Chapter I – Peace of Cake
Hinata hatte es geschafft – das Fenster stand endlich offen. Sie hatte ganze 20 Minuten gebraucht, nach dem Griff zu greifen, ihn zu drehen und es aufzureißen. 20 Minuten. Die kalte Winterluft bahnte sich fauchend einen Weg in ihr großräumiges Zimmer und vertrieb in kürzester Zeit die wohlige Wärme. Doch Hinata spürte weder die Wärme ihres Zimmers, noch die Kälte des Winters. Auf ihren Handflächen und ihrer Stirn sammelte sich der Schweiß. Ihre Kehle fühlte sich so eng an, als hätte jemand einen Strick um ihren Hals gezogen und umso näher sie dem Fenster kam, desto enger zog sich die Schlinge.
Freiheit.
Sie legte ihre Hände auf das Fenstersims. Die Kälte, die aus dem kalten Stein ströhmte, kroch von ihren Fingern hinauf in ihre Arme. Hinata atmete tief ein und stemmte sich Zentimeter für Zentimeter in die Höhe, setzte ihre Füße auf dem Sims ab und blickte nach draußen. Sie musste ihre Augen zusammenkneifen, denn obwohl die Sonne hinter einer grauen Wolkendecke verborgen lag, blendete sie der helle Schnee. Es würde nicht so leicht sein, den Baum zu erreichen, wie Hinata anfangs gedacht hatte, aber schaffen würde sie es. Daran gab es keinen Zweifel. Sie warf einen vorsichtigen Blick nach unten und wandte sich hastig wieder ab, Übelkeit machte sich in ihr breit und klopfte an ihre Magenwände.
Nicht nach unten sehen!
Noch einmal tief Luft holen, dann …
„Hinata?!“
Als ihr eigener Namen an ihre Ohren drang, zuckte sie heftig zusammen und wäre vor Schreck beinahe in den unter ihr liegenden Garten gefallen. Da sich Hinatas Zimmer im zweiten Stock befand, wäre das eine sehr unschöne Landung geworden.
„Hinata!“
Wenn nicht jetzt, wann denn dann?!
Sie schlüpfte aus ihrem Zimmer auf das äußere Fenstersims, das aus massivem Stein bestand. Der Wind pfiff ihr höhnisch um die Ohren und vereinzelte Schneeflocken strichen über ihr glühend heißes Gesicht.
Die Aufregung machte ihre Bewegungen fahrig und unsicher, gleichzeitig berauschte das Adrenalin Hinata auf eine geradezu süchtig machende Art. Aufzugeben kam jetzt gar nicht mehr in Frage! Ihre zitternden Finger schlossen sich um den Fenstergriff, sie zog das Fenster hinter sich zu und richtete ihren leicht verschwommenen Blick auf den knorrigen, alten Baum direkt vor ihr. Einer seiner verdrehten Äste reichte fast bis an ihr Fenster, so als strecke er seine Hände nach Hinatas Elternhaus aus. Der Ast war dick und wulstig; wie oft hatte sie darüber nachgedacht, ob dieser sie tragen würde oder nicht?
„Hinata, bist du in deinem Zimmer? Deine Pause ist schon seit zehn Minuten vorbei, komm endlich runter!“
Jammernd drückte sie ihre Hände auf ihre Ohren. Das lenkte sie ab, machte sie noch nervöser, als sie ohnehin schon war und das konnte jetzt fatal werden, nicht nur für sie.
Wie stelle ich das jetzt am besten an?
Ihr Blick heftete sich wieder auf den Ast, den sie jetzt um jeden Preis erreichen musste. Sollte sie springen oder sich lieber lang machen? Eigentlich ist das gar nicht so schwer, eigentlich ist das doch ein …
„Kinderspiel“, diktierte Neji laut.
Er stand direkt hinter Hinata, um über ihre Schulter schauen zu können, wenn sie schrieb.
„Piece of Cake“, murmelte sie leise und schrieb es auf.
Englisch war nicht unbedingt ihr bestes Fach, es lag ihr einfach nicht, also hatten sich ihre Eltern darauf versteift, dass sie zumindest die Vokabeln drauf hatte. Das hieß für Hinata jeden Tag mindestens eine Stunde Vokabeln üben. Und sie hasste es.
„Du hast Peace geschrieben!“, knurrte Neji und warf ihr einen abwertenden Blick zu.
„Tut mir leid.“
„Entschuldige dich nicht, schreib es richtig auf.“
Ihr Füller kratzte über das Papier, dieses Geräusch war so unangenehm und würde Hinata für den Rest ihres Lebens daran erinnern, dass sie die meiste Zeit damit verbrachte, gute Noten zu schreiben und der Mensch zu werden, für den sich ihre Eltern und ihr Cousin nicht schämen mussten. Nejis unliebsame Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass Hinata das perfekte Vorzeige-Mädchen wurde – mit herausragenden Noten in alle Fächern, insbesondere Sport. Blöderweise war sie in Karate nicht der Knaller und für eine Familie, in der Kampfsport eine lang gehegte Tradition war, glich das einer Katastrophe.
„Kann ich später rausgehen?“, fragte Hinata leise, während ihre Hand praktisch von selbst zehnmal das Wort Piece hintereinander schrieb.
„Nein, dann trainieren wir. Dieser eine Griff, den hast du immer noch nicht drauf, dabei ist das eine der leichtesten Lektionen. Ende der Woche will Hiashi sehen, dass du das kannst und ich hab keine Lust, mich fertig machen zu lassen, nur weil du es einfach nicht drauf hast!“
Das Kratzen der Feder stoppte für kurze Zeit, dann schrieb Hinata stumm weiter.
„Da steht schon wieder Peace!“
Hinata zitterte wie Espenlaub. Sie hatte es geschafft! Nur ein Sprung und plötzlich war alles so schnell gegangen. Ihr Körper hatte von selbst reagiert, hatte alles von selbst gemacht und sie musste feststellen, dass ihr Cousin recht gehabt hatte.
„Mach einfach, schalt die alte Denkrüber ab! Dein Körper weiß schon, was er tut, was glaubst du denn, warum wir trainieren?!“
In wenigen Minuten hatte sie neben dem Baum gestanden und konnte sich gar nicht mehr richtig erinnern, wie sie den Weg hinunter überhaupt gefunden hatte. Ihre Handflächen brannten noch leicht, die Rinde des Baumes war mit Raureif bedeckt. Vorsichtig drückte sie ihre Handflächen gegen den Baum. Ein Panzer aus Eis.
„Du brauchst eine dicke Haut, Hinata! Menschen können grausam sein, wenn du dich von jedem verletzten lässt, machst du es da draußen nicht lange!“
Eine von Nejis Lektionen. Hinata wünschte sich, er hätte unrecht. Sie schüttelte heftig ihren Kopf. Sie war davon gelaufen, um einmal für sich zu sein, um einmal ohne Neji diese Welt kennen zu lernen. Jetzt über ihn nachzudenken wäre kontraproduktiv. Sie wandte sich vom Baum ab und rieb sich das schmelzende Eis von den Händen. Ihr fiel wieder ein, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, ungesehen abzuhauen. Noch über sich selbst staunend, lief sie zum Tor und schlüpfte nach draußen auf die verschneiten Straßen ihres Viertels. Quietschend schloss sich das alte Eisen hinter hier, fiel klackend ins Schloss – das Geräusch der Freiheit. Endlich!
Und jetzt? Unsicher stand sie da, schlang frierend ihre dünnen, aber wenigstens durchtrainierten Arme um ihren Oberkörper. Sie hätte Schal, Mütze und Handschuhe mitnehmen sollen, aber ihre Entscheidung kam von jetzt auf gleich und sie konnte froh sein, dass ihr Ankleideraum gefütterte Hosen und Jacken hergab. Aber allzu lange durfte sie hier nicht herumstehen. Neji würde sicher bald merken, dass sie ausgebüchst war, aber vorher würde er alle Zimmer nach ihr absuchen. Da war sie sich sicher. Er würde niemals damit rechnen, sie könnte abhauen, geschweige denn, dass sie dazu in der Lage war. Kichernd drückte sie ihre kalten Hände auf ihren Mund, um ihr unverschämtes Lachen zu verbergen. Immer mehr Schneeflocken trieben ihr entgegen. Der Himmel war bewölkt, dicke graue Wolken schoben sich träge über das Firmament. Es war ein grauer, wolkenverhangener Tag und soweit sie sich erinnerte, versprach der Nachrichtensprecher ihnen heute einen Schneesturm.
Wohin soll ich gehen?
Hinata sah sich unsicher um. Sie hatte keine richtigen Freunde, niemanden, zu dem sie gehen konnte, an dessen Tür sie klopfen und um Unterschlupf bitten konnte. Sie war einsam. Der einzige Mensch, der immer bei ihr war, war Neji, ganz gleich wohin sie ging. Das wollte sie nicht mehr, sie war jetzt 15 Jahre alt, alt genug auch einmal etwas alleine tun zu dürfen, zumindest durften alle anderen aus ihrer Klasse alles Mögliche alleine tun. Naruto durfte sogar noch um drei Uhr morgens die Stadt unsicher machen! Gut, er hatte keine Eltern und die, die sich um ihn kümmern sollten, nahmen ihre Aufgabe nicht wirklich ernst. Trotzdem! Stille Zweifel kämpften sich in Hinata hoch. Sie würde riesigen Ärger kriegen, wenn Neji sie erwischte, er würde ausflippen und seine Schimpftiraden waren anstrengend. Bestimmt bekäme sie Hausarrest für den Rest ihres Lebens (oder zumindest, bis sie 21 war). War es das Wert? Unsicher warf Hinata einen Blick zurück, blickte auf ihre einsamen Fußspuren im Schnee, die sich aus dem Garten ihres Zuhauses schlängelten. Noch konnte sie die Situation retten, noch konnte sie zurücklaufen und so tun, als hätte sie nur ein wenig Zeit im Garten verbracht.
„Hinata!“
Oder auch nicht!
Ihre Beine setzten sich schlagartig in Bewegung, der Schnee knirschte laut unter ihren hastigen, dahin geworfenen Schritten. Hinata kniff ihre hellgrauen Augen zusammen, um zu vermeiden, dass ihr die Schneeflocken die Sicht nahmen. Ihr Atem beschleunigte sich, bildete kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Die eisige Luft brannte in ihren Lungen, ihr Herz klopfte so laut und schnell, dass es schmerzte. In ihrem Kopf pochte es, das Blut rauschte in ihren Ohren. Ein Gefühl, das sie viel zu selten fühlte. Aufregung!
Einfach nur rennen, weit weg. Sie hatte nur diese eine Chance und Hinata würde sicherlich keine zweite bekommen. Sie sah den aschgrauen Himmel, aus dem sich die strahlend weißen Flocken lösten, sah die schwarze, stumme Straße neben sich, kein einziges Auto war heute unterwegs, das war ungewöhnlich. Die großen Häuser, Villen und Paläste dieses Viertels zogen an ihr vorbei – als säße Hinata in einem Auto, so schnell flitzte sie dahin. Tränen traten aus ihren Augen und rannen heiß über ihre geröteten Wangen.
Wohin?!
Egal, aber auf keinen Fall zurück!
„Hinata!“ Verwirrt stapfte Neji durchs Haus. Jetzt hatte er schon jedes Zimmer zweimal durchsucht, das konnte doch nicht sein, wo steckte denn seine dusselige Cousine? Sie kam sonst nie zu spät zu ihren Übungen, das war ja schon ungewöhnlich genug, aber dass er sie jetzt nirgends finden konnte … Mit verschränkten Armen stand Neji in ihrem Zimmer. Alles sah so aus wie immer; aufgeräumt, sauber, nüchtern. Eine Sache störte ihn aber, es war kühler als sonst, dabei war die Heizung noch genauso eingestellt wie immer, und warum um alles in der Welt, sollte Hinata sich am Regler zu schaffen machen?
Seine Augen verengten sich, er lief schnellen Schrittes durchs Zimmer und griff nach dem Fenstergriff. Bereitwillige schwang es auf und knirschte leise grüßend in den Angeln.
„Was zum …?!“
Darum war es also so kühl hier! Hinata hatte vergessen, ihr Fenster zu schließen. Oder etwa …? Neji schaute nach draußen in den Garten, er konnte auf den ersten Blick nichts Verdächtiges feststellen, trotzdem; irgendwas war hier faul. Er sah den Ast, der viel zu nahe ans Haus reichte und den Hiashi schon seit Monaten entfernen wollte. Dort, wo Schnee liegen müsste, liegt keiner. Im Garten waren Fußspuren; noch, denn der Schnee fiel immer dichter und bedeckten allmählich die verräterischen Spuren.
Kein Schnee auf dem Ast, Fußspuren im Garten, die zum Eingangstor ihres Anwesens führten, das Fenster offen … In seinem Kopf machte es klick, alles passte zusammen. Neji wusste, was passiert war. Da gab es nur ein Problem. Er konnte es nicht glauben.
Hinata war abgehauen?!
Das war doch nicht seine Hinata, die lief nicht weg! Die machte ja auch sonst nichts, wenn man es ihr nicht erlaubte! Seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Knöchel knackten protestierend – Wut und Verständnislosigkeit wallten in ihm auf. Er wandte sich um und jagte aus der Tür, die Treppe ächzte unter seinen schnellen Schritten. An der Garderobe angekommen, schnappte Neji sich seine Jacke. Er riss die Haustür auf, Schneeflocken trieben ins Hausinnere und legten sich auf sein angespanntes Gesicht. Am liebsten hätte er jetzt etwas zertrümmert oder irgendjemanden zusammen geschlagen.
„Wenn ich dich erwische, dann …!“
Neji schmiss die Tür hinter sich zu und zog sich unterm Rennen die Jacke an. Er durfte keine Zeit verlieren, er musste Hinata finden – so schnell wie möglich!