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Where Butterflies never die

Die Geschichte einer Assassine
von

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Rettung

Prolog: Rettung
 

Unbarmherzig brannte die heiße Sonne auf Syrien herab. Die Hitze drängte die Leute in ihre Häuser, in denen sie sich erhofften etwas Abkühlung zu finden. Hoch am Himmel flog ein Adler empor und stieß einen wohlklingenden Schrei aus. Er verringerte seine Flughöhe und fand schließlich einen hohen Baum, auf dem er sich niederließ. Die scharfen Augen schweiften über die Umgebung. Etwas schreckte den edlen Vogel auf. Er breitete seine großen Schwingen aus und flog wieder davon.

Unter den Zweigen des Baumes, auf dem der Adler gerade gesessen hatte, liefen drei Pferde mit ihren Reitern hindurch. Die in weiß gekleideten Männer mit den roten Schärpen und den Kapuzen, die ihre Köpfe und Gesichter verdeckten, trotzten der großen Hitze. Der Weg zurück in ihr Heimatdorf war nicht mehr weit.

„Wir hätten an der letzten Oase halt machen sollen, so wie ich gesagt habe. Die Pferde haben Durst und auch meine Kehle ist staubtrocken“ sagte plötzlich einer der Männer gereizt.

„Beschwere dich nicht, Bruder. Ihr wart beide dafür, dass wir noch weiter reiten“ widersprach der Führer der kleinen Gruppe.

Er lief mit seinem weißen Pferd vorneweg. Die anderen beiden folgten ihm in einer kleinen Keilformation.

„Wie weit ist es denn noch?“ wollte nun der dritte im Bunde wissen.

Der Anführer hielt sein Pferd an und drehte sich zu seinen Leuten um. Dann sah er wieder nach vorne und schnaubte leise.

„Wir reiten vorneweg noch zwei Tage bis nach Masyaf. Bis zur nächsten Oase dürfte es aber nicht mehr weit sein, wenn ich mich nicht irre“ sagte der Assassine.

Unruhig begann sein Pferd mit den Hufen zu scharren. Es senkte den Kopf auf und ab und schnaubte. Auch es hatte fürchterlichen Durst. Allerdings spürte es auch, dass die wünschenswerte Wasserquelle nicht mehr weit entfernt war.

„Sharif, sieh. Da vorne.“

Der Mann zu Sharifs rechten deutete in das Tal, das sich vor ihnen ausbreitete. Am Fuße eines hohen Felsvorsprungs, kurz vor einem weiteren Pfad war eine Oase zu sehen.

„Und ich dachte, wir reiten jetzt noch ein paar Stunden durch“ meinte nun Samir.

Er hatte sich als Erstes über das Problem beschwert. Ilai, der dritte im Bunde, lachte nur leicht.

„Worauf warten wir noch?“ wollte Sharif wissen und ließ sein Pferd angaloppieren.

Die anderen beiden folgten ihm im selben Tempo und kurz darauf erreichten sie die Oase. Die Palmen spendeten wohltuenden Schatten und das Wasser tat Mensch und Tier gut. Sie machten eine ganze Weile Rast, banden die Pferde an die Bäume und sattelten sie ab, damit der Schweiß unter der Decke trocknen konnte. Während sie im Schatten saßen, unterhielten sie sich über ihren letzten Auftrag, den sie in Aleppo erledigt und gut abgeschlossen hatten.

Sharif erhob sich und ging zu seinem Pferd. Er streichelte den Hengst an Hals und Schulter und redete leise mit ihm. Kadir erwies ihm schon seit ein paar Jahren gute Dienste. Er machte seinem Namen alle Ehre. Der, der alles schafft. Oh ja. Das traf auf dieses Tier wirklich zu. Sharif nahm den Sattel vom Boden und legte ihn Kadir auf. Plötzlich stutzte er. Er ging um sein Pferd herum und blieb vor ihm stehen.

„Samir, Ilai. Kommt her. Schnell“ sagte Sharif zu den beiden.

Sofort sprangen die beiden anderen Assassinen auf und gingen zu Sharif. Jetzt sahen sie auch das, was seinen Blick so gefesselt hatte. Ein paar Meter von ihnen entfernt stand ein kleines Mädchen mit hellen braunen Haaren. Sie zitterte am ganzen Körper und schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Sharif zögerte keine Sekunde länger und lief auf sie zu. Vor ihr ging er in die Hocke. Verstört sah das Mädchen ihn an.

„Hilfe…“ hauchte sie tonlos.

Dann sackte sie zusammen und direkt in Sharifs Arme.

„Sie ist verletzt“ sagte Ilai plötzlich, der auch hinzugekommen war, und den blutverschmierten Rücken des Kindes als erstes erblickte.

„Ich brauche Wasser und Verbandszeug“ sagte Sharif, nahm das Mädchen auf die Arme und brachte sie zur Wasserstelle.

Die anderen beiden folgten ihm. Ilai kramte aus seiner Satteltasche ein paar Mullbinden und brachte sie zu Sharif. Sie versorgten das Mädchen, gaben ihr Wasser und reinigten die Wunde. Die Schnittwunde – sie schien von einem Schwert zu stammen – war lang, aber glücklicherweise nicht sehr tief. Sharif kniete am Boden und hielt das Mädchen im Arm, um ihr das Gefühl von Halt zu geben. Die Assassinen wussten nicht, was mit ihr passiert war, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein, denn das Kind schien völlig unter Schock zu stehen. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Mädchen die erste Antwort gab.

„Wie heißt du denn?“ wollte Ilai mit einem sanften Lächeln wissen.

„Arsur“ gab das Kind nur zurück und sah ihn an.

Ilai war etwas erstaunt, als er ihr so in die Augen sah. Sie leuchteten kristallblau. Eine wunderschöne und sehr seltene Farbe.

„Arsur ist eine Stadt. Wie ist dein Name?“ fragte nun Sharif nach.

„Ich… ich weiß es nicht“ antwortete das Mädchen wahrheitsgemäß.

Verwirrt sahen sich die drei Assassinen an.

„An was erinnerst du dich denn?“ wollte Sharif weiter wissen.

„Blut… Schreie… Arsur…“ stammelte das Kind.

„Arsur wird doch zurzeit von den Kreuzfahren belagert, oder?“ fragte Ilai nach.

„Ja, aber mit dieser Verletzung ist sie niemals von Arsur hier her gekommen. Das sind ein paar Tage zu Pferd von hier“ erwiderte Samir.

Das Mädchen hatte sich fest an den Saum von Sharifs Robe gekrallt und begann wieder zu zittern. Es wollte einfach nicht aufhören.

„Nehmen wir sie mit?“ fragte Ilai.

Sharif zögerte einen Moment, doch er konnte dieses Häufchen Elend in seinen Armen nicht einfach kaltherzig seinem Schicksal überlassen. Er nickte.

„Ja. Sattelt die Pferde. Wir müssen schnellstmöglich nach Masyaf zurück“ wies er an.

Die anderen beiden nickten und machten die Tiere fertig. Sharif setzte sich auf sein Pferd und Ilai gab ihm das Mädchen hoch, welches vor Sharif auf den Sattel bugsiert wurde. Ilai setzte sich auch auf sein Pferd. Dann galoppierten sie los in Richtung Heimat.
 

Am Morgen des zweiten Tages erreichten sie schließlich Masyaf. Das Mädchen, das Sharif nach wie vor auf Kadir mit sich trug, war außer Lebensgefahr, aber immer noch schien sie verstört und nicht ganz bei sich zu sein. Sharif bremste vor der Palisade sein Pferd und sagte den beiden Wachen, die dort standen, dass sie dringend einen Arzt holen sollten. Die zwei Wachen verstanden sofort, warum, als sie das Kind sahen und einer von ihnen lief ins Dorf, um eben jene Person zu holen. Sharif stieg vom Pferd und nahm das Mädchen langsam von Kadirs Rücken.

„Ich bringe dein Pferd in den Stall, Bruder. Kümmere dich um sie“ sagte Samir und nahm Sharif die Zügel ab.

Er nickte nur und ging mit dem Mädchen auf dem Arm auf den Arzt zu, der ihm entgegengelaufen kam. Sie brachten das Kind in das Behandlungszimmer des Arztes. Sharif musste draußen warten, während der Arzt das Mädchen untersuchte. Ilai kam auf den Assassinen zu.

„Vergiss nicht, dass wir nachher noch zu Al-Mualim müssen, um Bericht aus Aleppo zu erstatten“ erinnerte Ilai ihn.

Sharif sah zu ihm.

„Ja, ich weiß Bescheid. Geht schon mal vor und erzählt dem Großmeister, wie es gelaufen ist. Ich werde später meinen Bericht noch abliefern“ versicherte er ihm.

Ilai verstand, dass er besorgt um das Mädchen war, das sie mitgebracht hatten. Deshalb drängte er Sharif nicht.

„Friede sei mit Euch, Sharif“ sagte Ilai achtungsvoll.

„Mit Euch auch, Bruder“ lächelte Sharif zurück.

Ilai ging und ließ den anderen Assassinen zurück. Dann kam der Arzt wieder aus seinem Behandlungszimmer.

„Meister Sharif. Das Mädchen ist nicht in Lebensgefahr. Die Wunde wurde genäht und wird unproblematisch verheilen. Sie schläft jetzt. In ein paar Stunden könnt ihr nach ihr sehen, wenn ihr wollt“ versicherte der Arzt zuversichtlich.

„Vielen Dank, für Eure Hilfe. Ich werde Euch später wieder besuchen“ erwiderte Sharif.

Damit ging der Assassine. Bevor er jetzt zu Al-Mualim in die Festung ging, wollte er erst noch zu seiner Frau. Sie war jedes Mal fast krank vor Sorge, wenn er zu einem Auftrag ging. Immer in dem Wissen, dass ihr geliebter Ehemann vielleicht nicht mehr zurückkam. Und dieses Mal war Sharif wirklich lange weg gewesen. Er hatte Ayasha unheimlich vermisst. Sharif lief den Berg in Richtung Festung hoch. Vor dem Marktplatz blieb er vor einem kleinen Haus stehen und klopfte an die Holztür. Kurze Zeit später wurde sie geöffnet und er blickte in dunkelbraune Augen, die ihn erst mit Verwunderung, dann mit Begeisterung und Freudentränen empfingen. Ayasha umarmte ihren Mann stürmisch und küsste ihn leidenschaftlich.

„Du bist zurück. Dem Himmel sei Dank“ sagte sie glücklich.

Sharif nahm seine Frau in die Arme und drückte sie an sich.

„Geht es dir gut?“ wollte sie wissen.

Sie lösten die Umarmung ein wenig und sahen sich in die Augen. Sharif streichelte ihr über die gebräunte Wange. Sanft strich er ihr eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr und lächelte.

„Ja, es ist alles Ordnung. Mir ist nichts passiert. Ich muss noch zur Festung und Al-Mualim aus Aleppo berichten“ erklärte er ihr.

„Danach haben wir endlich nach fast zwei Monaten wieder Zeit für uns“ lächelte Ayasha.

„Noch nicht ganz. Wir haben auf dem Rückweg ein verletztes Mädchen gefunden. Sie kann sich an nichts erinnern und es noch nicht klar, was jetzt mit ihr wird“ erwiderte Sharif.

Ayasha seufzte.

„Gut in Ordnung. Geh erst deinen Pflichten nach, mein Held in weißer Robe“ sagte sie schließlich.

Sharif nickte leicht. Es fiel ihm schwer, seine Frau wieder alleine zu lassen, aber er hatte seine Verpflichtungen. So machte er sich auf den Weg zur Festung. Er lief die steinernen Stufen hoch durch den Torbogen hindurch und begegnete auf dem Übungsplatz Umar.

„Friede sei mit Euch, Bruder. Ihr wart ja dieses Mal sehr lange weg“ begrüßte Umar den anderen Assassinen.

„Friede sei auch mit Euch. Es war ein schwieriger Auftrag, aber wir haben ihn erfolgreich beendet“ erwiderte Sharif.

Er sah an ihm vorbei zum Übungsplatz.

„Na, triezt Ihr Eure Schüler wieder?“

Umar lachte.

„Natürlich. Einer muss es ihnen ja beibringen!“

Sharif lächelte ebenfalls.

„Wie geht es Eurem Sohn?“ fragte er nach.

„Altair? Ihm geht es prächtig. Wenn es so bleibt, kann er bald als Novize in die Bruderschaft aufgenommen werden“ erzählte Umar stolz.

Sharif seufzte kaum hörbar.

„Das freut mich für Euch. Ich entschuldige mich, aber ich muss weiter. Al-Mualim wartet noch auf meinen Bericht.“

Umar nickte verstehend und Sharif ging. Er betrat das hohe Gebäude, lief durch die Bibliothek auf die große Treppe zu, bis zu Al-Mualim. Der Großmeister der Assassinen stand vor dem Fenster und schaute hinaus. Samir und Ilai waren auch anwesend. Als Al-Mualim die Schritte vernahm, drehte er sich um.

„Tretet ein, Sharif“ sagte er.

„Friede sei mit Euch, Meister. Entschuldigt die Verspätung“ erwiderte Sharif und verneigte sich leicht.

„Eure Truppe hat mir von der Sache in Aleppo berichtet. Das habt Ihr gut hinbekommen. Aber, eine Sache steht noch aus. Was ist mit diesem Mädchen, das ihr auf dem Weg hier her gefunden habt?“ wollte Al-Mualim wissen.

„Sie war verwundet. Wir haben sie versorgt und mit hier her genommen. Ich habe sie zu einem unserer Ärzte gebracht. Er sagte, dass es überstehen würde. Allerdings, kann sie sich an nichts erinnern. Das Einzige, was sie uns sagen konnte, war, dass sie Arsur gewesen ist. Ihr muss etwas Schreckliches widerfahren sein. Vielleicht beeinflusst das ihr Gedächtnis“ erklärte Sharif.

Al-Mualim trat vor sein Pult und wandte sich an Samir und Ilai.

„Ihr dürft gehen. Ich möchte mit Sharif gerne allein sprechen“ sagte er.

Die beiden verabschiedeten sich ordnungsgemäß und gingen.

„Sharif, es ist mir bekannt, dass Eure Frau keine Kinder mehr gebären kann, seit jenem Vorfall. Und da uns dieses Mädchen wahrscheinlich nicht in absehbarer Zeit sagen kann, wo sie hingehört und wer sie ist, würde ich vorschlagen, dass Ihr und Ayasha euch um sie kümmert. Euer Gesicht kennt das Kind bereits. So ist besser, als wie wenn wir sie in eine wildfremde Familie stecken“ sagte Al-Mualim.

Sharif konnte nicht verhindern, dass seine Augen groß wurden. Er wünschte sich auch schon seit langem Kinder, doch nach einer tragischen Fehlgeburt seiner Frau, war dieser Traum geplatzt wie eine Seifenblase. Aber, das ließ ihn neue Hoffnung schöpfen. Auch wenn es nicht ihr leibliches Kind war, so konnten sie vielleicht doch für sie das sein, als wäre es ihr eigen Fleisch und Blut.

„Ich werde mich um das Mädchen kümmern, Meister“ sagte Sharif und verneigte sich wieder leicht.

„Eure Brüder haben mir alles gesagt, was in Aleppo passiert ist. Ich denke, Eure Version deckt sich mit der, der anderen beiden. Geht und kümmert euch um das Kind. Friede sei mit Euch, Sharif“ meinte Al-Mualim.

„Friede sei auch mit Euch, Meister“ sagte Sharif, verneigte sich noch einmal kurz und ging.

Er lief hinunter ins Dorf, zu dem Arzt, der sich um das Kind kümmerte. Dieser sagte Sharif, dass er das Mädchen jetzt besuchen dürfte. Sharif betrat leise das Zimmer und setzte sich neben das schlafende Kind ans Bett. Er besah sie jetzt das erste Mal genauer, seit er sie an der Kreuzung zu Arsur gerettet hatte. Sie hatte sehr helle Haut und goldbraunes Haar. Plötzlich öffnete das Mädchen die Augen und sah Sharif an. Wieder diese blauen kristallähnlichen Augen. Auch Sharif war gebannt von diesem Anblick. Das Mädchen setzte sich auf und hielt sich an ihm fest. Sharif nahm sie in den Arm.

„Keine Sorge. Ich passe auf dich auf… Arsura“ murmelte er.

Dann realisierte er, dass er dem Mädchen gerade einen passenden Namen gegeben hatte. Ja, Arsura passte wirklich zu ihr. Ein wunderschöner Name für ein so einzigartiges Mädchen.

Blau

Ayasha sah ihren Mann erstaunt an.

„Wir sollen uns um das Kind kümmern?“ fragte sie nach.

Sharif nickte. Er wusste, was seiner Frau ein Kind bedeuten würde, allerdings wusste er nicht, wie sie reagierte, wenn es nicht ihr eigenes war.

„Ich bin von der Idee nicht sehr begeistert. Sie kommt nicht von hier. Wer weiß, wo sie hingehört“ meinte Ayasha schließlich skeptisch.

„Wir können sie schlecht aus dem Dorf werfen. Dafür habe ich ihr nicht das Leben gerettet. Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich fühle mich für dieses Mädchen in gewisser Weise verantwortlich“ sagte Sharif.

Ayasha sah ihn an.

„Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Kind von dir. Aber, seit jenem Tag ist dieser Wunsch nicht mehr als eine Illusion. Dieses Mädchen wird niemals das ersetzen, was ich wirklich möchte“ murmelte sie traurig.

Sharif legte ihr die Hand auf die Schulter und sah sie tröstend an.

„Ich verstehe dich, Ayasha“ lächelte er.

Ayasha umarmte ihn und seufzte schwer. Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Sie dachte lange nach, ehe sie etwas sagte.

„Wie hast du das Kind genannt?“ fragte sie schließlich.

„Arsura. Da wir nicht wissen, wie sie heißt und sie uns nur sagen konnte, dass sie zuvor in Arsur war, finde ich diesen Namen ganz passend“ antwortete Sharif leise.

Ayasha löste die Umarmung. Tief sah sie dem Assassinen in die Augen.

„Ich werde Arsura diese Chance geben. Vielleicht schafft sie es, das Kind zu sein, was wir nie haben können“ lächelte sie.

Sharif küsste sie innig. Er war ihr dankbar, dass sie es versuchen würde.
 

Am nächsten Tag ging Sharif erneut zu Arsura. Er wollte ihr nun erklären wo sie war und wo sie bleiben würde. Allerdings erhoffte er sich auch von Arsura etwas zu erfahren. Das Mädchen saß im Schneidersitz in ihrem Bett, starrte auf ihre Hände und summte eine leise Melodie vor sich hin. Sie trug ein einfaches schwarzes kurzärmliges Oberteil und eine helle Hose. Sharif lächelte als er sie sah und klopfte leicht gegen den Türrahmen, um auf sich aufmerksam zu machen und sie nicht zu erschrecken.

„Wie geht es dir?“ fragte er freundlich.

Arsura sah zu ihm.

„Ich weiß nicht. Es ist komisch. Ich kann mich an nichts erinnern. Egal, wie sehr ich mich anstrenge. In meinem Kopf herrscht Leere“ sagte Arsura.

Sharif setzte sich zu ihr.

„Wo bin ich hier?“ fragte Arsura.

„In Masyaf, der Festung der Assassinen“ erklärte Sharif.

„Und wer bist du?“ hakte sie nach.

„Mein Name ist Sharif Antun Sa’ada. Ich habe dich vor drei Tagen gefunden. Erinnerst du dich noch?“

Arsura nickte.

„Ja, daran erinnere ich mich noch etwas. Ich danke dir für deine Hilfe“ sagte sie höflich.

„Weißt du wenigstens wie alt du bist?“ fragte Sharif weiter.

„Sieben. Glaube ich“ kam es unsicher zurück.

„Was passiert jetzt mit mir?“

„Meine Frau und ich werden dich bei uns aufnehmen. Du wirst vorerst hier in Masyaf bleiben“ erwiderte Sharif.

„Ist deine Frau nett?“ fragte Arsura und musterte ihn erwartungsvoll mit ihren strahlenden blauen Augen.

Der Assassine war nach wie vor angetan von dieser Farbe. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Sie leuchteten wie zwei Kristalle im Sonnenlicht und schienen eine beeindruckende Kraft auszustrahlen. Dieses Mädchen war stark. Er konnte es ihr ansehen.

„Ja, sehr sogar. Wenn es dir besser geht, darfst du bei uns mit im Haus wohnen. Du wirst dich wohlfühlen“ versicherte Sharif ihr.

Arsura nickte leicht. Sharif stand auf und wollte gehen, doch das Mädchen hielt ihn zurück.

„Geh nicht. Bitte. Bleib noch einen Moment“ flehte Arsura plötzlich.

Erstaunt sah Sharif sie an. Er setzte sich wieder hin und sie kniete sich auf das Bett. Dann hielt sie sich erneut an Sharif fest, so wie sie es schon gestern getan hatte.

„Lass mich nicht allein“ flüsterte sie.

Sharif legte ihr beruhigend eine Hand auf den Hinterkopf und mit der anderen streichelte er Arsura vorsichtig über den Rücken. Dabei achtete er darauf, nicht an die frisch versorgte Wunde zu kommen. Arsura brauchte jetzt einfach Halt. Sie hatte keinerlei Erinnerung, an das was vor ihrer Rettung passiert war. Sie fühlte sich verloren und einsam. Sharif spürte das. Und er würde alles dafür tun, dass Arsura dieses quälende Gefühl wieder loswurde.

„Keine Sorge, Arsura. Es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir“ sagte Sharif sanft.

Arsura nickte leicht.

„Danke. Danke, dass du für mich da bist“ lächelte sie zurück.

„Ich komme dich morgen wieder besuchen. Und wenn der Arzt es erlaubt, nehme ich dich mit nach Hause“ versprach Sharif.

Arsura ließ ihn nur widerwillig ziehen. Sie wollte jetzt nicht allein sein, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sharif verabschiedete sich von ihr und ging. Noch eine ganze Weile starrte Arsura auf die Tür, die ins Schloss gefallen war. Sie fühlte sich unheimlich verlassen und allein. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie wollte jetzt nicht weinen. Schnell wischte sie sie weg, bevor sie fallen konnten. Offensichtlich hatte sie Glück im Unglück gehabt. Wieder versuchte sie sich angestrengt daran zu erinnern, was passiert war, aber wieder schwebten nur bruchstückhafte, verschwommene Bilder vor ihrem geistigen Auge. Nicht einmal ihr richtiger Name wollte ihr einfallen. Arsura schnaufte.

„Wieso kann ich mich nicht erinnern?“ fragte sie sich leise.

Es juckte sie am Hals und als sie sich kratzte, merkte sie, dass sie eine Kette trug. Es fühlte sich nach einem einfachen Lederband an. Sie tastete an dem Band entlang und ergriff schließlich einen Anhänger. Vorsichtig zog sie sich die Kette über den Kopf und nahm den Anhänger in die Hand. Es war ein einfacher, hellblauer tropfenförmiger Stein. Er sah edel aus und war wahrscheinlich von großem Wert. Verwirrt blickte Arsura den Stein, der ihrer Augenfarbe glich, an und hoffte, sich erinnern zu können. Doch der gewünschte Effekt blieb aus. Sie schnaubte und legte sich die Kette wieder um. Dann ließ sie sich seitlich ins Bett fallen und schloss die Augen, um noch etwas schlafen zu können.
 

Der Arzt war guter Dinge. Die Wunde war gut verheilt und nach vier weiteren Tagen konnte er die Fäden entfernen. Nachdem das geschafft war, bedankte Arsura sich bei dem netten Mann. Auch Sharif war anwesend und sah lächelnd zu dem Mädchen.

„Ihr könnt sie nun mitnehmen. Sie sollte sich noch nicht überanstrengen. Die Wunde ist gut verheilt. Sollten trotzdem Probleme auftreten, bringt sie zu mir“ sagte der alte Arzt mit dem weißen Bart zu Sharif.

Er nickte verstehend. Arsura stand auf und ging zu Sharif.

„Können wir gehen?“ fragte sie.

Sharif nickte.

„Komm mit“ sagte er lächelnd und verließ mit ihr das kleine Haus des Arztes.

Arsura wurde von der hellen syrischen Sonne erst einmal geblendet. Sie war seit ein paar Tagen nicht draußen gewesen und ihre Augen waren das helle Licht nicht gewöhnt. Sie fand sich in einem belebten Dorf wieder. Es herrschte reges Treiben auf den staubigen Straßen. Krugträger liefen an ihr und Sharif vorbei, die Markthändler preisten ihre Waren an und immer wieder fiel Arsura auf, dass Männer an ihr vorbeiliefen, die eine ähnliche Kleidung wie ihr Ziehvater trugen. Die beiden liefen eine Weile bergauf, dann blieb Sharif vor einem Haus stehen. Davor saß eine Frau mit langen gelockten schwarzen Haaren und einem einfachen Überkleid in einer fast grauen Farbe. Sie hatte ein hübsches Gesicht, dunkle Augen und volle Lippen. Einen Moment schien die Zeit für sie still zu stehen, als sie Arsura erblickte. Die blauen Augen waren erwartungsvoll und alles andere als ängstlich auf Ayasha gerichtet. Sharif erwartete, dass Arsura sich hinter ihm verstecken würde, aus Furcht vor der für sie fremden Person, aber das Mädchen tat nichts dergleichen. Im Gegenteil. Sie ging auf Sharifs Frau zu.

„Bist du Ayasha?“ fragte Arsura gerade heraus.

Die Frau vor ihr nickte.

„Ja und du musst Arsura sein“ stellte sie fest.

„Sharif hat gemeint, du wärst ganz nett und ihr würdet euch beide um mich kümmern“ meinte Arsura direkt heraus.

Ayasha lächelte.

„Natürlich. Zusammen sind wir jetzt wie eine kleine Familie.“

Arsura lächelte glücklich. Jetzt hatte sie erst mal einen Platz, wo sie sich wie zuhause fühlen konnte.
 

Am Horizont gen Osten zeichneten sich die ersten hellen Lichtstreife des bevorstehenden Sonnenaufgangs ab. Sharif schnallte seinen Gürtel fest und steckte anschließend sein Schwert in die Scheide. Dann zog er seine braunen Lederstiefel an, kontrollierte, ob er alles hatte und wollte das Haus verlassen. Er wollte zu Kadir. Der morgendliche Ausritt zwei bis drei Mal die Woche war immer sehr angenehm. Die Ruhe tat Reiter und Pferd sehr gut und brachte Balance in das Verhältnis zwischen den beiden.

„Wo willst du hin?“ fragte plötzlich jemand verschlafen.

Sharif drehte sich um. Arsura war gerade wach geworden und sah ihn mit müden Augen an. Er ging auf sie zu und hockte sich vor ihrem Bett hin.

„Zu meinem Pferd. Möchtest du mitkommen oder lieber weiterschlafen?“ fragte er sie.

Arsura versuchte sofort hellwach zu sein.

„Ich möchte mit“ sagte sie schlaftrunken.

Sharif lachte leise.

„Dann zieh dich an und komm mit. Kadir wartet bestimmt schon“ sagte er lächelnd.

Arsura schlüpfte schnell in ihre Sachen hinein und folgte Sharif nach draußen. Im Gegensatz zu gestern herrschte an diesem Morgen schon fast gespenstische Stille in Masyaf. Arsura folgte Sharif bis zu den Ställen, die sich in der Nähe der Palisade befanden. Sharif betrat den Stall und sein Hengst hörte ihn kommen. Er drehte sich von der Wassertränke weg zu seinem Herren. Er wieherte leise, als Sharif auf ihn zukam. Der Assassine strich dem weißen Tier über die Stirn und klopfte ihn am Hals.

„Das ist Kadir?“ fragte Arsura ehrfurchtsvoll.

„Ja. Seit ein paar Jahren schon mein treuer Begleiter“ sagte Sharif und Stolz schwang in seiner Stimme mit.

Kadir war nun auch auf den Besuch aufmerksam geworden, den sein Herr mitgebracht hatte. Er streckte den Kopf nach Arsura, stellte die Ohren und blähte die Nüstern. Sharif war erstaunt. So offen verhielt sich der Hengst selten gegenüber Fremden. Außer ihm konnte normalerweise niemand die Box von Kadir betreten, ohne getreten oder gebissen zu werden. Das Pferd war sehr eigen und akzeptierte nur eine Handvoll Menschen. Bei Arsura schien der Hengst jedoch ein gutes Gefühl zu haben.

Er gab Arsura einen kleinen Leinenbeutel in die Hand.

„Gib ihm ein Stück trockenes Brot daraus. Dann bist du gleich seine beste Freundin“ sagte Sharif.

Arsura holte aus dem Leinenbeutel ein Stück Brot und hielt es Kadir auf der flachen Hand hin. Sofort nahm der Hengst den Leckerbissen an und verlangte offenbar nach mehr. Sachte stupste er Arsura mit der Nase an. Sie lächelte dem Hengst entgegen.

„Ich denke, nach dem Ausritt bekommst du noch etwas“ lächelte Arsura.

„Ja, er soll sich nicht davor den Bauch vollschlagen“ meinte Sharif.

Er holte Sattel, Trense und das Ledergeschirr aus einem Abstellraum und legte es Kadir an.

„Darf ich mit dir Ausreiten?“ fragte Arsura neugierig.

Sharif zögerte einen Moment, doch er war sicher, dass Kadir sie dulden würde. Der Hengst zeigte ihm sofort, wenn er jemanden nicht leiden konnte. Und das war bei Arsura nicht der Fall. Schließlich nickte Sharif.

„In Ordnung. Komm mit“ sagte er und führte das Pferd aus dem Stall.

Er ging zum Tor der Palisade und grüßte die Wachen. Nachdem sie das Tor passiert hatten, half Sharif Arsura auf das Pferd. Danach stieg er selbst auf und ließ sein Pferd im Schritt losgehen.

Arsura, die vor Sharif im Sattel saß, war begeistert. Kadir war ein wunderschönes Pferd und es war eine genauso so schöne Umgebung, durch die die beiden in der morgendlichen Dämmerung ritten. Sharif lenkte sein Pferd einen steilen Pfad hinauf. Oben angekommen standen die drei auf einem leicht grasigen Felsvorsprung. Von hier aus konnte man über Masyaf schauen und dabei den Sonnenaufgang bewundern. Arsura war fasziniert von diesem Anblick.

„Ich komme gerne hier her, um das zu sehen. Es ist jedes Mal wieder ein Erlebnis“ sagte Sharif.

Arsura konnte nichts sagen. Sie wollte sich diesen Moment nicht kaputt machen. Er war einfach unbeschreiblich. Nachdem die Sonne vollständig aufgegangen war, drehte Sharif sein Pferd und lief wieder hinunter. Er ließ das Pferd angaloppieren und mit großen Schritten schwebten sie nun über den Boden.

„Kann er noch schneller?“ fragte Arsura nach.

„Halt dich gut fest“ erwiderte Sharif, stieß Kadir mit den Fersen in die Seite und trieb es schnalzender Zunge weiter an.

Kadir legte die Ohren zurück und beschleunigte seinen Galopp. Das gleichmäßige Treten der Hufe wurde schneller, bis es sich wieder in einem Rhythmus einpendelte. Nach einer Weile bremste Sharif das Pferd wieder und trabte noch ein Stück weiter, bevor er es Schritt gehen ließ, damit es verschnaufen konnte.

„Das war toll!“ freute Arsura sich.

„Eines Tages möchte ich Kadir auch mal so reiten können.“

„Er hat dich auf jeden Fall schon mal akzeptiert. Vielleicht wirst du ihn eines Tages wirklich reiten können“ meinte Sharif und hielt das Pferd an.

„Möchtest du es versuchen?“

Arsura starrte ihn mit großen Augen an. Dann nickte sie eifrig. Sharif hielt das Pferd an und stieg ab. Er gab ihr die Zügel in die Hand und erklärte ihr, was sie machen musste, um das Pferd anzutreiben und zu bremsen.

„Du läufst jetzt mit ihm erst einmal Schritt. Ich gehe neben dir her. Keine Angst, wenn er weg will, halte ich ihn fest“ versprach Sharif.

Arsura nickte verstehend und nahm die Zügel in die Hand. Noch hatte sie nicht die Kraft Kadir alleine nach vorne zu treiben. Sharif half ihr, damit das Pferd loslief. Arsura konnte das Gefühl, was sie auf dem Rücken dieses edlen Tieres empfand, kaum beschreiben. Es war einfach wunderbar. Sie spürte seine regelmäßigen, ruhigen Schritte unter sich und spürte den leichten Ruck in den Zügeln, wenn Kadir kaute. Sharif lief neben den beiden, bereit im Falle eines Falles einzugreifen. Nach einigen Metern stieg er selbst wieder mit auf und ritt im Galopp mit Kadir und Arsura zurück nach Masyaf. Nachdem sie durch das Tor geritten waren, brachte Sharif sein Pferd zurück in den Stall. Er sattelte es ab und gab ihm frisches Heu.

„Wenn du möchtest, kannst du gerne noch bei ihm bleiben“ bot Sharif ihr an.

„Ich muss jetzt erst mal weg. Wir sehen uns später.“

Arsura streichelte Kadir vorsichtig an der Nase und an der Stirn. Mit einem warmen und dankbaren Lächeln blickte sie zu Sharif. Er konnte die Wärme in ihren blauen Augen spüren, war gefesselt von diesem einzigartigen Blick.

„Danke, Vater“ sagte Arsura.

Sharif war erstaunt. Das hatte er nicht erwartet. Er ging zu ihr, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Auch wenn du nicht mein leibliches Kind bist, wirst du für mich wie eine Tochter sein“ sagte er leise.

„Und du wirst für mich, wie ein Vater sein“ erwiderte Arsura und umarmte ihn.

Sharif würde auf dieses Kind aufpassen und ihr zur Seite stehen. Egal, was auch kommen würde.

Talent

Kapitel 2: Talent
 

„Das traust du dich doch sowieso nicht.“

Mit diesem Satz hatte vor gut zwei Jahren alles angefangen. Arsura hatte sich mittlerweile gut in Masyaf eingelebt und bei ihren täglichen Streifzügen durch das Dorf irgendwann Malik und seinen jüngeren Bruder Kadar angetroffen. Die beiden waren junge Novizen der Assassinen und in ihrer Freizeit, erprobten sie gerne ihre Fertigkeiten. Arsura hatte sie beim Dachspringen beobachtet und als sie es versuchen wollte, hatten die beiden Jungen sie ausgelacht. Schnell war ihnen das aber vergangen, als Arsura mit elf Jahren zeigte, dass sie das auch konnte. Mittlerweile war sie dreizehn Jahre alt und hängte manchmal sogar den behänden Malik im Dachrennen ab. So auch heute wieder. Knapp, aber sie hatte den vereinbarten Zielpunkt vor Malik erreicht.

„Für ein Mädchen bist du nicht schlecht“ meinte der junge Novize und atmete tief durch.

„Ich weiß“ gab Arsura grinsend zurück.

Sie hüpfte geschickt von dem hohen Dach auf ein tieferliegendes und von diesem sprang sie auf den Boden.

„Wo willst du hin?“ fragte der vierzehnjährige Malik sie.

„Ich muss nach Hause. Vater wartet bestimmt schon auf mich“ erwiderte Arsura.

„Bleib doch noch einen Moment“ meinte nun auch Kadar, setzte sich auf den Rand des Daches und sah sie bittend an.

Arsura überlegte einen Moment. Dann kam ihr eine Idee. Sie kletterte an der Fassade des Hauses geschickt hoch und setzte sich neben Kadar. Dann sah sie zu Malik.

„Willst du eine Revanche?“ fragte sie ihn grinsend.

„Gerne. Wohin?“ stellte er die Gegenfrage.

„Zu mir nach Hause. Wer als erstes bei mir auf dem Dach steht“ erwiderte Arsura und stand auf.

„Ich gebe euch beiden das Startsignal und laufe dorthin. Wir treffen uns dort“ meinte Kadar.

Er war Sache noch nicht ganz Herr. Wenn er so weit war, würde er mit den beiden auch um die Wette rennen, aber momentan hatte er noch nicht die Kraft dafür. Er stellte sich vor Malik und Arsura hob beide Hände und schlug sie mit einem „Los!“ wieder nach unten. Die beiden zögerten keine Sekunde und sprinteten los. Arsura versuchte schon nach dem zweiten Sprung Malik abzuhängen, aber dieses Mal hatte er klar die Nase vorn. Arsura probierte es über eine Abkürzung, aber das wollte auch nicht funktionieren. Als sie mit Malik endlich gleichauf war und die beiden gleichzeitig von dem Dach eines Hauses sprangen, wurde ihnen eines schlagartig klar: Das reichte nicht. Entsetzt versuchte Arsura nach einem Vorsprung zu haschen, doch da war keiner. Die beiden Halbwüchsigen fielen nun direkt auf den Marktstand zu, der an dem Gebäude stand. Polternd krachten Malik und Arsura in den Stand hinein. Das Holzdach brach unter der Wucht zusammen und begrub die zwei unter sich – zusammen mit teuren Tonvasen, die in ihre Einzelteile zersprangen. Kadar hörte von Weitem das Scheppern, des in sich zusammen brechenden Markstandes und eilte sofort dorthin. Als er ankam und von Malik nur ein Bein aus dem Trümmerhaufen herausschauen sah, fing er sofort an die Holzplanken wegzuräumen.

„Bruder! Alles in Ordnung?!“ fragte der Jüngere erschrocken.

Er zog Malik aus dem Marktstand. Der Ältere ächzte leicht vor Schmerz rieb sich das Bein und dann den Rücken, der bei dem Sturz am meisten in Mitleidenschaft gezogen wurde. Kadar wandte sich kurz von Malik ab, um nach Arsura zu suchen. Als er die oberste Holzplanke beiseite zog, lag die Braunhaarige etwas unglücklich in dem Rest des Marktstandes.

„Hast du dir wehgetan?“ wollte Kadar wissen.

„Ein bisschen. Aber, nicht mehr als sonst auch“ erwiderte Arsura und richtete sich auf.

Kadar half ihr auf die Beine. Arsura stellte fest, dass sie einen Kratzer am Oberarm hatte. Vermutlich von eine der Tonscherben. Es blutete, war aber nicht schlimm. Die drei sahen sich das Chaos an, was Malik und Arsura gerade fabriziert hatten.

„Ich glaube, das hat keiner gesehen. Lasst uns verschwinden, bevor-“ fing Arsura an, doch das Scheppern einer Holzkiste ließ sie, Kadar und Malik herumfahren.

Die drei sahen direkt in das zornesrote Gesicht des Standbesitzers, der vor Schreck die Kiste hatte fallen lassen.

„Wir… können das erklären“ meinte Arsura zerknirscht.

„Darauf bin ich ja mal gespannt“ sagte der Ladenbesitzer zornig.
 

Al-Mualim saß auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch, hatte sein Kinn auf die rechte Hand gestützt und die Finger seiner linken trommelten unruhig auf dem Pult herum. Dem Großmeister der Assassinen fehlten schlicht und ergreifend die Worte. Das war schon das dritte Mal in diesem Monat, dass Malik, Kadar und Arsura vor ihm standen, weil sich ein wütender Dorfbewohner über sie beschwerte. Und das Schlimmste an der ganzen Sache: Der Monat hatte erst begonnen. Er hatte einen Novizen nach Sharif geschickt. Der Assassine sollte wissen, was sein Ziehkind schon wieder angestellt hatte. Schließlich kam Sharif die Treppe hoch und als er das Trio sah, konnte er sich schon denken, was Sache war.

„Friede sei mit euch, Meister“ sagte Sharif achtungsvoll.

„Ihr könnt euch denken, worum es geht, oder Sharif?“ fragte Al-Mualim.

Sharif konnte es sich gerade so verkneifen, sich an die Stirn zu fassen. Das konnte doch nicht wahr sein!

„Was ist es dieses Mal?“ fragte er seine Ziehtochter entrüstet.

„Wir haben einen Markstand ein wenig… zerdeppert“ erwiderte Arsura kleinlaut.

„Ein wenig? Meine ganzen Vasen und der Stand sind zerstört! Ich verlange eine Entschädigung!“ polterte der Standbesitzer wütend.

„Wie ist das jetzt schon wieder passiert?“ wollte Sharif weiter wissen.

„Malik und ich haben beim Dachrennen die Entfernung unterschätzt und sind dann in den Marktstand gekracht“ erklärte Arsura.

Jetzt ging es nicht mehr. Sharif fasste sich fassungslos an die Stirn.

„Arsura. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du das lassen sollst?“ sagte Sharif nun leicht entnervt.

Arsura schwieg daraufhin. Hier hatte sie zu viel Respekt vor Al-Mualim, als dass sie ihrem Vater eine selbstbewusste Antwort entgegenwerfen würde. Besagter Großmeister wandte sich an den Markstandbesitzer.

„Euer Schaden wird euch entsetzt“ versicherte er ihm.

Der Mann bedankte sich bei Al-Mualim, warf den Kindern einen wütenden Blick zu und ging dann. Al-Mualim stand auf und trat vor den Schreibtisch.

„Das war das letzte Mal. Malik, Kadar, ihr werdet Strafarbeiten verrichten. Es kann nicht sein, dass ich wegen euch beiden jedes Mal so einen Ärger habe. Abtreten – alle beide“ sagte er angesäuert.

Die beiden Jungs zögerten keine Sekunde und gingen sofort. Arsura schluckte leicht, als Al-Mualim auf sie zukam und vor ihr stehen blieb.

„Was dich angeht… Da ich dir keine Strafarbeiten auferlegen kann, werde ich an deinen Ziehvater appellieren, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt, ansonsten hat das weitereichende Konsequenzen“ sagte er ernst.

Arsura sah ihm entgegen und schnaubte resigniert.

„Ich werde mich darum kümmern“ versicherte Sharif.

„Ich hoffe es“ sagte Al-Mualim nur.

Sharif ging mit seiner Ziehtochter. Sie sprachen beide kein Wort, bis sie die Festung verlassen hatten. Dann platzte es aus Sharif heraus.

„Du bringst mich mit deinem Verhalten wirklich in Schwierigkeiten! Ich lege zwar jedes Mal ein gutes Wort für dich ein, aber irgendwann hat auch das kein Gewicht mehr – gerade nach so einer Aktion wie heute! Nicht nur du kriegst Ärger für solche Aktionen, sondern auch Malik und Kadar – und langsam auch ich“ sagte er ungehalten.

„Ich kann es eben. Und ich werde nicht mit dem Dachrennen aufhören, nur weil du das sagst!“ widersprach Arsura.

„Ich hab ja nichts dagegen, dass du das machst, aber wenn du jedes Mal dabei das Eigentum anderer Leute zerstörst, bringt das mehr Kosten als Nutzen. Denk mal darüber nach!“ erwiderte Sharif.

„Wenn ich schon nicht mehr über die Dächer springen darf, darf ich wenigstens noch weiterhin mit Malik und Kadar Schwertkampf üben?“ fragte sie trotzig.

Sharif blieb stehen.

„Du… was?“ fragte er verwirrt.

„Ja, ich verstehe schon. Ich sag den beiden morgen Bescheid, dass wir das auch lassen können“ gab Arsura zurück.

„Du bist ein Mädchen. Eigentlich dürftest du in der Hinsicht überhaupt keine Erfahrungen haben“ meinte Sharif.

Arsura grummelte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Wie war das?“ hakte er nach.

„Ich sagte: Nur weil ich ein Mädchen bin, heißt das noch lange nicht, dass ich so etwas nicht können darf. Ich bin gut darin. Malik und Kadar können dir das bestätigen. Altair vielleicht auch. Er hat ab und zu mal zugesehen“ sagte sie frustriert.

Sharif wollte seinem Ziehkind schon die Meinung sagen, aber er zögerte einen Moment. War Arsura vielleicht wirklich gut im Schwertkampf? Doch er wusste, dass er das unterbinden musste. Sie konnte nicht damit anfangen.

„Beim besten Willen und egal, wie gut du darin bist. Lass das zukünftig bleiben“ sagte Sharif schließlich.

Arsura schnaubte enttäuscht.

„Und ich dachte, wenigstens du siehst, dass ich Talent habe. Wenn du mich suchst, ich bin mit Kadir unterwegs“ sagte sie belegt, drehte sich um und machte sich auf den Weg zu den Ställen.

Dort angekommen konnte sie nicht verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange lief. Sie war wütend und enttäuscht darüber, dass nicht einmal ihr Ziehvater sah, wie gut sie wirklich war. Arsura kannte ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen. Wenn sie könnte, würde sie in die Fußstapfen Sharifs treten. Sie würde Assassine werden, wenn man es zuließ, aber diese Vorstellung rückte immer mehr in weite Ferne. Keiner würde ihr Talent anerkennen. Und das nur, weil sie ein Mädchen war. Arsura ging zu Kadir in die Box, setzte sich auf den weichen Heuboden und versuchte zu verhindern, dass ihr noch mehr Tränen über die Wangen liefen. Kadir bemerkte ihren Unmut und stupste sie vorsichtig mit seiner hellen Nase an. Arsura lächelte.

„Ich soll wohl damit aufhören, was? Du hast Recht. Komm, lass uns ausreiten“ meinte sie leise und stand auf.

Sie holte Kadirs Sattel und seine Trense und legte sie ihm an. Mittlerweile hatte sie keine Probleme mehr damit und der Hengst freute sich auch immer, wenn sie da war. Sie führte das aufgezäumte Pferd aus dem Stall und lief damit durch das Tor der Palisade. Dort stieg sie auf und lief mit Kadir los. In irgendeine Richtung. Irgendwohin. Nur, erst einmal raus aus Masyaf.
 

Sharif ging nach Hause. Er wollte die Lage mit Ayasha besprechen. Der Assassine wollte hören, was sie dazu zu sagen hatte. Zusammen saßen sie nun am Esstisch und Sharif massierte sich entnervt die Schläfen.

„Mach dir nicht so einen Kopf darum, Sharif. Das ist nur eine Phase. In einigen Monaten hat sie das schon wieder an Nagel gehängt. Arsura kann kein Assassine werden und wenn sie das erst einmal eingesehen hat, wird sich das ganz schnell im Sand verlaufen“ meinte Ayasha aufmunternd.

„Das ist es ja. Ich glaube nicht, dass Arsura einfach so aufgeben will. Dafür ist sie viel zu starrköpfig“ erwiderte Sharif und seufzte schwer.

„Außerdem…“ fing Ayasha nun an und lehnte sich nach hinten gegen den Stuhl.

„… könnte ich es nicht ertragen, wenn meine Tochter und mein Mann auf Missionen unterwegs sind, von denen sie vielleicht nicht mehr zurückkommen.“

Sharif lächelte leicht.

„Mich würde wirklich interessieren, wo Arsura herkommt. Sie ist seit nun mehr sechs Jahren hier und kann sich noch immer an nichts erinnern“ meinte er.

„Das wird schon“ erwiderte Ayasha.

Dann stand sie auf und ging an ihrem Mann vorbei aus dem Haus heraus. Sharif saß noch einen Moment dort und starrte nachdenklich vor sich hin. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen und sah sein Schwert in der Scheide an der Wand stehen. Daneben stand sein altes Übungsschwert. Er hatte es früher zum Kämpfen gerne genommen, aber irgendwann war es ihm einfach zu kurz geworden. Seit seiner Beförderung zum Assassinen hatte er sein neues, mit dem er auch sehr zufrieden war. Als er die beiden Schwerter so anstarrte, kam ihm eine verrückte Idee. Warum sollte er sich nicht mal anschauen, was seine Ziehtochter konnte? Damit würde er ihr bestimmt eine Freude machen. Und wer weiß… vielleicht war sie wirklich so gut, wie sie behauptete. Wenn Arsura zurückkam, würde er ihr es auf jeden Fall anbieten. Mehr als ablehnen konnte sie nicht.
 

Besagte 13-jährige kam erst nach mehreren Stunden wieder zurück nach Masyaf. Kadir war klatschnass geschwitzt. Arsura hatte sich mit ihm völlig verausgabt. Auch sie atmete schwer und eine Strähne ihrer langen hellbraunen Haare hing ihr nass im Gesicht. Vor dem Tor stieg Arsura von Kadir ab und führte ihn in den Stall. Sie sattelte das Pferd ab und rubbelte dessen Rücken mit Stroh trocken, sodass er sich nicht erkälten konnte. Zum Abschluss gab sie ihm noch ein paar Stücke getrocknetes Brot, redete mit ihm und streichelte ihn liebevoll. Sie hatte den Hengst in den letzten Jahren richtig lieb gewonnen. Auch Kadir freute sich jedes Mal, wenn sie zu ihm kam. Arsura lächelte dem edlen Tier entgegen, verabschiedete sich von ihm und ging. Mit einem Grummeln machte sie sich auf den Weg nach Hause. Vor der Tür erwartete sie allerdings eine Überraschung. Sharif saß auf einer Bank vor dem Haus und schien auf sie gewartet zu haben. Er ging auf sie zu und lächelte.

„Willkommen zurück. Wie war der Ausritt?“ fragte er sie.

„Erfrischend“ erwiderte Arsura gleichgültig und wollte an ihm vorbei ins Haus gehen, doch Sharif hielt sie auf.

„Warte.“

„Was ist?“ fragte Arsura und klang ein wenig gereizt.

Wortlos drückte Sharif ihr sein altes Übungsschwert in die Hand. Erstaunt blickte Arsura von der Waffe zu ihrem Ziehvater, der sie nur anlächelte.

„Zeig mir, was du kannst.“

Arsura fiel die Kinnlade herunter. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, grinste sie und nickte eifrig. Die beiden verließen das Dorf und suchten sich einen geeigneten Platz zum Trainieren. Sharif wollte nicht, dass jemand mitbekam, dass er seine Tochter auf ihre Fähigkeiten im Schwertkampf prüfte. Schließlich hatten sie eine große, völlig menschenleere Wiese gefunden und Sharif zog sein Schwert. Arsura begutachtete einen Moment das Schwert, als sie es aus der entsprechenden Scheide gezogen hatte. Der Griff war mit schwarzem Leder eingebunden, die Parierstange war silbern und die Klinge lang, glänzend und scharf.

„Ich habe noch nie mit einem echten Schwert gekämpft. Es ist ziemlich schwer“ meinte Arsura schließlich.

„Daran gewöhnst du dich. Ich nehme an, die Grundhaltung kennst du?“ vermutete Sharif.

Arsura nickte.

„Gut. Kannst du auch schon Angriffe parieren?“ wollte er weiter wissen.

Wieder ein Nicken.

„In Ordnung“ meinte Sharif.

Arsuras Arm zitterte etwas, als sie sich in die Grundhaltung begab und das Schwert hob. Sharif machte es ihr nicht schwer. Er startete einen offensichtlichen Angriff, betont langsam, damit er sehen konnte, wie seine Ziehtochter reagierte. Was dann folgte, warf sogar den geübten Assassinen aus der Bahn. Arsura wich dem ersten Schlag locker aus, schlug Sharifs Schwert zu Boden und boxte ihm vor die Brust. Die Bewegung war fließend, schnell und absolut präzise. Als hätte sie das schon hundertmal gemacht. Perplex sah Sharif sie an.

„Ich übe mit Malik und Kadar. Und da heißt es: Lerne schnell oder du kriegst blaue Flecken. Und da ich mir die ersparen wollte, habe ich alles daran gesetzt so schnell wie möglich ihre Tricks zu lernen“ meinte Arsura banal und ging wieder in die Grundhaltung.

„Ah, ich verstehe schon. Offensichtlich bist du besser, als ich gedacht habe“ sagte Sharif nun lächelnd.

„Ich mach das schon fast so lange, wie das Dachrennen. Unterschätze mich lieber nicht, Vater“ grinste Arsura zurück.

„Hochmut kommt vor dem Fall, mein Kind“ erwiderte Sharif.
 

Noch lange trainierten die beiden. Es war bereits dämmrig, als sie sich zurück auf den Weg nach Masyaf machten. Arsura war völlig aus dem Häuschen. Sie schwärmte von der Lehrstunde, bewunderte sich ab und zu selbst, wie gut sie das mit einem echten Schwert hinbekommen hatte und bettelte um mehr Unterricht bei Sharif. Dieser lachte herzlich.

„Wir werden auf jeden Fall die nächsten Tage noch üben, auch damit du dich an das Gewicht der Waffe gewöhnen kannst. Ich hätte nicht gedacht, dass in dir so ein Potential steckt“ meinte er anerkennend.

Arsura grinste.

„Ich hatte es dir gesagt, aber du hast mir ja nicht geglaubt.“

Sharif nickte leicht. In seinem Kopf ratterte es. Hatte sie vielleicht als erstes Mädchen das Zeug zum Assassinen? Er schüttelte den Gedanken wieder ab. Das würde Al-Mualim nicht zulassen. Sharif würde Arsura trotzdem helfen, ihre Fähigkeiten auszubauen. So etwas war nie verkehrt.
 

Es vergingen einige Wochen. Arsura trainierte fleißig fast jeden Tag mit Sharif. Sie verbesserte ihre Kontertechnik, lernte, dass das Schwert nicht nur aus der Klinge bestand, sondern auch die Parierstange sehr nützlich sein konnte, um seinen Gegner auszuschalten und gewöhnte sich an das Gewicht des Schwertes. Sharif beobachtete erstaunt die Fortschritte von Arsura und schließlich beschloss er, Al-Mualims Meinung einzuholen. So viel Talent musste gefördert werden. Das war sicher. Sharif hatte lange mit sich gerungen, aber nun war er auf dem Weg zur Festung. Der Assassine atmete tief durch und nahm die letzten Stufen. Der Großmeister besprach gerade etwas mit einem der Dais, mit dem er vor dem Schreibpult stand. Als Al-Mualim Sharif kommen sah, gab er ihm mit einer einfachen Handbewegung zu verstehen, dass er einen Moment warten sollte. Sharif blieb am Fuße der Treppe stehen, bis Al-Mualim den Dai wieder wegschickte. Dann wandte er sich dem Assassinen zu. Sharif verneigte sich leicht.

„Friede sei mit Euch, Meister“ sagte er demütig.

„Und mit Euch, Sharif. Was führt Euch zu mir?“ fragte Al-Mualim.

Sharif überlegte einen Moment, wie er anfangen sollte. Die Situation war wirklich sehr ungewöhnlich.

„Es geht um Arsura“ sagte er schließlich.

Al-Mualim schien nicht begeistert zu sein. Er konnte sich denken, um was es ging.

„Was hat sie nun wieder angestellt?“ wollte er leicht entnervt wissen.

„Nichts. Ganz im Gegenteil. Sie hat mir in den letzten Wochen bewiesen, dass sie unglaublich talentiert ist“ erwiderte Sharif.

„Inwiefern?“ fragte Al-Mualim verwirrt nach.

„Neben dem Springen über die Dächer, das vor einigen Wochen ziemlich schief gelaufen ist, beherrscht sie auch den Schwertkampf sehr gut. Ich wollte ihr das erst nicht glauben, aber sie hat mir bewiesen, dass sie es kann. Sie besitzt großes Talent“ sagte Sharif.

„Und was genau wollt Ihr nun von mir, Sharif?“ hakte der Großmeister nach.

„Ich würde mir wünschen, dass Ihr Arsura eine Chance gebt, sich zu beweisen“ meinte Sharif nun.

„Keine Frau war jemals so talentiert, dass man sie in die Bruderschaft hätte aufnehmen können. So war es und so wird es bleiben. Selbst wenn sie es kann, werde ich sie nicht als Novizen aufnehmen“ erwiderte Al-Mualim ernst.

Sharif seufzte leicht. Er trat ein, zwei Schritte auf den Großmeister zu.

„Mit Verlaub gesagt, Meister… Arsura ist nun mehr schon sechs Jahre hier. Noch kann sie sich nicht an ihr früheres Leben erinnern, aber wenn das eines Tages der Fall sein sollte, wäre es nicht besser sie zur Gänze auf unserer Seite zu haben? Gebunden an die Gesetze unseres Kredos? Wenn sie sich irgendwann erinnert und geht, dann geht sie mit all unseren Geheimnissen. Und wer weiß, wem sie es dann erzählt. Wir wissen nicht, wo sie herkommt, noch wo sie wirklich hingehört und wer sie eigentlich ist“ argumentierte Sharif dagegen.

Al-Mualim schien zu zögern. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Arsura so talentiert sein sollte, wie Sharif es gerade behauptete. Doch, der Assassine hatte mit seiner Argumentation Recht. Ewig konnten sie Arsura nicht hier in Masyaf festhalten. Und sie bekam viel mit. Auch, weil Sharif Assassine war.

„Ich bitte Euch einfach nur, Euch anzusehen, was sie kann. Meiner Meinung nach, muss ihr Talent professionell gefördert werden“ sprach Sharif weiter.

Al-Mualim lehnte sich gegen den Schreibtisch und überlegte eine Weile.

„Ihr wisst, dass das eigentlich nicht zulässig ist. Die Bruderschaft der Assassinen besteht ausschließlich aus Männern. Eine Frau in unseren Reihen wäre absolut inakzeptabel, das könnte sogar Ärger verursachen. Allerdings habt Ihr mit Eurer letzten Argumentation durchaus Recht. Sie weiß zu viel und wir wissen nicht, wer sie ist“ sagte Al-Mualim schließlich.

Sharif sah überrascht auf. Er hätte nicht gedacht, dass der Großmeister ernsthaft in Erwägung zog, seiner Bitte nachzukommen.

„Ich werde Arsura die Chance geben, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Sollte sie sich wider Erwarten genauso gut anstellen, wie Ihr behauptet, dann werde ich darüber nachdenken, ob sie in den Bund der Assassinen aufgenommen werden kann. Allerdings darf sie sich dann keinen Fehltritt mehr erlauben. Solche Aktionen wie von vor ein paar Wochen dürfen sich nicht ehr ereignen“ sagte Al-Mualim.

„Ich werde für sie bürgen“ meinte Sharif nickend.

„Sagt das nicht so leichtfertig, Sharif. Euer Ziehkind ist ziemlich unberechenbar“ erwiderte Al-Mualim.

„Ich verstehe, Meister. Allerdings vertraue ich Arsura in jeder Hinsicht. Wenn es darauf ankommt, kann ich mich auf sie verlassen“ sagte Sharif lächelnd.

„Nun gut. Bringt sie morgen früh mit hier her. Die anderen Novizen in etwa ihrer Altersklasse üben auch um diese Zeit. Sie soll gegen einen der Schüler antreten und zeigen, was sie kann“ beschloss Al-Mualim nun.

Sharif nickte verstehend. Er verneigte sich leicht, verabschiedete sich und ging. Er verließ die Festung und ging gut gelaunt nach Hause. Beim Abendessen würde er Ayasha und Arsura davon erzählen.
 

„Was?!“

Das war die erste Reaktion von Sharifs Ziehtochter und seiner Frau. Ayasha schien schockiert zu sein und Arsura war vor lauter Staunen der Löffel aus der Hand gefallen.

„Assassine? Ich?!“ fragte die Braunhaarige völlig aus dem Häuschen.

„Nein. Nein, Sharif. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Arsura wird niemals Assassine. Sie ist eine Frau!“ protestierte Ayasha sofort.

„Es kommt jetzt nur darauf an, wie sie sich morgen anstellt. Und der Umstand, dass sie sich an nichts erinnern kann, kommt ihr ebenfalls zugute“ erwiderte Sharif banal.

„Wir hatten das doch schon besprochen, Sharif. Ich möchte nicht, dass ihr beide wochenlang unterwegs seid und vielleicht gar nicht mehr zurückkommt!“ beharrte Ayasha weiterhin.

Arsura sprang von ihrem Stuhl auf und umarmte ihren Ziehvater überglücklich. Ayasha sah empört zu Arsura.

„Danke, Vater!“

„Hast du mir eben nicht zugehört?!“ wollte sie wissen.

„Natürlich hab ich das, Mutter. Aber, für mich würde damit ein Traum in Erfüllung gehen“ grinste Arsura übermütig.

Ayasha schüttelte nur den Kopf.

„Komm schon, Liebling. Gib ihr die Chance. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich hier zuhause hinsetzt und mit dir zusammen Kleidung näht oder ähnliches. Arsura hat Talent. Das kann man nicht bestreiten“ erwiderte Sharif.

„Du hättest es mit mir vorher absprechen müssen“ sagte Ayasha wütend.

Dann sah sie aber in das überglückliche Gesicht ihrer Tochter und seufzte leicht.

„Du wünscht es dir wirklich, oder?“ fragte sie Arsura.

Ihre Ziehtochter nickte eifrig.

„Mehr, als alles andere“ antwortete Arsura.

„Na gut. Es passt mir zwar nicht und noch besteht die Möglichkeit, dass man dich nicht aufnimmt. Aber, ich will dir diese Chance geben“ sagte Ayasha schließlich.

„Danke, Mutter. Das bedeutet mir wirklich sehr viel“ meinte Arsura lächelnd.

„Ich habe übrigens noch eine gute Nachricht für dich, Arsura“ sagte Sharif schließlich.

„Bin ich schon aufgenommen?“ fragte Arsura sofort.

Sharif lachte leicht.

„Nein. Es geht um Kadir“ erwiderte er.

„Was ist mit ihm?“ wollte Arsura wissen.

„Ich habe mir überlegt, mir ein zweites Pferd zuzulegen. Eigentlich sollte das für dich sein, aber ich sehe, wie gut du dich mit Kadir verstehst und deshalb habe ich beschlossen, mir ein neues Pferd zuzulegen und dir Kadir zu überlassen“ erklärte er.

„Kadir ist ab sofort mein eigenes Pferd?“ fragte sie ungläubig.

„Wenn ich mein neues habe, ja. Er wird dann dir gehören“ sagte Sharif.

So viele gute Neuigkeiten an einem Tag. Wenn Arsura könnte, würde sie vor Freude explodieren.

„Und jetzt ab ins Bett. Du willst doch fit für morgen sein, oder?“ meinte Sharif lächelnd.

Arsura nickte, drehte sich um und verschwand in ihrem immer.

„Ich hoffe du weißt, was du da tust, Sharif“ sagte Ayasha schließlich.

„Ich hoffe es auch. Aber, ich denke, sie kriegt das hin“ erwiderte Sharif zuversichtlich.

„Das meine ich nicht“ widersprach Ayasha.

„Wenn Arsura bei den Assassinen wirklich aufgenommen werden sollte…“

„Ayasha. Mach dir keine Gedanken. Glaub mir, es wäre das Beste für sie“ sagte Sharif.

„Ich hoffe, du hast recht“ lächelte sie.

„Bestimmt, Ayasha. Bestimmt.“

Kampf

Vor lauter Aufregung hatte Arsura die letzte Nacht kaum geschlafen. Es war mittlerweile früh am Morgen und die Sonne war noch nicht aufgegangen. Unruhig lief sie in dem kleinen Haus, dass sie mit Ayasha und Sharif ihr Zuhause nannte, hin und her. Die Braunhaarige wusste gar nicht wohin mit ihrer ganzen Vorfreude. Immer wieder versuchte sie still sitzen zu bleiben, aber die Aufregung war einfach zu groß. Schließlich zog sie ihre Schuhe an und beschloss zu Kadir zu gehen. Leise öffnete Arsura die Tür und verschwand aus dem Haus. Um ihrer freudigen Anspannung etwas Luft zu machen, rannte sie den Weg zu den Stallungen hinunter. Der trockene Boden knirschte unter ihren Schuhen und bei jedem Schritt wirbelte sie etwas Staub auf. Am liebsten würde sie jetzt noch über die Dächer springen, aber das würde nur die Bewohner aufwecken. Um diese Uhrzeit war kaum jemand wach. Deshalb blieb sie auf den üblichen Pfaden, bis sie vor den Pferdeställen ankam. Sie öffnete die große Tür und schlüpfte hinein.

"Kadir" sagte sie leise und ging in Richtung seiner Box.

Der Hengst drehte sich von der Futterstelle weg und wieherte leise, als Arsura auf ihn zukam. Er stellte die Ohren und beschnüffelte sie behutsam, in der Hoffnung, dass sie vielleicht etwas für ihn dabei hatte.

"Schon gut, mein Junge. Ich habe was für dich" lächelte Arsura und öffnete die Boxtür.

Sie ging in den Stall und streichelte den Hengst liebevoll am Kopf. Dann kramte sie aus ihrer Hosentasche ein Stück Brot und hielt es dem weißen Tier hin. Sofort nahm Kadir es an sich und ließ es schnell in seinem Maul verschwinden.

"Ist das nicht toll? Vater will sich ein neues Pferd zulegen und dann gehörst du zukünftig mir. Wir sind so schon die besten Freunde, aber das macht alles perfekt" murmelte Arsura leise zu Kadir.

Der Hengst ließ sich bereitwillig von ihr streicheln und umarmen. Arsura schielte kurz aus dem Fenster und sah, dass es langsam dämmerte. Sie verabschiedete sich von dem Hengst und rannte wieder zurück zum Haus. Der Himmel war erfüllt von einem Farbspiel in leichten Rottönen und im Osten wurde es immer heller. Als Arsura ankam, bremste sie ab und lief die letzten Meter relativ gemächlich. Als sie hochblickte, sah sie Sharif, der gerade aus dem Haus kam. Arsura winkte ihm zu und rief nach ihrem Ziehvater.

"Guten Morgen. Du konntest wohl nicht mehr schlafen, was?" fragte Sharif sie.

Arsura nickte.

"Ja, ich bin ziemlich aufgeregt" gab sie ehrlich zu.

Sharif nickte verstehend. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und lächelte sanft.

"Denke einfach daran, was du gelernt hast. Du kannst es. Ich weiß das" sagte er zuversichtlich.

"Ich weiß es auch. Deswegen mache ich mir keine Sorgen" erwiderte Arsura lächelnd.

"Gut. Dann lass uns in Ruhe frühstücken und anschließend zur Festung gehen. Du musst bei Kräften sein" schlug Sharif nun vor.

"In Ordnung" sagte Arsura.
 

Die Sonne war mittlerweile fast komplett aufgegangen. Die hellen Schweife am Horizont krochen immer weiter in den vorherigen Nachthimmel hinein und erfüllten ihn mit einem angenehmen morgendlichem Licht. Arsura und Sharif machten sich auf den Weg zu der großen prunkvollen Feste hinter dem Dorf. Hoch ragten die Türme in den heller werdenden Himmel und Arsura beobachtete kurz ein paar Vögel die um die großen Steinbauten ihre Kreise zogen. Sie und Sharif gingen den steilen Weg hoch in die Burg. Sie liefen unter dem steinernen Torbogen hindurch auf den Innenhof. Hier befand sich der Übungsplatz und als Arsura ihren Blick schweifen ließ erkannte sie jemanden. Es war Ilai. Er rief seinen Novizen immer wieder Befehle zu und wies sie auf Haltungsfehler hin. Arsura hatte ihr Übungsschwert, welches sie von Sharif hatte, dabei. Es steckte in seiner dunkelbraunen Scheide und die Blauäugige umklammerte diese mit der rechten Hand. Sie gab es nicht gern zu, aber jetzt, wo sie hier war, stieg die Nervosität. Sie atmete tief durch. Sharif bemerkte ihren leichten Unmut.

"Alles in Ordnung?" fragte er.

Arsura nickte leicht.

"Ja es geht schon. Ich bin nur etwas nervös" erwiderte sie.

Sharif seufzte leicht.

"Das kann ich verstehen. Du musst das hier nicht tun, wenn du nicht willst oder nicht dazu bereit fühlst" sagte er schließlich.

"Nein" gab Arsura entschieden zurück.

"Es ist gut, so wie es ist."

"Warte kurz hier. Ich muss mit Ilai reden" sagte Sharif dann und ging zu besagtem Assassinen.

"Ah, guten Morgen, Sharif. Wie geht es dir?" wollte er wissen.

"Gut. Danke der Nachfrage. Du weißt Bescheid wegen Arsura, oder?" fragte Sharif.

Ilai sah ihn verdutzt an und schüttelte den Kopf.

"Nein. Davon hat mir niemand etwas gesagt" verneinte er.

"Wieso nicht? Es war mit Al-Mualim abgesprochen" erwiderte Sharif verdutzt.

Ilai machte einen leicht bedrückten Eindruck.

"Seit Umars Tod vor einigen Wochen geht hier beim Training alles drunter und drüber. Ich habe vorläufig seine Position inne, aber dadurch, dass ich auf Mission war und gestern erst zurückgekommen bin, hat mir keiner etwas gesagt. Ich werde wahrscheinlich den Posten komplett übernehmen, aber bis dahin bin ich eben noch für Aufträge eingeteilt und das macht die Organisation nicht gerade einfach" erklärte Ilai.

"Schon in Ordnung. Könntest du es trotzdem irgendwie einrichten, sie gleich kämpfen zu lassen? Al-Mualim will sehen, was sie kann" sagte Sharif.

Ilai überlegte einen Moment.

"Ja, das lässt sich machen. Geh und hol den Meister. Ich bereite alles vor" meinte er schließlich.

"Danke" sagte Sharif.

Er ging zu Arsura, die ihn erwartungsvoll anschaute.

"Ich hole jetzt den Großmeister. Geh schon mal zu Ilai. Er wird dich einweisen" erklärte er ihr kurz.

Arsura nickte verstehend und sah ihrem Ziehvater hinterher, als er in Richtung des Hauptgebäudes lief. Nachdem sie den Blick abgewendet hatte, ging sie zu Ilai. Sharif lief derweil hoch in das Büro des Großmeisters. Er nahm zwei Stufen auf einmal und verlangsamte seine Schritte erst, als er die letzten Stufen nahm. Al-Mualim drehte sich zu ihm und Sharif blieb ein paar Schritte vor seinem Bürotisch stehen. Der Assassine verneigte sich leicht.

"Friede sei mit Euch, Meister. Arsura wartet unten. Sie ist bereit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen" sagte Sharif gleich.

"Gut. Ich komme sofort" erwiderte Al-Mualim und machte sich mit Sharif auf den Weg.

Unten angekommen sprach Ilai mit Arsura und einem seiner Schüler. Der Großmeister und Sharif sahen kurz zu.

"Also, ich möchte hier keine Verletzten. Entwaffnet euren Gegner einfach. Das ist das Ziel. Alles ist erlaubt" sagte Ilai knapp.

Arsura und der junge, dunkelhäutige Novize ihr gegenüber nickten verstehend. Beide machten eine geschickte Hockwende über das dicke Geländer des Übungsplatzes. Arsura zog ihr Schwert aus der entsprechenden Scheide und lehnte diese außen gegen das Geländer, damit sie nicht darüber fiel. Arsura drehte sich mit erhobenem Schwert zu ihrem Gegner, der sie immer noch etwas verwirrt musterte.

"Abbas soll ihr Gegner sein?" fragte Sharif etwas erstaunt.

"Arsura soll zeigen, was sie kann. Und es wäre uninteressant sie gegen jemanden zu kämpfen zu lassen, der nur Durchschnitt ist. Sollte sie sich erfolgreich gegen ihn durchsetzen, werde ich meine Entscheidung bezüglich Eurer Ziehtochter überdenken" antwortete Al-Mualim.

"Gut. Abbas, Arsura. Ihr dürft anfangen" sagte Ilai schließlich.

Immer noch etwas verwirrt musterte Abbas das Mädchen vor sich. Ihre hellbraunen Haare waren zu einem Zopf mit einem einfachen Lederband zusammengebunden. Nur ein paar Strähnen des kürzeren Ponys hingen ihr im Gesicht. Ihre war Haut war sehr hell und die blauen Augen musterten ihn mit einer gewissen Ernsthaftigkeit. Abbas konnte es nicht verkneifen kurz aufzulachen. Sollte er wirklich gegen sie kämpfen? Das sollte doch wohl ein Witz sein! Arsura zog eine Augenbraue hoch und sah Abbas an, dass er das für einen schlechten Scherz hielt. Aber, sollte er sie nur unterschätzen. Er würde schon sehen, was er davon hatte. Die beiden begaben sich in Kampfposition. Arusra ging ruhige, seitliche und standfeste Schritte, beobachtete ihren Gegner ganz genau und versuchte zu analysieren, wo und wie er zuschlagen würde. Abbas lächelte argwöhnisch. Er war sich sicher, dass er hier leichtes Spiel haben würde, deshalb wagte er den ersten Angriff. Er zielte auf ihre linke, ungedeckte Seite, doch Arsura blockte den Schlag und machte ihm damit einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Sie blockte den Hieb, sodass die Klingen klirrend aufeinanderprallten und drückte das gegnerische Schwert mit ihrem eigenen nach oben und sorgte so dafür, dass Abbas völlig ungeschützt vor ihr stand. Der junge Novize konnte das kaum fassen. Er war zu perplex um zu reagieren, als Arsura diese großzügige Blöße nutzte, um ihm gekonnte in den Bauch zu treten und ihn zu Boden zu schicken. Arsura ging ein paar Schritte zurück und sammelte sich neu. Völlig überrumpelt rappelte Abbas sich wieder auf die Beine.

"Was zur Hölle..." fluchte er wütend und wandte sich wieder der kampfbereiten Arsura zu.

Die anderen Novizen, sowie Ilai und Al-Mualim staunten nicht schlecht. Allerdings hatte dieser eine Schlag noch gar nichts zu sagen. Arsura hatte es geschickt ausgenutzt, dass Abbas sie unterschätzt hatte. Nun war es Arsura die einen Angriff wagte. Mehrere Male traf ihr Schwert mit einem mittlerweile vertrauten Geräusch auf das von Abbas. Die starken Hiebe ließen seinen Schwertarm erzittern. Schließlich schlug Abbas zurück, haute Arsura Schwert zu Boden und ging auf sie los. Mit einer katzenhaften, eleganten Drehung wich Arsura dem Angriff aus und als sie hinter ihm war, schlug sie Abbas den die Parierstange ihrer Waffe zwischen die Schulterblätter. Abbas verzog aufgrund des stechenden Schmerzes kurz das Gesicht. Die Stelle an der sie zugelangt hatte, schmerzte wirklich höllisch. Sharif, der oben vor der Burg zusammen mit Al-Mualim stand, konnte sich ein zufriedenes Lächeln kaum verkneifen. Er hatte Arsuras Fortschritte gesehen, ihr Talent in den letzten Wochen erfolgreich gefördert und ihr Mut gemacht. Sie war stark und auf ihre Art und Weise unberechenbar. Vielleicht machten gerade diese Eigenschaften sie zu einer perfekten Assassine.

"Na warte" knurrte Abbas schließlich angesäuert.

Er würde sich nicht von ihr schlagen lassen. Nicht von einem Mädchen. Das wäre nicht nur äußerst unangenehm sondern auch peinlich. Er konnte kaum glauben was hier vor sich ging. Und so langsam machte ihn das sauer. Frustriert ignorierte er den Schmerz an seinen Brustwirbeln und machte sich für die nächste Attacke bereit. Jetzt reichte es ihm. Ab sofort hatte Arsura nichts mehr zu lachen. Das Mädchen stand ihm mit erhobenem Schwert gegenüber. Dann schlug Abbas zu. So schnell und so heftig, dass Arsura keine Zeit blieb, um zu kontern. Abbas' Schwert knallte gegen ihr eigenes und ließ ihren Arm erzittern. Geistesgegenwärtig drückte sie dagegen und schloss ihre Hand fester, um ihre Waffe nicht zu verlieren. Die Schwertspitze kam ihrem Gesicht gefährlich nahe und als sie seitlich ausweichen wollte, erwischte sie die Schwertspitze an der rechten Wange, ein paar Zentimeter unter ihrem Auge. Unbarmherzig schlitzte der Stahl die helle Haut auf und warmes Blut quoll sofort aus der bestimmt fünf Zentimeter langen, frischen Wunde. Arsura erschrak über den plötzlichen Schmerz und machte reflexartig einen Ausfallschritt zurück. Doch, Abbas war noch nicht fertig mit ihr. Arsura blockte den Schlag mit Mühe und Not und versuchte ihre Balance wiederzufinden, die ihr abhanden gekommen war. Aber, Abbas ließ ihr keine Chance dazu. Er drängte sie immer weiter zurück, bis sie den dicken Holzbalken des Geländers im Rücken hatte, das den Kampfplatz abgrenzte. So hektisch die Situation auch gerade war, ihr kam trotzdem eine Idee. Abbas holte zu einem von oben geführten Schlag aus. Arsura wartete bis zur allerletzten Sekunde, dann wich sie zu ihrer rechten Seite aus. Das Schwert von Abbas krachte mit einem dumpfen Knall auf das Holzgeländer, sodass Splitter abflogen. Die Novizen, die an dieser Stelle hinter dem Geländer standen, sprangen erschrocken einen Schritt zurück. Jetzt sah Arsura ihre Chance. Abbas versuchte das Schwert aus dem Balken zu ziehen, aber es steckte zu tief im Holz. Arsura drehte ihr eigenes um und schlug Abbas mit dem Knauf gegen sein Kinn. Abbas sah einen Moment lang nur noch Sternchen. Er taumelte unkoordiniert ein paar Schritte zurück. Das nächste, was er mitbekam, war wie Arsura ihm mit ihrem linken Fuß seinen rechten wegzog. Dann verlor er das Gleichgewicht und ging zu Boden. Er versuchte sich aufzurichten, aber ein unangenehmes Gewicht auf seinem Brustkorb verhindert das. Arsura hatte ihm ihren rechten Fuß auf die Brust gestellt und ihre Schwertspitze hatte kurz vor Abbas' Kehle gestoppt. Der Kampf war entschieden. Arsura hatte eindeutig gewonnen. Abbas sah zu ihr. Ihr Blick war ernst. Zwei, drei dicke, rote Rinnsale ihres Blutes liefen unterhalb des Schlisses entlang bis zu ihrem Kinn und von dort tropfte die rote Flüssigkeit zu Boden. Völlig fassungslos über seine Niederlage, richtete Abbas sich auf, als Arsura das Schwert und ihren Fuß wegnahm. Sie hielt ihm die linke Hand hin, um ihm aufzuhelfen, doch Abbas schlug ihr diese wütend weg.

"Das kannst du dir sparen!" fuhr er sie gereizt an.

Arsura ging einen Schritt von ihm weg, als er aufstand und mürrisch den Kampfplatz verließ. Arsura blickte zu dem Schwert, das nach wie vor im Geländer steckte. Sie wollte es ihm eigentlich bringen, aber auf der anderen Seite hatte sie ihn schon genug gedemütigt. Sie seufzte leicht und verließ den Kampfplatz ebenfalls.

"Gut gemacht, Arsura" sagte Ilai anerkennend, als sie ihr Schwert wieder in die Scheide steckte.

"Danke" murmelte sie zurück.

"Das war eine herausragende Leistung. Ich bin gespannt, was Al-Mualim und Sharif dazu sagen werden" meinte er.

Er schaute sich die Wunde an ihrer Wange kurz an.

"Das sollte sich nachher mal ein Arzt ansehen. Solche Sachen können sich leicht entzünden."

Arsura fasste kurz an die brennende Verletzung, zog aber gleich wieder die Finger weg, um eine Entzündung nicht zu provozieren. Sie folgte Ilai die Treppe hoch zu Sharif und Al-Mualim. Der Großmeister schien wohl noch zu überlegen. Er bat die drei in sein Büro. Arsura war gespannt, wie es nun weitergehen würde. Als sie im Büro ankamen, standen die beiden Assassinen rechts und links von Arsura, während Al-Mualim vor dem großen vergitterten Fenster hin und her lief. Arsura genoss einen Moment den angenehmen Geruch nach Weihrauch. Es hatte für seine beruhigende Wirkung und an irgendwas erinnerte es sie, aber sie konnte es nicht definieren. Die Sonne war mittlerweile komplett aufgegangen und hüllte das offene Büro des Großmeisters in ein angenehmes Licht. Arsura spürte, wie Blut von ihrem Kinn tropfte, ignorierte es aber, da es jetzt Wichtigeres gab. Es herrschte angespanntes Schweigen und es kam dem jungen Mädchen wie eine Ewigkeit vor, bis Al-Mualim endlich das Wort ergriff.

"Arsura. Du stellst mich wirklich vor eine schwere Entscheidung" begann der bärtige Mann nun.

"Ich muss zugeben, dass ich deinem Ziehvater Sharif erst nicht glauben wollte, dass du den Schwertkampf beherrscht, aber du hast mich gerade vom Gegenteil überzeugt. Ilai, was sagt Ihr dazu?"

Der Assassine, der links von Arsura stand, trat einen Schritt vor. Erwartungsvoll blickten die blauen Augen der Braunhaarigen ihn an.

"Nun, Meister. Es gibt nichts Unerfreuliches zu beanstanden. Arsura hat den Kampf gut gemeistert und auch in einer heiklen Situation bewiesen, dass sie Nervenstärke, Mut und Einfallsreichtum besitzt. Sie hat sich das Gelände effektiv zu Nutze gemacht und gezeigt, dass sie kreative Konterangriffe ohne Hemmungen oder Zögern durchführen kann" erklärte Ilai sachlich.

Al-Mualim stemmte die Hände auf das Pult und musterte das Mädchen einen Moment. Ja, Ilai hatte Recht, mit dem was er sagte. Sogar einige Novizen zögerten manchmal noch und hatten Bedenken jemanden zu verletzen, aber Arsura nicht. Sie hatte Abbas sofort in seiner Blöße ausgenutzt und wäre das ein ernsthafte Kampf gewesen, hätte sie ihn sogar töten können. Er wandte sich von Arsura ab und sah zu Sharif.

"Sharif?" fragte er ihn.

"Sie ist soweit. Sie ist bereit, jedes Hindernis, dass sich ihr in den Weg stellt zu nehmen. Arsura kann es schaffen" antwortete Sharif wahrheitsgemäß.

Das Mädchen senkte leicht den Kopf und konnte sich ein geschmeicheltes Lächeln nicht verkneifen. Al-Mualim ging um den Schreibtisch herum auf Arsura zu und blieb vor ihr stehen. Die 13-jährige sah zu ihm hoch. Der Mann in der dunklen Robe seufzte leicht. Er wandte sich an Ilai.

"Ilai, geht und schickt Euren Sohn Sait hier her" wies er den Assassinen an.

"Selbstverständlich, Meister" sagte Ilai, verneigte sich leicht und ging.

Der Großmeister wandte sich wieder Arsura zu.

"Arsura Antun Sa'ada. Ich frage dich hiermit, bist du bereit der Bruderschaft der Assassinen zu dienen, dich dem Kredo und unserer Lebensweise zu verschreiben, auch wenn es dich eines Tages das Leben kostet?" fragte Al-Mualim sie.

Arsuras Augen wurden groß. Sie schluckte kurz trocken und antwortete schließlich.

"Ja, dazu bin ich bereit, Meister" sagte sie und verneigte sich leicht.

"Gut, aber bedenke, dass du nicht bevorzugt oder anders behandelt wirst, nur weil du ein Mädchen bist" meinte er.

Arsura nickte verstehend. Plötzlich erklang eine Stimme hinter Sharif und seinem Ziehkind. Die beiden drehten sich um.

"Ihr habt nach mir schicken lassen, Meister?" fragte ein junger Novize.

Arsura überlegte. Das musste Sait sein. Er sah seinem Vater wirklich ähnlich. Sait blickte zu dem jungen Mädchen und musste kurz schlucken, als er die strahlendblauen Augen sah. Durch das Blut an ihrer Wange schienen sie hell zu leuchten und die helle Hautfarbe mit den braunen Haarsträhnen rundete das Bild ab. Es kostete Sait eine Menge Überwindung dich wegzudrehen, um zu hören, was der Großmeister sagte.

"Sait, das ist Arsura. Sie ist ab heute Novize unserer Bruderschaft. Nimm sie mit und mache sie vorläufig mit dem Wichtigsten vertraut. Sie wird bei dir und den anderen beiden in eurem Zimmer unterkommen" erklärte Al-Mualim ihm.

Sait nickte verstehend. Er wandte sich an Arsura.

"Dann komm mal mit" meinte er etwas verwirrt.

Die beiden liefen die Treppe hinunter in die Bibliothek.

"Ich dachte immer, Mädchen werden nicht zu Assassinen ausgebildet" sagte Sait.

Arsura lächelte leicht.

"Al-Mualim wollte das eigentlich auch nicht, aber ich habe Abbas vorhin in einem Übungskampf besiegt. Außerdem hat mein Vater ein gutes Wort für mich eingelegt" erklärte Arsura ihm.

Sait blieb stehen.

"Du hast... was?" fragte er ungläubig.

"Ja, wieso?" wollte Arsura verdutzt wissen.

"Da hast du dir jetzt schon einen Feind geschaffen. Abbas verliert nicht gern und die Tatsache, dass du ein Mädchen bist, wird ihn noch mehr frustrieren" meinte Sait.

Arsura zuckte die Schultern.

"Soll er doch. Vor ihm habe ich keine Angst" sagte sie selbstsicher.

"Das wollen wir erst mal sehen. Abbas wird dir ganz schön die Hölle heiß machen, aber dazu später mehr. Wir gehen jetzt erst mal zum Arzt, damit er sich die Verletzung ansehen kann" schlug Sait vor.

"In Ordnung" nickte Arsura.

Die beiden verließen das Gebäude zum Innenhof hin und betraten eines der Nebengebäude, dass sich östlich vom Kampfplatz befand. Arsura folgte Sait durch mit Fackeln beleuchtete Gänge eine lange Treppe hoch, bis zu einem hellen Büro. Helle Säulen stabilisierten die Decke, die ganzen Wände bestanden aus hellen Fenstern und die Sonne schien ungehindert hier hinein. Der Raum hier war rundlich, verschiedene Bücherregale, die voll mit Unterlagen waren, standen hier und der helle Boden, sowie die Decke, die in dem selben Ton gehalten waren, machten das ganze sehr ansehnlich. Arsura blickte kurz zum Boden und sah das Zeichen der Assassinen in den Boden eingraviert.

"Doktor? Seid Ihr da?" rief Sait.

Ein Mann in einer reinweißen Robe, die mit einer schwarzen Schärpe um den Bauch zusammengehalten wurde, trat hinter einem Bücherregal ins Blickfeld der beiden angehenden Assassinen.

"Ah, hallo Sait. Wie kann ihr dir helfen, mein Junge?" wollte er wissen.

"Mit mir ist alles in Ordnung. Sie bräuchte etwas Hilfe" sagte Sait und deutete auf Arsura, die schräg hinter ihm stand.

Der Arzt kam auf sie zu. Er begutachtete das Mädchen kurz und musterte die Verletzung.

"Dann komm mal mit, mein Kind. Das ist nicht so schlimm. Ein bisschen Desinfektion und eine Salbe, dann siehst du wieder aus wie neu" meinte der Mann munter.

Arsura sah etwas verwirrt zu Sait, der nur lächelte und ihr ein "Er ist so, man gewöhnt sich dran" zuraunte.

"Setzt euch, setzt euch. Ich bin sofort da" sagte der Arzt und verschwand kurz hinter einem Regal.

Man hörte, wie er etwas aus Schubladen zog, während Arsura auf einem einfachen Holzschemel Platz nahm. Sait blieb neben ihr stehen. Der Mann kam wieder, mit einem weißen Tuch und einer Glasflasche mit einer klaren Flüssigkeit darin. Er zog sich einen zweiten Schemel heran und setzte sich zu Arsura. Er umfasst ihr Kinn leicht, drehte ihren Kopf zur Seite und musterte die Wunde.

"Wie ist das denn passiert?" wollte der Arzt wissen.

"Übungskampf. Sie soll Assassine werden. Deshalb habe ich sie auch hier hochgebracht" erklärte Sait kurz.

Der Mann runzelte die Stirn.

"Das ist ja mal ganz was Neues. Offenbar hat sie einen positiven bei Al-Mualim hinterlassen, denn sie ist die erste Frau, bei der mir das zu Ohren kommt" meinte er erstaunt.

"Es scheint wohl so" sagte Sait.

Der Arzt wischte das Blut unterhalb der Wunde weg und reinigte den Schnitt mit dem reinen Alkohol, der sich in der Glasflasche befand. Arsura verzog kurz das Gesicht, als das helle Tuch mit der Flüssigkeit auf die Wunde gedrückt wurde. Der Arzt tupfte das überschüssige Blut weg, nahm das Tuch beiseite und begutachtete den Schnitt erneut.

"Das wird eine Narbe geben. Der Schnitt kann offen bleiben, das brauche ich nicht zu nähen. Allerdings solltest du die Wunde nachträglich pflegen, ansonsten könnte sie sich entzünden. Ich werde dir eine Salbe mitgeben, die du zwei- bis dreimal am Tag auftragen kannst. Sollten irgendwelche Schmerzen auftreten, die Wunde starke Rötungen oder Eiter zeigen, komm wieder hier her" erklärte der Arzt ihr.

Arsura nickte verstehend. Der Mann stand auf, ging zu einem Schrank, zog eine Schublade heraus und griff hinein. In seiner Hand hatte er ein kleines hölzernes Tiegelchen, das er Arsura in die Hand drückte.

"Dünn auftragen. Das sollte für etwas über vier Tage reichen. Wenn sie leer ist, komm her und hole dir neue, falls die Wunde bis dahin nicht geschlossen ist" wies der Mann sie an.

"Dankeschön" sagte Arsura und stand auf.

"Bis demnächst" verabschiedete Sait sich und ging mit Arsura wieder die Treppe hinunter.

Die beiden verliefen das Nebengebäude und gingen wieder in die Hauptfestung zurück. Dort bog Sait kurz vor der Bibliothek rechts in einen Korridor ein und Arsura folgte ihm.

"Wo gehen wir jetzt hin?" fragte sie ihn neugierig.

"Zur Schneiderin. Du brauchst noch eine Robe" erklärte Sait ihr kurz.

"Später kannst du dann mit zum Theorieunterricht kommen. Ich denke, das sollten wir schaffen. Vorher will ich dir noch zeigen, wo hier die wichtigsten Orte sind. Außerdem solltest du meine Zimmergenossen noch kennenlernen."

"Mit wem teilst du dir denn das Zimmer?" wollte Arsura wissen.

"Malik und Altair" antwortete Sait.

"Wirklich?! Das ist ja toll!" freute Arsura sich plötzlich.

Als sie nach links abgebogen waren, hielt Sait verwirrt an.

"Wieso freust du dich da so?" wollte er wissen.

"Malik ist mein bester Freund. Ich kenne ihn jetzt schon seit zwei Jahren und er ist unter anderem dafür verantwortlich, dass ich über Dächer springen und Schwertkampf kann" erklärte Arsura verlegen.

"Ach, dann bist du das. Malik hat von dir erzählt. Er meinte, du wärst bisher das einzige Mädchen, dass ihm begegnet ist, das es schaffen könnte, Assassine zu werden" sagte Sait überrascht.

"Das kann vielleicht sein" meinte Arsura gedehnt.

"Er wird ziemlich überrascht sein."

"Das glaube ich auch. Na komm" sagte Sait und ging weiter.

Arsura folgte ihm erneut. Sie liefen weiter den breiten Korridor entlang, bis Sait am Ende des Ganges vor der einzigen Tür stehen blieb. Er klopfte beherzt dagegen und öffnete sie dann. Als Arsura den Raum betrat, schlug er der Geruch von Stoffen entgegen. Sie sah sich um. Es gab nur ein breites, großes Fenster in diesem Raum. Es war an einer Seite offen und dahinter war ein kleiner Balkon. Überall auf den Tischen lagen Stoffe in Rot, Weiß und Grau. Diverse Schuhe standen auf dem Boden vor den Regalen, in denen noch mehr aufgerollte Stoffe waren. Auch braunes Leder war in den Regalen, silberne Verzierungen lagen in kleinen Kästen daneben und eine junge Frau stand vor einem großen Tisch und zog mit weißer Kreide Linien auf einer großen grauen Stofflache.

"Seid gegrüßt, Schneiderin" sagte Sait.

Die Frau blickte auf. Ihre Haare waren Schwarz und ihre Augen waren so dunkelbraun, dass sie fast dieselbe Farbe hatten.

"Hallo Sait. Was kann ich für dich tun?" fragte sie freundlich.

Ihre Stimme klang weich und nicht zu hoch. Sie hatte einen angenehmen Klang.

"Unsere neue Novizin hier braucht eine Robe" sagte er.

Die Frau musterte Arsura.

"Ihr habt ein Mädchen bei euch in der Bruderschaft? Seit wann denn das?" wollte sie verwirrt wissen.

"Seit eben gerade erst" antwortete Sait.

"In Ordnung. Ich muss mal schauen. Novizenroben hab ich ja in Hülle und Fülle da. Die Novizen, die befördert werden, geben ihre alten Roben oft wieder bei mir ab. Allerdings weiß ich nicht, ob ich eine da habe, die dir passen könnte" überlegte die Schneiderin.

"Sait, ich bitte dich hier zu warten. Ich muss schauen, was ich da habe. Du kommst mit mir."

Die Schneiderin lief los und Arsura folgte ihr. Sie ging um ein Stoffregal herum und dahinter verbarg sich ein kleiner Raum ohne Tür, der nur einen einfach Durchgang hatte.

"Ich werde dir provisorisch erst einmal etwas geben. Ich werde deine Maße nehmen und dir eine passende Robe schneidern. Allerdings kann das ein paar Tage dauern. Bis dahin wird es aber auch so gehen" meinte die Frau.

Sie griff nach rechts und holte eine Robe hervor und hielt sie vor Arsura hin. Das ging eine Weile so. Entweder es war zu groß, zu weit, zu eng oder passte anderweitig nicht. Schließlich hatte die Schneiderin etwas gefunden und drückte es Arsura in die Hand. Sie stellte sich in Durchgang und schälte sich aus ihren Klamotten. Die Schneiderin half ihr in die Robe hinein und prüfte dabei, ob sie passte.

"Das Oberteil ist etwas weit, aber die Hose und auch die Schuhe passen. Jetzt bekommst du noch deine Schärpe und den Ledergurt. Außerdem werde ich dir gleich einen Gürtel mit einer Schwertscheide geben, damit du deine Waffe nicht dauernd so umhertragen musst" erklärte die Frau.

Sie zupfte die Kleidung zurecht, holte besagte Lederutensilien und die Schärpe, dann legte sie es Arsura an.

"Fertig" lächelte sie.

Arsura trat um die Ecke und blickte in den großen Spiegel, der dort stand. Die Robe war komplett in Grau gehalten. Das Oberteil und die knielange Robe mit der Kapuze waren etwas heller als die Hose. Der Ledergurt lief unter ihrem linken Arm durch, weit genug von der Achsel entfernt, um nicht zu reiben, dann über den Rücken und Schulter wieder nach vorne. Eine weiter Teil lief vom Rücken unter dem rechten Arm durch und wurde oberhalb der rechten Brust mit einem silbernen Dreieck, das reichlich verziert war, zusammengehalten. Die rote Schärpe lief unter dem Ledergürtel mit der Aufhängung für die Schwertscheide entlang. Zwei lange Teile der Schärpe hingen vorne und hinten waagerecht nach unten, endeten dort, wo auch die Robe endete und rundeten das Bild ab. Ihr Schwert hing in einer dunkelbraunen Lederscheide an drei Lederriemen an ihrem Gürtel fest und diese ließen es senkrecht nach unten zeigen. Die hellbraunen Lederschuhe waren bequem und passten wie angegossen. Arsura drehte sich leicht. Sie konnte kaum fassen, dass sie wirklich die Assassinenrobe tragen durfte. Sait lachte leicht.

"Wenn du damit fertig bist, dich zu bewundern, können wir dann gehen?" fragte er sie amüsiert.

Etwas verlegen wandte Arsura sich von ihrem Spiegelbild ab.

"Oh. Ja, natürlich" meinte sie.

Die beiden verabschiedeten sich und gingen. Sait kündigte ihr an, dass sie jetzt erst noch schnell die anderen wichtigen Örtlichkeiten begutachten würden, dann würde er mit Arsura hoch zu den Schlafgemächern gehen. Er wollte sich selbst noch ein wenig ausruhen, bevor er zum Unterricht musste. Die beiden ging eine große Treppe hinunter und standen in einem großen Saal.

"Wenn du da rechts hinschaust, siehst du den Eingang zum Speisesaal. Dort wird einmal Morgens und einmal Abends gegessen. Rechts geht es zu den Unterrichtsräumen. Wir haben drei davon. Meistens sind wir im ersten gleich rechts, aber das kann sich auch ändern. Wir kriegen es auf jeden Fall immer mit. Und hinter uns..."

Sait drehte sich um und zeigte auf eine Tür. die direkt am Fuße der Treppe auf der linken Seite lag.

"...ist die Waffenkammer. Wenn du etwas brauchst, dir etwas fehlt oder sonst etwas von Nöten ist, bekommst du es da" beendete Sait seinen Vortrag.

"Und was ist da vorne?" wollte Arsura wissen und zeigte auf die große Flügeltür.

"Diese Tür darf man erst kurz vor seiner Prüfung zum Assassinen betreten. Was genau dahinter ist, weiß ich allerdings auch nicht" antwortete Sait wahrheitsgemäß.

Arsura nickte verstehend.

"Gut. Das war's erst mal. Lass uns hochgehen" sagte Sait schließlich.

Arsura folgte ihm wieder. Sie liefen erneut an der Bibliothek vorbei, dann wieder einige Steintreppen hinauf, bis sie schließlich zu einem Gang oberhalb des Großmeisterbüros gekommen waren. Auf der linken Seite war eine massive Steinwand, die andere wurde nur von einem Geländer abgegrenzt. Arsura warf kurz einen Blick über das Geländer und stellte fest, dass es hier ein Stückchen hinunterging. Sait lief auf einen runden Durchgang zu, hinter dem sich eine weitere Treppe befand. Die beiden nahmen die Stufen und kamen zu einem weiteren langen, breiten Korridor. Sait lief auf schnurstracks auf die letzte Tür in diesem Gang zu und klopfte gegen das Holz. Es dauerte einen Moment, dann wurde er hineingebeten. Er öffnete die Tür und betrat den Raum. Arsura tat es ihm gleich. Das Zimmer war groß. An der Wand gegenüber befand sich ein großes vergittertes Fenster. Die Stäbe waren schwungvoll und in der Mitte befand sich das Assassinenzeichen. Rechts und links davon befanden sich an den entsprechenden Wänden vier Betten. Arsura sah kurz nach rechts und sah dort ein paar einfache Schränke, in denen man offenbar Sachen verstauen konnte. Auf der linken Seite standen ebenfalls welche davon. Unter dem großen Fenster stand ein großes Schreibpult mit vier Stühlen daran. Der Tisch war übersäht mit Pergamenten und Büchern und auf zwei von den vier Stühlen saßen zwei Jungs, die Arsura nicht ganz fremd waren. Altair und Malik sahen auf, als Sait mit Arsura das Zimmer betrat.

"Hallo Sait und äh... hallo Arsura. Was machst du denn hier?" fragte Malik verwirrt.

Noch mehr haute ihn die Tatsache um, dass Arsura eine Assassinenrobe trug. Malik zählte eins und eins zusammen und dann fiel im die Kinnlade herunter. Selbst Altair staunte nicht schlecht.

"Dreimal darfst du raten" grinste sie zurück.

Malik stand auf und ging auf seine beste Freundin zu. Dann umarmte er sie erst einmal.

"Glückwunsch! Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffst, aber... wow, also ich bin echt überrascht! Super gemacht!" freute Malik sich.

Arsura lächelte.

"Danke. Ich werde mir übrigens mich euch dreien ein Zimmer teilen. Das heißt, wir haben noch viel Zeit um uns auszutauschen" sagte sie.

"Das werden wir auch brauchen. Du hast eine Menge Stoff nachzuholen. Nur weil du die Praxis kannst, heißt das noch lange nicht, dass du die Theorie auch beherrscht. Du musst ganz schön Pauken, um den Stoff nachzuholen" meinte Malik.

Er klopfte ihr auf die Schulter.

"Aber, du kriegst das schon hin."

"Wenn sie Abbas schon besiegt hat, sollte der Rest eigentlich kein Thema sein" meinte Sait.

"Du hast Abbas besiegt?" fragt Altair nun ungläubig, stand auf und ging auf die drei zu.

"Es war ja nur ein Übungskampf" beschwichtigte Arsura.

"Nicht der Rede wert."

"Na ja, wir werden sehen, wie er darauf reagiert" meinte Malik gelassen.

"Gut, was steht heute noch an?" wollte Arsura wissen.

"Theorieunterricht, Essen und dann haben wir für den Rest des Tages frei. Die älteren Novizen bereiten sich auf ihre Prüfung vor und beschlagnahmen für heute den Übungsplatz, deswegen haben wir frei" erklärte Malik kurz.

"Ich will mich noch ein wenig vorbereiten. Wir haben ja noch zwei Stunden. Altair, was hatten wir denn zuletzt?" fragte Sait an seinen Zimmergenossen gewandt.

"Beinarbeit im Schwert- und Nahkampf. Die ganzen Schritte und so weiter. So weit ich weiß, geht es heute mit den verschiedenen Kampftechniken mit Schwert weiter" erklärte er kurz.

"Uff" machte Malik.

"Ich sollte auch noch ein Weilchen die Nase in die Bücher stecken."

"Wenn ich dich nicht hätte, Altair, wäre ich öfter mal aufgeschmissen, denn so gut passe ich im Unterricht nicht immer auf" meinte Sait ehrlich.

"Ich schau einfach mal mit rein und gucke, was ich weiß" sagte Arsura und setzte sich dazu.

Die vier schauten noch eine Weile in ihre Unterlagen, dann beschlossen sie noch etwas auszuspannen, bevor sie sich auf den Weg zum Unterricht machten.

Unterricht

Gemächlich schlenderten die vier Novizen zu den Unterrichtsräumen. Auf dem Weg zu den unteren Geschossen der riesigen Festung, ließ sie sich von den anderen dreien erklären, wie sich denn die Rangfolge verhielt. Sie konnte sich nämlich bisher noch keinen Reim darauf machen, wer hier über wem stand. Wenn die Braunhaarige so recht darüber nachdachte, hatte sie Sharif bisher auch nicht danach gefragt. Wieso denn auch? Bis jetzt hatte sie das nicht gebraucht.

„Eigentlich ist es ganz einfach und die erkennst die einzelnen Ränge an der Kleidung“ fing Malik an zu erklären.

„Wir Novizen beispielsweise tragen eine einfache graue Kleidung. Über uns stehen die Assassinen. Sie sind in weiß gekleidet. Die Meisterassassinen stehen über ihnen und haben eine knöchellange weiße Robe an. Dann gibt es noch die Rafiks und die Dais.“

Arsura runzelte verwirrt die Stirn.

„Das kann ja dauern, bis ich das drauf habe“ meinte sie skeptisch.

„Das geht schneller, als du denkst“ erwiderte Sait sicher.

„Was ist der Unterschied zwischen Rafik und Dai?“ wollte Arsura dann wissen.

„Dais tragen helle, weiße Mäntel mit einer roten Stickerei. Rafiks einen schwarzen, ebenfalls mit diesem Muster. Was sie genau vom Wissensstand her unterscheidet, weiß ich allerdings auch nicht“ bedauerte Sait schließlich.

Altair schüttelte den Kopf.

„Das hatten wir doch neulich erst. Kein Wunder, dass du ständig nachfragen musst“ sagte der 13-jährige vorwurfsvoll.

„Ja, aber das Unwichtige bleibt immer hängen – wie in einem Sieb!“ grinste Malik zurück.

Arsura lachte.

„Mach dir nichts draus, Sait. Manchmal geht es mir nicht anders.“

„Dann hoffen wir mal, dass du dich gut an Gelerntes erinnern kannst. Du hast eine Menge nachzuholen und unsere Selbstdisziplin in Sachen Lernen wird wirklich eisern geprüft“ meinte Sait nun ernster.

„Ich schaff das schon“ erwiderte Arsura zuversichtlich.

Mittlerweile waren sie an den Unterrichtsräumen angekommen, aber weit und breit war niemand außer ihnen zu sehen.

„Sind wir zu spät?“ fragte Sait verwirrt.

„Nein, eigentlich nicht“ erwiderte Altair, nachdem er einen kurzen Blick auf den Stand der Sonne geworfen hatte.

„Und wo sind dann alle?“ hakte Sait nach.

Noch bevor sie sich weiter den Kopf zerbrechen konnten, kam ein weiterer Novize die Treppe heruntergestürmt.

„Malik!“ rief er.

Arsura erkannte ihn sofort, genau wie der gerufene Malik. Es war Kadar. Er kam ziemlich außer Atem auf das Quartett zu und musste erst einmal Luft holen. Er stemmte die Hände auf die Oberschenkel, holte tief Luft und sah auf.

„Ihr seid heute…“ fing er atemlos an und stutze, als er Arsura erblickte.

„Was machst du denn hier?!“ fragte er perplex.

„Wie du siehst, bin ich seit heute Novize“ grinste sie zurück.

Arsura musste sich wirklich bemühen nicht zu lachen. Kadars Gesicht war einfach unbezahlbar. Stammelnd suchte er seinem Bruder, Altair und Sait nach einer Erklärung.

„Ich erklär‘s dir später. Also, was wolltest du sagen?“ fragte Malik nach.

Kadar fasste sich wieder.

„Ach ja. Eure Gruppe ist heute draußen auf dem Übungsplatz hinter der Festung. Der, auf dem man Messerwerfen übt“ erklärte Kadar kurz.

„Ich dachte, wir hätten jetzt Theorieunterricht?“ wunderte Sait sich.

„Und hieß es nicht, dass die Prüflinge den Platz für die Vorbereitungen brauchen?“ hakte Arsura nach.

„Offenbar wurde kurzfristig umgelagert. Der Raum, wo ihr jetzt wärt ist besetzt und der Platz hinten ist frei. Meister Ilai erwartet euch dort. Ihr seid übrigens die letzten. Der Rest der Gruppe ist schon vorne. Ich wollte euch eigentlich noch im Zimmer Bescheid sagen, aber als ich dort ankam, wart ihr schon weg“ erklärte Kadar.

Malik atmete tief durch.

„Gut, danke. Wir sehen uns später, Bruder“ sagte er dann.

Kadar verabschiedete sich und ging.

„Das ist gar nicht gut“ murmelte Sait.

„Nein, wirklich nicht“ stimmte Malik ihm zu und wandte sich an Arsura.

„Was ist denn los?“ wollte sie wissen.

„Dass du über Dächer springen kannst, ist nur die Vorstufe von dem, was jetzt kommt. Wir müssen jetzt auf Balken klettern, die so schmal wie unsere Füße sind und auf Strohpuppen mit Messern werfen“ erklärte er.

„Du verschweigst ihr den Haken an der Sache“ mischte Altair sich ein, als Malik nicht weitersprach.

„Welcher Haken?“ fragte Arsura nach und ahnte dabei nichts Gutes.

„Das Ganze findet in einer ziemlich imposanten Höhe statt. Am höchsten Punkt vielleicht etwa zehn Meter. Wenn man ungünstig fällt, kann man sogar sterben“ sagte Malik.

Arsura sah ihn entsetzt an.

„W-Was?!“ stammelte sie erschrocken.

„Und du kommst nicht drum herum es nicht zu machen. Dieser Parcours gehört zum Ausbildungsprogramm“ meinte Sait nun.

„Lasst mich raten… aufgrund eurer Reaktionen gehe ich davon aus, dass ihr das schon mal gemacht habt, oder?“ fragte Arsura nach.

„Ja, heute ist es sogar schon das dritte Mal, dass wir dort sind“ nickte Malik.

„Es hilft ja alles nichts. Lasst uns erst mal gehen, sonst kriegen wir Ärger, weil wir ohnehin zu spät sind“ sagte Altair schließlich.

Die vier machte sich auf den Weg zu dem Trainingsplatz. Dort angekommen erblickten sie die Truppe, die schon vollzählig eingetroffen war.

„Ihr seid zu spät“ begrüßte Ilai das Quartett streng.

„Verzeihung, Meister“ sagte Malik sofort.

„Die Umstände lassen mich das ausnahmsweise einmal vergessen. Ihr wusstet ja nicht Bescheid und die Verschiebung des Unterrichts hierher war auch sehr kurzfristig“ meinte Ilai nun.

Arsura sah sich den Parcours an, der vor ihr lag und jetzt wusste sie, warum Sait, Malik und Altair sich eben Sorgen gemacht hatten. Eine kleinere und eine größere Kiste standen nebeneinander und bildeten eine kleine Treppe. Darüber hing eine in der Felswand auf der linken Seite, schmale Stange und etwas weiter entfernt ein dicker Holzbalken. So ging das dann weiter und es wurde von Balken zu Balken höher. Der Parcours war in eine schlüssellochförmige Felsschlucht integriert. Gegenüber der Balken und Stangen standen in bestimmten Abständen Strohpuppen mit Zielscheiben. Es waren immer zwei nebeneinander und Arsura erkannte schnell, warum dem so war. Eine für den Hin- und eine für den Rückweg. Während Ilai irgendetwas erklärte, musste Arsura erst einmal wieder einen klaren Gedanken fassen. Das würde wesentlich schwerer werden, als das Dachspringen, das sie so leidenschaftlich gerne machte. Noch bevor sie einen Gedanken an die Verletzungsmöglichkeiten verschwenden konnte, wies Ilai die Novizen an, sich in einer Reihe aufzustellen. Nacheinander sollten sie nun den Parcours absolvieren. Ilai drückte dem ersten Schüler acht Wurfmesser in die Hand. Als er loslief erkannte Arsura, dass es Abbas war. Er hängte sich vier der kleinen Messer an den Ledergürtel, den Rest hielt er in der linken Hand. Abbas meisterte den Parcours mit einer Leichtigkeit, dass auch Arsura davon schwer beeindruckt war. Es sah zwar einfach aus, aber das war es bestimmt nicht. Soviel war sicher. Auch die Messer verfehlten ihr Ziel nicht. Keins ging daneben. Etwas außer Atem kam er wieder zurück. Ilai schien zufrieden zu sein.

„Sehr gut, Abbas. Das Werfen muss noch etwas schneller gehen, aber ansonsten hab ich nichts zu beanstanden“ meinte er.

„Du kannst einen Moment verschnaufen.“

Abbas nickte du lief an der Reihe vorbei. Arsura schielte kurz zu ihm, sagte aber nichts. Anschließend war Altair an der Reihe und danach Malik. Sie meisterten beide die Aufgabe ohne Probleme. Sait klopfte Arsura auf die Schulter und murmelte ihr ein aufmunterndes „Du schaffst das schon“ zu. Die Braunhaarige atmete tief durch, ging zu Ilai und ließ sich die Wurfmesser geben. „Mach dir alle acht erst mal an den Gürtel. Du brauchst die Hände komplett zum Greifen“ schlug Ilai ihr vor.

Arsura nickte verstehend. Nachdem sie die kleinen Wurfwaffen befestigt hatte, ging sie ein paar Schritte von den Kisten weg, um Anlauf zu nehmen. Arsura lief los, sprang leichtfüßig auf die Kisten und packte die erste Stange. Sie schwang kurz daran, ließ im richtigen Moment los du bekam den dicken Holzbalken vor sich zu fassen. Mit einem leisen Ächzen zog Arsura sich daran hoch. Sie versuchte auf dem schmalen Balken die Balance zu finden, damit sie das Messer werfen konnte. Mit leicht ausgebreiteten Armen fand sie schließlich einen festen Stand. Sie sah zu der Strohpuppe, die ihr einige Meter entfernt gegenüber stand. Arsura löste eines der Messer aus dem Gürtel, ging vorsichtig noch einen Schritt nach vorne und warf es schwungvoll. Doch, es flog daneben und prallte unterhalb der Puppe an der Felswand ab. Arsura schnaubte kurz, drehte sich zur Seite und fixierte die nächste Stange an. Sie hatte Probleme damit ihr Gleichgewicht auf dem schmalen Balken zu halten und noch problematischer als das, stellte sich ihr dann der Absprung heraus. Arsura machte einen Satz nach vorne, streckte sich nach der Stange, doch dann wurde ihr schlagartig klar, dass sie sie nicht zu fassen bekommen würde. Fahrig streiften ihre Finger die dünne Stange, dann fiel sie unkontrolliert hinunter. Mit einem dumpfen Knall landete sie auf dem harten Boden. Der heftige Aufprall drückte ihr die Luft aus den Lungen und ließ ihren ganzen Körper beben. Nach Luft japsend drehte Arsura sich auf den Rücken und versuchte trotz dieser kurzweiligen Atemnot nicht in Panik zu verfallen. Es dauerte ein paar Sekunden, aber dann ging es und sie rappelte sich ächzend auf die Beine. Arsura hatte das Gefühl, jeden Knochen in ihrem Körper zu spüren. Langsam ging sie zu Ilai zurück.

„Alles in Ordnung?“ fragte der Ausbilder sie.

„Es geht schon“ erwiderte Arsura matt.

„Vielleicht sollte sie sich wieder in ihr Kleidchen schmeißen und von hier verschwinden“ ertönte plötzlich eine herablassende Stimme.

Arsura drehte sich leicht um und sah zu Abbas. So etwas konnte nur von ihm kommen. Sie wollte ihn, daran erinnern, dass er heute früh gegen sie verloren hatte, aber dann fiel ihr ein, was Sait ihr vorhin gesagt hatte. Vielleicht war Abbas wirklich nicht zu unterschätzen und sie wollte nicht unnötig Ärger provozieren. Deshalb verkniff sie sich jeglichen Kommentar. Nachdem Arsura das zweite Mal an der Reihe war, merkte sie, dass sie hierfür noch sehr viel Übung brauchte. Sie kam zwar einen Balken weiter, stürzte aber wieder ab. Danach konnte sie sich einen weiteren schnippischen Kommentar seitens Abbas anhören. Wieder verkniff sie sich den Konter und sagte einfach erst mal nichts. Irgendwann würde sich das noch ändern. Zähneknirschend und auch ziemlich frustriert folgte sie Malik, Altair und Sait zurück ins Zimmer.

„Mach dir nichts draus“ meinte Sait aufmunternd.

„Genau. Beim ersten Mal, fallen sie alle“ setzte Malik hinterher und setzte sich auf sein Bett.

„Ich will das hinkriegen“ murmelte Arsura ernst.

„Das wirst du auch. Aber, lass dir dafür etwas mehr Zeit. Auf Biegen und Brechen erreichst du nichts“ sagte Malik.

Arsura ballte die Hand zur Faust, drehte sich um und ging wieder in Richtung Tür.

„Wo willst du hin?“ fragte Sait verwirrt.

Arsura blieb kurz stehen und sah ihn an.

„Üben“ antwortete sie knapp, drehte sich wieder zur Tür und verließ den Raum.

Die Tür klackte ins Schloss und dann war es einen Moment still.

„Sie bricht sich noch was, wenn sie mit dieser Einstellung jetzt üben geht“ sagte Sait und seufzte leicht.

„Lass sie ruhig. Vielleicht ist das genau das, was sie braucht“ mischte Altair sich nun ein.

„Wie meinst du das?“ wollte Sait wissen.

„Überleg doch mal… Sie hat sich heute früh so gut gegen Abbas behauptet und muss jetzt so eine Niederlage in Kauf nehmen. Ich bin der Meinung, dass gerade das ihr Antrieb ist. Außerdem ist sie die erste Frau, die hier aufgenommen wurde. Sie muss sich beweisen und ihren Standpunkt verteidigen, sonst geht sie hier unter“ erklärte Altair.

Malik nickte zustimmend.

„Ich hab ja jetzt schon länger mit ihr zu tun und sie ist wirklich die Einzige, der ich es zutraue Assassine zu werden. Egal, wo sie herkommt und wer ihre Eltern waren… Sie ist unglaublich begabt.“

Sait sah skeptisch aus.

„Schauen wir erst einmal, wie sich das entwickelt. Vielleicht kann sie dem Druck auch gar nicht standhalten. Das zeigt sich alles erst noch in der kommenden Zeit.“
 

Langsam schlenderte Arsura zum Balkenparcours. Sie hoffte inständig, dass noch andere Novizen trainierten, denn sie wollte sich unbedingt anschauen, wie man es richtig machte. Zwar hatte sie es bei ihrer Gruppe auch gesehen, aber die Umstände hatten ihr nicht erlaubt, die Taktik und die Vorgehensweise genau zu analysieren. Es war einfach zu hektisch gewesen und sie hatte sich selbst zu sehr unter Druck gesetzt. Eigentlich hätte sie sich denken können, dass das so nicht funktionieren würde. Arsura schnaubte leicht. Es frustrierte sie ganz schön, dass sie es nicht geschafft hatte und jetzt wollte sie alles daran setzten, es zu schaffen. Und außerdem gönnte sie Abbas diesen Triumph nicht. Als sie schließlich am Parcours ankam, hatte sie Glück, denn einige ältere Novizen trainierten gerade. Arsura setzte sich auf einen großen Stein und beobachtete sie aufmerksam. Die Braunhaarige sah sich die Bewegungen ganz genau an. Einige der Novizen waren sogar so gut, dass sie die kleinen Messer aus dem Sprung heraus warfen und die Zielscheibe nicht verfehlten. Fasziniert von dem Anblick, überlegte Arsura sich, wie sie das am besten hinbekam. Sinnvoll wäre es auf jeden Fall erst einmal den Parcours so zu springen, ohne dabei gleich die Messer zu werfen. Das wäre dann erst der nächste Schritt. So könnte es funktionieren. Bestärkt mit diesem Gedanken, wartete Arsura nun geduldig darauf, bis sie den Parcours für sich hatte. Es dämmerte bereits, als es so soweit war. Tief atmete Arsura durch, als sie ein paar Schritte entfernt vor den Kisten stand. Dann lief sie los, sprang nacheinander auf die beiden Kisten und ergriff die erste Stange.
 

Hell stand der Vollmond am Himmel und tauchte Masyaf in ein bläulich/weißes Licht. Nicht eine Wolke war an dem sternenklaren Himmel zu sehen. Die große Festung lag stumm unter dem Nachthimmel. Trotz der späten Stunde, war Arsura noch immer mit dem Training beschäftigt. Sie schnaufte angestrengt. Schweiß lief ihr über die Stirn. Die Hände waren aufgeschürft, ihre Robe staubig von den vielen Stürzen und sie hatte das Gefühl jeden Muskel und jeden Knochen dreimal zu spüren.

„Einmal noch… Dann kann ich es“ sagte sie atemlos.

Wieder begab sie sich in Position, nahm Anlauf und bewältigte den Parcours nahezu fehlerfrei. Hin und zurück. Und jetzt zahlten sich die qualvollen letzten Stunden endlich aus. Vollkommen fertig, aber zufrieden und glücklich, machte Arsura sich auf den Rückweg zur Festung. Sie schlich durch die gespenstisch ruhigen Gänge und achtete darauf, nicht von einer Wache erwischt zu werden. Von Sait hatte sie erfahren, dass Novizen in ihrem Alter nicht mehr zu so einer späten Stunde unterwegs sein durften. Leise öffnete Arsura die Tür zu dem Zimmer, das sie sich mit Malik, Altair und Sait teilte und huschte hinein. Urplötzlich gaben ihre Beine nach und sie fiel der Länge nach polternd auf den Boden. Sie sah auf und bemerkte, dass sich rechts von ihr etwas regte. Sie hörte das Rascheln einer Decke, die zurückgeschlagen wurde, dann wurde ein kleines Licht entflammt und zündete den Docht einer Öllampe an, die ihren orangefarbenen Lichtkegel ausbreitete. Arsura erkannte Altair, der auf sie zugelaufen kam und sich neben ihr auf den Boden kniete.

„Arsura, alles in Ordnung?“ fragte er.

„Nicht ganz“ gab sie matt zurück.

„Hilfst du mir hoch?“

Altair nickte, packte sie am Arm und zog sie hoch. Er legte ihren Arm um seinen Nacken, als er merkte, dass sie sich aus eigener Kraft kaum noch auf den Beinen halten konnte. Arsura ließ sich auf ihr Bett bugsieren und atmete tief durch. Altair stellte die Öllampe auf den Tisch und musterte das Mädchen.

„Du bist verletzt“ stellte er fest, als er auf Arsuras Handflächen sah.

Vorsichtig besah er die Verletzungen und sie zuckte schmerzhaft weg.

„Damit solltest du zum Arzt gehen“ sagte Altair schließlich.

„Nein. Halb so wild“ beschwichtigte Arsura matt.

„Wo sind denn die anderen?“

„Mit den Älteren zur Nachtwache eingeteilt“ antwortete Altair.

Arsura sah ihm in die sandfarbenen Augen und wusste, dass er es nicht dabei bewenden lassen würde. Die Wunden an ihren Handflächen waren tief und könnten sich entzünden. Genau deshalb würde Altair auch nicht locker lassen.

„Ich hole eine Wache. Sie soll dich dann zum Arzt bringen. Warte kurz hier. Ich bin gleich wieder da“ sagte er und ging aus der Tür.

Arsura wollte ihm noch etwas hinterherrufen, doch sie sah ein, dass das keinen Sinn hatte. Außerdem meinte Altair es nur gut mit ihr. Jetzt, da Arsura einen Moment saß und zur Ruhe kam, merkte sie, wie erschöpft sie überhaupt war. Ein seltsames Schwindelgefühl machte sich in ihr breit, aber sie versuchte es zu ignorieren. Kurze Zeit später kam Altair mit einem Assassinen, der Wache hatte zurück. Arsura stand auf, wollte Altair und der Wache sagen, dass alles in Ordnung war, doch dazu kam sie nicht mehr. Das Schwindelgefühl von eben überrumpelte die 13-jährige und ihr wurde schwarz vor Augen. Unkoordiniert taumelte sie einen Schritt zur Seite und brach zusammen. Der schmerzhafte Aufprall war das letzte, was sie merkte, bevor sie das Bewusstsein verlor.
 

Leises Vogelzwitschern drang an Arsuras Ohren. Sie amtete tief ein, versuchte den angenehmen Geruch zu definieren, der ihr in die Nase stieg, doch ein stechender Schmerz in ihrem Brustkorb hielt sie davon ab. Langsam öffnete sie die Augen. Das helle Licht blendete sie im ersten Moment, aber als sie ein zweimal geblinzelt hatte, ging es. Sie sah sich um und als sie nach rechts blickte, sah sie Sharif, der sie besorgt musterte.

„Arsura? Hörst du mich?“ fragte er leise.

„Vater“ murmelte sie zurück.

Sharif lächelte und blickte nach vorne, als er Schritte vernahm. Arsura blickte in die Richtung und sah den netten Doktor, bei dem sie gestern schon gewesen war.

„Du bist wach. Sehr schön. Wie fühlst du dich?“ fragte er sie freundlich.

„Nicht gut. Mir tut alles weh“ gab Arsura wahrheitsgemäß zu.

„Das wundert mich nicht. Du hast zahlreiche Prellungen und Schürfungen. Eine deiner Rippen ist angebrochen, aber ich habe alles stabilisiert und es wird verheilen“ sagte der Mann optimistisch.

„Was hast du überhaupt gemacht?“ wollte Sharif wissen.

Arsura seufzte leicht und richtete sich vorsichtig ein Stückchen auf. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Hände komplett einbandagiert waren. Auch ein unflexibler Verband saß um ihren gesamten Brustkorb und ihre Beine wollten nicht so richtig, aber sie setzte sich hin und sah zu ihrem Ziehvater.

„Du kennst doch den Parcours etwas unterhalb der Festung, auf dem man Messerwerfen üben kann, oder? Ich hab die ganze letzte Nacht damit zugebracht darauf zu trainieren“ erzählte sie.

„Ah. Das erklärt natürlich deinen Zusammenbruch. Du hast dich körperlich total verausgabt“ meinte der Arzt nun.

„Arsura. Es ist doch keine Schande, wenn du diesen Parcours nicht auf Anhieb meisterst. Er ist sehr anspruchsvoll“ sagte Sharif und seufzte leicht.

„Ich weiß. Aber, jeder andere aus meiner Gruppe hat es hinbekommen, nur ich nicht. Das hat mich ziemlich frustriert, also hab ich alles daran gesetzt, es hinzukriegen und ich habe es geschafft“ erklärte Arsura.

„Ja, aber zu welchem Preis? Du wirst die nächsten Tage ausfallen, soviel steht fest“ sagte Sharif.

Arsura seufzte. Ja, vielleicht hätte sie es nicht so übertreiben sollen, aber das war es ihr wert gewesen.

„Ich denke, du solltest dich jetzt ausruhen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst. In den nächsten Tagen sollte das Schlimmste überstanden sein. So lange solltest du allerdings hier bleiben“ sagte der Arzt dann.

Arsura nickte.

„Doktor, sagt mir bitte Bescheid, wenn sich etwas ändert“ meinte Sharif nun und stand auf.

„Selbstverständlich“ sagte der Mann freundlich.

„Wir sehen uns später, Arsura. Ich muss jetzt erst einmal weiter“ wandte sich Sharif an die Braunhaarige.

„Natürlich, Vater. Bis dann“ verabschiedete sie sich.

Sharif lächelte leicht, verabschiedete sich von ihr und ging. Arsura sah in den hellen Himmel. Sie atmete tief durch und fragte sich, was die kommende Zeit wohl bringen würde…

Prüfung

Es war früh an diesem Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber helle Schweife am Horizont kündigten den bevorstehenden Sonnenaufgang an. Leise schlich die 17-jährige durch den Raum, bedacht darauf, ihre schlafenden Zimmergenossen nicht zu wecken. Sie zog sich ihre Hose an und schlüpfte in ihre Stiefel hinein. Dann schnallte sie sich den Ledergürtel um ihren Bauch und steckte das Schwert in die Scheide. Anschließend prüfte sie ihre Ausrüstung und war drauf und dran, das Zimmer zu verlassen, als sie jemand aufhielt.

„Morgen, Arsura“ flüsterte leise jemand neben ihr.

Die Angesprochene drehte sich um.

„He, Sait. Schon wach?“ fragte sie ebenso ruhig.

„Ja. Wo willst du hin?“ fragte Sait nach.

„Ausreiten. Willst du mit?“

Sait nickte. Arsura hatte so ein komisches Gefühl von Déjà-vu. Das gleiche Gespräch hatte sie vor fast zehn Jahren mit ihrem Vater geführt, als sie ihn morgens einmal gehört hatte. Leicht lächelte sie.

„Ich warte draußen“ sagte sie dann.

„In Ordnung. Ich komme gleich“ meinte Sait.

Arsura verließ den Raum und wartete vor der Tür. Es dauerte nicht lange, bis ihr bester Freund ebenfalls aus der Tür trat. Die beiden liefen schweigend durch die Festung, denn es schliefen noch schließlich alle und sie wollten niemanden wecken.

„Und? Wo wollen wir hin?“ fragte Arsura.

„Ich weiß nicht. Vielleicht wieder an die schöne Oase von neulich?“

„Das klingt gut.“

Arsura war größer geworden und sie hatte aufgrund ihrer Ausbildung zum Assassinen einen gestählten, aber schmalen Körper bekommen. Der Schliss, den sie damals von Abbas abgekriegt hatte, war nur noch eine helle weiße Narbe unter ihrem rechten Auge und fiel nicht sehr auf. Die kindlichen Gesichtszüge waren verschwunden und weiblichen Zügen gewichen.

„Heute werden die nächsten Prüflinge bekannt gegeben. Ich bin mal gespannt, ob wir dabei sind“ meinte Sait, als sie beide an den Ställen ankamen.

„Ja, es wäre auf jeden Fall für mich ein besonderes Ereignis“ stimmte Arsura ihm zu und ging direkt in Kadirs Box.

Der Hengst begrüßte sie mit einem leisen schnorchelnden Geräusch und trat auf seine Besitzerin zu. Sie streichelte ihm sanft über die Stirn und lächelte leicht.

„Na komm, Kadir. Lass uns den Wind spüren“ flüsterte sie ihm zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Sait ging zu seiner Stute und putzte sie erst noch ein wenig, bevor er sie aufsattelte. Sein Pferd hatte eine hübsche schokobraune Farbe und tiefschwarze Mähne. Arsura hatte von ihm schon gehört, dass sie manchmal etwas schwierig war. Afya war nun mal eine richtige Dame. Die beiden sattelten ihre Pferde und führten sie aus dem Stall. Am Palisadentor angekommen begrüßten sie kurz die Wachen, zogen sich ihre Kapuzen über, verließen das Dorf und stiegen auf. In einem ruhigen Trab ging es los. Die Morgendämmerung schritt voran, als die beiden Novizen sich auf den Weg zu der schönen, abgelegenen Oase machten. Dort waren sie schon öfter in letzter Zeit gewesen. Arsura bremste Kadir und auch Sait blieb mit seinem Pferd stehen. Verschmitzt grinste Arsura ihn an.

„Ein kleines Rennen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen?“ fragte sie.

„Natürlich“ nickte Sait.

Die beiden stellten sich nebeneinander und galoppierten auf drei an. Kadir und Afya fegten über den kargen Boden hinweg, ihre Hufe klapperten ab und an laut auf den Steinen. Als Arsura in Führung war, ließ sie Kadir die Zügel lang, breitete die Arme aus und genoss einen Moment das Gefühl der Unbeschwertheit. Tief atmete sie die frische Morgenluft ein. Kadir galoppierte schnell und gleichmäßig unter ihr. Arsura nahm die Zügel wieder auf, als sie einen umgestürzten Baum von weitem sah und sprang mit ihrem Pferd gekonnt darüber. Bis zur Wasserstelle war es nicht mehr weit. Kadir nahm die letzten Meter in einem atemberaubenden Tempo. Als sie an der Oase ankam, bremste sie den weißen Hengst und drehte sich um. Sait kam mit seiner Stute angaloppiert und bremste sie ebenfalls, als er da war.

„Nicht schlecht. Kadir ist wirklich schnell. Afya kommt nicht wirklich hinterher“ sagte Sait und stieg ab.

Arsura tat es ihm gleich und sie beide banden ihre Pferde an eine Palme, die über der schönen Wasserstelle Schatten spendete, fest. Entspannt setzte Arsura sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen zweiten Baum.

„Was ein schöner Morgen“ seufzte sie.

„Stimmt. Vor allem haben wir heute keinen Zeitdruck“ stimmte Sait ihr zu und setzte sich ebenfalls.

Eine ganze Weile saßen die beiden schweigend beieinander, dann ergriff Sait erneut das Wort.

„Kann ich dich mal was fragen?“

Arsura nickte leicht.

„Nur zu.“

„Wo kommst du eigentlich her?“ fragte Sait.

„Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen“ antwortete Arsura wahrheitsgemäß.

„Wie meinst du das?“

„Ich kann mich an nichts erinnern, bevor ich im Alter von Sieben Jahren nach Masyaf gebracht wurde. Ich wünschte, ich könnte, denn manchmal plagt mich diese Ungewissheit wirklich. Wo komme ich her? Wie ist mein richtiger Name? Wer waren meine richtigen Eltern? Das sind alles Fragen, auf die ich bis heute keine Antwort gefunden habe. Natürlich sind Sharif und Ayasha für mich wunderbare Eltern und das Leben, welches ich in den letzten Jahren hatte, würde ich auch nicht mehr hergeben wollen. Vielleicht finde ich eines Tages heraus, wer ich bin. Aber, das wird nichts an meiner Treue zu Masyaf und unserer Bruderschaft ändern. Für euch alle werde ich immer Arsura bleiben, egal was passiert und wer ich wirklich bin“ erklärte die Braunhaarige nachdenklich.

„Ich kann mir nicht richtig vorstellen, was in dir vorgeht. Das muss hart für dich sein“ sagte Sait.

„Ja, schon. Aber, mittlerweile habe ich mich damit abgefunden“ erwiderte Arsura.

„Dennoch warte ich darauf, dass sich mein Gedächtnis wieder erholt. Egal, was passiert ist, es muss so traumatisch gewesen, dass ich es einfach vergessen hab.“

„Wie kommst du darauf, dass es traumatisch gewesen sein muss?“ fragte Sait verwirrt.

„Unser netter Doktor hat mir erklärt, als ich ihn danach fragte, dass unser Gehirn manchmal Erinnerungen, die sehr schlimm waren, einfach verdrängt und wegsperrt. So etwas hat er auch ab und an bei Assassinen, die sich nicht mehr erinnern können, was sie denn getan haben. Es ist eine Art Schutzmechanismus, der verhindert, dass man völlig den Verstand verliert“ antwortete sie.

„Ja, von dem Phänomen habe ich auch schon gehört“ sagte Sait leise.

„Ich weiß, dass das bei Ilai schon vorkam. Vater hat es mir erzählt. Das ist noch gar nicht so lange her, wenn ich mich nicht irre“ sagte Arsura mitfühlend.

„Er konnte nicht mal mehr genau sagen, was er getan hatte. Als es ihm wieder einfiel, stand er völlig neben sich“ erzählte Sait.

„So geht es mir, nur mit dem Unterschied, dass ich gar nichts weiß und es mir auch nicht einfällt. Aber manchmal… träume ich von einer großen schönen Blumenwiese, wohinter ein See ist. Das Wasser glitzert im Sonnenschein und auf den Blüten tummeln sich so viele Schmetterlinge, dass man sie gar nicht zählen kann“ sagte Arsura und blickte auf das Wasser vor sich.

Sait stand auf.

„Wollen wir zurück?“ fragte er sie.

„Jetzt schon? Frühstück kann warten. Ich hab jetzt noch keinen Hunger“ erwiderte die Braunhaarige.

„Nein, es geht mir auch um die Listen. Bis wir zurück sind, hängen sie bestimmt schon. Und mich würde wirklich interessieren, ob ich dieses Mal zur Prüfung zugelassen bin“ entgegnete Sait.

„Altair hat es letztes Mal geschafft. Ich hab hart gearbeitet, um die Prüfung schon früher ablegen zu können, aber an sein Talent komme ich nicht heran“ meinte Arsura.

„Aber, na gut. Lass uns zurückreiten. Ich bin auch gespannt.“

Sie ging zu Kadir und band ihn los. Dann schwang sie sich auf den Rücken des Hengstes. Auch Sait stieg auf Afya auf. Er und Arsura machten sich auf den Rückweg.

„Weißt du eigentlich, wie die Prüfungen ablaufen?“ wollte Sait wissen.

„Nein. Und darüber wird auch eisern geschwiegen. Die Novizen sollen sich nicht darauf vorbereiten können“ erwiderte Arsura.

„Zumindest hat mein Vater es mir so erzählt.“

„Klingt eigentlich logisch. Wenn wir später in verschiedenen Städten sind, um unsere Aufträge auszuführen, wissen wir auch nicht, was uns erwartet“ stimmte Sait ihr zu.

Arsura konnte sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen.

„Und genau das macht es erst interessant“ meinte sie.

Die Braunhaarige ließ ihren weißen Hengst angaloppieren. Sait war einen Moment verwirrt, schloss sich ihr dann aber an und folgte Arsura mit Afya im selben Tempo. Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden wieder in Masyaf ankamen. Vor dem Eingang zum Dorf stiegen sie von ihren Pferden ab und brachten sie anschließend in die Stallungen. Dann gingen die beiden Novizen hoch zu der prunkvollen Festung.

„Ich will mal schauen, ob Malik schon wach ist“ sagte Arsura dann und ging nach rechts, um sich in Richtung des Zimmers zu begeben.

„Ich warte hier“ meinte Sait.

Arsura nickte kurz und lief die Treppe hoch. Als sie vor der Zimmertür stand, klopfte sie an. Kurz darauf hörte sie ein „Herein“ und betrat den Raum.

„Guten Morgen“ begrüßte Arsura ihren besten Freund.

Malik gähnte herzhaft.

„Morgen. Du bist schon auf?“ fragte er.

„Ja, seit ein zwei Stunden etwa. Ich war mit Sait ausreiten. Wir sind nur schon wieder da, weil wir wissen wollen, wer zur Prüfung zugelassen ist“ entgegnete sie.

„Ach ja. Stimmt. Heute ist es ja soweit“ murmelte Malik.

Arsura nickte zustimmend.

„Kommst du dann zum Frühstück?“ fragte sie.

Malik nickte.

„Klar. Geht schon mal vor.“

Arsura lächelte leicht und verließ das Zimmer. Sie ging zurück zu Sait und sagte ihm Bescheid. Das Frühstück verlief eher schweigend und die Anspannung war schon fast greifbar. Viele der Novizen hier, hofften endlich ihre Chance zu bekommen. Nach dem Essen machte Arsura sich mit Malik und Sait auf den Weg in die Bibliothek. Dort sollten die Listen ausgehängt werden. Ungeduldig warteten die drei darauf und dann endlich kam einer der Ausbilder um die Ecke. Er bat die unruhigen Novizen still zu sein und rollte das Pergament in seinen Händen aus.

„In drei Tagen ist die Prüfung. Und dazu zugelassen sind…“

Er las eine Reihe von Namen vor und als Arsuras Name auch darunter war, klappte ihr der Mund erstaunt auf. Malik und Sait wurden auch genannt. Ungläubig sah sie zu den beiden.

„Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe“ meinte sie.

„Du hast dich in den letzten Jahren auch wirklich bewährt, Arsura. Dafür, dass du vor vier Jahren dazu gekommen bist und einiges nachzuholen hattest, hast du dich gut geschlagen“ sagte Malik pragmatisch.

„Es war auch nicht einfach. Aber, jetzt da es endlich so weit ist, wird sich auch mein Vater freuen, von meinem Erfolg zu hören“ erwiderte sie lächelnd.

„Ja, Sharif wird sich wirklich freuen. Wurde er nicht kürzlich zum Meisterassassinen befördert?“ fragte Sait interessiert.

Arsura nickte zustimmend.

„Ja, wurde er. Und eines Tages komme ich auch so weit. Ich will ihm gleich sagen, dass ich in drei Tagen bei der Prüfung dabei bin. Also, nehmt es mir nicht übel, wenn ich mal kurz verschwinde.“

„Kein Problem. Bis später“ sagte Malik und winkte ihr kurz zu, als sie sich umdrehte und zum Gehen ansetzte.

Arsura konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sie konnte kaum glauben, dass sie wirklich die Chance bekam, zum Assassinen aufsteigen zu können. Als sie die Festung verlassen hatte, sprintete sie auf die Dächer zu, erklomm die Wand und kletterte zügig daran hoch. Als sie auf dem Dach stand genoss sie einen Moment die Aussicht auf das Dorf, das unter ihr lag. Die Menschen liefen geschäftig durch die staubigen Gassen, es herrschte reges Treiben an diesem Morgen. Arsura riss sich von dem schönen Panorama los, sprang auf das Dach unter ihr und dann auf den Boden. Dabei wurde sie von den Passanten ein wenig schräg angesehen, aber daraus machte sie sich schon lange nichts mehr. Vor ihr fehlte ein Teil der Steinmauer, die den Hang abgrenzte. Arsura ging auf den Vorsprung zu und sah hinab. Jemand hatte Heu darunter aufgeschichtet. Sie lächelte, drehte sich um und nahm Anlauf. Mit beiden Füßen gleichzeitig stieß sie sich an der Felskante ab und breitete leicht die Arme aus, als wollte sie davon fliegen. Sie spürte, wie es abwärts ging, drehte sich im Flug um und landete rücklings, so wie sie es gelernt hatte, in dem weichen Heu. Schnell stieg sie aus dem Haufen und klaubte das Stroh aus ihrer Kleidung. Arsuras blaue Augen blickten nach oben, an die Stelle, an der sie sich eben in die Tiefe gestürzt hatte. Diese ‚Todessprünge‘ wie sie hier genannt wurden, waren immer sehr befreiend. Zufrieden lief sie zu dem Haus ihrer Zieheltern. Sie konnte es kaum erwarten ihnen zu erzählen, was auf sie zukam.

„Vater? Mutter? Seid ihr da?“ fragte sie, während sie anklopfte.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und Ayasha stand im Rahmen. Sie umarmte Arsura lächelnd.

„Hallo, Arsura. Wieso bist du hier? Hast du heute keinen Unterricht?“ fragte die Schwarzhaarige interessiert.

„Nein, heute nicht. Ist Vater auch da?“ wollte Arsura wissen.

Ayasha nickte.

„Komm rein.“

Die beiden gingen in das Haus und trafen dort am Tisch auch Sharif an.

„Vater, ich habe tolle Neuigkeiten“ platzte es aus der Braunhaarigen heraus.

Sharif runzelte die Stirn. Was konnte denn passiert sein, dass Arsura so eine wunderbare Laune hatte?

„Darf man auch erfahren, um was es sich handelt?“ fragte der frisch beförderte Meisterassassine interessiert.

„Natürlich. Ich bin für die kommende Prüfung zum Assassinen in drei Tagen zugelassen. Sie haben heute die Liste vorgelesen und ich bin auf jeden Fall dabei“ sagte Arsura glücklich.

„Das freut mich“ meinte er, aber es klang nicht so.

„Vater, was ist los? Ich dachte, du freust dich, wenn ich es schaffe aufzusteigen“ sagte Arsura skeptisch.

„Ja, es freut mich schon, dass du es so weit geschafft hast, aber… Arsura, die Prüfung ist etwas, dass ich selbst nicht gemacht hätte, wenn ich damals gewusst hätte, was passiert. Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, aber es ist mir verboten darüber zu sprechen“ erklärte Sharif und seufzte schwer.

Arsura setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Was willst du damit sagen?“ wollte sie wissen.

„Wie gesagt, ich darf nicht darüber sprechen. Aber, denke einmal darüber nach, was noch zum Leben eines Assassinen dazugehört“ meinte Sharif nun.

Arsura sah ihn fragend an.

„In drei Tagen weiß ich mehr. Egal, was diese Prüfung beinhaltet, ich werde es schaffen“ meinte sie zuversichtlich.

„Ich zweifle auch nicht daran“ lächelte Sharif zurück.

„Ob du das dann mit dir selbst vereinbaren kannst, steht auf einem anderen Blatt.“

Sharif stand auf, ging zu ihr, klopfte ihr auf die Schulter und drehte sich dann mit einem undefinierbaren Blick weg, bevor er das Haus verließ. Immer noch verwirrt und auch ein wenig beunruhigt sah Arsura Sharif hinterher. Was er wohl damit gemeint hatte? Ayasha ging zu ihrer Ziehtochter und sah sie mitfühlend an.

„Was hat Vater damit gemeint? Wieso sollte ich das nicht mit mir vereinbaren können?“ wollte Arsura wissen.

Ayasha seufzte schwer.

„Als dein Vater damals von der Prüfung zurückkam, habe ich ihn im ersten Moment nicht wiedererkannt. Er war aschfahl im Gesicht, stand völlig neben sich und ich habe ewig gebraucht von ihm zu erfahren, was passiert ist. Erst als er es mir unter Tränen beichtete, wurde mir klar, dass dieses Leben als Assassine auch sehr grausam sein kann“ erzählte Ayasha.

„Mutter, sprich mit mir. Was ist passiert?“ hakte Arsura ungeduldig nach.

„Eigentlich darf es dir nicht sagen, aber es ist besser, wenn du es weißt. Bei seiner Prüfung musste Sharif einen Menschen töten. Und das schlimme daran war, das es nicht irgendwer war, sondern einer seiner besten Freunde. Die Novizen werden nach Leistung eingeteilt und je nachdem wie stark oder schwach man ist, bekommt man einen entsprechenden Gegner zugeteilt. Sharif, der einer der Jahrgangsbesten war, musste gegen seinen besten Freund antreten, da dieser nicht den Anforderungen entsprach. Sharif erzählte mir, dass er dazu gezwungen wurde, denn hätte er es nicht getan, hätte er seine Ehre und die der Bruderschaft beschmutzt und wäre selbst hingerichtet worden, wegen der Verweigerung eines Befehls. Sharif wollte nicht in Schande sterben, deswegen hat er es getan und es ist ihm nicht leicht gefallen“ erzählte Ayasha traurig.

Arsura sah sie entsetzt an. Sie bekam im ersten Moment keinen Ton mehr heraus.

„Auch du wirst gezwungen werden, jemanden zu töten, den du kennst. Wenn du es nicht schaffst, stirbst du und wenn du es schaffst, kannst du es wahrscheinlich nur schwer mit dir vereinbaren. Deswegen war Sharif auch gerade eben so bedrückt. Er möchte nicht, dass du denselben Schmerz spürst, wie er damals“ sagte die Schwarzhaarige.

„Ich… ich kann nicht mehr zurück. Die Prüflinge stehen fest und ich bin unter ihnen. Ich muss antreten, ob ich will oder nicht“ murmelte Arsura leise.

„Noch kannst du es abbrechen. Töten gehört dazu, wenn man ein Assassine ist, aber normalerweise tötet ihr Leute, die ihr nicht kennt. Al-Mualim ist in dieser Hinsicht wirklich grausam, seinen Schülern so etwas anzutun. Man könnte das Argument, dass sie es so am besten lernen, aber das ist schwachsinnig. Er will nur ausgewählte Schüler zum Assassinen aufsteigen lassen. Jeder, der zu schlecht ist, stirbt“ sagte Ayasha betrübt.

Arsura schluckte hart. Die Wahrheit war wirklich grausam und jetzt konnte sie Sharifs Reaktion nachvollziehen. Sie hatte Glück, war eine der Besten in ihrer Gruppe und sie hatte Durchschlagsfähigkeit und keine Hemmungen. Trotzdem. Konnte sie einen Freund, Kameraden, Bruder töten? Jemanden, mit dem sie schon jahrelang zu tun hatte? Das konnte sie sich nicht vorstellen und trotzdem würde es so kommen.

„Keine Sorge, Mutter. Ich finde einen Weg, damit klar zu kommen. Wenn es sich so verhält, dann wird es eben so sein. Ich kann das genauso wenig aufhalten, wie die Sonne daran zu hindern unterzugehen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ich es schaffe“ meinte Arsura.

Fassungslos sah Ayasha sie an.

„Wie kannst du nur so reden?! Du wirst einen Menschen töten, den du kennst!“ platzte es aus Ayasha heraus.

„Nichts ist wahr und alles ist erlaubt“ erwiderte Arsura kalt.

Ayasha entgleisten die Gesichtszüge. Arsura schob das Kredo vor. Ihr schien ihr Aufstieg zum Assassinen wirklich so wichtig zu sein, dass sie dafür bereit war, über Leichen zu gehen.

„Denk an meine Worte, wenn es so weit ist. Du wirst deine Entscheidung bereuen, sobald du über einem deiner Brüder stehst und ihm in die verzweifelten Augen blickst, kurz bevor du gezwungen bist, ihn zu töten“ sagte Ayasha ernst.

„Keine Sorge, das werde ich“ erwiderte Arsura und stand auf.

„Ich gehe jetzt wieder hoch zur Festung. Wenn etwas ist, weißt du, wo du mich finden kannst.“

Ohne auf eine Antwort von Ayasha zu warten, verließ sie das Haus. Einen Moment lang, war sie entsetzt über sich selbst. Seit wann redete sie so daher? Woher kam diese plötzliche Kaltblütigkeit in ihrem Herzen? Die Erkenntnis, was bei der Prüfung passieren würde, war noch nicht ganz bei ihr angekommen – so schien es ihr zumindest. Arsura schüttelte den Kopf atmete tief durch und ließ den Blick schweifen. An einer Mauer, die den Hang zum Tal abgrenzte, sah sie Sharif. Der Meisterassassine stand davor und blickte hinunter. Er schien in Gedanken verloren zu sein. Der Wind wehte die langen weißen Schöße seiner Robe leicht nach rechts. Arsura ging langsam auf ihn zu.

„Vater?“

Sharif drehte sich zu ihr und lächelte leicht. Arsura musterte ihn mitfühlend.

„Deinem Blick nach zu urteilen, hat Ayasha dir erzählt, was damals passiert ist“ sagte er ruhig.

Arsura nickte.

„Ja. Und ich bin unschlüssig darüber, ob ich das über mich bringe. Ich meine, es ist nicht leicht, so etwas zu tun“ meinte sie nachdenklich und starrte hinab ins Tal.

„Ich sehe noch heute seinen Blick. Wie er mich leise anflehte, es nicht zu tun. Das kann ich einfach nicht vergessen“ sagte Sharif traurig.

„Das tut mir leid“ meinte Arsura mitfühlend.

„Ich wünsche mir nicht, dass du diesen Schmerz spürst, mein Kind. Dennoch, wenn du es so willst, kann ich dich nicht aufhalten“ entgegnete Sharif nun.

Arsura nickte verstehend und biss sich leicht auf die Unterlippe. Es würde dauern, bis dieser Gewissenskonflikt abriss.
 

Und er riss nicht ab. Drei Tage später war es dann so weit. Arsura hatte die letzten Nächte kaum geschlafen. Ihr innerer Konflikt wirkte sich stark auf ihr Gemüt aus. Malik und Sait waren ratlos, warum sie denn so schlechte Laune hatte. Arsura konnte es ihnen einfach nicht erzählen. An diesem Morgen stand sie völlig neben sich, hörte gar nicht, was ihre beiden Zimmergenossen zu ihr sagten.

„Arsura, hey! Hörst du mich?“ fragte Sait verwundert und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.

Arsura schrak auf.

„Was ist denn?“ fragte sie beiläufig.

„Kannst du uns mal erklären, warum du so komisch bist? Ich dachte, du freust dich auf Prüfung und jetzt ziehst du ein Gesicht, als würde die Welt untergehen“ meinte Sait.

„Es… ist nichts“ wimmelte Arsura ihn ab.

Sait schüttelte den Kopf.

„Irgendetwas muss doch los sein“ beharrte er weiterhin.

Malik stand von seinem Bett, auf dem er bis eben gesessen hatte, auf und ging auf Arsura zu. Er setzte sich neben sie und musterte sie besorgt.

„Sait, geh mal bitte raus“ sagte Malik ernst.

Sait fragte nicht weiter, sondern verließ das Zimmer. Arsura starrte weiter vor sich hin und schluckte schwer.

„Willst du mir wirklich nicht erzählen, was dich so bedrückt?“ fragte Malik mitfühlend.

Arsura schüttelte langsam den Kopf.

„Nein“ sagte sie gefasst.

„Du weißt, du kannst mir alles erzählen“ meinte Malik nun.

Arsura stand auf und sah ihn unruhig an.

„Werde ich auch. Aber, erst nach der Prüfung“ sagte sie schnell und wollte gehen, doch Malik sprang auf und packte sie am Arm.

Arsura drehte sich zu Malik um und er sah seine beste Freundin eindringlich an.

„Erzähl mir, was los ist. Ich möchte nicht, dass du mit so einem Kopf in die Prüfung gehst. So kannst du dich sowieso nicht konzentrieren“ beharrte Malik weiterhin.

„Es ist nichts, Malik“ beschwichtigte Arsura erneut.

Ihre blauen Augen sprachen genau das Gegenteil. Malik sah, dass irgendetwas in ihr vorging, das sie sehr beschäftigte, aber er konnte sich nicht vorstellen, was es war. Arsura war doch sonst nicht so übersensibel und unter Prüfungsangst litt sie garantiert nicht. Arsura sah zur Seite, wich seinem Blick aus und wollte gehen, aber Malik ließ sie nicht.

„Komm schon. Mach mir nichts vor. Du stehst doch völlig neben dir“ meinte er und seufzte leicht.

„Ich… ich kann es dir jetzt noch nicht sagen. Ich erzähle es dir nach der Prüfung. Vertrau mir, Malik. Ich schaff das schon“ sagte Arsura entschieden.

„Bist du dir sicher?“ fragte er skeptisch nach.

Sie nickte entschlossen.

„Gut. Wenn du meinst, dann lasse ich es erst mal dabei bewenden“ meinte Malik.

Arsura nickte dankend.

„Lass uns gehen“ sagte sie schließlich und verließ mit ihm das Zimmer.

Sait wirkte etwas ungeduldig, als die beiden aus der Tür traten.

„Kommt schon. Wir sind spät dran“ drängelte er ungeduldig.

Arsura hatte das seltsame Gefühl den Weg zum Galgen anzutreten, als sie sich mit Malik und Sait auf den Weg zu den anderen machte. Ein unbeschreiblich beklemmendes Gefühl hatte ihre ganze Magengegend im Griff. Und es wurde immer stärker. Die Novizen standen vor den großen Flügeltüren. Es würde das erste und auch einzige Mal sein, dass sie diesen Raum betreten würden. Arsura hörte die Worte des Mannes, der vorne stand überhaupt nicht. Mehr versuchte sie ihre Panik im Griff zu halten. Noch nie hatte sie sich in ihrem Leben gegen etwas so dermaßen gesträubt. Das Klacken der Tür ließ sie aus ihren Gedanken schrecken und sie sah nach vorne. Die schweren Türenflügel aus Holz wurden geöffnet und die Novizen setzten sich in Bewegung. Es ging eine Treppe hinunter, dann kam man zu einem relativ hohen Raum. Er war gut beleuchtet, das Licht der Sonne wurde mithilfe von Spiegeln hin und hergeworfen. In der Mitte befand sich ein Übungsplatz, der dem auf dem Innenhof glich. Überall waren eingetrocknete Blutflecke auf dem Boden des Platzes zu sehen. Arsura drehte sich kurz um, als sie hörte, wie die Türen geschlossen wurden. Sie atmete tief durch.

„Nun, es wird eisern darüber geschwiegen, was hinter diesen Türen geschieht. Und das aus gutem Grund. Kein Novize soll die Möglichkeit erhalten, sich auf diese Prüfung vorzubereiten, da es auch später nicht so sein wird, dass ihr euch auf alles vorbereiten könnt. Eure Aufgabe ist simpel und doch auf ihre Weise sehr schwer: Tötet euren Gegner“ erklärte der Mann, der die Prüfung leitete kühl.

Verwirrung ging durch die Reihen der Novizen. Dem Prüfer entging das nicht, deshalb wurde er konkreter.

„Wir haben euch nach eurer bisherigen Leistung eingeteilt. Die Schüler, die in diesem Jahrgang sehr gut waren, bekommen einen Gegner, der nicht diesen Anforderungen entspricht.“

Sait sah entsetzt zu Arsura. Hatte sie das vielleicht gewusst? War sie deshalb so seltsam in den letzten Tagen gewesen? Eine gespenstische Stille kehrte ein. Jeder wusste jetzt, aus was die Prüfung bestand.

„Naim Aziz und Arsura Antun Sa’ada bitte vortreten“ sagte der Prüfer dann.

Gedanklich flehte Arsura den Prüfer an, das nicht zuzulassen, aber ein anderer Teil von ihr brachte ihren Körper dazu, sich in Bewegung zu setzten und aus der Menge hervorzutreten, genauso wie der andere Novize, dessen Namen genannt wurde. Die beiden gingen zum Prüfer, der sie mit einer Geste dazu aufforderte, direkt zum Kampfplatz zu gehen. Arsura verdrängte ihr schlechtes Gewissen und versuchte sich auf das wesentliche zu konzentrieren. Mit einer eleganten Hockwende schwang sie sich über das Geländer und atmete tief durch. Der junge Novize ihr gegenüber sah entsetzt zu ihr. Arsura schluckte hart ihr Mitleid hinunter, denn davon durfte sie sich jetzt nicht unterkriegen lassen. Es war schlimm, ja. Aber notwendig. Wieso konnte sie so kaltblütig denken? Seit wann sperrte ihr Kopf alle Empfindungen und ließ sie tun was nötig war? Arsura schüttelte den Kopf leicht und zog sich ihre Kapuze über. Das machte ihre Schritte unvorhersehbarer als sonst. Dann holte sie ihr Schwert hervor und begab sich in Angriffsposition. Naim, der ihr gegenüber stand schlotterte vor Angst, aber auch er versuchte sich zu fassen und zog die Waffe aus der Scheide.

„Wenn ihr soweit seid, dann dürft ihr anfangen. Alles ist erlaubt“ sagte der Prüfer und seine Stimme hallte in dem relativ hohen Raum wider.

Arsura machte die ersten Schritte. Naim war viel zu nervös. Sein Schwertarm zitterte vor lauter Angst. Die Braunhaarige gestand es sich ungern ein, aber hier hatte sie leichtes Spiel. Naim hing an seinem Leben und aus der Verzweiflung heraus, griff er Arsura mit einem kämpferischen Schrei an. Die Attacke war offensichtlich. Arsura blockte den Schlag, nutzte die Blöße und ließ ihre linke Faust gegen seine Wange prallen. Naim wich zurück. Als er sich gefasst hatte, griff er erneut an. Sie seufzte unhörbar, blockte den Schlag erneut, trat ihm in die Kniekehle und schlug ihm erneut gegen sein Gesicht. Naim ging zu Boden. Arsuras Mimik war weder für Sait noch für Malik deutbar. Etwas hatte sich verändert, das sahen beide, aber sie konnten nicht definieren, was es genau war. Als Malik einen Blick auf Arsuras blaue Augen, die unter der Kapuze schlecht zu sehen waren, erhaschen konnte, wusste er, was es war. So einen kalten unbarmherzigen Blick hatte er bei ihr noch nie gesehen. Offenbar hatte sie ihre Panik der letzten Tage in den Kampf gelegt. Aber, unglaublich geschickt und passend. Wie eine Löwin umkreiste Arsura ihre Beute, gab ihm aber die Chance aufzustehen, bevor sie sich auf ihn stürzte. Alles andere wäre auch zu einfach.

„Ich erkenne sie nicht wieder. Was ist passiert? Warum ist sie auf einmal so eiskalt und berechnend?“ fragte Sait leise.

„Ich weiß es nicht“ gab Malik in derselben Tonlage zurück.

Harte Hiebe droschen auf das Schwert von Naim ein. Er wurde immer weiter zurückgedrängt. Verzweifelt versuchte er sich aus der Misere zu befreien, doch als er zurückschlug ließ er seine Deckung fallen. Arsura nutzte das aus und schlug ihr Schwert mit der scharfen Seite gegen seine Kniekehle. Ein widerliches Knacken war zu hören, als die Sehnen zerrissen und Naim erneut zu Boden ging. Er jaulte laut auf vor Schmerz und hielt sich das Bein. Als der erste Schock überwunden war, drehte er sich panisch auf die andere Seite und versuchte wieder aufzustehen. Arsura ging auf ihn und trat ihm das Schwert weg. Klirrend glitt es über den Boden und blieb außer Reichweite des verzweifelten Novizen liegen.

„Nein, tu mir nichts – bitte!“ flehte er weinerlich.

Arsura musterte ihn mit kalten blauen Augen und verengte diese leicht. Sie hielt ihr Schwert so, dass es mit der Klinge nach unten zeigte. Naim flehte sie weiterhin an, als sie ihr Schwert hob, um zuzuschlagen. Die Klinge glänzte im Licht als Arsura die Waffe etwas anhob und dann erbarmungslos zustach. Das Metall bohrte sich erbarmungslos in Naims Kehle. Er röchelte kurz und sah mit ausdruckslosen Augen an die Decke, dann war es still. Allgemeines Entsetzen über Arsuras Kaltblütigkeit machte die Runde, doch die junge Novizin ließ sich davon nicht stören. Irgendetwas war in ihr gebrochen, als ihre Schwertklinge den Hals des Novizen durchstoßen hatte. Es hatte einem anderen, starken Gefühl Platz gemacht. Sie ließ den toten Körper achtlos zurück und ging zum Prüfer.

„Herzlichen Glückwunsch. Damit hast du die Prüfung bestanden. Wenn du möchtest, kannst du gehen“ sagte der Mann anerkennend.

Arsura verneigte sich wortlos, drehte sich zur Seite, lief an den Novizen vorbei die Treppe hoch und verließ den Raum.

Erinnerung

Kapitel 6: Erinnerungen

 

Ein liebevolles Lächeln aus einem unscharfen Gesicht. Blaue Augen, aus denen Tränen tropften und die helle Haut benetzten. Dann etwas bedrohlich Glänzendes, das durch die Luft sauste. Ein verzerrter Schrei. Stille.
 

Heftig zuckte Arsura zusammen, als sie aus diesem seltsamen Traum erwachte. Sie richtete sich leicht auf. Ihr Herz klopfte heftig gegen ihre Brust und sie musste ihren flachen Atem erst einmal in den Griff bekommen.

Sait, der durch das plötzliche Aufschrecken von Arsura ebenfalls wach geworden war, wandte sich zu ihr.

„Alles in Ordnung?“ fragte er leicht verschlafen. Arsura nickte leicht.

„Ja, es geht mir gut“ antwortete sie.

Sait setzte sich auf und streichelte ihr vorsichtig über die helle Haut an der Schulter. Dann zog er sie sanft zu sich und küsste sie innig. Seit nun mehr als zwei Jahren waren die beiden ein Paar. Keiner wusste etwas davon und so sollte es auch bleiben. Hier, auf dem Heuboden in den Pferdestallungen hatten sie sich ein kleines Liebesnest letzte Nacht eingerichtet. Im weichen Stroh auf dünnen Decken waren sie gestern erschöpft eingeschlafen.

Die Assassinen-Prüfung lag schon lange zurück. Arsura war mittlerweile schon 25 Jahre alt und machte sich sehr gut. Malik und Sait hatten ihr damals verziehen, dass sie ihnen vorenthalten hatte, was in der Prüfung vorkam. Das lag schon so lange zurück, dass sie sich nicht mehr richtig daran erinnern konnte. Nur an dieses seltsame Gefühl konnte sie sich noch gut erinnern, als sie diesen Jungen damals tötete. Und ab und an bereitete es ihr Sorgen.

„Ich muss bald los“ murmelte Arsura leise, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten.

„Was hast du denn so wichtiges heute vor?“ wollte Sait interessiert wissen und beobachtete sie, als sie sich anzog.

„Meister Ilai hat mich gebeten ihm bei der Ausbildung der Novizen zu helfen, da er immer noch verletzt ist“ erklärte Arsura und zog sich währenddessen ihre Hose und das ärmellose Untergewand ihrer Assassinengewandung an.

„Dann würde ich mich an deiner Stelle etwas beeilen. Sie haben bestimmt schon angefangen“ meinte Sait banal, nachdem er kurz nach draußen geschaut hatte.

Arsura war verwirrt, aber auch sie blickte durch die viereckige Öffnung in der Holzwand und schaute zur Sonne. Diese war schon aufgegangen und hing über dem Horizont. Mit einem erschrockenen Laut schnappte sich Arsura ihre restlichen Klamotten und zog sich in Windeseile an.

Danach beugte sie sich über den Rand des Heubodens und pfiff einmal laut durch die Zähne. Der mittlerweile 15-jährige Kadir hob ruckartig den Kopf und wieherte laut.

„Kadir!“ sagte Arsura.

„Tür!“

Der Hengst hörte auf das Kommando, streckte den Hals über seine Boxtür und nahm den Riegel zwischen die Zähne. Es dauerte nicht lange, da hatte das Pferd die Tür geöffnet und lief in den Gang. Ein praktischer Trick, den Arsura dem Tier vor ein paar Jahren beigebracht hatte. Sharif war davon nicht sehr begeistert gewesen, denn anfangs stand der Hengst regelmäßig mitten in den Stallungen, doch im Laufe der Zeit hatte er gelernt nur die Tür aufzumachen, wenn man es ihm sagte.

Schnell kletterte Arsura die Leiter herunter, überprüfte, als sie unten angekommen war, dass alles saß und verschwand kurz in der Sattelkammer, um die Trense zu holen. Es dauerte nicht lange, bis Kadir das Geschirr auf dem Kopf hatte und seiner Besitzerin nach draußen folgte. Aus dem Stand sprang Arsura auf Kadirs ungesattelten Rücken.

Irgendwo zwischen Tür und Angel, rief sie Sait noch schnell ein „Bis später!“ entgegen, bevor sie das Pferd im Eiltempo antraben ließ.

Zum Glück war um diese Zeit noch nicht viel los im Dorf, sodass Arsura ihr Pferd streckenweise sogar galoppieren lassen konnte. Vor dem Eingang der Festung stieg die junge Frau von Kadir ab und schickte ihn wieder zurück in den Stall. Der Hengst kannte den Weg, deshalb machte sie sich keine Sorgen.

Schnellen Schrittes betrat Arsura die Festung und sah schon von weitem die jungen Novizen kämpfen.

„Meister Ilai!“ begrüßte sie ihn herzlich und verneigte sich leicht.

„Arsura. Du bist spät dran. Geh und hol deine Ausrüstung. Ich möchte den Jungs heute noch etwas beibringen“ meinte er nur.

Sie nickte, lief hoch in das große Gebäude und dort in die Waffenkammer, um ihr Schwert, ihr Kampf-, sowie ihre Wurfmesser zu holen.

Noch wusste sie schließlich nicht, was Ilai vorhatte, deshalb war sie besser beraten, einfach alles mitzunehmen. Seit einigen Jahren hatte Arsura ein neues Schwert. Es war eine Sonderanfertigung und ihr Ziehvater hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt.

Der Knauf war vergoldet und stellte eine fauchende Löwin dar, das Leder am Griff war schwarz. Die Parierstange war ebenfalls vergoldet und war als Pranken des edlen Raubtiers dargestellt. „Die Löwin aus Masyaf“ – ein Titel den ihr ihr unberechenbarer und heftiger Kampfstil im Laufe der Zeit eingebracht hatte.

Arsura lief wieder zurück zum Kampfplatz. Sie ging direkt auf Ilai zu.

„Was macht Euer Arm?“ wollte sie interessiert wissen.

Ilai lächelte leicht. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich mit einem seiner Brüder ein heftiges Duell geliefert und sich dabei Elle und Speiche im Unterarm gebrochen. Seitdem musste er regelmäßig erfahrene Assassinen bitten, ihm beim Training zu helfen.

Arsura war begeistert von der Bitte und hatte sich sofort bereit erklärt bei der Ausbildung zu helfen. Natürlich waren die jungen Novizen anfangs nicht sehr erfreut, von einer Frau unterrichtet zu werden, aber Arsura hatte sie schnell eines Besseren belehrt. Seitdem wagte es keiner mehr ihr Können in Frage zu stellen.

„Es wird besser. Der Doktor meinte in zwei bis drei Wochen könnte ich wieder mit leichtem Training beginnen“ erklärte er.

Arsura lächelte.

„Das klingt gut. Nun, was soll ich unseren Novizen heute beibringen?“ wollte sie wissen.

„Sie sollen die Konterangriffe lernen. Da ich nicht kann und sie es erst mal vorgeführt bekommen sollen, habe ich Abbas gebeten auch gleich vorbei zu kommen und dir als Kampfpartner zur Verfügung zu stehen“ sagte Ilai.

Arsura unterdrückte ein entnervtes Aufseufzen. Abbas also. Na das konnte ja was werden. Dass sie ihn nicht leiden konnte, war maßlos untertrieben. Arsura hasste ihn einfach.

Ihre Feindschaft war in den letzten Jahren noch schlimmer geworden. Erst vor ein paar Tagen waren sie sich wieder an die Gurgel gesprungen und hatten sich geprügelt. Arsura war froh darüber, körperlich so fit und koordiniert zu sein, denn ansonsten wäre sie nicht mit nur blauen Flecken davon gekommen. Gegen keinen anderen Assassinen hegte sie so einen Groll, wie gegen ihn.

Und es wurde immer schlimmer. Außerdem war sie von den letzten Tagen, in denen sie viel unterwegs gewesen und trainiert hatte ebenfalls ziemlich erschöpft und auch leicht angeschlagen. Deshalb hatte sie sich eigentlich auf eine ruhige Trainingsstunde gefreut. Doch, daraus sollte nichts werden.

„In Ordnung“ meinte sie schließlich.

Es dauerte nicht lange, da tauchte Abbas auch schon auf. Argwöhnisch musterte er die junge Frau. Ilai wandte sich zwischenzeitlich an seine Schüler und erklärte ihnen den Ablauf. Dann bat er Arsura und Abbas um eine Vorführung. Arsura schaute kurz zu Abbas, der bereits auf den eingezäunten Trainingsplatz zulief. Sie atmete tief durch und folgte ihm. Arsura schlich sich ein seltsames Gefühl von Déjà-vu auf.

„Ich bitte euch beide, dass ihr den Novizen ein paar Konterangriffe vorführt. Sie sollen es dann später nachmachen“ meinte Ilai nun, aber er hatte noch keine Ahnung, was es bedeutete die beiden ausgebildeten Assassinen aufeinander loszulassen.

Von den Streitigkeiten zwischen Arsura und Abbas wusste er nichts. Arsura atmete tief durch und zog ihre weiße Kapuze über, während Abbas sich schon in Kampfstellung begab.

Arsura beschlich ein ganz mieses Gefühl. Nicht, dass sie vor ihm Angst hatte, aber sie ahnte wie das enden würde. Und dann griff Abbas an. Unerwartet und plötzlich. Arsura hatte nicht einmal Zeit ihr Schwert zu ziehen und wehrte deshalb die flache Seite der Klinge mit der Handfläche ab. Dann zog sie schnell ihr eigenes Schwert und wehrte den erneuten Hieb ab. Die Schwertklingen schlugen klirrend aufeinander.

„Abbas, hör auf!“ herrschte Arsura ihn entnervt an.

„Wieso? Hast du Angst gegen mich zu verlieren?“ wollte er arrogant wissen.

„Lass den Mist! Wir sind hier um zu trainieren!“ widersprach sie entnervt.

Abbas schlug abermals zu und durchbrach ihre Deckung. Arsura war darauf nicht vorbereitet und als ihr Schwert oben an dem von Abbas gehalten wurde, trat er ihr in den Bauch. Mit einem erschrockenen Laut ging Arsura zu Boden. Zum Glück verlor sie das Schwert nicht, aber es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder auf die Beine richtete.

Die Blutergüsse schmerzten. Abbas wusste aber auch genau, wo er treffen musste, um ihr richtig weh zu tun. Arsura hörte nur, wie Ilai etwas sagte, aber wirklich verstehen konnte sie ihn nicht. Sie war viel zu sehr mit der Situation beschäftigt.

Arsura kam nicht dazu, ihre Kampfhaltung einzunehmen, denn Abbas griff sie erneut ein. Mit dem Schwertknauf schlug er ihr vor den Brustkorb und dann mit der linken Faust gegen den oberen Wangenknochen. Arsura ging erneut zu Boden und rang nach Luft.

„Abbas, genug! Ich denke, das sollte reichen“ meinte Ilai nun.

Arsura ächzte und atmete hörbar ein. Dann stand sie erneut auf. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen.

„Tse… Ich hab es dir schon immer gesagt. Du hast in der Bruderschaft nichts verloren“ sagte Abbas herablassend.

Blitzschnell zog sie ein Wurfmesser hervor und war es nach Abbas. Es streifte ihn an der Wange, flog zielgenau zwischen den Köpfen zweier Novizen hindurch und blieb im Geländer der Treppe, die zur Burg hinauf führte stecken.

„Lass den Mist!“ fauchte sie ihn mühsam an und hielt sich die rechte Seite.

Ilai war perplex – mindestens so sehr wie Abbas, der immer noch wie angewurzelt dort stand und dem das Blut von der Wange tropfte. Arsura kletterte mühselig über das Geländer. Offensichtlich hatte sie sich jetzt richtig wehgetan.

Ilai bemerkte das und wies beiläufig einen der Novizen an, Arsura doch bitte zum Doktor zu begleiten. Dieser nickte und befolgte die Bitte.
 

Es vergingen einige Stunden. Sait war zwischenzeitlich hoch zur Festung gelaufen und als er seinen Vater Ilai alleine am Kampfplatz angetroffen hatte, fragte er verwirrt nach Arsura. Er erklärte seinem Sohn, was passiert war. Sait schluckte seinen Zorn herunter. Er konnte sich gut vorstellen, was passiert war.

„Wo ist sie jetzt?“ wollte Sait wissen.

„Arsura hat vorhin vorbei geschaut und gemeint, dass sie sich laut Aussage des Doktors vorerst schonen soll. Sie müsste in der Bibliothek sein. Zumindest hat sie das gesagt“ erzählte Ilai.

Sait nickte und bedankte sich, dann machte er sich auf den Weg. Tatsächlich traf er seine Freundin in der Bücherei an. Sie saß an einem hölzernen Schreibtisch, hatte ein Buch aufgeklappt und las darin, während Feder und Papier bereit lagen, um von Notizen beschrieben zu werden.

„Arsura“ sagte Sait und zog damit ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Sie drehte sich um und sah zu ihm.

„Hallo“ erwiderte sie etwas matt.

Sait setzte sich zu ihr.

„Ilai hat mir gerade erzählt, was passiert ist. Wie geht es dir?“ wollte er wissen.

„Eine meiner Rippen ist geprellt. Ansonsten nur blaue Flecken. Das verheilt“ gab sie beschwichtigten zurück.

„Wenn ich Abbas das nächste Mal sehe, drehe ich ihm den Hals an“ meinte Sait sauer.

„Ich kann dich verstehen und ich gönne ihm diesen Triumph noch weniger als du, aber ich muss es erst mal so im Raum stehen lassen. Es passt mir zwar nicht, aber meine körperliche Verfassung lässt es nicht anders zu“ seufzte Arsura zurück.

Sait wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu, als plötzlich ein junger Assassinen Informant recht eilig an der Bibliothek vorbeilief und die beiden aufschreckte.

„Was ist denn jetzt los?“ fragte Sait verwirrt.

„Keine Ahnung. Altair ist hier vor einiger Zeit auch vorbeigelaufen und hoch zu Al-Mualim“ bemerkte Arsura beiläufig.

„War er weg gewesen?“ wollte Sait uninteressiert wissen.

„Offensichtlich ja. Soweit ich weiß waren Malik und Kadar auch dabei. Zumindest hat Malik etwas in der Richtung erwähnt. Ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen. Genauer gesagt ab dem Zeitpunkt, als er gesagt hat, dass er auf eine wichtige Mission muss, um seine Prüfung zum Meisterassassinen abzulegen“ erklärte Arsura.

„Altair ist auch nicht mehr das, was er mal war. Seine Beförderung hat ihn ziemlich… arrogant gemacht“ meinte Sait nun.

Arsura zögerte einen Moment und nickte dann langsam.

„Ja, das ist wahr.“

Sait sah auf das Buch, vor seiner Freundin.

„Was liest du da eigentlich?“ wollte er wissen.

„Ach... etwas verschiedene Waffenarten und wie man am besten dagegen ankommt“ sagte sie tonlos.

„Sieht nicht so aus, als ob dich das interessiert“ meinte Sait etwas belustigt.

„Ich kann mich nicht wirklich darauf konzentrieren, weißt du? Irgendwie... hab ich ein ganz schlechtes Gefühl...“ sagte sie.

Sie wirkte unsicher in ihrer Aussage.

„Arsura. Was ist denn los mit dir? Du bist schon seit einer Weile so seltsam und – auch wenn du das jetzt vielleicht nicht hören willst – das könnte auch der Grund sein, warum du vor ein paar Tagen gegen Abbas so versagt hast und auch heute nicht gegen ihn gewonnen hast. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber du wirkst... abwesend, fast schon seltsam unkonzentriert, was dir überhaupt nicht ähnlich sieht“ meinte Sait nun.

Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.

Arsura legte die Feder beiseite und lehnte sich Stuhl zurück.

„Ich weiß doch auch nicht...“ seufzte sie zurück.

Es dauerte ein paar Minuten bis der Assassinen Informant wieder die Treppe hinab lief – ebenso hektisch, wie er sie eben erklommen hatte. Arsura sprang von ihrem Stuhl auf und fing ihn ab.

„Was ist denn los? Warum seid Ihr so aufgeregt?“ fragte sie ihn direkt heraus.

„Tempelritter belagern das Dorf vor der Festung! Wir werden angegriffen!“ erklärte er aufgeregt.

Im nächsten Moment hörte man die Alarmglocken ertönen. Sait und Arsura sahen sich ernst an.

„Lass uns keine Zeit verlieren“ meinte Sait ernst und lief sofort in Richtung Ausgang.

Arsura zögerte nicht und folgte ihm. Als sie die Festung verlassen hatten, hörten sie aus dem Dorf panische Schreie von Zivilisten. Arsura dachte sofort an Ayasha und Sharif.

„Ich muss meine Eltern suchen. Sieh zu, dass du noch ein paar Leute zusammen kriegst, um die Templer abzulenken, damit die anderen die Verwundeten in die Burg schaffen können“ sagte sie sofort.

Sait nickte. Arsura rannte los, verließ die Festung und zog sie in ihrem Sprint die Kapuze über den Kopf. Viele panische Dorfbewohner kamen ihr entgegen gerannt. Arsura wollte so schnell wie möglich nach Hause. Sie wusste nicht, ob Ayasha schon hoch zur Festung gelaufen war, oder ob sie immer noch dort war.

Arsura sprang auf eines der Hausdächer und dann auf ein gegenüberliegendes, um schnell bei ihrem Heim anzukommen. Als sie oben auf einem Dach stand, konnte sie zu dem Haus sehen, das sie bewohnte. Die Haustür war geschlossen und unversehrt.

Arsura atmete kurz erleichtert aus, sprang vom Dach und lief hinunter. Sie klopfte mit der Faust hektisch gegen die Tür.

„Mutter! Mutter, bis du da?!“ fragte sie laut. Kurz darauf wurde sie geöffnet und Ayasha sah sie erschrocken an.

„Arsura… was-?!“ fing sie an, aber ihre Ziehtochter unterbrach sie sofort.

„Keine Zeit. Los, lauf hoch zur Festung. Wir werden angegriffen!“

„Aber, Sharif-!“ sagte Ayasha dann.

„Wir treffen dich oben“ erwiderte Arsura.

Als sie zur Seite sah, bemerkte sie zwei Tempelritter, die die Straße hinaufliefen. Schnell packte sie Ayasha am Arm und wies sie in Richtung der großen Festung.

„Geh! Ich halte sie auf!“ beharrte Arsura energisch und zog ihr Schwert.

Ayasha nickte und rannte in Richtung der Festung.

Arsura atmete tief durch und ging auf die beiden Kreuzritter los. Dem Ersten schlug sie Beine weg. Der zweite wich erschrocken zurück, holte dann aber mit seinem langen Schwert aus und versuchte Arsura an der ungeschützten linken Seite zu treffen. Die junge Assassine wirbelte herum und schlug dem Templer das Schwert weg.

Als sie aufsah und eigentlich feststellen wollte, wo ihr Gegner als nächstes zuschlagen würde, blieb ihr Blick an dem roten Templerkreuz auf dem weißen Wappenrock hängen. Sie stutzte und wich einen Schritt zurück. Verschwommene Bilder zuckten vor ihrem geistigen Auge. Das Symbol weckte längst verdrängt Erinnerungen in ihr. Arsura hatte das Gefühl keine Luft zu kriegen. Und sie konnte nicht mehr reagieren, als der Templer sie zu Boden schlug. Sie spürte einen Schlag und die Wucht, wie sie zu Boden ging. Allerdings fühlte sich das Ganze eher taub an und sie bekam nicht mit, ob es wirklich weh tat. Auch nicht, dass sie ihrem Gegner in diesem Moment schutzlos ausgeliefert war.

Es dauerte einen Moment bis sie die brenzlige Situation erkannte. Das gegnerische Schwert kreiste gefährlich nahe über ihrer Kehle. Die Braunhaarige riss erschrocken die Augen auf und war der festen Überzeugung jetzt ihr Leben zu verlieren.

Der Templer holte aus, um ihr die Klinge in den ungeschützten Hals zu stoßen, doch plötzlich hielt er inne. Arsura blinzelte verwirrt und sah hoch. Ein Schwert ragte aus der Brust des Ritters und Blut färbte seinen weißen Wappenrock rot.

Die Klinge wurde zurück gezogen und der Mann sank leblos zu Boden. Arsura atmete flach, als sie merkte, dass das wirklich knapp gewesen war.

Sharif reichte ihr die Hand und half ihr auf.

„Alles in Ordnung?“ fragte er nach.

Arsura nickte.

„Ja... ja, mir ist nichts passiert“ sagte sie abwesend und sah auf den toten Kreuzritter.

„Los, wir müssen, den Leuten helfen zur Festung zu kommen!“ sagte ihr Vater ernst.

Er war im Begriff los zu gehen, aber dann bemerkte den Blick seiner Ziehtochter, die immer noch das Templerkreuz anstarrte.

Sharif ging zu Arsura und packte sie an den Schultern.

„Komm zu dir! Wir haben eine Aufgabe zu erledigen!“ herrschte er sie strenger als gewollt an.

Arsura brauchte einen Moment, fing sich aber wieder. Sie nickte entschieden und folgte ihrem Vater in das Dorf.

Überall lagen Tote. Es waren sowohl Tempelritter, als auch Zivilisten aus Masyaf. Arsura und Sharif machten den Weg frei für die Bürger, damit sie in die Festung gelangen konnten.

Einige hundert Meter vor dem Tor traf Arsura auf Rauf, der ihr etwas außer Atem entgegenlief.

„Wie viele sind noch unten im Dorf?!“ fragte sie sofort heraus.

„Ich denke, das waren die letzten. Wir können jetzt auch zur Burg gehen. Wir sollten uns beeilen – da ist eine ganze Armee auf dem Weg zu uns!“ erwiderte Rauf.

„Gut“ nickte Arsura und drehte sich um, um nun auch Schutz zu suchen.

Sie richtete ihren Blick auf und sah, wie Sharif mit einem Templer kämpfte. Entsetzt musste Arsura feststellen, dass ein Bogenschütze seinen Pfeil spannte und auf Sharif zielte.

Und dann ging alles plötzlich ganz schnell.

Der Schütze jagte seinen Pfeil in Sharifs Schulter und dieser verlor vor Schreck und Schmerz seine Kampfhaltung. Der Ritter nutzte das aus und stach ihm sein Schwert durch den Hals.

Sharifs Augen weiteten sich entsetzt, genauso wie die von Arsura.

„NEIN!!!“ schrie sie auf und rannte zu ihm.

Rauf und drei andere Assassinen packten sich die beiden Tempelritter und töteten sie, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten.

Arsura ging neben Sharif auf die Knie. Ihr standen die Tränen in den Augen und es bereitete ihr Höllenqualen ihren Ziehvater so zu sehen.

Sharif blutete heftig aus Mund, Hals und Nase. Er röchelte und sah zu Arsura. Offenbar wollte er ihr etwas sagen, aber er kam nicht mehr dazu. Kraftlos sank sein Kopf zur Seite, er tat seinen letzten Atemzug und starb.

Arsura schloss resigniert die Augen und ein paar Tränen tropften auf den teilweise staubigen, teilweise blutgetränkten Boden.

„Arsura! Wir müssen gehen!“ sagte Rauf plötzlich hektisch.

Die Angesprochene blickte auf und sah zu ihm. Sie wandte sich wieder von ihm ab und dem Leichnam ihres geliebten Ziehvaters zu.

„Friede sei mit dir, Vater“ hauchte sie mit erstickter Stimme und stand widerwillig auf.

Sie folgte den anderen Assassinen hoch zur Festung. Sie waren wirklich die letzten und hinter ihnen wurde das Tor vernehmlich verschlossen.

Arsura sah einen Moment auf das Tor, sah sich dann in der Menge um und versuchte Ayasha ausfindig zu machen.

An den steinernen Stufen kurz vor dem Eingang in die Burg, fand sie sie schließlich.

„Arsura, du lebst! Gott sei Dank. Ist alles in Ordnung? Wo ist Sharif?!“ fragte sie erleichtert, aber auch besorgt.

Arsura schüttelte nur leicht den Kopf und sah mit getrübtem Blick zu Boden.

„Es tut mir leid. Ich... ich konnte nichts dagegen tun“ sagte sie brüchig.

Ayasha sah sie fassungslos an.

„Nein... nein. Das glaub ich nicht... Er ist nicht... Er kann doch nicht...“

Bitter drang die Erkenntnis in sie und mit einem verzweifelten Schrei und einem Tränenschwall, der nicht zu bremsen war, sackte sie zu Boden.

Arsura kniete sich zu ihr und nahm den bebenden Körper vorsichtig in den Arm, um ihr Trost zu spenden.
 

Nachdem der Angriff der Tempelritter zerschlagen worden war, machte sich Arsura zusammen mit Ayasha auf den Heimweg.

Am späten Abend saßen sie bei Kerzenschein in der Hütte und schwiegen sich an.

Irgendwann hielt Arsura es nicht mehr aus und verließ das gemeinsame Heim, ohne ihre Mutter darüber zu informieren, wo sie hinging.

Ayasha ließ sie einfach ziehen und begann wieder zu weinen, als die Tür ins Schloss fiel.

Arsura ging zur Feste hoch und sah sich im Innenhof um. Man hatte die Toten geborgen und hier nebeneinander hingelegt. So konnte man noch Abschied nehmen, wenn man wollte. Arsura sah auf die vielen mit Tüchern bedeckten Leichen. Nach einem Moment wandte sie sich ab und lief zum Turm.

Dort kletterte sie die beiden Leitern hinauf, bis sie zu einem offenen Bereich kam und setzte sich dort auf den Rand des geländerlosen Balkons.

Sie starrte in den Nachthimmel und versuchte die Bilder von Sharifs Ableben aus ihrem Kopf zu verbannen.

„Arsura?“

Die Angesprochene schreckte auf und drehte sich um.

„Sait. Du hast mich erschreckt“ sagte sie trocken.

Sait ging auf sie zu und setzte sich neben sie.

„Rauf hat mir erzählt, was passiert ist. Es tut mir wirklich leid. Aber, mach dir keinen Vorwurf“ meinte Sait sanft.

Arsura lehnte sich an seine Schulter.

„Danke.“

Einen Moment genossen beiden die nächtliche Ruhe.

„Sait. Es ist... etwas seltsames passiert“ fing Arsura plötzlich an.

„Was denn?“ wollte er wissen.

„Im Kampf gegen einen Templer hab ich einen Moment lang auf das Kreuz gestarrt und plötzlich konnte ich mich verschwommen an meine Vergangenheit erinnern“ erzählte sie.

„W-was? Willst du damit sagen, dass DU etwas mit Templern zu tun hast?“ fragte Sait erschrocken.

„Nein, nein. Zumindest hoffe ich das. Selbst wenn. Ich bin Assassine und kein Templer. Dennoch scheint das irgendetwas mit meiner Vergangenheit zu tun zu haben. Ich weiß aber nicht was“ sagte sie und seufzte schwer.

„Willst du herausfinden, was in der Vergangenheit passiert ist?“ fragte Sait schließlich.

Arsura überlegte.

„Ja und nein. Interessieren würde es mich auf jeden Fall, aber ich habe auch Angst davor, was mich erwarten könnte.“

Sie seufzte schwer und sah in den klaren Himmel. Der Vollmond warf sein blasses Licht auf die umliegenden Häuser, Berge und den Fluss, der unter ihnen gemächlich vor sich hinfloss.

Sait sah sie an und schnaubte.

„Egal wer du gebürtig bist und wo du herkommst... Ich werde immer für dich da sein und zu dir halten“ lächelte er nach einer Weile des Schweigens.

Arsura nickte.

„Ich danke dir.“

„Du solltest du Ayasha gehen. Sie wird dich brauchen um den Verlust zu verarbeiten“ meinte Sait dann und stand auf.

„Ja du hast recht. Lass uns gehen.“

Auch Arsura erhob sich und die beiden machten sich auf den Heimweg.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Crevan
2013-05-14T05:09:06+00:00 14.05.2013 07:09
Jaja, als Mädchen hat mans nicht leicht D;
Gefiel mir, wie ihr Arsura und die beiden Al-Sayf Brüder als kleine Unruhestifter darstellt, das passt irgendwie so richtig. Wer weiß, was die drei noch so alles anstellen werden... :P
Von:  Crevan
2013-04-15T08:59:18+00:00 15.04.2013 10:59
Habt die Fic nun ja recht schnell getippt! :3 Musste sie natürlich gleich mal anlesen.
Gefällt mir bisher gut das Ganze, der Text liest sich leicht und man kann sich alles auch schön bildlich vorstellen. Ich find die Beziehungen, in die eure Dame reingeworfen wird, echt verdammt rührend. Überhaupt den Schluss des 2. Kapitels fand ich richtig lieb.
Bin gespannt wies weitergeht! :D Macht weiter so!

LG
Antwort von:  Altair_Ibn_La-Ahad
15.04.2013 11:27
Danke für dein Kommentar. Das nächste Kapitel ist schon in Arbeit und dürfte bald Online sein. Wenns so weit ist, sag ich dir Bescheid.

Ich freue mich, dass dir die FF bisher gefällt. Die unbeschwerte Stimmung war die Idee von Lena. Sie ist der festen Überzeugung, dass man unbedingt sehr mit dem Charakter mitfühlen sollte. Ich habe ihre Wünsche gut umgesetzt, wie du mir jetzt auch noch bestätigst. Wir beide geben auch weiterhin unser bestes und hoffen, dass das nächste Kapitel genauso gut ankommt ^^
Antwort von:  Crevan
15.04.2013 11:34
Yay :)

Ich liebe das Lied btw.
Bin ein riesen Fan von Broken Iris <3


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