Wasser, ein Telefon in der Ecke, einen Fernseher. Nichts deutete darauf hin, wie weit sie von der Stadt entfernt waren. Es musste ein Vermögen gekostet haben, die Strom- und Wasserleitungen bis hier raus legen zu lassen. Ansonsten war die Einrichtung auffallend dem Gothic verschrieben. Überall Drachen, Schädel, Kreuze, Pokale und Zimmergrabsteine aus schwarzem Kunstharz. Sehr europäisch. In japanischen Wohnungen hatte er sowas noch nicht gesehen, da herrschte doch eher die asiatische Feng-Shui-Versionen des Totenkults vor, mit Gedenktäfelchen, Glücksbringern aus den Tempeln und Räucherstäbchen.

„Oniji will Wahrsagerei von dir lernen.“

„Das freut mich.“, meinte sie.
 


 

Ein wenig geistesabwesend sah Oniji von dem schwarzen Spiegel auf und lies den Blick durch den Raum schweifen. Der schwarze Spiegel war, ähnlich wie eine Kristallkugel, zum Sehen von anderen Orten und anderen Zeiten gedacht. Aber er machte nur sehr schwerlich Fortschritte damit. Es war furchtbar anstrengend. Und es lenkte ihn ab, als sich Sewill zu ihrem Bruder auf das Sofa setzte.

Etwas entsetzt beäugte er die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte. Safall schob den Ärmel seines bodenlangen Ledermantels hoch, den er auch hier im Haus konsequent weiter trug. Dann reichte er Sewill seine rechte Hand, und mit der linken hielt er ihr ein dolchartiges Messer hin, das er zuvor mit einem Alkoholtuch desinfiziert hatte. Geradezu zeremoniell nahm seine Schwester ihm das Messer ab, setzte damit einen mehr oder weniger langen Schnitt auf die Innenseite seines rechten Unterarms und führte die Wunde dann zu ihrem Mund, um das herausquellende Blut regelrecht herauszusaugen. Oniji drehte sich leicht der Magen um. Sewill säuberte das Messer abermals und gab es dann Safall zurück, zusammen mit ihrer rechten Hand. Das ganze Spiel nochmal andersrum. Sie zog leise Luft durch die Zähne, als Safall ihr das Messer in den Unterarm trieb. Dennoch lächelte sie zufrieden.

„Siehst du immer noch nichts?“, wollte Sewill wissen, als sie aufsah und Onijis entgeisterten Blick bemerkte.

„Doch ... aber ... ich bin mir nicht sicher.“

„Was siehst du?“

Oniji musterte wieder die schwarze, spiegelnde Fläche vor sich auf dem Tisch. „Fünf Geister verfolgen einen Mann.“

„Hä?“ Sewill kam herüber, ließ Safall einfach allein auf dem Sofa sitzen und warf ebenfalls einen Blick in den schwarzen Spiegel. „Das sind Frauen, du Idiot!“, meinte sie ungehalten und deutete an, Oniji einen Klaps auf den Hinterkopf verpassen zu wollen.

„Frauen?“

„In Borkas! Sie sind vermummt! Sie rennen ihrem Ehemann hinterher, vermutlich haben sie es allesamt eilig.“

„Meinst du?“

Sewill stöhnte genervt. „Du hast einfach kein Talent für den schwarzen Spiegel, ehrlich! Hier, versuch die Runen-Steine, vielleicht kommst du mit denen klar.“ Sie knallte ihm ein Säckchen voll Kiesel auf den Tisch. Als Oniji das Samtsäckchen öffnete und einen der kleinen, runden Steine herausnahm, bemerkte er, daß in jeden eine Rune eingraviert war. Sewill klatschte ihm ein Buch daneben. „Hier, die Anleitung dazu.“
 


 

„Du solltest schön fleißig mit den Runensteinen und dem schwarzen Spiegel üben. Wenn wir Sewill das nächste Mal besuchen, wird sie deine Fortschritte sehen wollen.“, meinte Safall leichthin, als sie am späten Abend im Geländewagen wieder nach Hause fuhren. Es war schon wieder stockdunkel, obwohl Sommer war, und außer dem schmalen Lichtkegel der Autoscheinwerfer sah man nichts von der Welt ringsum. Wie auch, das hier war ja nur Feldweg mitten im Nichts. Safall fuhr trotzdem zügig, als würde er die Strecke gut genug kennen. „Alles okay bei dir?“, hakte er nach, als er keine Antwort bekam.

„Hm. Ich krieg diese Szene nicht mehr aus dem Kopf, wie ihr euch gegenseitig mit dem Messer ritzt. Wieso macht man sowas? Nur um das Blut eines anderen trinken zu können? Das ist so ...“ Ja, was eigentlich? Ekelig? Widerlich? Krank? Meine Güte, er befand sich hier im Kreise von selbsternannten Vampiren. Was war hier schon krank und was nicht?

„Es geht nicht um das Blut.“, gab Safall ruhig und sachlich zurück. „Das ist eine emotionale Sache. Wir hängen sehr aneinander, meine Schwester und ich. Es ist der größte Vertrauensbeweis, den es gibt, wenn dir jemand das Messer zum Schnitt reicht. Fast ein Versprechen.“

„Machst du das häufiger?“

„Mit Sewill? Ja. Mit anderen weniger.“

Oniji atmete innerlich durch und konzentrierte sich wieder auf die Dunkelheit draußen. Ob Safall von ihm erwartete, irgendwann auch das Messer gereicht zu bekommen? Immerhin waren sie Schüler und Lehrmeister. Missmutig schüttelte er den Gedanken wieder ab.

„Wie spät ist es gerade?“, wollte Safall wissen.

Mit viel Mühe versuchte Oniji auf seiner Armbanduhr etwas zu erkennen. „Fast 23 Uhr. Wieso?“

„Ich habe überlegt, ob wir nochmal in die Rockkneipe gehen.“

„Bis wir wieder in Tokyo sind, ist es doch Mitternacht!“, hielt der Student entrüstet dagegen. „Ich muss morgen zur Uni!“

„Macht doch nichts. Vampire sind Nachtschwärmer.“

„Vampire müssen auch nicht früh zur Uni!“

„Siehst du? Also lass uns in die Rockkneipe gehen!“, schlussfolgerte der Langhaarige fröhlich und drehte sein Autoradio lauter, wo gerade ein Song lief, in dem das Schlagzeug so richtig gefeiert wurde. Vergnügt trommelte Safall auf dem Lenkrad mit.

Mit verschränkten Armen lehnte sich Oniji im Sitz zurück. Langsam wurde es auffällig und lästig, daß Safall so selbstverständlich über sein Leben bestimmte. Wahrscheinlich würde er morgen wieder bei ihm in der Tür stehen und irgendwas in seiner Wohnung umräumen. Würde Gothic-Kram aufstellen, oder den Kleiderschrank „entmüllen“, oder die Wände schwarz streichen, oder alles mit Weihrauchstäbchen ausräuchern, oder einen Haufen unangekündigter Freunde mitbringen ohne ihn vorher zu fragen. Nun ging es also wieder in die Vampir-Kneipe. Ohne ihn vorher zu fragen.
 


 

Wieder stand Oniji am nächsten Vormittag im Bad und suchte im Spiegelbild Anzeichen für seinen gestrigen Absturz. Gott, er wusste gar nicht mehr so genau, wie er nach Hause gekommen war. Und auch davor war vieles nur wage. Safall hatte ihn ein wenig abgefüllt. Nicht viel, aber genug um ihm gewisse Hemmungen zu nehmen. Dann waren sie mit einigen Mädchen in einem Hinterzimmer verschwunden. Er wusste noch, daß er unter Safalls wachsamen Augen gefesselt und mit einer Kanüle angezapft worden war. Von seinem Blut hatten alle getrunken, das Ende des Schlauches hatte regelrecht die Runde gemacht. Auch er selbst hatte Blut getrunken, aber er wusste nicht mehr so genau von wem. Berauscht vom Alkohol und der wummernden Musik war ihm alles recht gewesen, gefesselt oder nicht. Kein Wunder, daß er heute doch nicht zur Uni gegangen war. Er erinnerte sich, daß er es mit zwei der Mädchen getrieben hatte. Mit MINDESTENS zwei, korrigierte er mit einem Blick in den Spiegel und schlug die Hände vor´s Gesicht. Verdammter Mist, er hatte eine Freundin! Wie sollte er ihr das erklären? Was hatte Safall bloß aus ihm gemacht?

Oniji schaute auf seine angestochene Ellenbeuge, die ihm deutlich bewies, daß das letzte Nacht wirklich alles geschehen war. Der Stich war sauber, keine Blutergüsse. Das Mädchen, das ihn an die Kanüle gelegt hatte, tat sowas augenscheinlich öfters. Solche Orgien waren ja nur das eine. Er bekam wirklich Angst, daß früher oder später auch Drogen mit ins Spiel kamen. Entschlossen starrte er sein eigenes Spiegelbild an. Er musste mit Safall Klartext reden! So ging das nicht weiter, schwor er sich.

verstrickt

„Quatsch hier keine Opern und geh endlich rein!“, verlangte Safall ruhig aber nachdrücklich. Zeda schubbste ihn bekräftigend an, als müsse er den Worten seines Freundes Nachdruck verleihen. Soviel also zu dem Thema, es müsse sich was ändern.

„Ich lasse nicht mehr zu, daß du mich so rumbefehligst!“, versuchte sich Oniji so trotzig wie sinnlos weiter zu sträuben.

„Solange du mein Schüler bist, wirst du dich auch rumbefehligen lassen.“, gab Safall gleichmütig zurück und ging schon voraus. „Und was danach ist, darüber reden wir wenn es soweit ist.“

„Ich will selber über mein Leben bestimmen! Wenn ich das Studium verhaue, weil du mich jede Nacht durch die Bars schleifst ...“

„Geh uns was zu trinken holen!“, unterbrach Safall ihn. „Ich suche uns inzwischen irgendwo einen Tisch.“

Wütend wandte sich Oniji ab und stapfte los. Er war stinksauer, daß er überhaupt nicht ernst genommen wurde. Schüler oder nicht, er war doch nicht der Sklave eines anderen, oder? Er war Japaner! Japan war ein freies Land. Und auch wenn er inzwischen wusste, daß Safall kein Japaner war – was dem Studenten im übrigen Schnuppe war – gab ihm das noch lange nicht das Recht, ihn so rumzuschubbsen. Auch im klassischen, japanischen Kohai-Senpai-Verhältnis, in dem der jüngere Schüler oft arg unter dem höherrangigen, älteren Schüler zu leiden hatte, war sowas nicht geduldet. Jemand rempelte Oniji derb an und brachte ihn damit ins Straucheln und zurück in die Realität.
 

„Pass doch auf, du Idiot!“, zeterte eine befehlsgewohnte Frauenstimme.

Missgestimmt schaute er sie an, wie sie sich da vor ihm aufbaute, mit den Fäusten in den Hüften, und ihn herausfordernd anstarrte. Auffallend barocke Kleidung. Wohl ein Pik, nach allem was er gelernt hatte. „Wirst du dich wohl gefälligst entschuldigen, du Küken?“, legte sie nach.

Oniji beschloss, sich nicht mit ihr zu streiten. Mit einem mürrischen <Du mich auch!> wollte er sich an ihr vorbeischieben und einfach weitergehen.

„Flegel, was fällt dir ein!?“ Wütend packte sie ihn am Kragen und zerrte ihn zurück. Sie hatte erstaunlich viel Kraft.

„Lass mich in Ruhe!“, forderte er genervt, bemerkte aber am Rande schon, daß sich ein souverän gekleideter Mann zu ihnen gesellte. Der Student konnte es nicht richtig in Worte fassen. Sein Kleidungsstil war nicht übertrieben auffällig oder kostspielig, sah aber deutlich danach aus, als hätte der Typ richtig was zu sagen. Und etliche Augenpaare hatten sich interessiert auf sie gerichtet. „Wo gehört der hin?“, wollte am Rande jemand wissen. „Kennt den wer?

„Probleme?“, wollte der Mann wissen, der so dominant in die Szene geplatzt war.

„Er will sich nicht entschuldigen!“, zeterte die Frau, die Oniji zuvor über den Haufen gerannt hatte und ihn nun nach wie vor am Pulloversaum gepackt hielt.

Dem Studenten platzte der Kragen. „Wofür auch? Für deine Blödheit, daß du nicht geradeaus laufen kannst?“, keifte er und kassierte von ihrem Typen als Antwort eine fiese Linke mitten auf die Nase. Sofort sah er Sternchen und ging zu Boden. Die Frau zeterte weiter und begann auf ihn einzutreten, aber er bekam den Rest nur noch unterschwellig mit.
 

„Ho, aufhören, bitte!“, mischte sich da eine allzu bekannte Stimme ein. Safall ging dazwischen und zog Oniji grob wieder auf die Beine. „Bitte, seid gnädig. Er weis es nicht besser. Er kennt euch nicht! Ich entschuldige mich in aller Form für sein Benehmen, wirklich!“, meinte er beschwichtigend.

„Unverschämtheit! Unerhört!“, maulte die Frau weiter.

„Es tut mir leid.“, versicherte Safall nochmals.

„Ist die Flachzange dein Schüler?“, wollte der Mann wissen.

Der Langhaarige bestätigte und versuchte dabei nicht allzu kleinlaut zu klingen.

„Sein Glück.“ Wütend zogen die beiden davon. „Bring ihm Manieren bei!“

Kurz herrschte Stille. Die ganze Kneipe schien den Atem anzuhalten, bis das seltsame Pärchen verschwunden war. Dann schickte Safall Oniji mit einer rauchenden Ohrfeige wieder zurück zu Boden.
 

„Bist du völlig übergeschnappt?“, wetterte Safall, als er seinen Freund aus der Kneipe heraus und auf den Parkplatz im Hinterhof geschleift hatte.

„Ich versteh gar nicht, warum alle auf mir rumhacken! Die blöde Kuh hat mich über den Haufen gerannt und ich sollte mich dafür auch noch entschuldigen!“, maulte Oniji zurück. Nicht ganz so großfressig, wie er unter normalen Umständen gewesen wäre, denn er spürte durchaus, daß er etwas falsch gemacht hatte. Er wusste nur noch nicht so richtig, was genau.

„Das waren Shaishu und Namai! Pik Bube und Pik Dame, man!“

„Woher soll ich das wissen?“

„Selbst wenn du es nicht weist, und selbst wenn du hundertmal im Recht bist, hast du als Schüler keinen Streit mit anderen Vampiren anzufangen, du Knackwurst!“

„Schon gut, ich werd´s mir merken.“, murrte Oniji und fuhr sich mit den Fingern vorsichtig über die schmerzende Gesichtshälfte. Sie fühlte sich an, als wäre sie zu Brei geschlagen worden. „Erklär mir lieber mal, was Pik Bube und Pik Dame sind!“, fuhr er fort.

„Bube, Dame, König und Ass, im Kartenspiel die höchsten Karten. Bei uns Vampiren die Herrscher. Bube und Dame sind die Minister und Berater des Königs. Und das Ass ist seine rechte Hand, sein Stellvertreter. Shaishu und Namai sind zwei der vier ranghöchsten Vampire der Pik-Blutlinie. Sich mit denen anzulegen, war wirklich lebensmüde. Gerade mit diesen beiden! Shaishu und Namai sind wie wilde Hunde, sie zerfetzen dich in der Luft, wenn du nicht aufpasst.“

Oniji deutete ein verständnisloses Kopfschütteln an. „Solche Hierarchien gibt es in so einer Subkultur?“

Safall sagte nichts dazu.

„Gibt es auch Luschen? Also die Zahlen, Pik 2, Pik 3 und so weiter?“

„Ja. Sie werden <das Deck> genannt. Das sind hochrangige Würdenträger und Adelige. Nenne sie niemals <Luschen>, hörst du? Das kostet dich den Kopf!“

Oniji nickte nur herablassend. „Schon klar. Woran erkenne ich die?“

„Du musst sie noch nicht kennen. Du bist Schüler, du hast gefälligst mit ALLEN Vampiren Frieden zu halten und ALLEN Vampiren Respekt zu zollen, egal welchen Rang sie haben oder nicht haben. Du wirst sie noch früh genug zu sehen kriegen, wenn du zum vollwertigen Vampir wirst und deine Zähne bekommst.“

„Wenigstens die Kreuz-Schnösel sollte ich doch kennen, findest du nicht?“, meinte Oniji scherzhaft und brachte seinen Mentor damit tatsächlich kurz zum Schmunzeln.

„Lass uns wieder reingehen, sonst wird man es uns als Flucht auslegen.“, gab er nur zurück und steuerte wieder auf die Tür zu.

Der Student verspürte überhaupt keine Lust mehr, nochmal da reinzugehen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Drinnen lief wieder alles seinen gewohnten Gang, als die beiden eintraten. Als sei nichts gewesen. Er wurde nichtmal schräg angeschaut. Nun, das war wenigstens etwas.
 


 

Oniji seufzte, als er am nächsten Tag von seinem Lehrbuch aufsah und in der Tür Safall entdeckte. Der bodenlange, schwarze Ledermantel und die langen, schwarzen Haare, die damit nahtlos verschmolzen, waren selbst quer durch den ganzen Lesungssaal unverkennbar. Jetzt kam der Gothic also schon zur Uni, um ihn aus den Vorlesungen herauszuzerren. Safall hatte ihn auch schon erspäht und steuerte zielstrebig auf ihn zu, also begann Oniji schonmal seine Tasche zu packen.

„Der Kreuz König will uns sehen.“, war auch gleich die verbissene Begrüßung, die Safall ihm vorsetzte. Ganz schnörkellos ohne unnötige <Hallos> und <Wie geht´s>.

„Das ist schlecht, nehme ich an.“, meinte der Student unbehaglich.

„Es ist naheliegend, daß es um deine Schlägerei mit dem Pik Bube und der Pik Dame von gestern geht.“

„Ich hab niemanden geschlagen! Der Kerl hat MICH geschlagen!“, hielt Oniji säuerlich dagegen. An diesen Fatzke würde er noch das nächste halbe Jahr denken, jedes Mal wenn er sich die Nase putzte. Und wenn man genau hinsah, hatte er sogar ein dezentes Veilchen davongetragen.

„Jetzt mach nicht noch Theater! Zieh dich um und dann komm. Tastan wartet nicht gern.“

„Tastan?“

„Der Kreuz König. Dein und mein Herr und Gebieter!“ Mit strengem Unterton pappte Safall ihm eine Plastiktüte voll Klamotten auf den Tisch. Scheinbar würde für eine Audienz beim Befehlshaber kein Kapuzenpulli mit Kobrabild mehr ausreichen. Jetzt musste eine richtige Gothic-Aufmachung her.

„Herr und Gebieter.“, äffte Oniji ihn nach. „Was ist der Typ denn im echten Leben? Würstchenverkäufer an einem Imbiss? Kartenabreißer im Kino? Arbeitsloser?“

„Er hat nichts, was du als echtes Leben ansehen würdest. Er ist der Pik König. Rund um die Uhr. Jeden Tag.“

„Verdammt, ein echter Sekten-Guru?“

„Genau so wie Bube, Dame und Ass, ja.“

„Wer finanziert die, sag mal?“, wollte Oniji wissen, während er die Klamotten in der Plastiktüte inspizierte.

„Die finanzieren sich selbst, indem sie Veranstaltungen organisieren, Clubs betreiben und, ja, vielleicht auch ein bischen mit schmutzigem Geld jonglieren. Schweigegelder, Schutzgelder, Abfindungen von den anderen Blutlinien, sowas eben.“

„Naja, in welcher organisierten Gemeinschaft gibt es sowas nicht?“, gab Oniji zurück und seufzte. Er hatte ein ungutes Gefühl. Das hier war kein Rollenspiel, wie er immer gedacht hatte. Das hier war bitterer Ernst. Es gab echte Befehlshaber, echte Politik innerhalb der Szene, wohlmöglich sogar Yakusa-ähnliche Zustände mit Erpressung und krummen Geschäften im großen Stil. Beängstigend. „Scheiße, man, jetzt sitze ich wohl echt mit dem Arsch in der Bratpfanne. Hat es in der Vampir-Szene schonmal Tote gegeben?“, wollte der Student wissen.

getrennt

„Vor seinem Thron kniest du nieder ...“

„Der Typ hat einen Thron?“

„... bis er dich auffordert, wieder aufzustehen!“, fuhr Safall unbeirrt fort. „Sieh ihn nicht länger als 3 Sekunden am Stück an. Keinen von denen, die da vorn sitzen! Sieh am besten immer schön andächtig zu Boden. Und sag kein Wort. Überlass das Reden mir, solange der Kreuz König nicht ausdrücklich auf deine Antwort besteht.“

„Meine Fresse, die nehmen sich ja ganz schön wichtig.“

„Und hör auf, so abfällig zu reden, sonst wird man dich dafür sicher büßen lassen.“

„Wie denn? Sie können mich ja wohl schlecht umbringen oder so richtig gründlich durchprügeln. Wenn ich zur Polizei gehe, wird dieser ganze Laden hier dicht gemacht und der sogenannte König landet sicher im Knast.“

„Sei dir deiner Sache da mal nicht zu sicher.“, seufzte Safall. Sie waren gerade auf dem Weg durch ein hübsches Anwesen mit japanischem Garten. Vor ihnen zeigte sich bereits die Villa mit dem doppeltüren Eingang. Hier residierte also der Kreuz König. Ob die Könige der anderen Blutlinien auch solche Prunkbauten bewohnten?

„Sag mal, was bist du eigentlich?“

Safall schmunzelte. „Ich bin das Kreuz Ass.“

„Shit ...“ Oniji wurde blass. „Ich hab dich immer für ein ganz kleines Licht gehalten. Bestenfalls für eine Lusche.“

„Ich hab dir schon mehrfach gesagt, daß du das Deck nicht so nennen sollst! Das sind hochrangige Adelige.“, seufzte Safall. Er war immer stiller geworden, seit das Haus in Sichtweite gekommen war. Also hätte er nicht mehr die Kraft oder den Willen, sich mit seinem Schüler herumzustreiten.
 


 

„Du hast eine große Fede mit der Pik-Blutlinie angezettelt. In aller Öffentlichkeit!“, wetterte der dickliche Mann im fortgeschrittenen Alter sauer. Er trug einen kurzen Allerwelts-Haarschnitt und einen verhältnismäßig schäbigen Anzug von der Stange. Dazu viel Silber. Das war das einzige an ihm, was an einen Kreuz-Vampir erinnerte. Selbst seine Eckzähne waren auffallend unauffällig, dafür aber augenscheinlich fest angestückelt und nicht mehr entfernbar. Das war also Tastan, der Kreuz König.

Er hockte wie eine Glucke auf der Vorderkante seines Sessels – unter „Thron“ hatte sich Oniji ja etwas pompöseres vorgestellt – und schien vor Wut jeden Moment aufspringen zu wollen. Zu seiner Linken und Rechten saßen wie ein Straftribunal zwei weitere Typen, die schon mehr nach Gothic aussahen. Ansonsten war dieser Raum hier völlig frei von irgendwelchen privaten Dingen. Es schien ein ausschließliches Arbeits- und Empfangszimmer zu sein. Gefließter Boden, nüchterne Wände, ein paar Regale an der einen, ein paar Sitzgelegenheiten an der anderen. Dort lungerten gelangweilte Schlägertypen herum, die dem Gespräch nur mit mäßigem Interesse folgten, Karten spielten und wohl nicht mehr als unterforderte Leibwache des Kreuz Königs waren. Aus dem einzigen Fenster konnte man nicht hinaussehen, es war entweder Milchglas oder mit einer entsprechenden Blickfang-Folie abgeklebt. Oniji kam dieser Raum kalt und nüchtern vor. Schmucklos. Gar nicht wie ein Thronsaal oder das Empfangszimmer eines großen Befehlshabers. Man fühlte sich durch das blickdichte Fenster lediglich unangenehm eingesperrt

Safall hob den Blick nicht, sah immerzu unterwürfig zu Boden. Sicher kannte er schon alle Kacheln auf dem gefließten Boden in- und auswändig. „Es tut mir leid. Es war ein wirklich dummes Missgeschick, das ich wieder beheben werde.“

„Ich sollte dich dafür einen Kopf kürzer machen!“

„Ihr habt allen Grund und alles Recht dazu.“

„Ja.“, gab der Kreuz König säuerlich zurück. „Wenn es mich nur nicht vor solche immensen Probleme stellen würde! Wieso ausgerechnet du?“

Oniji verengte die Augen zu skeptischen Schlitzen, während er dem seit einer Viertelstunde sinnlos im Kreis laufenden Dialog wie ein Unbeteiligter folgte. Keiner hatte ihn bisher auch nur eines Blickes gewürdigt. Es nervte ein wenig. Tastan leierte immer wieder die gleiche Strafpredigt herunter, vielleicht in der Hoffnung, Safall würde endlich eine gute, entlastende Erklärung liefern. Aber er tat es nicht. Wie auch? Der König machte Safall in vollem Umfang verantwortlich und dieser nahm die Rüge auch willig an. War es in der Vampir-Szene üblich, daß Lehrmeister für die Vergehen und Fehler ihrer Schüler geradestehen mussten?

„Warum verdammt hast du überhaupt ein Küken? In unserer Position ist das nicht mehr vorgesehen!“

„Aber auch nicht verboten, Herr.“

„Du hast in deiner Rolle als Kreuz Ass wirklich genug andere Probleme und Aufgaben, du solltest keine Zeit für einen Schüler haben! Und wenn doch, kann ich dich gern mit mehr Arbeit bei Laune halten!“

Safall nickte nur kleinlaut, sagte aber nichts dazu. Auch die beiden Typen links und rechts neben dem „König“ sagten nach wie vor kein Wort. Sie waren wohl Kreuz Bube und Kreuz Dame, die Minister und Berater des Chefs. Oniji schlussfolgerte zwei Dinge. Erstens mussten die „Damen“ einer Blutlinie wohl nicht zwingend weiblich sind. Und zweitens schien der Kreuz König ihren Rat nicht sehr intensiv in Anspruch zu nehmen.
 

Der Kreuz König seufzte mürrisch und überlegte sichtlich hin und her. In seinem Gesicht zeigte sich deutlich der Konflikt zwischen der Wut auf Safall und der Anerkennung seiner bisherigen Arbeit, die er wohl ehedem tadellos, zuverlässig und loyal geleistet hatte. Man konnte unschwer erraten, daß er nicht auf sein Kreuz Ass verzichten wollte, diesen Vorfall aber auch nicht ohne Konsquenzen lassen konnte. „Ich schicke dich für 72 Stunden in die Hölle!“, urteilte er schließlich. „Verschwinde jetzt!“ Mit einer wegscheuchenden Handbewegung entließ er den Gothic und seinen Schüler.

Safall schloss einen Moment verzweifelt die Augen und presste die Lippen zusammen, wandte sich dann aber mit einer Verbeugung kommentarlos ab.

„Du musst morgen um 14 Uhr am Sky Tree Tower sein! Und stell nicht noch mehr Unheil an, bis ich zurück bin!“, zischte er Oniji noch zu, dann übergab er sich den am Rand stehenden Schlägertypen, die offenbar nur darauf warteten, ihn abzuführen.
 

„Warte mal, Safall!“, rief Oniji ihm panisch hinterher. „Was soll das alles? Du hast nichts getan! Wieso bestrafen die dich für meine Fehler? Safall!“

Einer der breitschultrigen Typen packte Oniji genervt am Kragen, beförderte ihn rabiat durch den langen Flur bis vor die Tür und warf diese dann hinter ihm zu. Fassungslos starrte der Student die große, doppelflügliche, nun geschlossene Tür an. Sie hatten ihn rausgeworfen! Das war doch nicht zu fassen! Er hatte das Bedürfnis, sich gegen die Tür zu werfen und Einlass zu verlangen, seine gerechte Strafe einzufordern und um Safalls Freilassung zu bitten. Safall konnte ja nun wirklich nichts dafür, daß er sich in der Kneipe mit den Pik-Ministern angelegt hatte. Es war unfair, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings hatten die Schläger den Eindruck gemacht, daß er dieses Haus kein zweites Mal lebend verlassen würde, wenn er hier nochmal unangenehm auffiel. Schweren Herzens und unter der Last eines unglaublich schlechten Gewissens drehte er sich also weg und stapfte nach einer langen Weile des Überlegens durch den japanischen Garten aus dem Grundstück hinaus.
 

In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen, während er auf der Suche nach der nächsten Bus- oder U-Bahn-Haltestelle durch die Straßen streifte. Was sollte er morgen 14 Uhr am Sky Tree Tower? Der war am anderen Ende der Stadt. Wollte Safall dort jemanden treffen und schickte nun stellvertretend ihn hin? Was sollte er dort tun oder sagen oder mitbringen? Wie erkannte er denjenigen, den er treffen sollte, sofern es überhaupt jemanden gab? Nagut, an einem auffälligen Gothic-Outfit wohlmöglich? Und was war die <Hölle>, in die man Safall nun für die nächsten 3 Tage stecken würde? Irgendwas derart illegales, daß man besser die Polizei einschalten sollte? Oder brachte das überhaupt nichts, außer noch mehr Ärger, den auch nur wieder Safall würde ausbaden dürfen? Es war zum Verzweifeln. Wieso hatte Safall ihm bisher so wenig beigebracht? Wie sollte er Entscheidungen treffen oder seinem Freund helfen oder sich auch nur angemessen in der Szene benehmen, so ganz ohne irgendwelche Infos?
 


 

Mit suchendem Blick platzte er an diesem Abend in die Rockkneipe, in der die Vampir-Szene sich hauptsächlich abspielte. Zum Glück hatte Safall ihn schon so oft mit hier hergeschleppt, daß der Türsteher ihn inzwischen kannte und auch alleine reinließ. „Zeda! Bin ich froh, daß ich dich gefunden habe!“, seufzte Oniji erleichtert, als er Safalls Freund nach einigem panischem Suchen traf. Er hatte nur hoffen können, ihn hier zu treffen. Er hätte nicht gewusst, was er hätte tun sollen, wenn er Zeda nicht hier gefunden hätte. „Ich stecke in echten Schwierigkeiten!“

„Das ist mir nicht entgangen, man.“, gab der Gothic zurück und sah sich suchend um. „Wo ist Safall?“

„Nicht hier. Er wurde vom Kreuz König eingesperrt.“

Zeda zog eine Augenbraue hoch. „Okay, dann steckt ihr ja noch viel tiefer in der Scheiße, als ich dachte.“

„Safall badet gerade den Ärger aus, den ich ihm eingebrockt habe! Wir müssen ihm helfen! Bitte, ich brauche deine Hilfe!“

„Safall ist nicht mehr zu helfen. Vampire haften für ihre Küken, das ist Gesetz. Wenn Tastan ein Urteil gefällt hat, war´s das.“

„Aber er ist doch das Kreuz Ass!“, hielt Oniji verzweifelt dagegen.

„Ja. Hat ihm aber offenbar auch nicht geholfen.“

„Welchen Rang hast du, Zeda? Bist du einer vom Deck?“

Bitte sag, daß dein Name irgendwo wenigstens ein kleinen wenig Gewicht hat, dachte Oniji. Aber der Gothic lachte und kratzte sich die rasierte Kopfseite. „Wie kommst du auf sowas?“

„Weil du Safalls Freund bist.“

„Ich habe keinen Rang. Ich bin einfach nur ein gewöhnlicher Vampir. Fußvolk. Es ist reines Glück, daß ich jemand so hochrangigen als Freund habe. Und Safall redet nur sehr wenig über das, was sich in den politischen Ebenen da oben abspielt. Ich kann dir nicht helfen, Kleiner.“

„Was ist die <Hölle>?“, hakte Oniji nach.

Der Gothic schaute sich erschrocken um, als wolle er nicht, daß jemand mithörte. „Die Hölle? Haben sie Safall da hingesteckt?“ Fast panisch schnappte er Oniji an der Schulterpartie seiner Jacke und zerrte ihn aus der Kneipe heraus auf den Parkplatz. Wieso wurde er eigentlich immer an irgendwelchen Kleidungsstücken durch die Gegend rangiert, fragte Oniji sich missmutig.
 

„Wie lange!“, wollte er da draußen wissen.

„72 Stunden, oder so.“

Zeda verschränkte die Arme. „Nun gut, das ist verhältnismäßig mild, anbetracht der Grütze, die du da angerührt hast. Aber es ist trotzdem keine schöne Strafe. In der <Hölle> wird man praktisch rund um die Uhr misshandelt. Sie schlagen dich. Sie saugen dir soviel Blut aus, daß du vor Schwäche nicht mehr stehen kannst. Sie sperren dich in enge Särge ein, bis du vor Platzangst Schreikrämpfe bekommst. Manchmal wirst du auch ...“ Zeda vollendete den Satz nur mit einer vielsagenden, obszönen Geste. „Vom Schlafentzug ganz zu schweigen.“, fügte er an.

Oniji schlug die Hände vor´s Gesicht. Das alles blühte Safall jetzt stellvertretend für ihn, obwohl er absolut nichts getan hatte. „Ich geh zur Polizei!“, entschied er.

„Spar dir den Weg. Die Polizisten sind alle geschmiert und gekauft. Du landest dafür bloß selber in der Hölle.“

„Verflucht, was ist das hier für ein Haufen? Ich dachte, ihr wärt bloß ein paar harmlose Gothics mit ´nem kranken Spleen! Aber ihr seid ja ein Verbrecherkartell, schlimmer als die Maffia und Yakusa zusammen!“

Zeda legte mit kühlem Lächeln den Kopf schief und verschränkte die Arme. „Willkommen in der Realität. Sieh es mal so, wenn du keine Probleme machst, bekommst du auch keine.“

Oniji seufzte. „Ich will Safall helfen. Komm schon. Sag mir, was ich tun kann, bitte.“, gab er in unterwürfigem Tonfall zurück. So wie es aussah, war er voll und ganz auf die Hilfe von Zeda angewiesen. Alleine kam er hier gleich gar nicht weiter.

„Sei in Zukunft ein besserer Schüler. Mehr kannst du nicht tun.“, war die beinahe tröstende Antwort.
 

Oniji schnaubte sauer. Dann kam ihm aber ein anderer Gedanke. „Safall hat gesagt, ich soll morgen um 14 Uhr am Sky Tree Tower sein. Ich weis nicht, warum. Vermutlich wollte er dort jemanden treffen. Kannst du bitte mitkommen, Zeda? Ich trau mich nicht alleine da hin, nach all dem.“

zwangsberaten

Kopfschüttelnd reichte Oniji am nächsten Vormittag seine EC-Karte über den Tresen. Er hatte sich gerade in einem Gothic-Laden in Shibuya eine Hose mit Stahlösen für umgerechnet 217 Euro gekauft, ein Nietenoberteil für umgerechnet 104 Euro und Schmuck im Wert einer weiteren, dreistelligen Summe. Echt unfassbar. Er wusste nicht, ob er zu dem Verkäufer wirklich <Arigatou> sagen sollte, oder nicht. Aber er hatte wenig Alternativen. Zeda hatte sich widerwillig bereit erklärt, ihm zu helfen, aber „nicht so, wie du aussiehst!“, um es mal mit seinen Worten auszudrücken. Zeda war der Auffassung, egal wen sie am Sky Tree treffen würden, es wäre zwingend eine angemessene Aufmachung nötig, sonst wäre jedwedes Anliegen sofort zum Scheitern verurteilt.
 

„Warum dauert das so lange?“, wollte der Gothic mit der Undercut-Frisur genervt wissen, als Oniji wieder aus dem Geschäft kam und der ihn schon auf der Straße erwartete.

Der Student schaute verdutzt auf seine Armbanduhr. „Sekunde mal, wir waren erst in 5 Minuten an der Kreuzung da vorn verabredet. Wieso machst du so einen Stress?“

„Du hättest die Klamotten wenigstens gleich anziehen können.“, hielt Zeda dagegen, ohne auf seine Frage einzugehen. „Da drüben ist eine öffentliche Toilette, geh dich dort umziehen! Und, scheiße, mach irgendwas mit deinen Haaren!“

„Mein Haargel war alle.“

„Dann kauf dir auf dem Weg zum Sky Tree ein neues!“, fauchte Zeda und seine Vampirzähne blitzten dabei beängstigend auf. Heute trug er Eckzähne aus Chrom, die funkelten als gehörten sie zu einer bösartigen Zerstörungsmaschine.

„Hast du eine Ahnung, wo diese <Hölle> ist, in die man Safall gebracht hat?“

„Selbst wenn ich es wüsste, was willst du da?“

„Ich will hingehen und mich denen anbieten, im Austausch für Safall.“

Zeda warf ihm nur einen strafenden Blick zu. „Ich hab dir doch gesagt, daß ihm nicht zu helfen ist.“

„Du WILLST ihm bloß nicht helfen. Du bist echt ein vorbildlicher Freund, Zeda!“, maulte Oniji zurück und kam sich dabei ein wenig stolz auf sich selbst vor.

Zeda blieb stehen und zerrte ihn an der Schulter zu sich herum. „Die Tatsache, daß ich dir helfe, zeigt schon mehr als deutlich, wie sehr mir Safall am Herzen liegt, du Idiot! Er ist sehr beliebt und überall hoch geachtet und der Kreuz König weis das, darum lässt er ihm vieles durchgehen! Denn Safall setzt als Sympathieträger viele Dinge für ihn durch, die der König allein niemals unter die Leute bringen würde. Aber einen Schüler hätte selbst Safall nicht haben dürfen! Wenn ich mich jetzt um dich kümmere, riskiere ich Kopf und Kragen! Nur, wenn man dich allein lässt, reitest du Safall am Ende bloß noch tiefer in den Schlamassel rein!“

Oniji guckte dumm. „Wieso riskierst du jetzt Kopf und Kragen, wenn du mir hilfst?“

„Geh dich verflucht nochmal endlich umziehen!“ Zeda nahm ihm die Tüte mit den neuen Klamotten weg, nur um sie ihm in der gleichen Bewegung wieder demonstrativ in die Arme zu drücken, als wolle er ihn nachdrücklich an die Existenz dieser Tüte erinnern. Dann drehte er Oniji am Kragen um und stieß ihn unsanft in das öffentliche WC hinein, vor dem sie inzwischen angekommen waren. „Zum Sky Tree haben wir noch einen langen Weg vor uns! Also beeil dich!“

„Wir haben noch 4 Stunden! Es ist gerademal 10.“, maulte der Student in sich hinein, wohlweislich zu leise für die Ohren seines Helfers wider Willen.
 


 

Eine gute Stunde später bretterten die beiden in Zedas altem Leichenwagen einen schlaglochübersäten Feldweg entlang. Der Leichenwagen war spürbar nicht für solche Strecken gedacht und ächzte und schepperte an allen Ecken und Enden. Oniji hatte gar nicht erst gefragt, warum sie vom Sky Tree Tower wegfuhren, anstatt zu ihm hin. Er hatte auch nicht gefragt, wer oder was Ziel dieser Fahrt sein würde. Aber langsam kam ihm die Gegend bekannt vor und es meldete sich ein leiser Verdacht in ihm. Sie waren auf dem Weg zu Sewill, Safalls Zwillingsschwester.
 

Vor der entlegenen Berghütte brachte Zeda sein Auto zum Stehen und atmete tief durch, während er das Häuschen musterte. Dann zog er ein Schnappmesser aus seiner Hosentasche, ließ es aufspringen und hielt Oniji fordernd die Hand hin. „Gib mir deinen Arm!“, verlangte er.

„Wozu?“ Etwas eingeschüchtert zog der Student seine Gliedmaßen in Sicherheit.

„Ich will dein Blut!“

„Keine Chance!“

„Für meine Hilfe erwarte ich Gegenleistung! Du wirst jetzt einen Pakt mit mir schließen!“

„Das hättest du dir eher überlegen müssen!“, quietschte Oniji mit überschnappender Stimme. Die Klinge in Zedas Hand machte ihm Angst.

Ungeduldig griff der Gothic nach Onijis Unterarm, zog ihn mit der Kraft eines Bulldozers zu sich herüber und setzte das Messer an. Oniji hielt instinktiv still, damit Zeda wenigstens richtig treffen konnte und ihm nicht versehentlich die Pulsschlagader aufschlitzte. Er quiekte kurz auf, als der schneidende Schmerz heftiger ausfiel als erwartet.

„Safall sagte, ihr würdet nur von Freiwilligen trinken. Ich fühle mich gerade gar nicht als Freiwilliger!“

Angeekelt schloss Oniji die Augen und musste sich wirklich zum Stillhalten zwingen, als Zedas Zungenspitze das entstehende Blutrinnsal aufleckte und unangenehm über die Wunde fuhr. Sein Magen krampfte sich zusammen.

„Für die Kanüle fehlt uns die Zeit.“, gab Zeda nur zurück, wischte das Messer an seinem Pullover ab und schnitt sich kompromisslos in den eigenen Arm. Den hielt er dann Oniji hin, was die deutliche Aufforderung war, zu trinken. „Das ist mein Versprechen an dich, dir zu helfen und auf dich aufzupassen, bis Safall sich wieder selber um dich kümmern kann. Versprechen, besiegelt mit Blut, sind die glaubwürdigsten überhaupt.“

„Ist das auch dein Versprechen, daß du frei von irgendwelchen Krankheiten bist, mit denen du mich jetzt anstecken könntest?“, maulte der Student und schaute mürrisch auf den hingehaltenen Arm, an dem langsam ein Bluttropfen eine rote, der Schwerkraft folgende Spur zeichnete. Der Gothic antwortete nur mit einem vorwurfsvollen Blick. Offenbar war diese Art von Schwur in der Vampiristen-Szene tatsächlich eine sehr ernstzunehmende Sache und kein bloßer Scherz. „Welches Versprechen hast du mir gerade abgenommen, als du mich angestochen hast?“, hakte Oniji seufzend nach, überwand seinen Ekel und saugte den Schnitt an Zedas Arm vorsichtig aus. Im Gegensatz zu Safalls Blut, das er in einem Glas bekommen hatte, das er ohne großen Zungenkontakt einfach hinunterstürzen konnte und mit Wasser nachspülen konnte, war er bei Zedas Blut nun tatsächlich gezwungen, den metallischen Geschmack in voller Intensität über sich ergehen zu lassen. Und da Zedas Blut noch körperwarm war, entfaltete es tatsächlich einen anderen, weniger penetranten Beigeschmack als das ausgekühlte Zeug aus dem Glas. Aber nichtsdestotrotz fand Oniji es immer noch widerlich genug, um abgestoßen zu sein.

„Nur, daß du derjenige bist, dem mein Versprechen gilt.“, beantwortete Zeda seine Frage, zog sich dann den langen Ärmel über die Schnittwunde und stieg aus dem Auto aus. Die junge Frau mit den kurzen, weißen Haaren stand bereits in der Tür und erwartete sie. Vermutlich hatte sie den Motor des Wagens vor ihrem Haus gehört und nachgesehen, wer da zu Besuch kam. Seufzend quälte sich auch Oniji aus dem Autositz.
 


 

„Sewill, wir brauchen deine Hilfe. Wärst du so nett, uns deine Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen?“, bat Zeda, nachdem er sie mit einem Handkuss begrüßt hatte. Oniji erwartete dabei fast, daß er ihr mit seinen verchromten Eckzähnen in die Hand beißen würde, aber nichts dergleichen geschah.

„Natürlich. Die Freunde meines Bruders sind auch meine Freunde. Ich helfe euch gern. Was kann ich für dich tun?“

„Safall steckt in Schwierigkeiten.“, platzte es aus Oniji heraus.

„Tatsächlich?“ Verwundert griff Sewill nach dem Deck Tarot-Karten, die sich wie zufällig gerade neben ihr auf dem Tisch befanden, und legte mit schnellen, sicheren Handgriffen sechs Karten in einem Kreuzmuster. Kurz musterte sie die Bilder. „Hm, nein, er ist in Ordnung. Er hat wohl gerade irgendeine Einschränkung in seinen Freiheiten oder seinem Aktionsradius, aber ansonsten ...“

„Wegen Safall sind wir nicht hier.“, unterbrach Zeda das divinatorische Treiben. „Wir haben eigene Probleme.“

„... die mit Safalls Problemen im Zusammenhang stehen, nehme ich an.“, schmunzelte Sewill, schaute noch einen Moment auf die Karten und schob sie dann wieder zu einem Stapel zusammen. „Du willst wissen, was der Tag dir bringt.“, fuhr sie an Oniji gewandt fort. „Habe ich dir nicht das Spiegeln und das Runenwerfen beigebracht? Wieso fragst du deine Orakel-Medien nicht selbst?“

„Du kannst selber wahrsagen?“, wollte Zeda fassungslos wissen. „Warum sagst du mir das nicht? Dann hätten wir uns den Weg hierher sparen können!“

„Also erstens wusste ich ja gar nicht, wohin du mich hier schleppst. Und zweitens kann ich noch lange nicht wahrsagen, nur weil ich eine Anleitung für die Runensteine auf den Tisch geklatscht bekomme.“, hielt der Student selbstverteidigend dagegen.
 

Sewills Lächeln wurde breiter. Auch sie trug wieder lange, aufgesteckte Eckzähne, die sich allerdings farblich ein wenig von ihren echten Zähnen abhoben, wie Oniji jetzt bemerkte. Ihre Naturzähne waren etwas gelblicher. Sie holte ihr Samtsäckchen mit den Granatsteinen aus einer Kommodenschublade. Auf die Steine waren Runen eingraviert und mit Goldfarbe nachgezogen.

„Zeit, was zu lernen. Halte die Hände auf!“, wies sie Oniji an und schüttete ihm die Steine hinein. „Spiel ein bischen mit ihnen rum. Du musst jeden davon wenigstens einmal berührt haben. ... Such dir neun davon aus, die du benutzen möchtest. Ich empfehle dir Runen aus dem Alten Futhark, die sind aussagefähiger. Nimm auf jeden Fall Uruz, Kenaz, Gebo und Hagalaz, die spielen immer eine Rolle, egal wie deine Frage lautet.“

Oniji schaute sie mit fragendem Blick an. Er verstand kein Wort. Also suchte sie ihm die vier genannten Runen selbst heraus.

„Such dir noch fünf aus. Schließ die Augen und lass dich von deinem Gefühl leiten.“

Der Student schloss die Augen, atmete durch um sich zu entspannen und fingerte eine Weile an den Steinen herum, spürte aber absolut gar nichts. Entnervt wählte er dann letztlich nach dem Lostopfprinzip irgendwelche Runen aus, die er zufällig gerade zu fassen bekam.

„Jetzt stell deine Frage.“

„Ich wüsste gern ...“

„Nicht laut! Nur dran denken! ... Und jetzt wirf sie auf den Tisch.“

Oniji würfelte die Steine vorsichtig auf die Tischplatte und betrachtete das nichtssagende Ergebnis. Er hätte sich die Anleitung, die er letztes Mal von Sewill bekommen hatte, wenigstens einmal ansehen sollen, dachte er.
 

Sewill beugte sich über den Tisch. „Ah ja.“, meinte sie verstehend. „Die meisten Runen liegen mit dem Gesicht nach oben. Das heißt, die Situation ist eindeutig und durchschaubar. Es sind keine verborgenen Mächte im Spiel.“ Sie deutete auf einen weit abseits liegenden Stein. „Tiwaz hat sich abgesondert. Also ist Gerechtigkeit hier kein Thema. Es ist egal, ob das Geschehene gerecht ist oder nicht.“

„Wem sagst du das.“, seufzte Oniji unglücklich.

„Berkana und Ehwaz liegen beieinander und berühren sich. Die beiden sind ... naja ... Vertrauen und Teamwork, im Prinzip. Wenn sich die Runen berühren, arbeiten diese beiden Aspekte eng zusammen.“ Sie warf ihm einen listigen Blick zu. „Ich hatte nicht den Eindruck, daß zwischen euch beiden sehr viel Vertrauen im Spiel ist.“

„Wohlmöglich bezieht sich das Vertrauen nicht auf mich. Wohl eher auf Zeda und Safall untereinander.“

„Nein, alles hier bezieht sich auf dich. Du hast die Runen schließlich geworfen.“ Sie lehnte sich sexy auf die Tischplatte und schaute wieder auf die Steine. „Ich vermisse eine Rune. Uruz. Sie steht für Stärke und Gesundheit und solche Sachen. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten. Das ist schlecht. Mal sehen, hier drüben liegen auch noch drei Runen in einer Gruppe und beeinflussen sich dadurch gegenseitig ...“

Oniji lauschte noch weiter Sewills Ausführungen und versuchte sich wenigstens ein bischen was vom Interpretations-Schema zu merken, da er ihren komplexen Gedankenverknüpfungen schnell nicht mehr folgen konnte, bekam ansonsten aber keine wirklich hilfreichen Hinweise oder Tipps mehr für das, was ihnen heute Nachmittag am Sky Tree Tower bevorstehen mochte. Vermutlich konnte Safalls Schwester nichts konkreteres aus den Runen herauslesen, weil sie sich die Frage zu diesem Wurf gar nicht angehört hatte. Warum Zeda ihn wohl überhaupt hier hergeschleppt hatte? Traute er sich auch nicht zum Sky Tree Tower, ohne sich vorher Rat zur Gesamtsituation eingeholt zu haben? Was, wenn Sewills Vorhersagen überaus pessimistisch waren? Würde Zeda sich dann weigern, zum Sky Tree mitzukommen?

verschleppt

„Ist das Safall?“, wollte eine weibliche Stimme leise und zaghaft wissen.

„Denkst du?“

„Sieht so aus.“

„Wieso ist er hier?“

„Verdammt, was machen wir mit ihm?“

„Also ich werd mich ganz bestimmt nicht am Kreuz Ass vergreifen!“

„Aber die werden ihn doch nicht grundlos hergeschickt haben.“

„Von dem lass ich trotzdem die Finger!“

„Sieh nach, ob er es wirklich ist!“, trug die eine Stimme der anderen auf. Safall hatte inzwischen vier verschiedene Frauenstimmen erkannt. Er blieb weiter reglos liegen und harrte der Dinge, die da kamen. Je länger die unschlüssig rumrätselten, desto weniger musste er unter ihnen leiden. Jede verstrichene Minute war eine gewonnene Minute, während der 72-Stunden-Countdown bleiern herunterzählte.

Er hörte, wie sich leichte, vorsichtige Schritte an ihn heranschlichen und sich jemand neben ihm im Stroh niederließ. Zarte Finger strichen ihm zaghaft die langen Haare aus dem Gesicht, so daß er etwas erkennen konnte und gleichzeitig auch selbst erkannt wurde. Ein hübsches, junges Mädchengesicht beugte sich über ihn.

„Safall. Du bist es wirklich.“, stellte sie erkennend fest, merklich betrübt, daß er es wirklich war. Er kannte sie zwar nicht, aber offensichtlich kannte sie ihn. Das war auch nicht weiter verwunderlich. Als Kreuz Ass kannte einen so ziemlich jeder.

"Bedauerlicherweise ja.", entgegnete er. Er gab sich Mühe, ihrem Blick nicht zu lange standzuhalten, um demütig zu wirken.

„Wie bist du hier hergekommen? Bist du in Ungnade gefallen?“, hakte sie traurig nach.

„Mein Schüler hat Scheiße gebaut.“, gab Safall ehrlich und feundlich zurück. Sicher, diese Mädels waren hier, um ihren Opfern den Aufenthalt zur buchstäblichen Hölle zu machen, aber er machte ihnen dafür keinen Vorwurf. Sie taten nur ihren Job, und auch das nicht wirklich freiwillig.

Das Mädchen begann das Seil zu entknoten, das seine Hände auf den Rücken fesselte und seine Füße zusammenband. Erleichert drehte er sich auf den Rücken, als der Fortschritt der Entfesselung dies endlich zuließ, und bewegte seine schmerzenden Muskeln. Sehr unschöne Zwangshaltung, so gefesselt auf der Seite zu liegen. Sie strich mit einer Hand über seinen Oberkörper. „Sitz die Zeit hier einfach ab. Keine von uns wird dir was tun.“

Oha, er musste ja ziemlich beliebt sein, stellte Safall verwundert fest. Normalerweise machten diese Mädchen keinen Unterschied, wen sie vor sich hatten. Auch der Kreuz Bube war schonmal hierher in die Hölle gesteckt worden und war von den Mädchen nach Strich und Faden gequält worden. Der Kerl war zugegeben verhasst und Safall hatte vermutet, daß er dies auch extra deutlich zu spüren bekommen hatte.
 


 

Mit verschränkten Armen saß Oniji im Auto und wartete. Schon seit fast 20 Minuten. Langsam sollten sie wieder aufbrechen, wenn sie rechtzeitig zurück zum Sky Tree Tower kommen wollten. Zeda hatte ihn hinausgeschickt und war mit Safalls Schwester allein in der Berghütte geblieben. Wer weis, was die noch zu besprechen hatten.

Er merkte auf, als sich die Haustür öffnete, der Gothic sich mit dem gleichen Handkuss von Sewill verabschiedete, mit der er sie auch schon begrüßt hatte, und dann endlich zum Wagen kam. Er sah ein wenig erhitzt und zerfledert aus, als er sich auf den Fahrersitz fallen lies.

„Was hast du so lange da drin gemacht?“, wollte Oniji wissen.

„Ich habe sie für ihre Wahrsage-Künste bezahlt.“

„Ah ja. Will ich wissen, womit?“, meinte Oniji zynisch.

„Mit Naturalien.“

„Eher mit Dienstleistungen, so wie du aussiehst.“

„Tja. Sie bekommt nicht oft Besuch. Und Safall ist ihr da auch keine Hilfe, er ist ja ihr Bruder, nicht wahr? Auch wir halten nichts auf Inzest, auch wenn wir Vampire sind.“, fügte Zeda auf den dummen Blick seines zeitweiligen Schülers hin an.

„Komm schon, lass uns fahren. Ich soll 14 Uhr am Sky Tree sein und würde Safall gern den Gefallen tun, in seinem Auftrag pünktlich dort anzukommen.“
 


 

„Na schön. Fünf Minuten von 14 Uhr. Was nun?“

„Was hat Safall denn gesagt?“, hakte Zeda nach und zupfte eine Schnürung an Onijis neuem Gothic-Hemd zurecht. „In diesem Outfit siehst du richtig passabel aus, weist du das?“, warf er dann mit fast väterlichem Stolz ein.

„Möchte auch sein! Dieses blöde Outfit hat umgerechnet 500 Euro gekostet!“

Zeda grinste. Dann sah er sich um. Das Gelände um den Sky Tree Tower war sehr weitläufig. Allein der Treppenaufgang zur Kasse erstreckte sich über mehrere Etagen, die jeweils ganze Ladenstraßen in sich bargen. Hier jemanden zu finden, war ein regelrechter Glücksfall. An sich war es die praktikabelste Lösung, einfach in den auffälligen Gothic-Outfits herumzustiefeln und darauf zu warten, daß man gefunden wurde.

„Schau mal, da drüben am Geländer stehen zwei Typen in bunten Fetzen, die uns beobachten. Könnte das was bedeuten?“, meinte Oniji, als sie langsam an der Warteschlange vorbeispazierten, die sich auch heute wieder vor den Kassen gebildet hatte. Der Sky Tree Tower war schon ein Phänomen. Der Besucherdurchlauf war jeden Tag so gewaltig, daß man sogar Wartemarken ziehen musste, um überhaupt erstmal bis zur Kasse zu kommen. Dann war man aber noch lange nicht oben auf der Spitze des bunt beleuchteten Aussichtsturms, dafür vergingen gut und gern nochmal ein paar Stunden. Vorrangig waren es Touristen, die sich das antaten.

Zeda schaute in die gewiesene Richtung. „Könnte schon sein, ja. Lass sie uns halt einfach mal fragen.“
 

„Hey. Seid ihr mit Safall verabredet?“, brachte Zeda es ohne Umschweife auf den Punkt, als sie sich den bunten Gestalten näherten. Sie sahen kaum noch wie Gothics aus, obwohl sie wohl tatsächlich noch sowas in der Art darstellen sollten. Hatte eher was von der Musik-Richtung Oshare Kei, die geprägt war von knalligen Neonfarben, kitschigem Schmuck und hohem <kawaii>-Faktor.

„Ja. Und wer seid ihr?“, gab einer der beiden zurück. Unübersehbar stachen auch aus seinem Mund die künstlichen Eckzahnverlängerungen hervor, als er sprach. Sie trugen keine Barock-Kleidung, kein Fetisch-Leder und keinen Silberschmuck. Oniji konnte sie weder der Pik-, noch der Kreuz- oder der Karo-Blutlinie zuordnen. Ob das wohl Vampire aus dem Herz-Lager waren?

„Ich bin Zeda von der Kreuz-Linie. Das ist Oniji, ein Küken.“

„Ja, wir kennen Oniji.“, schmunzelte der, der von den beiden offenbar das Sprechen übernommen hatte. „Wo ist Safall?“

„Safall kann nicht kommen. Er schickt ... uns als Vertretung.“ Das Stocken in seinem Wortfluss zeigte, daß Zeda eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, seine Worte aber nochmal bewusst abgeändert hatte. Es war wohl blöd, zu sagen, daß Safall nur ein Küken als Vertretung geschickt hatte und er, Zeda, lediglich als moralische Unterstützung mitgekommen war.

Der Student war froh, daß Zeda das Wort ergriffen hatte. Er hätte gar nicht gewusst, wie man mit fremden Vampiren sprach.

„Welchen Rang hast du inne?“

„Ich bin nicht von Rang, ihr Meister.“, meinte Zeda und deutete eine Verneigung an.

„Schade. Das Kreuz Ass hätte uns wirklich mehr genützt. Stattdessen schickt man uns einen Bauern und ein Küken. Nagut. Ich bin Dare Ka und das ist Nani Ka.“

<Irgendwer> und <Irgendwas>, das waren ja mal interessante Namen, dachte Oniji und überlegte, ob er lachen oder den Kopf schütteln sollte. „Verzeiht meine Unerfahrenheit. Darf ich fragen, welcher Blutlinie ihr angehört?“, warf er vorsichtig ein. Er hoffte, Zeda mit dieser Frage jetzt keinen Ärger einzuhandeln. Er wollte nur wissen, woher die beiden ihn kennen sollten. Er hatte sie noch nie gesehen. Und da er sie auch in den Strukturen der Vampiristen-Szene nicht einordnen konnte, hatte er keine Ahnung, wie er sie einschätzen musste. Aber die beiden bunten lachten nur gut gelaunt auf.

„Wir gehören zu keiner. Wir sind Joker!“, erklärte der, der auch bisher schon für beide gesprochen hatte und sich als Dare Ka vorgestellt hatte. „Folgt uns bitte!“
 

„Was sind Joker?“, flüsterte Oniji Zeda zu, während sie den beiden Oshare-Kei-Verschnitten gehorsam hinterher trotteten. Im Kartenspiel waren Joker Karten, die alles und nichts waren. Sie hatten keinen eigenen Wert, sie konnten aber zu jeder x-beliebigen Karte werden.

„Abtrünnige. Sie gehören zu keiner Blutlinie, haben sich deshalb aber trotzdem nicht vom Vampirismus losgesagt. Gerüchten zufolge sind es vier, ich kenne sie aber nicht. Diese vier Typen machen ihr eigenes Ding. Man weis im Prinzip nicht viel über sie. Und bisher hat auch noch kein König es geschafft, was gegen sie zu unternehmen.“, flüsterte Zeda zurück.

„Muss man denn was gegen sie unternehmen?“

„Kommt drauf an, ob man sie gerade für sich oder gegen sich hat. Im Grunde sind sie harmlos, solange man sie sich nicht zu Feinden macht.“

„Was wollen die von uns?“

„Von uns vermutlich gar nichts. Ich frag mich eher, was die von Safall wollten. Er ist das Kreuz Ass, die rechte Hand vom Boss persönlich. Wenn die den in die Finger kriegen ... Ich schätze, es war nicht die schlechteste Fügung, daß Safall heute nicht hier ist.“

„Also sind sie quasi die Verbrecher unter den Verbrechern.“

„Würde ich so nicht sagen. Wir einfachen Anhänger ohne Rang betrachten sie eher als die Robin Hoods der Szene. Sie halten die Könige ein bischen auf dem Boden der Tatsachen.“
 


 

„Wir vergeuden unsere Zeit.“, murrte Oniji, als sie in ein Auto gestopft und zu einem unscheinbaren Wohnhaus kutschiert worden waren. Dort hatte man sie im Treppenhaus einfach sitzen lassen, mit der Bitte zu warten. Und da saßen sie nun. Seit fast einer halben Stunde schon.

„Das sehe ich im Moment noch nicht so. Die Joker sind nicht gegen uns.“

„Sag mal, hast du Safalls Handynummer?“, wechselte der Student das Thema.

„Klar, wieso?“

„Kann ich sie haben?“

„In der <Hölle> wird Safall ganz sicher kein Telefon haben, glaub mir. Das haben sie ihm weggenommen.“

„Schon möglich. Aber vielleicht kann man es orten!“

Zeda zog eine wütende Miene. „Schlag es dir endlich aus dem Kopf, wie ein heldenhafter Ritter da reinspazieren und ihn retten zu können!“, keifte er, schlagartig stinksauer.

„Ich will ihn nicht heldenhaft retten! Ich will lediglich mit ihm tauschen! Es muss doch möglich sein, daß die ihn gehen lassen und stattdessen mich dort behalten!“

Zeda stöhnte genervt. „Ihm geht es gut! Hör auf, dir Sorgen zu machen!“

„Wie kannst du sowas sagen, nach allem was du mir über die <Hölle> erzählt hast?“

„Sewill hat gesagt, daß er okay ist. Also entspann dich!“

„Woher will sie das wissen? War sie jemals da?“

„Jetzt hör mir mal zu!“, schnappte der Gothic ärgerlich. „Sewill ist die begnadetste Hellseherin und Wahrsagerin der ganzen Kreuz-Blutlinie! Und sie hat die Karten befragt, wie es ihrem Bruder geht, der ihr mehr als alles andere auf der Welt bedeutet! Wenn sie sagt, er ist in Ordnung, dann IST er verdammt nochmal auch in Ordnung! Und sie hat noch nie falsch gelegen!“
 

Oniji verschränkte unwillig die Arme und starrte die gegenüberliegende Wand an. Wie konnte Zeda bloß so seelenruhig hier rumsitzen, während sein Freund vermutlich langsam und qualvoll zu Tode gefoltert wurde? „Ich bin trotzdem der Auffassung, daß ich Safall besser suchen sollte. Schließlich ist er wegen mir da drin.“

„Du wiederholst dich, das nervt! Es geht hier nicht um dich!“, meckerte Zeda weiter. „Oder um Safall! Verstehst du das nicht? Shaishu und Namai waren so höflich, euch nicht gleich in aller Öffentlichkeit und vor aller Augen den Krieg zu erklären – und mit <euch> meine ich unsere gesamte Kreuz-Blutlinie! – sondern haben Safall die Zeit und die Gelegenheit gegeben, das wieder auszubügeln. Aber er kann gerade nicht, weil der Kreuz König ihn weggesperrt hat. Darum hat er uns geschickt, damit wir das wieder geradebiegen! Nur darum sind wir hier! In unseren Händen liegt die Entscheidung über Krieg oder Frieden zwischen zwei ganzen Blutlinien!“ Zeda starrte Oniji durchdringend an, als müsse er dieses Verständnis und diese Ladung Argumente mit purem Willen in dessen Kopf hineinprügeln.

Oniji hielt dem Blick nur einen Moment Stand, dann musste er zu Boden sehen. „Meine Fresse. Und alles nur, weil ich in einer Kneipe von einer Frau angerempelt wurde.“, murmelte er kopfschüttelnd.

„Kommt jetzt bitte rein!“, unterbrach eine Stimme aus dem Hintergrund ihre Diskussion. Nani Ka, einer der Joker vom Sky Tree Tower, war in der Tür erschienen und winkte die beiden zu sich.

Zeda schnaufte, als er verstand, was hier gespielt wurde.

aufgeklärt

Zeda schnaufte, als er verstand, was hier gespielt wurde. Die Joker hatten mitgehört. Man hatte sie beide solange im Treppenhaus sitzen lassen, bis sie aus Übermut, Langeweile oder Verzweiflung begannen, über das zu reden, was ihnen wirklich auf der Seele brannte. Ein simpler Trick, der auch von der Polizei sehr gern genutzt wurde. Nagut, sie hatten nichts zu verbergen. Die Joker konnten ruhig wissen, was hier Phase war. So wie er die einschätzte, wussten sie es sowieso längst.
 

„Verzeiht, daß wir euch haben warten lassen.“, meinte Dare Ka, der in der kleinen Mietwohnung an einem Schreibtisch saß und dekorativ einige Papiere um sich herum ausgebreitet hatte, damit es aussah, als hätte er gearbeitet. Die Wohnung wirkte spartanisch und provisorisch. Vermutlich war das hier nur ein mobiles Hauptquartier, das sofort wo anders hinverlegt wurde, sobald sie irgendjemandem den Standort verraten hatten oder von jemandem gefunden wurden.

„Du sagtest, Safall schickt euch!?“, begann der Joker auch sogleich das Gespräch.

„Ja. Allerdings hatte er nicht mehr die Chance, uns noch irgendwelche weiteren Informationen mitzugeben. Wärt ihr so nett, uns zu sagen, was der Zweck eures Treffens mit Safall sein sollte?“ Zeda übernahm wieder das Reden, wofür Oniji ihm dankbar war. Zeda wusste wenigstens genug über diese kunterbunten Kerle.

Dare Ka hob kurz seufzend die Schultern. „Wir wissen auch nicht sehr viel. Safall hat den Kontakt zu uns gesucht und wollte ein Treffen. Wir nehmen an, daß er uns um Hilfe bitten wollte, denn er hat uns von Oniji und seinem Missgeschick mit dem Pik Bube und der Pik Dame erzählt.“ Er lächelte. „Ich kann mir gut vorstellen, daß Safall Hilfe gesucht hat. Eine Fede zwischen Pik und Kreuz ... nun, wir wissen alle, was das bedeuten würde.“

„Was würde das denn bedeuten?“, flüsterte Oniji Zeda zu.

Das Grinsen des Kerls am Schreibtisch wurde breiter. „Wie ich sehe, hat Safall dir nicht sehr viel beigebracht.“

„Er hatte wenig Gelegenheit dazu. Ich bin erst seit vier oder fünf Tagen sein Schüler.“

„Und hast ihm schon solchen Ärger eingehandelt?“ Dare Ka schüttelte den Kopf, ohne das süffisante Grinsen aus seinem Gesicht zu bekommen.
 

„Pik und Kreuz konnten sich noch nie besonders gut leiden.“, begann Zeda zu erzählen. „Es gab immer schon tätliche Auseinandersetzungen zwischen ihren Mitgliedern. Das liegt an den allerersten Königen dieser beiden Linien. Der erste Kreuz König hat den ersten Pik König betrogen. Oder andersherum. Die Versionen dieser Geschichte variieren je nach Geschmack und Gelegenheit. Geblieben ist ein großer Hass der beiden aufeinander, der sich auch auf ihre Anhänger übertragen hat und von den nachfolgenden Königen wie eine Tradition weitergeführt wurde. Die Pik und die Kreuz hassen sich, ohne heute wirklich noch sagen zu können, warum.“

„Das ist der Grund, warum der kleinste Streit zwischen ihnen sofort eskaliert.“, warf Nani Ka von der Seite ein. „Wärst du nicht ausgerechnet der Schüler des Kreuz Ass gewesen, hätten Shaishu und Namai dich bestimmt krankenhausreif geschlagen und dem Kreuz König eine satte Schuld in Rechnung gestellt. Aber vor dem Ass hatten sie dann wohl doch etwas zuviel Respekt.“

Oniji erinnerte sich spontan an einen Satz aus einem dieser Vampir-Filme. War er aus <Königin der Verdammten>, wo Lestat zu Marius sagte, daß Vampire keine alten Rechnungen beglichen, sondern sie pflegten? Irgendwie kam ihm das gerade verdammt passend vor.

„Politik kann eine komplizierte Sache sein.“, seufzte Dare Ka und stützte das Kinn auf beide Fäuste. „Begleicht Safall diese Schuld gegenüber Shaishu und Namai nicht zeitnah, wandert der ganze Zwist eine Ebene nach oben und wird zu einer Angelegenheit zwischen König und König. Aber wie mir scheint, hat der Kreuz König schon davon Wind bekommen und die Sache gleich eigenständig zu seiner Angelegenheit erklärt. Hat er Safall nicht zur Rechenschaft gezogen? Es gehen da Gerüchte um, wie ich höre. Einige sagen, die Strafe sei zu mild für das Vergehen, andere sagen, er würde für das falsche Vergehen bestraft.“

„Wie kann Safall diese Schuld, wie ihr sie nennt, denn begleichen?“, wollte Oniji halb interessiert, halb verängstigt wissen.

Dare Ka zuckte mit den Schultern. „Was immer der Pik Bube und die Pik Dame als Entschuldigung akzeptieren. Da sie Pik sind, wäre es naheliegend, daß sie Geld wollen. Ihrem Ruf gemäß wird Safall sich aber eher ihren physischen Rachegelüsten ausliefern müssen. Sie sind bestialische Schläger, die beiden. Man merkt deutlich, wie sehr sie zur Karo-Blutlinie neigen.“

Karo waren die, die so strenge Regeln und Gesetze hatten und Verstöße entsprechend hart bestraften, erinnerte sich Oniji. Kein Wunder, daß solche Leute auch im Pik-Lager zu Bube und Dame und damit zu Ministern des Königs wurden.

„Sie haben viele Freunde bei den Karo. Und der Pik König ist darüber auch nicht böse, denn so hat er die Karo beinahe als Verbündete.“, fügte der Joker an. „Wohlmöglich wollen Shaishu und Namai von Safall eine Mischung aus beidem, Geld und Rache. Und von beidem nicht gerade wenig, wie ich annehme. Gibt er diesen Forderungen nicht nach, tragen die Könige das untereinander aus.“

„Was geschieht dann?“, wollte Oniji atemlos wissen.

„Krieg. Schlicht und ergreifend. Es wird Überfälle und Schlägereien geben, man wird Clubs ausrauben und anzünden, man wird Vampire auf offener Straße zusammenschlagen und ihren Alltag sabotieren, Wohnungen aufbrechen, Konten enteignen, Ladenbetreiber und Händler erpressen, Reviere umkämpfen, Gefangene machen, kein Mitglied der Pik- und Kreuz-Blutlinie ist dann noch sicher. Bis einer der beiden Könige aufgibt und unter Schuldanerkenntnissen und Strafzahlungen den Frieden ausruft. ... Vermutlich wird das der Kreuz König sein. Er ist zu weich, er würde einem Krieg nicht lange standhalten und um seiner Anhänger Willen schnell das Handtuch werfen.“
 

Und das alles wegen einem Rempler in einer Kneipe. Unglaublich, welche Last und Verantwortung Safall als Kreuz Ass zu tragen hatte. Ob er häufiger solche Streitigkeiten zwischen Mitgliedern der Blutlinien ausbaden musste? Oniji schloss die Augen, faltete die Hände auf seiner Nasenspitze und dachte nach. Was hatte Sewill über den Runenwurf gesagt? Es musste doch irgendwas hilfreiches dabei sein. Zeda hatte ihn doch nicht umsonst zu ihr geschleppt und ihre Fähigkeiten in Anspruch genommen. Es war zwar schön und gut, sich von den Jokern mal so richtig über die geschichtlichen und politischen Tiefen der Blutlinien aufklären zu lassen, aber Safall war damit noch lange nicht geholfen. <Gerechtigkeit ist kein Thema>, hatte sie gesagt. Logisch. Wenn hier irgendwas auch nur ansatzweise gerecht zugegangen wäre, würde Safall jetzt nicht in der <Hölle> sitzen und Onijis Strafe verbüßen. Sein Verlangen nach Gerechtigkeit und damit auch die Suche nach Safalls derzeitigem Aufenthaltsort brachten ihn wohlmöglich nicht weiter.

<Vertrauen und Teamwork spielen eng zusammen>. Er würde diese ganze Misere unmöglich alleine geradebiegen können. Er musste Zeda vertrauen. Er musste die Joker für sich gewinnen. Er brauchte soviele Helfer wie irgend möglich. Scheinbar war den Jokern vieles möglich, was klansgebundenen Vampiren verwährt blieb. Sie hatten Informationen und eine weitreichende Handhabe, sie standen weit über den Dingen. Das musste man nutzen, solange die Joker willens dazu waren.

<Uruz. Sie steht für Stärke und Gesundheit. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten.> Er würde Schaden nehmen, egal wie das hier ausging. Aber er würde das trotzdem durchziehen, beschloss er. Und in diesem Moment begriff Oniji, daß er inzwischen gänzlich ein Kreuz-Vampir war und seiner Blutlinie loyal zur Seite stand. Er war gewillt, seine Blutlinie verbissen zu verteidigen. Und zwar nicht nur um Safalls Willen, sondern aus Prinzip.

<Meisterschaft macht einsam>. Das war vermutlich der entscheidende Satz in Sewills gesamter Interpretation. Aber leider auch der, den Oniji am wenigsten deuten konnte. Nun, wer war der Meister und stand an der einsamen Spitze der Hierarchie? Ganz richtig, der König. Vielleicht sollte er einfach dort anfangen. Irgendwo musste er ja beginnen, wenn er weiterkommen wollte.
 

„Wir werden dir helfen. Aber unsere Hilfe ist teuer, sei dir dessen bewusst.“, warf Nani Ka ein, als habe er Onijis Gedanken gelesen.

„Ich muss mit dem Pik König sprechen. Was wollt ihr dafür?“

Alle starrten ihn entgeistert an. „Bist du größenwahnsinnig?“, schnappte Zeda. „An den kommt man nicht so einfach ran. Schon gar nicht als Küken, so wie du.“

„Dann mach mir einen besseren Vorschlag, was ich tun soll!“

„Du könntest zu Namai gehen und dich bei ihr entschuldigen! Das wäre ein guter Anfang. Und realistischer als gleich zum König zu wollen.“

„Namai wird mich totschlagen, wenn sie mir nochmal über den Weg läuft.“

„Du wolltest doch Safalls Schuld auf dich nehmen!“, meinte der Gothic zynisch. „Vielleicht reagiert sie sich ja so an dir ab, daß sie Safall dann in Ruhe lässt.“

„Wohl kaum.“, warf einer der beiden Joker ein. „Ein Küken wird ihr beim besten Willen nicht angemessen genug sein. Sie will das Ass haben. Oder wenigstens ein ähnlich hochrangiges Kreuz. Safall war bereit, sich ihr auszuliefern, um des Friedens Willen. Er wollte nur unsere Unterstützung, um da lebend wieder rauszukommen.“

Oniji schaute ihn fragend an. „Sagtest du nicht, ihr wüsstet nicht genau, warum Safall Kontakt zu euch gesucht hat?“

„Selektive Fehlinformation.“

„Selektive was?“

„Er hat gelogen.“, übersetzte Zeda genervt. „Hast du von einem Joker was anderes erwartet? Die verraten uns nicht mehr über sich als sie auch über uns wissen. Die rücken erst nach und nach mit der Sprache raus, wenn sie unsere Motive und Beweggründe durchschaut haben. Anders wären die als Außenseiter ohne Klanszugehörigkeit nie so weit gekommen.“

„Leider ist der Kreuz König Safall zuvor gekommen und hat ihn weggesperrt, bevor er sich den wilden Hunden von der Pik-Linie ausliefern konnte.“, fuhr Dare Ka fort. „Wir wissen nur nicht, ob er von Safalls Plan wusste und es verhindern wollte, oder ob er tatsächlich einfach nur sauer auf Safall und den Streit in der Kneipe war. Oder darüber, daß Safall einen Schüler hat, wer weis.“

Oniji überlegte kurz. „Ich bleibe dabei. Ich muss mit dem Pik König sprechen! Bitte bringt mich da hin!“
 


 

„Wieviel Zeit bleibt uns wohl noch?“, wollte Oniji gedankenversunken wissen, als man ihn und Zeda im Auto zurück zum Sky Tree Tower brachte.

„Wozu?“

„Naja, ich meine, Safall wollte diese blöde Schuld bei Shaishu und Namai begleichen. Nun ist er verhindert und kann nicht – für gerademal 72 Stunden. Was sind schon 72 Stunden? Wenn die beiden ihre Rache wirklich so bedingungslos wöllten, würden sie doch wohl mal 3 Tage auf Safall warten können, meinst du nicht? Aber die 72 Stunden reichen offenbar schon aus, damit die Sache zu einem Krieg zwischen Pik König und Kreuz König wird. Komische Gesetze sind das.“ Er sah auf die Uhr. „Es sind jetzt 24 Stunden um. Gestern um diese Zeit hat Tastan Safall in die <Hölle> gesteckt. ... Ich frage mich, wie es Safall wohl gerade geht.“

„Frag dich lieber, wie es jetzt mit uns weitergehen soll. Wenn die Joker es wirklich fertigkriegen, dir eine Audienz beim Pik König zu verschaffen, kannst du dich warm anziehen. Dem sind wir alle beide nicht gewachsen. Du hättest die Joker bitten sollen, ihm dein Anliegen vorzutragen, statt selbst mit ihm quatschen zu wollen. Ihr Wort hat viel mehr Wirkung als das von dir Küken. ... Ich bereue es gerade, dir meine Hilfe versprochen zu haben.“, meinte Zeda kopfschüttelnd.

„Danke, daß du es trotzdem tust.“, gab der Student ehrlich zurück.

Der Vampirist murrte nur in sich hinein und schaute sauer aus dem Fenster.

„Bist du mir böse?“

„Nein. Ich frag mich bloß, was in deinem Kopf vorgeht. Eine Audienz mit dem Pik König, fuck.“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich versuche nur, was aus Sewills Ratschlägen zu machen.“

„DAS hat sie dir nicht geraten!“

„Sie hat mir GAR NICHTS geraten, was mir irgendwie weiterhelfen würde!“, maulte Oniji zurück. Langsam war auch er schlecht gelaunt. Zedas ewiges Genörgel und sein Unwillen nervten ihn. Sicher wusste er viel mehr über die Hierarchien und Machtgefüge. Und sicher wusste er genug um zu Recht Angst zu haben. Aber dann sollte er das entweder direkt zugeben oder wenigstens hilfreiche Vorschläge machen! „Aber da wir nun schonmal bei ihr waren und uns angehört haben, was sie zu sagen hatte ...“

„Dann hör endlich auf ihre Aussage, daß es Safall gut geht!“

„Ach halt doch die Klappe, du Jammerlappen!“ Nun war es der Student, der verbissen aus seinem Autofenster starrte. Schweigen setzte ein, während draußen Leuchtreklamen und Werbeschilder von Firmen und Geschäften vorbeirauschten.

Nani Ka, der den Wagen fuhr, lachte leise in sich hinein. „Ihr zwei seit echt ein lustiges Gespann.“, kicherte er. „Ich denke, das Küken hat Recht, Zeda. Irgendwas müsst ihr tun. Von allein wird sich diese ganze Situation nicht in Wohlgefallen auflösen.“

„Aber doch nicht zum Pik König!“, hielt der verzweifelt dagegen.

„Kennst du den Pik König denn?“, seufzte Oniji.

„Nein, eben deshalb mache ich ja so einen Aufriss! Allein was man über ihn hört, ist mir schon genug. Ich lege gar keinen Wert darauf, den kennenzulernen.“

fertiggemacht

Oniji blinzelte, als man ihm die Augenbinde regelrecht vom Kopf riss. Er war am Sky Tree Tower überfallen und in ein Auto gezerrt worden, kaum daß er sich von den Jokern verabschiedet und sich umgedreht hatte. Man hatte ihn gefesselt, geknebelt, ihm die Augen verbunden und ihn eine gefühlte Ewigkeit durch die Gegend gefahren. Er wusste nicht, wer die Typen waren und er wusste nicht, was mit Zeda passiert war. Sie hatten ihn von Zeda getrennt. Jedenfalls hörte er den Gothic nicht. Er war nicht in diesem Auto.

Als man ihm nun endlich wieder Sicht und Redefreiheit gewährte, fand er sich in einem Schlachthaus wieder, wie es im Buche stand. Von der Decke und an den Wänden hingen blutige Fleischerhäken, auf dem Boden waren Blutlachen in verschiedensten Austrocknungs- und Verwesungsstadien, auf einem Tisch am Rand lagen schmutzige Messer, Sägen und Äxte, und es stank erbärmlichst.

Ohne viel Federlesen wurde Oniji mit den Handfesseln an einem der Fleischerhäken aufgehangen und ein Stück hochgezogen, so daß er mit den Füßen den Boden nicht mehr erreichte. Ein paar Meter entfernt baumelte ein zappelndes, quiekendes Schwein, das man an den Hinterläufen aufgehangen hatte. Das arme Vieh tat ihm schon beim bloßen Anblick leid und lenkte ihn einen Moment lang ganz davon ab, daß direkt neben ihm noch jemand an die Wand festgekettet war. „Zeda! Gott sei Dank, du bist noch da! Wo sind wir hier?“, platzte es aus ihm heraus.

Zeda deutete nur mit seinem Kinn Richtung Tür, sagte aber nichts.

Er folgte seinem Blick und beobachtete den gruseligen Typen, der gerade hereinspaziert kam und sich suchend auf dem Tisch mit den Gerätschaften umsah.

„Der Pik König.“, raunte Zeda nach einigen Momenten doch.

Oniji schlief das Gesicht ein. DAS war der Pik König? Unter diesem Gesichtspunkt bestaunte er den Kerl nochmals neu und revidierte alle Schlussfolgerungen, die er in den wenigen Sekunden über ihn gezogen hatte. Er war bestenfalls 25 Jahre alt, für einen Boss als verdammt jung. Sein Gesicht war ein mörderischer Kontrast aus schneeweiß angemalter Haut, schwarzen Lippen und reichlich dunklem Lidschatten. Das ganze wurde aufgepeppt mit einem Nasenring, der über eine dünne Kette quer über das Gesicht mit einem Ohrring verbunden war. Die schulterlangen Haare waren mit Wet-Gel zu einem wässrig-fettigen Look verschmiert. Dazu trug der Typ einen langen, schwarzen Lackmantel mit vielen Schnallenverschlüssen, und Totenkopf-Stiefel die ihn locker 20 Zentimeter größer machten. Nichts von dem Barock-Stil zu sehen, den Pik-Vampire sonst zu tragen pflegten. Aber das musste nichts bedeuten. Tastan mit seinem Bierbauch, dem aufgedunsenen, bärtigen Gesicht und dem Business-Anzug sah auch nicht aus wie ein Kreuz König.
 

Dieser Typ, der also den Pik König darstellen sollte, stiefelte festen Schrittes mit einem Messer und einem Kelch zu dem überkopf aufgehängten Schwein hinüber. Oniji wusste nichtmal seinen Namen, dachte er noch, dann stellten sich ihm die Nackenhaare auf, als das schmerzhafte Aufquieken des Schweines zu einem gluckernden Röcheln wurde und der Pik König völlig ungerührt seinen Kelch unter die nun aufgeschlitzte Kehle hielt. Als der Becher für seinen Geschmack voll genug war, stolzierte er damit weiter und das restliche Blut des großen Tieres ergoss sich ungehindert auf den gefließten Boden. Oniji drehte sich der Magen um. Das war zu widerlich, er musste den Blick abwenden, weil er es nicht mehr ertrug.

Der Pik König musterte sie beide aus der Ferne, nahm einen nachdenklichen Schluck aus seinem Kelch voll warmem Blut, und kam schließlich schweigend näher. Seine mit weißen Kontaktlinsen aufgepeppten Augen pendelten ruhig vom einen zum anderen.
 

„Ich ... ich grüße euch, hochverehrter Herrscher der Pik-Linie.“, meinte Zeda leise, regelrecht verängstigt. Logisch, sie hingen hier an Fleischerhäken in einem Schlachthaus, in dem gerade vor ihren Augen ein Tier abgestochen worden war und der Schlächter, das Messer noch in der Hand, seine Aufmerksamkeit nun ihnen widmete.

Der junge König beschaute Zeda eine ganze Weile, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Das war Show, entschied Oniji. Der Kerl versuchte nachhaltig Eindruck zu hinterlassen. Das Schlimme war, es gelang ihm tadellos. „Bringt ihn zum Schweigen!“, befahl der Pik König dann ruhig. Aus irgendeinem Schatten kam eine Gestalt hervorgesprungen, die Oniji bisher gar nicht aufgefallen war, klebte Zeda ein ordentliches Stück Paketklebeband auf den Mund, und verschwand dann wieder.

Die weißen Augen des Pik Königs richteten sich auf den Studenten, dem eine spürbare Gänsehaut den ganzen Rücken hinaufkroch. Er seufzte theatralisch. „So, du bist also das blöde Küken, das hier fast einen Krieg verursacht.“, stellte er nüchtern fest und trank wieder aus dem Kelch mit Schweineblut.

„Es tut mir leid ...“

„Ich habe dich nicht nach einer Antwort gefragt!“, unterbrach der Pik König ihn sofort und verbot ihm damit nachhaltig den Mund. Ein Wunsch, dem Oniji nur zu gern nachkam. Er hatte echt die Hosen voll. „Ich bedauere, daß das Kreuz Ass nicht hier an deiner Stelle hängt. Er wäre mir eine amüsantere Gesellschaft.“

Auch darauf wäre Oniji eine schlagfertige Antwort eingefallen, aber er hielt unterwürfig die Klappe, ehe er der nächste mit aufgeschlitzter Kehle war.

„Ein Joker hat mir eine sündhafte Gegenleistung dafür erbracht, daß ich mich ein paar Minuten mit dir abgebe. Ich bin sicher, die Rechnung für dieses Vergnügen bekommst du später noch von ihm präsentiert.“ Der Pik König lächelte und schüttete den Rest seines morbiden Getränkes schwungvoll auf Onijis Oberkörper. Der Student wand sich einen Moment angewidert stöhnend in seinen Fesseln, an denen er immer noch von der Decke baumelte, bis er seinen Würgereflex und die Wut über sein ruiniertes 500-Euro-Outfit wieder im Griff hatte.
 

„Na schön. Sag, was du zu sagen hast. Und mach es kurz, ich habe wenig Zeit.“, seufzte der Pik König schließlich und wandte sich desinteressiert ab. Sein Blick ruckte kurz von der Messerklinge in seiner Hand zu Zeda hinüber.

„Ich will das Missgeschick zwischen Namai und mir wieder in Ordnung bringen. Ich will mich in aller Form entschuldigen und fragen, wie ich das wieder gutmachen kann, damit dieser Streit beigelegt wird und nicht zum Krieg zwischen den Blutlinien wird.“ Yo, kurz und präzise, dachte Oniji, so wie der hochrangige Schlächter es gewünscht hatte. „Bitte, sagt mir, was ich tun kann, Herr.“, fügte er dann noch an, um wenigstens mit sowas wie einer Respektsfloskel abzuschließen.

„Du? Du bist ja nichtmal ein Vampir. Bloß ein dummes, unwichtiges Küken. Du kannst hier gar nichts mehr tun.“, sinnierte der Pik König und begann mit dem blutigen Messer Zedas Oberteil zu zerschlitzen, um Brust und Bauch freizulegen. Wie alle Japaner war auch Zeda völlig unbehaart und so strahlte ihm makellose, helle Haut entgegen. „Bring mir das Kreuz Ass. Noch heute. Der ist der einzige, der mich vielleicht noch umstimmen kann.“, fügte er an, zwar noch an Oniji gewandt, mit seiner Aufmerksamkeit aber schon längst deutlich bei Zeda. Das Paketklebeband auf seinem Mund dämpfte den schmerzhaften Aufschrei, als das Messer des Blutlinien-Herrschers über seinen Oberkörper glitt. In quälender Langsamkeit, jeden Zentimeter deutlich auskostend. „Hör auf, zu zappeln. Die Bauchdecke ist nicht sehr dick, weist du? Da kann man schnell mal versehentlich durchstechen.“, lachte er und senkte denn seine aufgesetzten Vampirzähne in den Schnitt hinein.
 


 

Oniji war stinksauer. Er fühlte sich überhaupt nicht ernst genommen. Wieso mussten immer andere an seiner Stelle leiden, wieso durfte er seine Grütze nie selber ausbaden? Nur weil er ein verdammtes <Küken>, ein Schüler war? Die Joker hatten ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt, hatte er inzwischen für sich entschieden, nachdem er mal genauer drüber nachgedacht und Zeda befragt hatte. Safall hatte die Joker sicherlich nicht gebeten, ihn vor Shaishu und Namai zu retten. Er war als Kreuz Ass viel zu hochrangig, den brachte keiner um. Überhaupt war es unter den Vampiren nicht Sitte, sich gegenseitig umzubringen. Sie prügelten sich, okay, aber getötet wurde niemand. Also was konnte Safall wirklich von den Jokern gewollt haben?

Zeda zischte auf, als der Student mit dem Alkoholtuch über den Messerschnitt auf seiner Brust fuhr.

„Tut mir leid.“, meinte Oniji leise.

„Das sollte es auch, du Idiot.“

„Schon okay. Ich denke nicht, daß die Wunde noch Probleme macht. Das Messer war zwar voller Schweineblut, aber er hat die Wunde ja gründlich ausgesaugt.“

Zeda sank in das Sofakissen zurück und murrte etwas in sich hinein. Kurz herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann sah er den Studenten geradezu herausfordernd und trotzig an. „Und? Bist du jetzt zufrieden?“

„Wenn es dich tröstet : nein.“, gab der zurück und knüllte das Alkoholtuch unglücklich zusammen. „Es hat absolut gar nichts gebracht. Schlimmer noch, es musste schon wieder ein anderer den Kopf für mich hinhalten, diesmal du.“

„Und Safall kriegen wir heute nicht mehr dort hin. Der sitzt noch mindestens 30 Stunden in der <Hölle> fest.“

„Ich habe nicht vor, Safall diesem kranken Sadisten auszuliefern!“, gab Oniji entrüstet zurück.

„Nicht? Was willst du denn sonst tun? Dich will er nicht haben, Küken! Du bist kein Ersatz für ihn, hast du das nicht gemerkt?“

Oniji stand schnaubend auf und ging das Desinfektionstuch ins Klo werfen. „Der Typ ist gruselig. Er hat eine Aura, die einen echt fertig macht, noch bevor er einem überhaupt irgendwas angetan hat.“

„Natürlich. Er ist ein Energie-Vampir.“, erklärte Zeda.

„Was ist das nun wieder?“

„Genau das. Menschen, die dich mit ihrer bloßen Anwesenheit und ihrer Art komplett totspielen. Das machen sie entweder durch Mobbing, indem sie dich stundenlang auf der Mitleidsschiene zuquatschen, maßlos übertriebene Kritik oder einfach nur durch psychologisch unangenehmes Auftreten, dem du nicht ausweichen kannst. Wer das absichtlich macht, um sich daran zu ergötzen, ist ein Energie-Vampir. Er zieht dir einfach die Kraft und Energie weg.“
 

„Was schlägst du vor, was wir jetzt machen sollen, Zeda?“, seufzte Oniji und lies sich neben ihm auf der Sofakante nieder. Er fühlte sich in seiner eigenen Wohnung nicht mehr wohl, stellte er fest. Zeda hatte ihm auf diese Frage zwar bisher noch kein einziges Mal konstruktive Ideen geliefert, aber er wurde trotzdem nicht müde, Zeda immer wieder zu fragen.

„Keine Ahnung. Am besten gehen wir in unsere Stammkneipe, saufen uns so richtig hackedicht und gehen die nächsten 3 Wochen nicht mehr auf die Straße, bis der Krieg sich wieder etwas gelegt hat.“

Oniji sah kopfschüttelnd auf die Uhr. „Ich mach uns was zum Abendessen, ja? Auch wenn mir seit dem Treffen mit diesem Pik König echt der Appetit vergangen ist.“

Zeda brummte genervt, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Umständlich fischte er es auf dem Rücken liegend heraus und sah auf das Display. „Oh. Sewill.“, stellte er verwundert fest und brachte den Studenten damit in der Tür zum Stehen. „Hallo, Süße. Was ist passiert?“

„Zeda! Ihr müsst was tun!“ Zedas Handy war vom letzten Rockkneipen-Besuch noch so laut eingestellt, daß der Gothic es erschrocken von seinem Ohr wegzog und Oniji draußen alles mithörte. Fragend schaute der den Gothic und sein Telefon an. „Safalls Zeichen haben sich drastisch verändert! Er schwebt in echter Gefahr! Bitte, helft ihm!“

„Sewill, weinst du? Hey, ganz ruhig, immer mit der Ruhe. Erzähl mir erstmal schön langsam, was du gesehen hast. Hast du etwa Tarotkarten gelegt?“, versuchte Zeda sie zu beruhigen, während er mit dem Daumen den Lautsprecher herunterregelte, so daß Oniji kein Wort mehr verstand. „Bitte, bewahre jetzt einen klaren Kopf. Wir werden das wieder hinkriegen, hörst du? Atme erstmal tief durch. Und erzähl mir, was du siehst.“ Der Gothic mit dem Undercut bemühte sich verbissen, ruhig zu bleiben, während die aufgelöste, sich hysterisch überschlagende Stimme ohne Sinnzusammenhang auf ihn einhagelte. „Nicht weinen, Süße, das hilft nicht. Schau auf deine Karten und ... Ja, ich verstehe dich. ... Konzentrier dich trotzdem weiter auf deine Karten. Gib mir Informationen und Hinweise, alles was du siehst.“ Er massierte sich verzweifelt den toten Punkt über der Nasenwurzel, als er weiter lauschte. Oniji konnte nicht sagen, ob es die Verzweiflung über Sewills Kopflosigkeit war, oder über das, was sie in ihren Karten las. Lange schwieg er und hörte einfach nur zu. Der Student in der Wohnzimmertür wurde dagegen immer nervöser. „Kannst du auch nur ansatzweise erkennen, wo er sein könnte? Wo ich suchen soll?“, fragte er schließlich resignierend. Sewills Ausführungen mussten wahrhaft ernüchternd sein. „Nein, da klingelt bei mir nichts, tut mir leid.“, hauchte er entschuldigend.
 

Oniji hastete zum Schrank und zerrte die Runensteine heraus, die Sewill ihm gegeben hatte. Er betrachtete sie einen Moment wild entschlossen, legte sie dann aber doch in die Schublade zurück. Es war utopisch. Er würde aus diesen Dingern nichts lesen können. Nicht mit seiner völligen Erfahrungslosigkeit und schon gar nicht mit dieser miesen Unruhe in seinem Kopf, die ihn gerade aufwühlte.

<Meisterschaft macht einsam>, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Er dachte an seinen Runenwurf von heute Mittag. Er hatte die Runen gefragt, wie er Safall finden könnte und hatte diese mysteriöse Antwort erhalten. Da er Safall immer noch nicht gefunden hatte, hatte dieser Wegweiser immer noch Gültigkeit. Er musste ihm weiter folgen. Was machte Meisterschaft aus? Richtig, Weisheit. Und wer hatte die größte Weisheit weit und breit? Genau, Sewill. Und sie war verdammt einsam und abgeschieden, da oben in ihrer entlegenen Berghütte. In Onijis Kopf ratterten die Zahnräder. Sie würden Safall ja wohl kaum bei ihr finden. Und er hatte den Satz schon einmal falsch interpretiert. Wohlmöglich auch jetzt. Ach, er hasste Rätsel.

„Ja, ich komme zu dir. Bleib ruhig, ich bin schon auf dem Weg.“, hörte er Zeda in diesem Moment ins Telefon sagen.

Na schön, so schnell erübrigten sich Fragen von selbst.

Zeda raffte sich ächzend von Onijis Sofa hoch und stellte die Füße auf dem Boden ab, um aufzustehen. „Heute geht es ja echt rund.“, meinte er. „Erst Sewill, dann die Joker, dann der Pik König, und nun wieder Sewill. An einem Tag. Also uns kann man wirklich keinen Vorwurf machen, daß wir uns nicht kümmern würden. Vergiss das Abendessen. Wir essen unterwegs in einem Seven Eleven.“
 

Oniji warf sich eine Jacke über und zog euphorisch seine Wohnungstür auf und erschrak vor dem untersetzten Typen im Anzug, der gerade davorstand und die Hand nach der Klingel ausstreckte. Sein Vermieter, fiel ihm nach kurzem Überlegen ein.

„Ah! Gut, daß ich dich noch erwische! Dir ist schon klar, daß deine Wohnung eine Kündigungsfrist von 4 Monaten hat, ja?“

„Wie bitte?“, machte der Student perplex.

„Eine Kündigung binnen einer Woche ist unerhört! Du hast Glück, daß ich so schnell Nachmieter gefunden habe!“

„Ich habe meine Wohnung nicht gekündigt!“, hielt Oniji verständnislos dagegen.

„Dann funktioniert dein Gedächtnis wohl nicht mehr besonders gut!“ Sein Vermieter hielt ihm ein Schriftstück unter die Nase, auf dem groß und deutlich <Kündigung> im Betreff stand und unter dem ein vertrautes Kraxel prangte. „Das hatte ich heute im Briefkasten! Das ist doch deine Unterschrift, oder?“

„Ähm ... ja ... aber das hab ich nicht geschrieben!“

„Idiot! Ich erwarte, daß die Wohnung am Samstag leergeräumt und übergabebereit ist! Sonst gibt es hier richtig Ärger!“

„Warten Sie mal! Die Kündigung ist nicht von mir! Kann ich den Zettel haben?“

Der kleinwüchsige Immobilientyp stapfte nur wie ein Wallross die Treppe hinunter und beachtete ihn gar nicht mehr. Oniji fluchte leise. Irgendwer fälschte seine Unterschriften. Und zwar verdammt gut.

„Glückwunsch! Du hast schon die ersten echten Feinde, noch bevor du aus dem Küken-Stadium heraus bist und zum vollwertigen Vampir ernannt wurdest. Damit dürfest du so ziemlich der Recordhalter sein.“, warf Zeda aus dem Hintergrund ein.

eigenmächtig

Langsam wandte Safall den Blick von dem winzigen, vergitterten Fensterloch ab, als er den Schlüssel im Türschloss quietschen hörte. Fragend sah er zu seinem Besucher auf. Seinem Zeitgefühl nach musste er schon reichlich die Hälfte seiner Strafe abgesessen haben. Und bisher war er auch tatsächlich in Ruhe gelassen worden, unfassbar. Jeder andere wäre hier mehr tot als lebendig wieder rausgekommen. Das einzige, was er hier auszustehen hatte, war Hunger. Sie hatten ihm seit seiner Ankunft nichts weiter als Wasser gegeben.

Eine Frau trat ein und ging vor ihm in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, da er auf dem blanken Boden saß. Sie hieß Miyako, erinnerte er sich. Er kannte sie nur bedingt persönlich, aber als Kreuz Ass hatte er notgedrungen das eine oder andere mal mit den Mädchen hier zu tun gehabt. Sie war für einen Gothic von einer recht nüchternen Optik. Schmucklose, schwarze Baumwollklamotten, kein Make-up, die schwarzen Haare profan zu einem Zopf zurückgebunden. Nur in ihren Augen glitzerte bereits diese gewisse sadistische Härte, die sie denen, die ihr anvertraut wurden, angedeihen ließ. Sie war die eine hier, die ihren Job wirklich mochte. Und dabei fragte sie nicht nach Gründen oder mildernden Umständen.

Schweigend drückte sie Safall rücklings zu Boden und schob seine Hände aus dem Weg, die er automatisch schützend auf seinem Oberkörper platziert hatte. Sein langer Ledermantel wurde mit sicheren, zielstrebigen Griffen geöffnet. Dann sein Hemd. Dann sein Gürtel. Safall schloss resignierend die Augen und wandte das Gesicht etwas ab, als er in aller Deutlichkeit spürte, wie der Reißverschluss aufgezogen wurde. Nun gut, er hatte lange genug Schohnfrist gehabt – 50 Prozent der Zeit ohne einmal angerührt worden zu sein, das war bisher noch niemandem vergönnt – aber jetzt war er also doch fällig. Nicht zu ändern. Reflexartig zuckten seine Hände zu den ihren, um irgendetwas zu verhindern, als der Hosenstoff nachgab, sanken dann aber doch unverrichteter Dinge auf den strohbedeckten Boden zurück. Er musste sich zwingen, sich nicht zu wehren. Das würde nur umso härtere Strafen bewirken. Das schlimmste daran war das Wissen, daß er es gekonnt hätte. Er war diesem Mädchen körperlich um Längen überlegen, es wäre kein Thema gewesen, sich gegen sie zu wehren. Er wünschte sich beinahe, gefesselt zu sein, damit er sich nicht allein auf seine Selbstbeherrschung verlassen musste.
 


 

„Gibst du mir JETZT Safalls Handynummer?“

„Sein Handy ist aus.“, entgegnete Zeda, drückte auf seinem Telefon die Wahlwiederholung und spielte ihm das bekannt-verhasste <The person you´ve called is temporarily not available> mit den drei Pfeiftönen vor. Dabei trat er das Gaspedal seines alten Leichenwagens durch, als die Ampel freie Fahrt zeigte.

Oniji seufzte und starrte auf die Straße hinaus. Eine Weile herrschte Schweigen. Da Zeda auch das Autoradio ausgeschalten hatte, wurde die Stille schnell ekelhaft. Und die Fahrt zu Sewill war weit. Das versprach ja eine spaßige Reise zu werden. Verzweifelt suchte er Gesprächsthemen, um sich und Zeda ein wenig abzulenken, fand aber beim besten Willen lange nichts. „Woran denkst du gerade?“, wollte er irgendwann wissen, als er in das verbissene Gesicht des Gothics schaute.

„Daran, daß Sewill in ihrer Verzweiflung hoffentlich nichts blödes anstellt.“

Volltreffer. Ganz mieses Thema, bestätigte Oniji sich in Gedanken selbst. „Seid ihr ein Paar, Sewill und du?“

„Gott bewahre! Safall würde mich umbringen.“, gab Zeda zurück und zum ersten Mal für heute stahl sich tatsächlich sowas wie ein Lächeln auf seine Lippen. „Wie kommst du darauf?“ Er schielte kurz zu seinem Beifahrer hinüber, bevor er sich wieder auf den Straßenverkehr konzentrierte.

„Naja, du redest mit ihr, als ob es so wäre. Und ... als wir sie heute Mittag besucht haben, da hast du ja mit ihr ... vergiss es einfach.“

Ein gut gelauntes Lachen. „Hast du eine Freundin?“

„Nein.“, seufzte Oniji. „Seit Safall mich in die Rockkneipe mitgenommen hat nicht mehr. Ich habe dort einiges verbockt. Nicht nur die Sache mit Shaishu und Namai.“

„Hat er dich zu einem Blutrausch mitgenommen?“, wollte Zeda entgeistert wissen.

„Wenn ihr das so nennt!?“
 

Zeda schielte wieder zu ihm hinüber. „Und trotzdem setzt du soviel daran, Safall jetzt zu finden und ihm zu helfen. Bist du ihm überhaupt nicht böse? Auf gar nichts von all dem, was er so mit dir abgezogen hat?“

„Ich weis es nicht.“, gestand Oniji und zupfte an seinem altbewährten Kapuzenpulli herum, gegen den er vorhin noch schnell das blutverschmierte 100-Euro-Nietenhemd eingetauscht hatte. „In erster Linie ist er mein Freund. Vielleicht der erste wahre, den ich je hatte.“

„In diesem Fall bist DU wahrscheinlich der erste wahre, den ER je hatte.“

Oniji schaute fragend zu Zeda hinüber. „Wirklich? Was ist mit dir?“

„Oh, wir verstehen uns gut, Safall und ich. Dann und wann verbringen wir ein bischen Zeit miteinander ... haben Spaß zusammen ... vertrauen uns ... aber wir würden füreinander sicher nicht durch´s Feuer gehen. Du hast den Mut, es mit dem Kreuz König und dem Pik König aufzunehmen, um Safalls Willen. Das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Safall mag ja beliebt und überall hoch angesehen sein, aber echte Freunde hat man in so einer Position nicht mehr. Vielleicht war das ja der Grund, warum er dich als seinen Schüler angenommen hat. Er wollte endlich jemanden, der ihm näher steht als seine politischen Mitspieler und Ränke-Schmieder.“

Tja, hatte Safall nun eine schlechte Wahl getroffen, weil er ihm nichts als Ärger gebracht hatte? Oder eine gute Wahl, weil er diesen Ärger wenigstens selber auszubaden versuchte? „War das gerade der Kreuz König?“, unterbrach Oniji in diesem Moment seinen Gedankengang und sah über die Schulter einem anderen Auto auf der Gegenfahrbahn nach.
 

„Schon möglich. Ja, ich glaube das war er.“, gab Zeda mit einem desinteressierten Blick in den Rückspiegel zurück.

„Fahr hinterher, bitte!“

Der Gothic schaute ihn missbilligend an. „Wieso das denn jetzt?“

„Ich hab ein blödes Gefühl. Er könnte uns zu Safall bringen!“

Zeda stöhnte verständnislos. Aber er hatte keine Lust auf Diskussionen. Ein kurzer Blick in die Runde, ob die Bahn frei war, dann riss er das Lenkrad herum und wendete seinen alten Leichenwagen bei voller Fahrt im Schleudergang über vier Fahrspuren, um die Verfolgung aufzunehmen. Panisch wollte Oniji nach den Sicherheitsgriffen über der Tür schnappen, griff aber ins Leere. Der Wagen hatte keine.

Er keuchte schockiert, als Zeda sein Auto wieder unter Kontrolle hatte und auf das Gaspedal drückte. „Tu das nie wieder!“

„Klappe da drüben! Ich weis, was ich tue!“

„Das sehe ich nicht so!“

„Ich bin Hobby-Rennfahrer! Ich war letztes Jahr Zweiter auf dem Tokyo Drifting Battle!“, hielt Zeda triumphierend dagegen und überholte mit heulendem Motor ein anderes Auto auf dem Standstreifen.

Oniji kannte zwar keinen Tokyo Drifting Battle – vermutlich war das eine halb-illegale Veranstaltung – aber er bekam den Verdacht, daß Zedas alter Leichenwagen weit mehr unter der Haube hatte, als er standardmäßig haben sollte. Gut, offenbar hatten auch Vampire Hobbies. Blieb ihm also nichts anderes übrig als Zedas Fahrkünsten zu vertrauen.
 


 

Er wusste, daß Miyako sich nicht sexuell an ihm vergehen würde – jedenfalls jetzt noch nicht – aber das machte es auch nicht besser. Auf Schmerzen oder Ekelspiele stand er genauso wenig wie auf alles andere, was gegen seinen Willen mit ihm geschehen mochte. In Safall krampfte sich alles zusammen, als der Reißverschluss seiner Hose nachgab und das hautenge Leder, das seinen Unterleib sonst wie ein Korsett stützte, seinen Hüften plötzlich ungewohnten Freiraum ließ. <Nicht wehren. Nicht wehren.>, mahnte er sich immer wieder selbst, vorrangig um sich von dem abzulenken was gerade über ihn erging. <Und bloß nicht heulen, sonst verschmiert die ganze Schminke!>.

„Das reicht!“, unterbrach eine zweite Frauenstimme die Szene, noch bevor wirklich etwas passiert war.

Safall rührte sich keinen Millimeter, schaute nicht wer da hereingeplatzt war, blieb einfach nur reglos unter den fremden Händen liegen, die nun arbeitslos auf seinem freigelegten Oberkörper ruhten.

„Was soll das heißen?“, wollte Miyako verdutzt wissen.

„Lass ihn in Ruhe!“

„Wir haben ihn schon seit 40 Stunden in Ruhe gelassen. Der Kreuz König wird uns köpfen, wenn wir ihn nicht bald ...“

„Komm jetzt hier raus, habe ich gesagt!“, fuhr die andere streng fort, die so unvermittelt hereingeplatzt war.

„Das hier ist die <Hölle>, Asuka. Hier wird keiner grundlos reingesteckt! Auch ein Kreuz Ass nicht. Ich weis nicht, was du mit Safall am Laufen hast, daß du unbedingt die Finger von ihm lassen willst, aber ich werde mir nicht den Hass des Königs zuziehen, indem ich ihn über die Maßen schohne!“

„Lass den König meine Sorge sein.“

„Aha? Das interessiert mich jetzt allerdings!“, ging eine dritte, männliche Stimme dazwischen und lies alle herumfahren – diesmal auch Safall.
 

In der Tür war ein älterer, dicklicher Typ in zu großem, legerem Anzug aufgetaucht und lies verwundert den Blick durch den Kellerraum schweifen. Verwundert, daß Safall nach anderthalb Tagen in der <Hölle> noch derart unversehrt aussah. Verwundert, daß die Frauen hier herumdiskutierten, ob man sich dem Kreuz König – also ihm – widersetzen sollte oder nicht.

„Ich soll also deine Sorge sein?“, nahm der Kreuz König das Gespräch wieder auf, nachdem er für seinen Geschmack lange genug verblüfft angegafft worden war.

„Tastan, Herr!“, keuchte Miyako, die gerade noch an Safalls Klamotten zu Gange gewesen war, erschrocken. „Ihr habt uns lange nicht mehr mit einem Besuch beehrt! Was führt euch denn hier her?“, druckste sie unsicher herum.

„Ich weis nicht. Neugierde wahrscheinlich. Habt ihr etwa gerade gegen mich gemeutert?“, gab der Kreuz König in herausforderndem Ton zurück. Dieser zynische <wenn-man-nicht-alles-selber-macht>-Ton, der einen unbestimmten Tadel mitschwingen ließ.

„Safall wird nichts geschehen!“, verlangte das streitlustige Mädchen, das vorhin als Asuka bezeichnet worden war. Sie hatte wuschelige, fingerlange, rubinrote Haare und Safall stellte fest, daß er sie nicht kannte. Es war das Mädchen, das ihn bei seiner Ankunft hier aus den Fesseln geschält hatte. Etwas an ihrem Outfit machte ihn stutzig, auch wenn sie bei oberflächlicher Betrachtung wie ein gewöhnlicher Kreuz-Vampir aussah. War es die bunte Haarsträhne auf der rechten Kopfseite?

„Was soll das!? Ich befehle euch, endlich eure Arbeit zu machen!“

„Du hast mir nichts zu befehlen!“, zischte Asuka, zog ein Messer und setzte es dem Kreuz König an die Kehle.

Er schnappte nach Luft.
 


 

Zeda nahm die Hände vom Lenkrad, verschränkte die Arme und schaute finster den Gebäudekomplex an, der sich ihm durch die Windschutzscheibe zeigte. Es war ein grauer, vorerst völlig unscheinbarer Flachbau. Aber ein paar Details machten ihn skeptisch. Etwa das Spionloch in der Tür. Oder die winzige Kamera im Gebüsch neben dem Eingang. Oder die blickdichten, von außen verstärkten Fenster, die sicherlich aus bruchsicherem Glas bestanden. Oder die Luftschächte ring um das Gebäude, die auf ein weitläufiges Kellersystem schließen ließen. Dieses Ding machte den Eindruck, als sei es ein Bunker, in den keiner ungefragt rein- oder rauskommen sollte.

„Na schön. Du hast den König reingehen sehen. Worauf wartest du?“, wollte Zeda herausfordernd wissen.

„Kommst du nicht mit?“, gab der Student mit unterdrückter Panik zurück.

„Ich bin ja nicht lebensmüde. Ich bin froh, die <Hölle> noch nie von innen gesehen zu haben, und ich gedenke das auch nicht zu ändern.“

„Meinst du, das hier ist die <Hölle>? Glaubst du, Safall ist da drin?“

„Keine Ahnung. Aber wenn ich irgendwo ein Straflager für aufsässige Leute bauen müsste, die mal so richtig links und rechts eine hinter die Ohren kriegen sollen, dann würde es so aussehen wie das da.“, meinte der Gothic mit einem Deut aus dem Frontfenster. „Ringsrum nur Felder, man stört keinen und vor allem: man WIRD nicht gestört. Quasi ideal.“

„Okay, ich geh rein!“ Oniji atmete tief durch, um sich selber Mut zu machen. „Versprichst du mir, nicht abzuhauen?“

Zeda schwieg einen Moment. Als müsse er sich das reiflich überlegen. „Ich werde warten. Aber nicht hier. Wenn der Kreuz König wieder rauskommt und mein Auto hier rumstehen sieht, bin ich geliefert. Siehst du den Feldweg zum Wald da hinten? Dort erwarte ich euch. Wenn du in anderthalb Stunden nicht dort bist, fahr ich ohne dich weiter!“

„Danke, Zeda.“

„Geh schon.“, seufzte der junge Mann mit der Undercut-Frisur und zog sein Handy hervor. Vermutlich um Sewill zu sagen, daß er sich verspäten würde. Begeistert war er von der Verzögerung nicht. Und das konnte Oniji verstehen, so panisch und aufgewühlt, wie sie am Telefon geklungen hatte.
 


 

Dem schwarzgekleideten Typen am Tresen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als Oniji völlig unvermittelt zum Haupteingang hereinplatzte. Kurz fuhr er zu seinem Bildschirm herum, als wundere er sich, warum die Kamera ihn nicht vorgewarnt hatte, dann sah er wieder zu Oniji. Schnell lies er sein zwielichtiges Spielzeug verschwinden, mit dem er gerade lüstern herumhantiert hatte und sprang hinter seiner Theke auf.

„Wer bist du, man? Wie bist du hier reingekommen?“

„Äh ... die Tür war nur angelehnt.“, rechtfertigte sich der Student verunsichert. Er hatte nicht erwartet, gleich an der Tür von einem Türsteher abgefangen zu werden. Das war schlecht, sehr schlecht.

„Ja und was willst du hier, man?“

Oniji ging auf´s Ganze. „Na, ich bin mit dem König hier! Ich musste nur noch schnell ein Telefonat zu Ende führen! Ich soll nachkommen, sobald ich fertig bin. ... Hat der Kreuz König dir etwa nichts gesagt?“

„Nein, verdammt!“ Der Türsteher schaute wieder hilflos auf seinen Monitor, ob etwa noch mehr Leute draußen standen. Dann legte er noch einige unschöne Flüche nach, die aber auch nicht weiterhalfen.

„Hör zu, ich hab keine Zeit, mich mit dir rumzuärgern. Sag mir einfach, wo Safall ist, und dann lass mich durch!“, verlangte Oniji mit einem Tonfall, der souveräner und glaubhafter klang, als er es sich erhofft hatte.

Der Türsteher begann auf seinen schwarz lakierten Fingernägeln herumzukauen. In den Kellergeschossen unten gab es keinen Handyempfang. Er konnte den König also nicht fragen, ob der tatsächlich noch auf so eine Dorfhupe wartete, oder ob das Fake war. So ein verdammter Mist. „Man, ich hab diesen Job hier nur angenommen, weil ich dachte, daß nie irgendwer herkommen würde. Und jetzt sowas!“

„Schon gut, ich finde Safall auch alleine.“, nörgelte Oniji und ging einfach weiter. Er wurde auch nicht aufgehalten, was ihn doch erstaunte.
 


 

„Du hast mir nichts zu befehlen!“, zischte das rothaarige Mädchen und setzte dem Kreuz König mit grimmiger Miene ein Messer an die Kehle.

„Safall!“, quietschte eine weitere, neu hinzugekommene Stimme dazwischen, die Safall hellhörig werden lies. Asuka und der Kreuz König wurden einfach kompromisslos aus dem Weg geschoben und Oniji stürzte ungehalten zur Tür herein, um sich einfach bäuchlings auf Safall zu werfen. „Bin ich froh, daß es dir gut geht! Bist du okay? Du ahnst nicht, wie lange ich nach dir gesucht habe!“, sprudelte es nur so aus dem Studenten heraus.
 

In Safalls Gesicht setzte sich ein befreites Grinsen fest, als er reflexartig die Arme um seinen Schüler schlang, so schwul das auch aussehen mochte. Ihm war alles egal. „Du hast mich gesucht?“

„Ich hab mit Zeda die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, man!“

„Wo ist Zeda?“

„Draußen. Er hat gesagt, in die <Hölle> könne ich schön alleine gehen.“

„Sieht ihm ähnlich, dem Feigling.“, lächelte Safall.

„Schlagt sie windelweich! Alle beide!“ , zeterte der Kreuz König dazwischen und fuchtelte hysterisch in Safalls und Onijis Richtung. Unsägliche Zustände waren das hier! Sein übermütiges Kreuz Ass entging einfach seiner amtlich zugewiesenen Strafe, ein ungehobeltes Küken folgte ihm hierher und verschaffte sich widerrechtlichen Zugang zur <Hölle>, die Henkerinnen dieser <Hölle> weigerten sich ihren Job zu tun! „Dreistigkeit! Ich verlange Gehorsam von jedem einzelnen von euch!“ Dann wurde er aber von dem Messer in seiner Euphorie gebremst, das trotz des rüden Schubbsers immer noch an seinem Hals ruhte. „Wer bist du überhaupt? Ich verlange deinen Namen zu wissen!“, maulte er das ihm unbekannte Mädchen säuerlich an, das hier so frech den ganzen Laden zum Erliegen brachte.

„Ich bin Itsu Ka!“

<Also doch.>, dachte Safall mit einem innerlichen Nicken.

„<Irgendwann>? Du bist einer der vier Joker!“, warf Oniji verdutzt von der Seite ein und rappelte sich wieder von Safall hoch.
 

„Tatsächlich?“, fragte der Kreuz König, schlagartig eine ganze Spur ruhiger.

„Ich bin ein Joker, ja. Ich wurde hier eingeschleust, um Safall zu schützen.“

„Mit welchem Recht? In wessen Auftrag?“

„In meinem Auftrag.“, entgegnete Safall selbst und erhob sich von dem ungemütlichen Strohlager, um seine Kleider wieder zu ordnen. „Ich kann nicht zulassen, daß Ihr mich hier einsperrst, Herr. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen.“

„Der Pik König will dich sehen! Heute noch!“, warf Oniji ein.

„Eben, genau deshalb ja.“, meinte Safall. „Ich muss einen Krieg zwischen Pik und Kreuz verhindern. Darum habe ich die Joker gebeten, mich rechtzeitig wieder hier rauszuholen, falls Tastan mich wirklich in die <Hölle> schickt. Allerdings hatte ich nicht erwartet, daß die Joker auch hier drin schon so gut auf mich aufpassen.“, fügte er mit einem dankenden Nicken an Asuka hinzu. „Wie spät ist es?“

„Ich will nicht, daß du da hingehst! Er wird dich foltern oder umbringen! Der Typ ist total krank! Ich habe ihn kennengelernt!“, meinte Oniji panisch.

Safall fuhr ihm beruhigend über den Kopf. „Das wird er nicht. Dafür bin ich zu hochrangig. Das wird eine ganz sachliche Verhandlung, keine Sorge.“

„Dann will ich aber mitkommen!“

„Gern. Aber jetzt sag mir endlich die Uhrzeit!“

Oniji sah auf seine Armbanduhr. „Halb 11 nachts.“

Das Kreuz Ass nickte. „Dann habe ich noch anderthalb Stunden. Das sollte zu schaffen sein. ... Ihr dürft eure Wut später an mir auslassen, König. Ich werde mich dem nicht entziehen. Aber jetzt rufen mich erstmal dringendere Pflichten.“, versprach er Tastan mit einer angedeuteten Verneigung. „Entschuldigt mich.“

Itsu Ka, die dritte Joker, schloss sich ihm an, als er ungefragt das Gebäude verließ. Eigentlich schon ganz schön vermessen, dachte Safall schmunzelnd, einfach so aus der <Hölle> herauszuspazieren, ohne irgendjemandes Erlaubnis. Es war ein bischen, wie fröhlich pfeifend aus dem Haupteingang eines Gefängnisses herauszuschlendern, in dem man eigentlich lebenslänglich einsitzen sollte. „Zeda ist draußen, sagst du?“, wollte er von Oniji wissen, der mit regelrechter Verzweiflung an seinen Fersen klebte.

„Ja, mit dem Auto.“

„Perfekt!“

Keine Rechnung ohne den Joker

„So ist der ganze Aufruhr also endlich Geschichte. Welchen Preis hast du dafür bezahlt?“, wollte Oniji wissen, als sie ein paar Tage später zusammen in ihrer altbewährten Rockkneipe saßen und er gerade bereitwillig zuließ, daß Safall mit einer Kanüle seine Hauptadern am Arm anzapfte. Das Glas mit seinem eigenen Blut stand noch unberührt auf dem Tisch. Safall hatte es mit irgendeiner Lösung verdünnt, wohl aufgelöste Aspirin, damit es in der Zwischenzeit nicht gerinnen würde. Immerhin wollten Sie zusammen anstoßen.

„An wen? An die Pik-Linie oder an die Joker?“

„Beides.“

„Namai hat mich zum Kampf herausgefordert.“

„Aha, so heißt das jetzt also, wenn man sich zusammenschlagen lässt.“

„Hey, ich habe auch ausgeteilt!“, verteidigte sich Safall. Nagut, zumindest die ersten anderthalb Minuten, fügte er in Gedanken an. Dann hatte die wilde Furie es bereits geschafft, ihn in Grund und Boden zu stampfen wie einen Boxsack. Aber das sagte er Oniji natürlich nicht.

„Und? Hast du gewonnen?“

„Wo denkst du hin? Gegen Namai gewinnt keiner.“ Nein, die hatte ihn nach allen Regeln der Kunst vermöbelt. Es waren miese Schläge und Tritte in den Bauch und Rücken dabei gewesen, die er zum Teil heute noch spürte, wenn er seine Muskeln anspannte. In gewisser Weise hatte Namai den größten Teil von dem nachgeholt, was ihm in der <Hölle> erspart geblieben war. Shaishu hatte seine Partnerin aber irgendwann ein wenig zurückgehalten. Immerhin ging es hier ja lediglich um einen versehentlichen Rempler in einer Kneipe. - Shaishu selbst hatte Blut gewollt. Das Blut des Kreuz Ass hatte für ihn eine ruhmreiche Trophäe dargestellt. Welchem Vampir der Pik-Linie war es je gelungen, das Blut eines so hochrangigen Feindes zu bekommen? Aber auch das erzählte Safall Oniji nicht. Hätte Oniji DAS ausgeplaudert, hätte es Safall weithin zur Schande gereicht.

„Und weiter?“

„Der Pik König wollte Geld, als Entschädigung für den ganzen Aufruhr. Aber das waren vergleichsweise Peanuts, eher eine symbolische Geste.“

„Und die Joker?“

Safall zog vorsichtig die Nadel aus Onijis Arm und drückte ihm ein Taschentuch darauf. Dabei zog er ein unglückliches Gesicht. „Ich bin sicher, du wirst es irgendwann erfahren.“, wich er der Frage aus.

„Und wird deine Meuterei in der <Hölle> noch Konsequenzen gegenüber dem Kreuz König haben?“

„Nein, er hat es dabei belassen. Unter der Bedingung, daß keiner je davon erfährt, daß ich einfach aus der <Hölle> abgehauen bin. Aber da die Joker dort mit im Spiel waren, hat er wenig Handhabe. ... Der Türsteher, der dich reingelassen hat, wird das allerdings bitter bereuen, darauf darfst du wetten.“
 

Der Student nickte und seufzte leise in sich hinein. Sewill hatte ihm echt ganz schön Angst gemacht mit ihrem Anruf. Aber inzwischen wusste er ja, warum sie aus ihren Karten nicht hatte lesen können, wie unbeschadet Safall aus dieser Nummer herauskommen würde. Die Karten zeigten nur die Ergebnisse der Entscheidungen und Handlungen, die jemand gerade verfolgte. Aber man konnte die Zukunft ändern. Man konnte sich umentscheiden, anders handeln, andere Wege gehen, andere Ergebnisse verursachen. „Hör zu, Safall. Ihr Vampiristen seid ein interessantes Völkchen, aber was ihr treibt, ist mir einfach zu Hardcore. Eure Politik ist absolut nicht meins. Ich möchte gern aus dieser Szene wieder aussteigen.“

Safall lächelte. „Danke.“, hauchte er sanft.

„Wirst du mich gehen lassen?“

„Natürlich. Du tust mir ehrlich gesagt einen großen Gefallen damit, auch wenn ich es schade finde. Aber ich dürfte gar keinen Schüler haben. Wenn du nicht mehr mein Schüler bist, macht mir das wieder vieles einfacher.“

Der Student nickte verstehend. „Bleiben wir trotzdem Freunde?“

„Logisch. Du weist ja, wo du mich finden kannst.“ Safall hob das Glas mit dem Blut an seine Lippen und trank es, als sei das ein Versprechen.

„Kannst du deinen Sarg bitte wieder abholen?“, meine Oniji kleinlaut.

„Behalte ihn. Er war ein Geschenk.“

„Ist gut. ... Danke. ... Für alles!“

Sie umarmten sich kameradschaftlich, dann, als sie im gegenseitigen Einvernehmen feststellten, daß es zwischen ihnen nichts mehr zu sagen gab, trennten sich ihre Wege und Oniji verließ die Kneipe. Aus den Boxen dröhte gerade wieder The Gazette, wie bei seiner ersten Ankunft hier.
 


 

„Oniji. Würdest du bitte mit uns kommen?“

„Sorry, Leute, ich bin ausgestiegen. Ich bin keiner mehr von euch Vampir-Typen. Ich gehe gerade wieder eigene Wege.“

„Diese Option hast du nicht.“, grinste Dare Ka, der ihn gerade in einer unbelebten Seitengasse abgefangen hatte.

„Wieso nicht?“

„Du hast eine Menge Rechnungen bei uns zu begleichen. Wir haben dir den Pik König gebracht und wir haben Safall für dich aus der <Hölle> geholt, was auch mindestens zur Hälfte auf dein Konto geht. Du stehst zweimal in unserer Schuld. Ab jetzt bist du einer von uns. Ein Abtrünniger. Ein Joker.“

<Ich bin sicher, du wirst es irgendwann erfahren.>, hallte Safalls Stimme in seinem Kopf nach. Das war es also gewesen. Er hatte den Jokern als Gegenleistung seinen Schüler überlassen müssen. Darum hatte er wohl auch den Sarg behalten sollen. Oniji lächelte breit. „Gut. Ich freu mich darauf! Lasst uns die Vampir-Szene aufmischen!“



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