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The Past, the Love, the Memories

von

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Prolog

„Es tut uns sehr leid.“

Cyle blickte zur Uhr. Tick. Tack. Tick. Tack. Ewig und immer wieder. Gleichmäßig wie der Herzschlag.

„Wir haben wirklich alles versucht.“

Außer dem Ticken war noch etwas anderes zu hören. Ein Wimmern. Ein Schluchzen. Sein Blick wanderte zu dem Gesicht seines Gegenübers.

„Aber wir konnten nichts mehr tun.“

Es wurde lauter. Jetzt war das Weinen zu vernehmen. Doch Cyle starrte weiter, seine Miene verriet nichts.

„Er ist tot.“

„Lügner.“ Cyles Mund verzog sich. „Lügner!“

Dornröschenschlaf

„Guten Morgen! Hat der werte Herr es auch endlich zur Schule geschafft?“

Das dümmliche Grinsen meiner Mitschüler und die höhnische Bemerkung meines Mathelehrers hatten mir heute wirklich gefehlt. Und ich hatte absolut keine Lust auf die langatmige Diskussion über Schulordnung und das Zuspätkommen, weshalb ich mich auf meinen Platz fallen ließ und meine Federtasche auf den Tisch legte, der mein Block folgte. Das Buch hatte ich wieder vergessen und selbst die Tatsache, dass es pure Absicht war, konnte die Laune des Kaspers an der Tafel auch nicht senken. Nein, es machte ihm sogar noch Freude, mich zu piesacken und am besten noch vor der ganzen Klasse bloßzustellen.

„Nun … wo du schon zu spät kommst und mir beweisen willst, dass du Mathematik und unser jetziges Thema ziemlich gut beherrschst - an die Tafel, Cyle!“ Das Feixen auf den Lippen meines Lehrers war schon einstudiert, wie oft zeigte er damit, dass er einen Schüler hasste. Mich ganz besonders.

Ich spürte die Blicke meiner Mitschüler im Rücken, jeder sah mich erwartungsvoll an. Was würde ich tun? Was würde ich sagen? Gehen oder sitzen bleiben?

„Na? Ich warte“, gab mein Lehrer ungeduldig zu verstehen, ohne seinen dämlichen Ausdruck zu verlieren.

Deshalb stand ich auf und schritt sichtlich lustlos zur Tafel, an der schon ein paar Aufgaben prangten.

„So, jetzt wirst du diese Aufgaben erklären und lösen. Für alle, also los!“

„Darf ich meinen Taschenrechner holen?“, wollte ich wissen und sofort erschien wieder dieses Grinsen.

„Aber warum denn das?“ Seine Grimasse blickte mich mit einer Mischung aus Hohn und übertriebener Freundlichkeit an. „Du als Mathematik-Genie kannst doch sicherlich den Sinus von fünf Grad ausrechnen.“

Darauf fand ich keine Antwort und starrte ihn einfach nur finster an. Dann drehte ich mich in Richtung Tafel und nahm ein Stück Kreide. Das war es dann auch. Ich stand da wie ein Idiot, während vor meinen Augen unzählige Formeln über die Tafel sprangen. Nur wollte mein Kopf nicht.

Ich spürte erneut die vielen Augen in meinem Rücken und schluckte. So schlecht war ich doch gar nicht!

„Setz dich, Cyle. Was das für eine Note ist, brauche ich dir sicher nicht sagen“, kam es nun von meinem Lehrer und ich warf die Kreide auf die Ablage zurück, während ich mich zu meinem Platz bewegte. Natürlich wusste ich, welche Note er mit gab: eine Sechs. Mehr erwartete ich auch nicht und es war mir so ziemlich egal, wie oft er mich bloßstellte. Es nervte einfach nur tierisch.
 

„Du nimmst dein Leben einfach nicht ernst! Und ich unterstütze dich noch dabei!“

„Es hat keiner von dir verlangt, dass du mir folgst“, entgegnete ich Seba, die mir hinterher stolperte und ihr ellenlanges Kleid höher raffte. Sie war mit dem Ding über die Mauer der Schule geklettert, nur um mir zu folgen. Ich fragte mich sowieso immer wieder, warum sie mit ihren sogenannten Gothic-Kleidern alles unternahm und immer in meiner Nähe war oder sein wollte.

Jetzt beschleunigte sie ihren Schritt und holte mich ein, bis sie neben mir lief.

„Ehrlich, Cyle! Was soll denn aus dir werden, wenn du dich nie anstrengst und immer die Schule schwänzt!“, redete sie nun auf mich ein und ich seufzte. Nicht, dass ich etwas gegen sie hätte.

„Was soll aus dir werden, wenn du mir dauernd folgst? Kümmere dich mal lieber um dein Leben, bevor du dir meines aufhalst.“

„Cyle, du verstehst das nicht!“ Seba stämmte die Hände in die Seite und ich blieb stehen, sah sie erwartungsvoll an.

„Bitte, dann erklär´s mir“, sagte ich und sie verdrehte genervt die Augen. Ihre Predigten hielt sie jedes Mal ab und schaukelte sich immer mehr hoch. Den meisten Stress machte sie sich selbst.

„Du machst dir keine Gedanken über deine Zukunft und verspielst alles ohne nachzudenken! Willst du wirklich ohne Schulabschluss da stehen und am Ende noch als Penner in der Gosse landen? Ist das dein Wunsch?“, rief Seba empört und ich schenkte ihr eines meiner seltenen Lächeln.

„Komm runter, ja? Ich werde schon nicht so enden!“

„Du bist aber auf dem besten Weg dorthin“, gab sie trotzig zurück und ich seufzte erneut, bevor ich meinen Weg fortsetzte und sie mir weiterhin nach lief.

Wir hatten gerade das Schulgelände verlassen und das nach der dritten Stunde. Vorallem sie, die Musterschülerin. Kein Wunder, dass mich ihre Mutter nicht leiden konnte, schließlich hatte ich ihr liebes Töchterlein verdorben. In ihren Augen. Dabei war es Sebas Idee gewesen. Sie begann Hals über Kopf mit der Verwandlung vom braven Schulmädchen zur „Gruftibraut“ und war ziemlich stolz darauf. Ich konnte damit allerdings nichts anfangen, sowieso interessierte mich der ganze Szenenkram nicht die Bohne. Gothic, Emo, Hopper - wie auch immer diese Gestalten ihren Stil bezeichneten - waren im Grunde alles dasselbe. Eine Heranzüchtung kleiner Soldaten, die ihre Szene bis auf´s Blut verteidigten und anschließend jeden dazu zwangen, ihren Style anzunehmen. Außerdem brachten diese ganzen Szenen zu viele Klischees und Vorurteile mit sich.

Aber Seba schien es zu gefallen, wenn sie nur noch ihre Kleider trug, sich der Farbe Schwarz widmete und nur noch die Zillo las, ein Gothicmagazin mit CDs und auch DVDs inklusive.

„Und wohin gehst du jetzt?“, ertönte auch schon wieder ihre Stimme und ich zuckte mit den Schultern.

„Wahrscheinlich nach Hause.“

„Ist deine Mutter nicht um diese Zeit noch daheim?“

„Sie ist nie da.“ Ich blickte Seba kurz finster an, daraufhin schwieg sie und blieb stehen.“

„Ich sag Bescheid, dass dir schlecht war“, verkündete sie sichtlich schweren Herzens und rannte wieder in Richtung Schule. Zu meiner Freude. Denn auch, wenn Seba meine beste Freundin war, ging sie mir manchmal auf den Geist mit ihrer Bemutterung, ganz gleich, wie gut sie es meinte.

Ich schritt weiter; die Sonne kündigte jetzt schon die enorme Hitze des Tages an und schickte ihre Strahlen erbarmungslos weiter auf die Erde. Mir war es egal, ich mochte den Sommer und war sowieso die meiste Zeit in meinem kühlen Zimmer, wenn Seba nicht gerade auftauchte und mich zum Schwimmen zwang.

In diesem Moment kam der Bus an mir vorbei und ich rannte ihm nach. Gnädigerweise wartete der Fahrer und schwieg, als ich einstieg. Er verlor nie ein Wort darüber, dass ich schwänzte. Es war schließlich mein Leben.

Auf der Fahrt nach Hause hörte ich Musik und dachte über die vergangene Zeit nach. An die Zeit, in der ich noch ein normales Kind war, als ich noch der alte Cyle Conrad war. Der Cyle, der immer gut in der Schule war und viele Freunde hatte. Jetzt war ich der siebzehnjährige Cyle Conrad, das karottenrote Haar, welches ich so sehr hasste, trug ich lang und immer offen und sah eher aus wie eine Leiche, als ein Mensch. Das lag wohl mehr an meiner ungesunden Gesichtsfarbe von dem reinsten Marmorweiß, gefolgt von dem mageren Körperbau. Aber wen interessierte das schon? Ich hatte mein Leben sowieso schon abgeschlossen und von mir würde auch nichts mehr übrig bleiben, bis auf die Dinge, die man von mir aufhob. Die Menschen behielten, denen ich etwas bedeutete und die ich noch nicht vergrault hatte. Die noch ein Fünkchen Hoffnung besaßen. So wie Seba.

Sie war nach dem größten Unglück meines Lebens immer für mich da und musste hilflos zusehen, wie ich mich zerstörte. Gut, sie sagte, dass sie es nicht richtig von mir fand, dass ich mein Leben einfach wegwarf, aber dagegen unternommen hat sie nie etwas.

Auf dem digitalen Fahrplan erschien die nächste Haltestelle: Waldstraße. Ich nahm meine Tasche und stand auf, während ich den Stoppknopf drückte und mich zum Ausgang bewegte. Dann stieg ich aus und ging nach Hause.

Das Haus, in dem ich lebte, war von der Haltestelle nicht weit entfernt, sodass ich relativ zeitig daheim war und mich in meinem Zimmer auf mein Bett warf.

Die Musik lief immer noch. Ronnie Radke sang nun “The Day I Left The Womb”.

Ich zog die Kopfhörer aus den Ohren und lauschte - abgesehen von der leisen Melodie - in die Stille des Hauses. Früher hörte man noch den Fernseher oder auch das Radio, dazu manchmal das fröhliche Summen und Pfeifen meines Vaters. Aber jetzt war es still. Wir wollten es alle auch gar nicht laut haben, Mama hasste mittlerweile jedes Radio und hatte unseres sofort entsorgt, kaum dass Papa sich aus dem Staub gemacht hatte.

„Nanu? Cyle, ist die Schule schon aus?“

Ich hob den Kopf, als meine Mutter in mein Zimmer schaute und nickte nur.

„Ausfall?“

„Ja“, log ich und sie kam herein, setzte sich auf mein Bett. Ihre Hände griffen nach meinem Arm.

„Du wirst immer dünner“, stellte sie besorgt fest und strich mir über die Stirn. „Isst du vernünftig?“

„Ja, Mama. Ich esse jeden Tag“, gab ich leicht genervt zurück und schob ihre Hand von meiner Stirn weg.

So war meine Mutter immer, wenn sie nach langer Zeit endlich wieder da war, wenn auch wir, meine kleine Schwester und ich, daheim waren. Ansonsten bekamen wir sie ja nie zu Gesicht, denn entweder kam sie in der Nacht und schlief am Morgen oder war nur am Vormittag da. Und das alles nur wegen meines Vaters.

„Cyle, willst du nicht doch lieber zum Arzt? Du siehst auch nicht gesund aus“, sagte sie nun, doch ich schüttelte den Kopf.

„Mit mir ist alles in Ordnung“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch ihre braunen Augen musterten mich erst skeptisch, dann traurig.

„Es wäre mir um einiges lieber, wenn du ehrlich sein würdest, Cyle. Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, angelogen zu werden. Das muss nicht sein, ja?“ Prüfend blickte sie mich an und ich verdrehte die Augen. Erst nie für mich und meine Schwester nie da sein und dann Übermutter spielen, wie ich das liebte!

„Ist gut, Mama, aber es geht mir wirklich gut!“, wiederholte ich meine Worte und stand auf, um in die Küche zu gehen. Auf dem Herd standen verschiedene Töpfe, in denen etwas kochte. Schien, als würde Mama Mittagessen zubereiten. Wahrscheinlich wollte sie es dann abkühlen lassen, in eine große Box packen und mit einem Zettel versehen, was es denn sei und wir es uns schmecken lassen sollen. So, wie immer. Wie jeden Tag.

„Spaghetti Bolognese“, erklärte meine Mutter stolz und schritt zum Herd. Dort rührte sie in den Töpfen herum und blickte zu mir, der auf den Küchentisch starrte.

Es war so typisch und doch so normal, dass wir in so einer Situation lebten. Unsere Mutter ging uns so gut wie möglich aus dem Weg, aber kaum traf sie ihren Nachwuchs an und konnte sich nicht aus dem Staub machen, spielte sie die liebevolle aufopfernde Mutter, die ihre Kinder über alles liebte. Dabei war das Meiste nur eine Schmierenkomödie, mit der sie vor allem dem Jugendamt zeigen wollte, was wir doch für eine tolle Familie waren, ohne Vater, ohne Probleme.

„Warum lädst du nicht mal Seba ein? Sie ist doch so ein gutes Mädchen“, begann meine Mutter den Versuch, ein Gespräch mit mir aufzubauen, doch ich grinste nur in mich hinein. Wenn sie meine halbarabische Gothicbraut sehen würde, wäre Seba nicht mehr so „gut und brav“. Mama hatte selbst etwas gegen den Wahn meiner kleinen Schwester, die sich Eminem und Bushido reinzog, obwohl sie - wie bereits erwähnt – nie da war. Aber allein die Klamotten in der Wäsche und die Poster an der Zimmerwand regten sie auf. Da war meine Bruchbude noch Gold wert.

„Nee, lass mal, Mama. Seba hat sich ziemlich verändert und so viel unternehme ich auch nicht mehr mit ihr. Ihr Freundeskreis ist ihr wichtiger!“, lenkte ich ab, aber Muttern war das egal. Wahrscheinlich glaubte sie immer noch an das Wunder, dass aus der Freundschaft mehr wurde.

„Ach, und wenn schon! Sie kann jederzeit kommen. Ihr seid sowieso ein hübsches Paar! Ich verstehe nicht, warum ihr nicht zusammen seid!“

„Weil ich nicht auf sie stehe. Sie ist nicht mein Typ“, entgegnete ich schulterzuckend.

„Und außerdem interessiert mich das alles nicht“, fügte ich in Gedanken hinzu und schritt zurück in mein Zimmer. An meinen Wänden Striche. Immer jeweils vier senkrechte Striche und ein schräger hindurch. Sauber und ordentlich neben- und untereinander angeordnet zeigten sie mir die Tage, die ich bisher überlebt hatte. Die Tage, die ich immer noch aushielt. Seit Jahren schon …

Mama sagte nichts mehr dazu, nachdem der Psychologe, zu dem ich nach dem Unglück geschickt wurde, meinte, ich würde damit alles verarbeiten. Aber gebracht hatte es auch nichts.

„Cyle, Essen!“, rief mich meine Mutter aus der Träumerei und ich trottete zurück in die Küche.

Das war mein jämmerliches Leben. Mein verdammtes, nutzloses Leben, das ich schon lange nicht mehr brauchte. Das ich einfach wegwerfen wollte wie ein altes Spielzeug. Nur ging das nicht so leicht. Ich konnte mich nicht einfach so umbringen. Ich hing noch zu sehr an dieser Welt und wollte eigentlich noch nicht sterben. Doch war ich es auf der anderen Seite leid, so vor mich hinzudämmern. Es brachte einfach nichts - und deshalb wollte ich hinaus. Raus aus meinem Leben, Cyle Conrad hinter mir lassen und neu beginnen. Irgendwo anders, irgendwie. Eine Möglichkeit würde sich schon finden, irgendeine. Irgendetwas würde ich tun und somit neu starten, wie eine Blume im Frühjahr, die aus ihrem Winterschlaf erwacht.

Ausreißer

„Anscheinend ist niemand Zuhause.“

„Sicher, dass deine Alte arbeiten ist?“

„Klar, sonst ist sie ja auch nicht da!“, kicherte es leicht aus dem Flur und ich sah von dem Buch, das ich gerade las, auf. Es war höchst interessant, dass meine Schwester männlichen Besuch mitbrachte. Aber ich wollte nicht so sein, sie war frische fünfzehn Jahre alt und eine Schlampe. Da verwunderte mich der Kerl auch nicht.

„Und du bist dir ganz sicher?“, hakte der Typ nach und meine Schwester fauchte: „Ja, verdammt! Halt einfach dein Maul, okay?“

„Ist ja schon gut ...“ Er murmelte vor sich hin und schließlich flog die Zimmertür meiner Schwester zu. Ruhe. Ich grinste und legte mich auf den Bauch, um das Buch weiterzulesen. Lange würde es nicht dauern, bis es drüben zur Sache ging. Aber wen verwunderte es auch? Die Jugend wurde immer schlimmer und sogar die ältere Generation schien immer dümmer zu werden. Abgesehen von denjenigen, die nicht irgendwelchen Idealen folgten und sie selbst blieben. Oder auch diejenigen, die krank waren.

Meine Schwester jedenfalls gehörte zu der Elite der Dummheit. Benahm sich wie eine Schlampe, sah aus wie eine Schlampe und war – wie bereits erwähnt – eine Schlampe. Weil so, wie sie aussah, sahen fast alle aus. Alle. Da war Seba schon wieder um einiges klüger.

Ich stand auf und klappte mein Buch zu. Jetzt war es Zeit, den ungebetenen Besucher wieder nach Hause zu schicken.

Eigentlich interessierten mich die Machenschaften meiner Schwester nicht, aber sie wusste, dass wenn ich da war, sie nichts zu lachen hatte. Und ich hasste fremde Männer, die hierher kamen. Deshalb ging ich zu ihrer Tür und drückte die Klinke runter, bevor ich mit einem Ruck öffnete und mich zwei entsetzte Augenpaare anstarrten.

„C-Cyle!“, rief meine Schwester überrascht und zog hastig ihre Bettdecke höher, damit ich ja nicht ihre Brüste sah.

„Henriette“, erwiderte ich freundlich, „hättest du die Güte, mir zu erklären, was du hier machst?“

„Was willst‘n du?“ Ihr Stecher sprang auf und packte mich am Kragen. Er sah aus wie der typische Obermacker, raspelkurzes Haar und ungepflegtes Gesicht. Sein Atem roch nach Alkohol und Zigaretten. „Und was bist‘n du überhaupt für‘n Vogel, hä? Ihr Exlover?“

„Kevin, lass ihn bitte los“, bat Henriette und ich musste mir auf die Lippe beißen, damit ich nicht anfing zu lachen. Kevin. Das war der Name, den wirklich alle asozialen Arschlöcher trugen. Klar, es gab Ausnahmen, doch mir waren noch keine unter die Augen gekommen.

„Warum sollte ich? Der Wichser wollte spannen! Der is doch einfach hier rein!“, rief Kevin aufgebracht und meine Schwester zog ihn am Bund seiner Boxer zurück, sodass er mich losließ.

„Dieser Wichser ist mein Bruder, also zieh dich an und hau ab.“

„Warum denn?“ Kevin starrte sie an, während meine Schwester desinteressiert mit ihrer Strähne spielte.

„Er ist schwul“, sagte sie leise, jedoch laut genug, dass ich es hören konnte. Ich lächelte nur. Sie hatte das Gerücht, ich würde auf Jungs stehen, verbreitet, da ich nie eine Beziehung hatte oder gar verliebt war. Seitdem sie der Meinung war, dies der ganzen Welt mitzuteilen, kamen immer wieder Typen auf mich zu und piesackten mich. Aber warum auch nicht, somit wusste man auf Anhieb, wer von der Dummheit geküsst war und wessen Niveau unterm Keller lebte.

Zudem gab es auch Jungs, die mich trotz alledem, lobten, dass ich dazu stand und outeten sich wenig später selbst. Dabei war ich nicht mal schwul.

Doch Kevin starrte mich nur an und zog sich schnell etwas über, bevor er überstürzt das Haus verließ und meine Schwester mich hasserfüllt ansah.

„Du bist ein Arsch!“

„Ich weiß“, gab ich lächelnd zurück, „und Mama wird sich sicher auch freuen, wenn sie von deinen schulischen Aktivitäten erfährt.“

„Halt bloß dein Maul!“ Henriette warf mit einem Kissen nach mir und ich zog die Tür zu. Das Kissen prallte innen ab und ich machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Dort legte ich mich wieder hin und grinste.
 

Als am Abend die Haustür ins Schloss fiel, standen Henriette und ich bereit und sahen unsere Mutter freundlich an. Sie blickte erschrocken zu uns und seufzte.

„Ihr seid ja da“, stellte sie fest und konnte den enttäuschten Unterton in ihrer Stimme nicht verbergen. Henriette und ich sahen uns verschworen zu, dann war die Sache geklärt.

Mama scheuchte uns in die Küche und machte irgendein Fertigzeug warm, das sie uns vor die Nase stellte. Vermutlich verpackter Mist.

Dann sah Mama mich an.

„Wie lange geht das schon?“, fragte sie mich und ich hörte auf, mein Essen zu malträtieren.

„Was meinst du?“, wollte ich wissen und tat unschuldig. Oder glaubte sie, ich hätte einen Kerl am Start?

Mein Blick fiel auf meine Schwester, die aber sah mich verwirrt an. Also hatte sie nichts gesagt.

Mama schlug mit einem Mal auf den Tisch und ihre Miene verriet, dass sie auf hundertachtzig war.

„Die Sache mit der Schule! Dein Klassenlehrer hat mich um ein Gespräch gebeten, weil er wissen wollte, was denn mit dir los sei, da du ständig die Schule verlässt, weil es dir nicht gut geht! Dabei schwänzt du! Du schwänzt!“, schrie sie und verpasste mir eine. Sie schlug nie. Sie hatte noch nie geschlagen, was ihr auch relativ schnell bewusst wurde. Schließlich beobachtete das Jugendamt sie und selbst dieses eine Mal bedeutete sofortigen Entzug des Sorgerechts.

Ich war aber schon auf dem Weg in mein Zimmer und schmiss lautstark die Tür zu, bevor ich eine große Tasche aus meinem Schrank zerrte.

„Cyle, es tut mir leid!“, rief meine Mutter unter Tränen und kam herein, doch ich stieß sie grob hinaus und verschloss die Tür.

Während meine Mutter also draußen stand, weinte und flehte, packte ich meine Sachen zusammen und versuchte, die Geräuschkulisse zu verdrängen, besonders Mama. Sie hatte seit der Sache damals nicht mehr geweint. Doch das war mir egal, ich wollte hier raus. Raus aus meinem Leben. Weit weg.

Mit gepackter Tasche auf den Schultern schloss ich auf und blickte meiner Mutter direkt ins Gesicht. Es war nass vor Tränen, ihre Augen rot und verquollen.

„Cyle, leg die Tasche weg, bitte“, hauchte sie kraftlos und zog sich an mich, weinte bitterlich an meiner Brust, in der Hoffnung, sie könne mich erweichen. Doch ich stieß sie weg. Ich wollte ihr nicht verzeihen. Jahrelang waren meine Schwester und ich ihr egal gewesen; mit einem Mal, als ihr drohte, ihren Sohn zu verlieren, tat sie wieder auf gute Mutter.

Ohne einen Ton zu sagen, schritt ich zur Haustür und zog meine Schuhe an.

Henriette kam auf mich zu und flüsterte: „Cyle, bitte tu das nicht. Bleib hier, bitte!“

Ich blickte zu ihr, dann zu Mama. Doch mein Entschluss stand fest. Raus hier.

Die Tür schlug hinter mir zu und ich verließ den Vorgarten, betrat die Straße.

Den Gedanken, einfach zu gehen und alles hinter mir zu lassen, hatte ich oft gehegt, nur mich nie getraut, es auch zu tun. Und jetzt tat ich es. Ich brach aus. Ich ließ alles hinter mir, machte mich auf den Weg in eine neue Zukunft, vielleicht sogar ein in neues Leben. Ohne eine Mutter, die ihre Liebe spielte. Ohne eine kleine Schwester, die sich zu einer Schlampe entwickelte. Ohne Gerüchte, über eine homosexuelle Neigung. Ohne Freunde, ganz allein.

Ich hatte noch Zeit, umzukehren, meiner Mutter zu verzeihen und wieder so zu leben, wie bisher, doch ich konnte und wollte es nicht. Ich wollte nicht zurück in mein Leben, ich wollte nach vorn in eine Zukunft, in ein anderes Leben. Cyle Conrad würde ich begraben und mit einem neuen Namen beginnen. Mit einem Namen, der nicht in mein altes Leben passte. Der eine neue Zeit ankündete.

Ich lief weiter in Richtung Bahnhof. Geld hatte ich nicht. In der Eile hatte ich meinen Geldbeutel liegen gelassen. Aber ich würde schon irgendwie durchkommen, irgendwo würde sich sicher ein Platz finden.

In meinem Kopf schrien die Gedanken ununterbrochen, Vorwürfe, Fragen, Antworten, Pläne … ich erstickte alles in Musik.

Help me!

Nachdem ich mich so erfolgreich von meinem Elternhaus gelöst hatte, kam das nächste Problem auf mich zu: wohin?

Am ersten Abend war ich mit dem Zug ins Blaue gefahren und wurde irgendwann von dem Schaffner rausgeworfen. Aber gut, ohne Geld ging es nicht anders. Ich spielte deshalb den Ahnungslosen, was blieb mir auch anderes übrig?

Im nächsten Zug kam ich nicht weit, denn kaum hatte ich mich gesetzt, baute sich auch schon eine wirklich korpulente Schaffnerin vor mir auf und lächelte mich an.

„Die Fahrkarten, bitte“, sagte sie freundlich und ich seufzte. Nett war sie ja und sie dann belügen … also weg mit gutem Anstand, auch wenn es weh tat.

„Wissen Sie … meine Mutter ist gerade auf Toilette. Sie hat die Karten, da ich immer so vergesslich bin und alles verliere und darum hat sie sie halt eingesteckt“, log ich und grinste verlegen. Mehr aus Scham, da ich richtig Schuss hatte. Innerlich betete ich, dass mein Gegenüber mir das auch abnahm.

Doch sie sah mich skeptisch an und stämmte die Hände in die Seite.

„Und weil deine Mutter auf Toilette ist, steigst du hier allein ein?“, fragte sie und ich nickte.

„Ja, ich hab gedacht, wir müssen hier raus, deshalb bin ich ausgestiegen. Aber das war ja die falsche Haltestelle!“ Ich lachte verhalten, während mein Herz fast zersprang. Ich war so ein miserabler Lügner, was auch die Schaffnerin bemerkte.

„Junge, wie alt bist du?“, wollte sie entnervt wissen und ich spürte die Hitze in meine Wangen steigen.

„Vierzehn …“

„Vierzehn, so so. Dann geb ich dir eine letzte Chance. Entweder du zeigst mir deine Mutter und sie mir die Karten oder sie bekommt einen netten Brief nach Hause geschickt.“ Sie nickte mir auffordernd zu und ich bekam langsam Angst. Das war definitiv nicht cool.

Mein Blut rauschte in den Ohren, mir war schlecht, doch ich hielt mich tapfer auf den Beinen, während ich durch die Abteile streifte und nach meiner Mutter rief - die bekanntlich ja daheim war.

Ich spürte Tränen in meinen Augen brennen und wischte sie weg. Diese Angst machte mich verrückt!

„Sie ist weg!“, schluchzte ich laut und die Schaffnerin, welche mir die ganze Zeit gefolgt war, zückte einen kleinen Block.

„Name und Adresse, sonst wirst du von der Polizei abgeholt“, sagte sie mit einer Härte, die ihr freundliches Bild langsam zerbröseln ließ. So kann man sich irren.

Es erklang die Durchsage für die nächste Haltestelle und ich senkte betreten den Kopf.

„Jürgen Sandler“, murmelte ich und verkniff mir ein Grinsen. Das war der Name unseres spießigen alten Nachbarn, dementsprechend sah mich die Schaffnerin auch an, während der Zug langsam anhielt.

„Jürgen? Ist das dein Ernst?“, wollte sie irritiert wissen und von mir fiel langsam die Spannung ab. Darum konnte ich ihr auch frech ins Gesicht grinsen.

„Nein“, antwortete ich und rannte nach draußen auf den Bahnsteig. Im richtigen Moment, denn sonst hätte ich noch eine Runde fahren dürfen. So ließ ich also die nette Schaffnerin im Zug stehen und lief die Treppen hinab in die Unterführung. Wahrscheinlich würde mich die Polizei bald suchen, also musste ich die Zivilisation wohl oder übel meiden. Auch wenn das hieß, dass ich zusehen musste, wie ich an Essen kam, aber es wurde Sommer, ich würde schon etwas finden. Wenn ich mich nicht selbst vergiftete.

Ich kam einfach nicht drumherum, je mehr ich nachdachte. Ohne Geld kam ich sowieso nicht weiter. Für Pflanzen war ich zu blöd und kannte mein Pech nur zu gut, weshalb ich immer wieder Menschen in der Unterführung und in der Eingangshalle ansprach und zu oft ignoriert oder als „Penner“ bezeichnet wurde. Dabei sah ich doch gepflegt aus. Mein langes Haar war immer gekämmt, ich zog jeden Tag frische Unterwäsche und wusch mich gründlich. Täglich. Gut, das würde sich jetzt ändern, leider.

Zu meinem Leidwesen hatte ich sogar mein Zahnputzzeug daheim stehen lassen, aber ich musste mich jetzt um mein Überleben ohne Geld kümmern.

Da es aber doch ein paar wenige spendable Menschen mit großem Herz gab, fanden sich gut vier Euro zusammen, von denen ich mir in einem kleinen Supermarkt in der Halle ein paar Packungen Kekse und Getränke kaufte. Das war das Mindeste, was ich jetzt tun konnte.

Aber wo sollte ich schlafen? Wo sollte ich bleiben? Mir wurde bewusst, dass ich es wirklich nicht schaffen konnte. Aber nein, ich musste ja unbedingt überstürzt das Haus verlassen und und losfahren. Und nun saß ich irgendwo in der Pampa fest und das ohne Ziel.

Ich riss auf dem Weg aus dem Bahnhof die erste Packung Kekse auf und drehte mich um. Über dem Eingang hing nicht nur eine Uhr, nein, auch der Name dieses dämlichen Kaffs klebte dort. Es war, als würde dieses Schild mich auslachen und verkünden: „Tja, Dummerchen, bist wohl doch nicht so weit gekommen!“

„Halt doch dein Maul“, knurrte ich es an und schob mir einen Keks in den Mund.

Ich wusste selbst, dass ich es nicht weit geschafft hatte und fand das auf der einen Seite gar nicht mal so schlecht. Aber meinem Stolz schadete es, es war … darauf fand ich keine Antwort, weshalb ich schweigend weiter ging und mich nach einem geeigneten Schlafplatz umsah.

Die Sonne ging langsam unter, ich war müde, obwohl meine normale Schlafenszeit noch nicht abgebrochen war. Wahrscheinlich lag es am Stress, der Aufregung und dem Fußmarsch. Außerdem war es immer noch warm, dem Himmel nach zu urteilen würde es bald regnen. Vielleicht sogar gewittern. Und ich durfte auf der Straße schlafen. Ganz super!

Ich setzte mich vor eine Tür und seufzte. Wenigstens gab es hier einen kleinen Vorsprung über der Tür, sodass ich nicht ganz nass werden würde. Wenigstens etwas.

Trotzdem zog ich den Reißverschluss meiner Tasche auf und kramte einen Pullover heraus, den ich in meinem Schoß zusammenknüllte. Den könnte ich bei Bedarf nicht nur als Regenschutz, sondern auch als Decke, wenn mehr schlecht als recht. So musste ich also die Nacht abwarten.
 

Aus der Nacht wurden Tage. Tage, in denen ich umher irrte keinen Platz fand. Tage, an denen ich merkte, Dad die Welt noch grausamer war, als ich immer dachte.

Mittlerweile war mein kleiner Vorrat so gut wie aufgebraucht und ich glich eher einem Wrack, als einem menschlichen Wesen. Außerdem war ich verdreckt und stank bestialisch. Ich wäre wahrscheinlich noch in der Lage, einen See zu konterminieren mit meinem Dreck.

Aber gut, es war meine Schuld und ich sah meine Dickköpfigkeit ein, nur wollte ich auch nicht nachgeben. Es passte nicht zu mir und darum würde ich mir das auch nicht aufzwingen. Wie sollte ich mich denn auch bemerkbar machen? Um mich herum gab es nichts als Bäume. Riesige Bäume.

Ich schritt kraftlos durch das Gehölz und blinzelte in die Sonne. Sie brannte schon seit Tagen erbarmungslos nieder und ich keuchte. Der Wald war riesig, endlos … kein Anfang und kein Ende, ich streifte ziellos umher. Gut, ganz ziellos nicht. Mein Ziel war - wenn auch mehr unfreiwillig - der Tod, der mich erwarten würde, wenn ich nicht bald nachgab und meine Sturheit überwand.

Nur kannte ich mein Schicksal nur zu gut, um plötzlich in einem Bett aufzuwachen. In einem Krankenhaus.

Neben mir gluckerte ein Gerät, ein Tropf. Dessen Schlauch führte in die Kanüle, die in meiner Armbeuge steckte.

Einzige Erklärung, warum ich hier war: Jemand hatte mich im Wald aufgegabelt und ins Krankenhaus gebracht, nachdem ich zusammen gebrochen war. Nur … ich konnte mich nicht entsinnen, überhaupt das Bewusstsein verloren zu haben. Das Einzige, was ich wusste, war, dass mein Schädel brummte und mir alles Erdenkliche weh tat.

„Fuck … echt!“, fauchte ich leise und suchte nach der Schwesternklingel. Vielleicht konnte mir eine von ihnen sagen, wo ich mich denn befand. In welcher Stadt.

Wenig später kam eine Frau herein und schritt auf das Bett zu.

„Wie lautet Ihr Name?“, fragte sie monoton gelangweilt und ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn jetzt?

„Cyle Conrad. Beides mit C“, gab ich zurück und sie notierte es sich auf einem Klemmbrett, das auf dem Nachttisch lag.

„Alter, Geburtstag und -ort?“

„Ich bin siebzehn, geboren am dritten Oktober in Berlin.“

„Welches Jahr?“

„Wenn Sie rechnen können, dann tun Sie das“, blaffte ich sie an und sie nickte, bevor sie den Raum verließ und mit einem Arzt zurück kam.

Dieser setzte sich an mein Bett und fragte ein paar Sachen, die ich brav beantwortete. Erst dann kam er zur Sache.

„Herr Conrad, Sie wollen sicherlich erfahren, weshalb Sie hier liegen“, begann er und lächelte. „Sie wurden gestern von zwei Spaziergängern hier in der Nähe im Wald gefunden. Ihr Zustand war schon im kritischen Bereich, aber dank Ihrer Retter haben Sie überlebt.“

Ich schloss die Augen und betete. Das durfte doch nicht wahr sein … wahrscheinlich wusste meine Mutter schon Bescheid. Sie hatte mich bestimmt als vermisst gemeldet und dadurch wusste sie, wo ich war. Ich müsste zurück.

„Ich will hier raus“, murmelte ich und zog die Decke über meinen Kopf.

Geschichten

Wie ich es voraus gesehen hatte, ich war als vermisst gemeldet worden. Und es war so klar gewesen, dass dieses Personal sie alarmierte und sie natürlich nach drei Tagen antanzte. Zusammen mit meiner Schwester. Beide machten mir Vorwürfe, Mama fragte immer wieder, warum ich das getan hatte und was ich mir dabei dachte. Wie mir das auf den Sack ging, meine Güte …

Da es mir schon etwas besser ging und ich auch nicht mehr am Tropf hing, machte ich mich aus dem Staub. Im schicken OP-Kittelchen, wohlgemerkt.

So spazierte ich durch die Flure und hielt Ausschau nach einem Fahrstuhl. Mit dem würde ich hinab ins Café fahren und mir einen Kaffee holen. Vielleicht auch ein Stück Kuchen.

„Aber hallo, du hast ja mal einen schicken Hintern!“, ertönte da eine junge männliche Stimme hinter mir und ich drehte mich um. Was war das denn für ein Idiot? Das klang mehr als homo und plump war es allemal.

Vor mir stand ein Krüppel. Besser gesagt, er saß. Ein Typ mit schwarzer Mähne und einem anzüglichen Grinsen im Gesicht, saß in einem Rollstuhl und funkelte mich an. Sein Auftritt war mehr als verbesserungswürdig. Aber Mumm besaß er.

„Was willst du denn?“, fragte ich genervt und mein Gegenüber kam weiterhin grinsend auf mich zu.

„Ich? Dein Hinterteil bewundern. Aber dein Gesicht ist auch nicht schlecht, hat gewisse Ähnlichkeiten mit dir von hinten“, antwortete er und ich hob eine Braue. Der Kleine hatte wirklich Mut und machte sich keine Gedanken über die Konsequenzen.

„Ich hasse dich“, knurrte ich, doch das ließ dieses Grinsen nicht verschwinden.

„Tust du nicht. Schließlich habe ich dein Leben gerettet.“ Er sah zu mir auf und lachte. „Außerdem hast mich niemand.“

„Stimmt, mit einem Krüppel kann man auch nur Mitleid haben.“

„Wenigstens präsentiere ich meinen Arsch keinen fremden Menschen“, meinte er und schob seinen Stuhl an, bevor er die Hand zum Gruß hob.

Der Typ faszinierte mich. Er war mutig und hatte ebenfalls eine große Klappe. Und gut sah er auch aus. Aber … ich stand nicht auf Kerle. Es sollte doch sowas geben … Faszination auf homosexueller Ebene und das hatte nichts mit sexueller Orientierung zu tun. Außerdem würde ich den Kerl nie wieder sehen, das Krankenhaus war zu groß und die Chance zu gering.

Mir war der Appetit auf Kaffee und Kuchen vergangen, weshalb ich zurück in mein Zimmer ging und meine Mutter genervt ansah, da sie mich entsetzt anstarrte.

„Was?“, fauchte ich und sie öffnete den Mund, wahrscheinlich, um mich darauf hinzuweisen, dass man mein blankes Hinterteil bewundern konnte, doch ich schnitt ihr das Wort ab.

„Weiß ich“, knurrte ich aggressiv und ließ mich auf das Bett fallen.

Der Typ von vorhin ging mir gerade nicht mehr aus dem Kopf mit seinem dummen Grinsen und dem dämlichen Aussehen, das förmlich „Emo! Aufmerksamkeit!“ schrie. Aber es stand ihm.

„Cyle, hoffentlich bist du damit einverstanden.“ Mama blickte mich eindringlich an und ich hob eine Braue. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, war aber blöd genug, um einfach zu nicken, ihr zuzustimmen.

„Du willst wirklich in die Geschlossene?“, rief Henriette verblüfft und ich starrte sie finster an.

„Klar, total gern. Ist quasi ein Kindheitstraum“, meinte ich mit einer Prise Ironie und Mama seufzte.

„Es wäre das Beste für dich …“

„Das Beste?! Du hast einen Schaden!“, empörte ich mich und drehte mich weg. Von wegen „das Beste“! Sie wollte mich doch nur loswerden! Und deshalb suchte sie einen Grund, um mich fortzuschaffen, aus ihrem Leben zu verbannen.

Sie wollte mich nicht mehr. Das ließ sie mich spüren. Indem sie mich weggab wie ein falsches Geschenk. Es tat verdammt weh und ließ mich zweifeln. Warum war sie denn dann auch hier, wenn sie mich nicht mehr wollte?

„Geh weg, ich will dich nicht mehr sehen. Und komm mich nicht besuchen. Komm am besten gar nicht mehr her“, sagte ich zu Mama und blickte ins Leere.

„Aber Cyle –“

„Nichts ’aber Cyle‘! Verpiss dich, okay? Ich hasse dich!“

Ich starrte Mama wütend an, sie wirkte erschrocken, bevor die zu schluchzen begann und aufstand.

„Henriette!“, fuhr sie meine Schwester an, die ihr dann wortlos folgte. Und ich blieb allein zurück. Allein in einer Welt, die einem immer wieder in den Arsch trat. Die einen so stark unterdrückte, sodass man das Leben nicht mehr aushielt.

Damit hatte ich wieder alles verspielt. Meine Familie und mein Leben. Ich war so ein Arsch.
 

Immer, wenn ich an das karottenrote Haar, die grünen Augen und die unzähligen Sommersprossen im Gesicht dachte, ging mir das Herz auf. Nur zu her. erinnerte ich mich an ihn und seine Stimme. Diese unglaublich tiefe Stimme, in der doch so viel Lebensfreude steckte.

Ich verehrte und liebte ihn fast schon abgöttisch. Dabei war er fast dreißig Jahre älter als ich und mein Vater.

Ja, ich liebte meinen Vater, aber so, wie ein Sohn seinen Vater lieben sollte. Er war für mich mein Lebensmut, ich lebte nach seinem Motto. Ich lebte mit ihm.

Doch als es geschah … ich war am Ende meiner Kräfte. Noch nie hatte er mich belogen. Noch nie. Und trotzdem verließ er Mama und Henriette. Vor allem aber mich. Er hatte mich enttäuscht und verletzt. Ich –

Schweißgebadet fuhr ich aus dem Schlaf und sah mich in der Dunkelheit um. Immer noch dieses verdammte Krankenhaus.

Mondlicht malte Schatten an die Wände und ich war hellwach. Ich konnte und wollte nach diesem Traum auch nicht mehr schlafen, weshalb ich aufstand und in meine Straßenschuhe schlüpfte. Mittlerweile trug ich auch ganz normale Klamotten; nicht mehr den freien Kittel mit Hinternbelüftung, sondern eine bequeme schwarze Jogginghose und ein rotes Shirt.

So verließ ich mein Zimmer und ging wieder durch die Flure, leise, versuchte, keiner Schwester zu begegnen. Würde nur schief gehen.

Am liebsten wollte ich ja raus an die frische Luft, den Kopf frei bekommen und Ruhe finden. Nachtluft war klar und tat gut, doch ich konnte nicht einfach nach draußen. Also strich ich weiter durch die Gänge, rastlos, da bemerkte ich ein leises Kichern aus einem Zinmer. Dass sich die Tür, die hinein führte, gerade schloss, erkannte man nicht nur, als ein Lichtstrahl, den der Mond an die Flurwand projezierte, verschwand.

Das Kichern gehörte definitiv dem Kerl vom Nachmittag. Diesem Krüppel im Rollstuhl. Dem Emo.

„Was willst du denn?“, zischte ich und die Tür öffnete sich einen Spalt. Man konnte seine Silhouette deutlich erkennen und ich brauchte auch gar nicht raten, um zu wissen, dass der Typ wieder grinste.

„Komm rein, dann entdecken sie dich nicht“, flüsterte er hastig und zog die Tür etwas weiter auf. Skeptisch begutachtete ich ihn und zuckte dann mit den Schultern. Mehr konnte ich ja nicht falsch machen, weshalb ich eintrat und von einer Wand aus Qualm erschlagen wurde. Der rauchte doch nicht ernsthaft im Zimmer?!

„Nächtlicher Wanderer?“, kam es vom weit geöffneten Fenster, an dem ein Typ stand, der einen Glimmstängel im Mund hatte.

„Nicht nur. Der hat einen heißen Hintern“, fügte der Krüppel hinzu und kassierte einen bösen Blick von mir, den er allerdings nicht bemerkte, da er zu dem Raucher rollte. Dem nahm er die Kippe ab, sog einmal daran und warf sie aus dem Fenster.

Langsam wurde ich ungeduldig und ließ mich auf ein freies Bett fallen.

„Also, was wird das?“, wollte ich wissen und der Krüppel kam auf mich zu.

„Jetzt bist du nicht mehr so allein. Fühlt sich doch viel besser an, nicht wahr?“ Sein keckes Grinsen blieb nicht vor mir versteckt, da sich meine Augen langsam an das fahle Mondlicht gewöhnt hatten.

„Willst du dich nicht erstmal vorstellen?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an, worauf er nickte.

„Phil. Der da hinten“, er deutete auf den Typen am Fenster, „ist Raphael.“

„Charlie“, brummte dieser und ich konnte mir gut vorstellen, dass die beiden zusammen waren. Klischee.

„Und dein Name?“ Phil blickte mich neugierig an und ich streckte mich etwas.

„Cyle“, antwortete ich und mein Gegenüber wiederholte nachdenklich meinen Name, bevor er sich durch das Haar fuhr und seufzte.

Charlie schloss das Fenster und schritt zu uns, dann beugte er sich zu Phil hinab und flüsterte ihm etwas zu, wobei er immer wieder zu mir blickte.

„Bis morgen dann“, verabschiedete er sich und verschwand im dunklen Flur. Phil musterte mich und legte den Kopf schief.

„Was ist denn jetzt?“, fragte ich angespannt und er krabbelte aus seinem Rollstuhl zu mir auf das Bett. Seine Technik konnte ich nicht beschreiben, er saß plötzlich neben mir saß. Und das allein durch „Klettern“.

Er starrte mich erneut an, diesmal nachdenklich und zuckte dann mit den Schultern, als hätte er innerlich eine Entscheidung getroffen.

„Und wenn schon, du scheinst ganz nett zu sein. Cyle, richtig?“ Auf seine Nachfrage nickte ich und er klatschte in die Hände.

Er trug immer noch seine Klamotten vom Nachmittag, stank nun aber nach Zigaretten. Ehrlich gesagt, fast wie ein Penner.

„Was ich fragen wollte, warum –“

„Ich hab es nie gelernt, ging irgendwie nicht. Aber jetzt lerne ich es!“, unterbrach er mich, wobei sein letzter Satz nur so vor Stolz strotzte. War bestimmt schwer , wenn man dauernd auf Hilfe angewiesen war. Ich konnte seine Freude darüber nachvollziehen.

„Und du bist im Wald zusammen geklappt. Ich hab dich da herum geistern gesehen und mich richtig erschrocken, als du da lagst. Charlie dachte natürlich, dass du tot bist. Der ist aber immer so drauf“, fügte er noch hinzu und schüttelte schulterzuckend den Kopf.

Ich nickte nur und schwieg. Was sollte ich auch dazu sagen? Ich kannte weder diesen Charlie, noch Phil, obwohl dieser gerade etwas über seine Familie erzählte.

„Und bei dir so? Was ist mit deiner Familie?“, fragte er in diesem Moment und ich stand auf. Es reichte mir langsam.

„Das geht dich gar nichts an“, erwiderte ich und Phil sah mich überrascht an, bevor er sich auf seinem Bett breit machte. Vielleicht wollte er jetzt schlafen oder was weiß ich.

„Das sagen alle. Aber gut, lass dich nicht aufhalten.“ Er hob die Hand zum Abschied und ich verdrehte die Augen.

„Gute Nacht“, sagte ich nur und warf die Tür hinter mir zu.

Nähe

Mit Phil hatte ich nichts mehr zu tun, er kam nicht zu mir und ich nicht zu ihm. Und ich wollte mit ihm auch nichts zu tun haben oder etwas unternehmen, seine Anwesenheit machte mich verrückt. Besonders aber sein Grinsen. Ein Grinsen, das mich nervös machte, durch mich hindurch strahlte und meine Seele auftaute. Es war, als könnte er mich heilen von all dem Leid. Aber meine Probleme gingen ihn nichts an. Mein ganzes Leben konnte ihm am Arsch vorbei gehen. Außerdem hatte er ja sowieso seinen Charlie oder Raphael oder wie der Vogel jetzt hieß. Bei dem konnte er Psychologe spielen, nicht bei mir.

Eigentlich war es doch seltsam. Ich kannte Phil nicht und urteilte über ihn. Wahrscheinlich wollte ich ihn deshalb so gern kennen lernen. Sein Grinsen ging mir nicht mehr aus dem Kopf, genauso war es mit seiner Art.

Ich wollte nichts von ihm wissen und wollte es insgeheim doch. Es machte mich verrückt. Ich wusste nicht mehr, was ich wollte.

Doch diese Entscheidung wurde mir mit meiner Entlassung abgenommen.

„Du gehst schon?“, ertönte eine Stimme an der Tür als ich meine Tasche packte und ich sah auf. Phil.

„Ja“, gab ich knapp zurück und widmete mich wieder meinen Sachen. Phil kam auf mich zu und runzelte die Stirn.

„Du kommst nicht aus der Gegend, oder?“, wollte er nun wissen und ich seufzte. Was sollte das denn?

„Nein, nicht von hier. Warum?“

„Nur so.“ Phil druckste herum und blickte zur Seite.

„Warum fragst du wie ein Mädchen?“, fragte ich und er funkelte mich beleidigt an.

„Wieso willst du das wissen?“

„Weil du hier aufkreuzt.“

„Lass mich doch.“ Phil rollte an mir vorbei zum Fenster und warf einen Blick nach draußen.

„Du hast also auch keine Blumen hier …“, stellte er fest und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich mag halt keine Blumen.“

„Aha.“

Ich packte weiter zusammen und überlegte kurz. Meine Mutter würde mich bald abholen, dann wäre ich hier weg und bräuchte diese Grinsebacke nicht mehr sehen. Aber … ich wollte das nicht. Ich brauchte noch Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Um zu wissen, warum mir dieser Junge durch den Kopf geisterte. Warum ich ihn näher kennen lernen wollte.

„Darf ich dich was fragen, Cyle?“

„Was denn?“

„Warum bist du durch den Wald geirrt?“, fragte Phil und drehte sich zu mir um. Am besten, ich erzählte die Wahrheit. Dann müsste ich nichts erfinden und mich in irgendwas verrennen.

„Ich bin von daheim abgehauen und wollte neu anfangen, das ist alles“, antwortete ich und schloss meine Tasche. Damit würde ich ihn aus den Augen verlieren.

Phil lächelte mitleidig und kam auf mich zu.

„Deine Mutter macht wohl Terror“, vermutete er, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein, die ist eigentlich nie da oder schläft. Aber sonst nicht.“

„Dann dein Vater?“

Ich hielt inne und starrte auf den Boden. Volltreffer in meine größte Schwachstelle. Mein Vater. Der Mann, der uns alle so verletzt hatte.

Dass ich nicht antwortete und so geschockt schaute, deutete Phil anscheinend als ein Ja.

„Kenn ich. Mein Vater hat damals meine Mutter und mich immer geschlagen. Also macht das auch nichts weiter“, erklärte er mit einer Gelassenheit, die mich überraschte. Damit hätte ich in hundert Jahren nicht gerechnet.

„Mein Vater hat mich nicht geschlagen. Er … er“, mir blieben die Worte im Hals stecken, „er hat … sich das Leben genommen.“ Es war draußen und ich fühlte mich, als würde ich mit Hochgeschwindigkeit durch einen endlosen Tunnel katapultiert werden. Ohne Bremsen, ohne Ziel, ohne Halt.

„Mein Vater ist auch tot. War ein Unfall, aber ich habe es ihm gegönnt. Aber ich verstehe, wie du dich fühlst.“ Phil berührte meine Hand und ich blickte ihn an. Er lächelte, jedoch nicht mitleidig, wie all die anderen Menschen, die von dem Tod meines Vater erfuhren. Nein, Phils Lächeln war anders, tief und verbunden. So als würde es sagen: „Du bist nicht allein. Ich verstehe dich.“

Meine Züge entspannten sich und ich lächelte zurück. Warum auch immer.

„Siehst du? Ist doch gar nicht so schwer. Aber schade, dass du heute gehst. War aber nett, dich kennen gelernt zu haben“, sagte er und ließ mich los.

Meine Hand wanderte zu meinem Herzen und ich spürte es viel zu heftig schlagen.

„Lebst du hier?“, fragte ich mit zittriger Stimme und er nickte.

„Ich komme hier aus dem Ort“, meinte er und rollte an mir vorbei. „Charlie holt mich gleich ab. Das war es dann wohl …“

„Willst du solange noch bleiben? Bis er kommt?“, bot ich ihm an und er überlegte kurz, bevor er nickte.

Aber irgendwie tat es mir weh. Er hatte schon einen Menschen, den er liebte. Nur … stimmte es auch? War er ”anders“?

Phil sah mich erst fröhlich an, dann rollte er wieder zurück zum Fenster und starrte hinaus. Es schien, als dachte er nach.

„Sag mal, Phil, wer ist eigentlich dieser Charlie?“, wollte ich wissen und er schaute auf.

„Mein Bruder. Er ist der Sohn meines Stiefvaters“, antwortete er überrascht und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ein riesengroßer Stein.

„Und ich dachte, ihr seid zusammen!“, seufzte ich erleichtert und Phil lachte.

„Wirklich? Ich bin aber nicht mit ihm zusammen.“ Er schüttelte den Kopf und rollte auf mich zu. „Ich will auch gar nichts von ihm. Er ist schließlich mein Bruder!“

Phils Aussage verhärtete meine Vermutung, dass er schwul war. Und sehr naiv. Jeder Typ würde die Moral über Bord werfen und trotzdem eine Beziehung beginnen. Vielleicht war er auch einfach vernünftig.

„Aber was ist mit dir?“, fragte Phil neugierig und ich winkte ab.

„Ach, ich bin in der Sache noch etwas unerfahren.“

„Du bist noch Jungfrau?“ Er grinste mich schelmisch an und ich wandte meinen Blick ab. Wie schön, dass er weiter in meinen Wunden rumstochern musste und es ihm anscheinend noch Spaß machte. Sehr entgegen kommend.

„Mensch Cyle, hab dich nicht so! Ich -“

„Hier bist du also!“ Ein Typ mit schwarzem Haar schaute ungeduldig herein. Ich konnte ihn aber nirgendwo zuordnen. Längeres schwarzes Haar, dunkle Augen … kannte ich nicht.

„Wer bist du?“, fragte ich ihn und er blitzte mich unfreundlich an.

„Charlie“, antwortete Phil niedergeschlagen und sah mich entschuldigend an. „Tut mir leid, Cyle.“

Seine letzten Worte, dann schloss sich die Tür hinter ihm. Kein „Auf Wiedersehen“ oder „Mach’s gut“, nur eine Entschuldigung. Als wenn ich damit etwas anfangen könnte!

Aber ich hatte recht behalten: Den Kerl würde ich nie wieder sehen. Einmal und das war’s dann.

Jedoch musste ich mir eingestehen, dass ich damit nicht klar kam. Phil war weg und ich allein. Und ich wollte nicht allein sein. Nicht jetzt. Nicht hier. Von zuhause war ich auch viel zu weit weg.

Ich setzte mich auf das Bett und wartete. In Gedanken bei Phil. Dabei kannte ich ihn überhaupt nicht, verdammt! Was wusste ich schon über ihn, abgesehen von seinem Namen, Wohnort und einem Bruchstück seines Lebens? Richtig: rein gar nichts! Und trotzdem geisterte mir sein Grinsen durch den Kopf.

Der Grund blieb selbst mir verborgen, aber jeder Gedanke an Phil schmerzte und brannte sich in mein Herz. Der Gedanke, ihn verloren zu haben, fraß mich auf. Ich brauchte ihn jetzt … doch ich würde ihm nie mehr begegnen …
 

„Nanu? Du bist ja immer noch da!“ Eine Schwester sah ins Zimmer und seufzte.

„Ja, tut mir leid, dass meine werte Frau Mutter nicht vorbei kommt“, sagte ich gereizt und blickte wieder in meine Zeitschrift. Da der Abholtermin schon lange überfällig war, hatte ich es mir auf dem Bett bequem gemacht.

Die Schwester schritt zu mir und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hast du nochmal angerufen?“

„Mein Handy liegt daheim.“

„Hast du eure Nummer im Kopf?“, wollte sie wissen, doch ich verneinte. Dass das eine Lüge war, brauchte sie nicht erfahren.

„Also wirklich, Cyle! Da findet man dich in einem Wald, weit weg von deinem Zuhause und du machst keine Anstalten, wieder zurück zu kommen! Das ist ein Krankenhaus und kein Hotel!“

„Ich weiß“, erwiderte ich nur und legte die Zeitschrift zur Seite. Das war es dann wohl mit der Ruhe …

Ich zog meine Schuhe an, nahm Tasche und Zeitschrift und räumte das Zimmer.

Dafür wartete ich auf dem Flur der Station weiter, wenn auch widerwillig. Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, doch ich riss mich zusammen und blieb still. Wartete stumm und spazierte ab und zu mal zum Getränkeautomat unten im Eingang und holte mir von dem Geld, das mir Mama gegeben hatte, Kaffee, bevor ich mit dem Becher zurück zur Station ging.

Aber meine Mutter kam nicht, was mir Sorgen bereitete. Denn sie kam nie zu spät. Sie war immer pünktlich.

„Bist du Cyle Conrad?“, fragte mich plötzlich jemand, als ich, mit dem Becher neben mir, auf einem Stuhl saß und das Muster des Bodens begutachtete.

Ich sah auf und bekam einen Schreck. Ein Typ, der aussah, als hätte man auf seinem Gesicht getanzt, fixierte mich mit seinen stahlgrauen Augen. Das war ein Schrank und kein Mensch!

„Bist du Cyle Conrad?“, wiederholte er ungeduldig mit seiner rauen Stimme und ich nickte.

Daraufhin verschwand die Härte aus seinem Gesicht und er lächelte. Ohne Mist, diese Visage konnte lächeln!

„Dann muss ich nicht mehr suchen. Ich bin Rüdiger Hermann, Leiter des Kinderheims. Ich soll dich im Auftrag des Jugendamtes abholen und mitnehmen“, verkündete er und ich sah ihn verständnislos an. Jugendamt? Was hatte das Jugendamt -

„Was ist mit meiner Mutter?“, fragte ich scharf, doch Rüdiger lachte.

„Keine Sorge, der geht es gut. Sie ist zuhause, genau wie deine Schwester. Aber du kommst mit, ich bringe dich ins Heim.“

„Ich will aber nicht! Was soll das?“, empörte ich mich, wurde aber von Rüdiger auf die Füße gezogen.

„Hör auf zu zicken und komm einfach mit. Ich erkläre dir alles während der Fahrt“, raunte er mir ins Ohr und ich gab nach. Es machte eh keinen Sinn, sich zu wehren, weswegen ich ihm stumm aus dem Krankenhaus folgte. Würde denn diese ganze Umgebung meine neue Heimat werden?

Ich schüttelte den Kopf und überlegte, warum das Jugendamt die Vormundschaft für mich übernommen hatte. Etwa wegen der Sache mit meiner spontanen Wandertour ins Blaue? Wahrscheinlich, aber vielleicht überraschte mich Rüdiger auch noch.

Er nahm mir meine Tasche ab und verstaute sie im Kofferraum seines schwarzen Mercedes. Typische Bonzenkarre und Längenersatz für’s beste Stück, wie es so schön hieß.

„Setz dich schon rein“, sagte er freundlich und ich ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder. Saß sich im Allgemeinen auch nicht viel besser als in anderem Autos, aber wer es unbedingt brauchte …

Rüdiger stieg dann ein und startete den Wagen.

„Warum haben Sie mich jetzt abgeholt und wohin bringen Sie mich jetzt?“, wollte ich ungeduldig wissen und mein Fahrer sah mich kurz an.

„Deiner Mutter wurde das Sorgerecht entzogen, darum bringe ich jetzt ins Heim. Das habe ich dir aber schon gesagt. Wir schauen dann weiter, vielleicht kommst du in ein betreutes Wohnen. Wer weiß“, erklärte er und ich wusste jetzt schon, dass es ein schwerer Weg werden würde …

Überraschung

Mein neues Leben begann also in einem Heim mit dem Entzug des Sorgerechts meiner Mutter. Hatte ich wieder super eingefädelt. Allein durch meine schwachsinnige Aktion, die mich ins Krankenhaus gebracht hatte. Ich war doch ein Naturtalent!

Jedenfalls ließ man mich erstmal im Kindernotdienst. Einer Art Station, die man nur von innen öffnen und schließen konnte, ohne einen Schlüssel zu benötigen. Den brauchte man, um überhaupt rein zu kommen. War vor allem wegen der anderen Kinder und Jugendlichen.

Im Kindernotdienst hatte ich ein kleines Zimmer mit Bett, einem Stuhl und einer Kommode, die ihre besten Jahre hinter sich hatte.

Löcher gab es viele in der Wand, irgendwelche Idioten hatten anscheinend ihre Aggressionen daran ausgelassen.

Ein eigenes Bad besaß ich auch, mehr schlecht als recht, aber es hatte alles, was man brauchte.

Außer meines Zimmers gab es noch eines für die Mädchen. Das war zur Zeit bewohnt, aber mit ihr wollte ich nichts zu tun haben. Genauso wenig wie mit dem ganzen anderen Gesindel, das anscheinend aus dem gleichen Müll bestand. Hauptsache, man war ein Flittchen oder der Saufkönig des ganzen hirnlosen Haufens, sonst bekam man Probleme. Worte wie „Ey“ oder Sätze wie „Aldah, isch fick deine Muddah, Aldah, isch schwör’s dir!“ waren hier Gang und Gebe und ich wünschte mir nur zu sehr mein gehobenes Bildungsniveau zurück.

Aber – auch hier gab es Ausnahmen, die relativ nett und schlau waren, wenn die anderen Anhänger nicht in der Nähe waren. Besonders die Mädels waren okay, manchmal auch die treibenden Keile. Wenn sie sich nicht zofften, hingen sie wie die besten Freundinnen zusammen und soffen oder pöbelten herum.

Ich hielt mich dezent zurück und weigerte mich jeden Tag aufs Neue, mich mit diesen Menschen an einen Tisch zu setzen und zu essen. Das war mir zuwider. Ich wollte mich auch nicht mit ihnen abgeben. Deshalb zog ich mich zurück und verbrachte meine Zeit allein in meinem Zimmer. Und dachte nicht nur einmal an Phil.

Seitdem er sich von mir ”verabschiedet“ hatte, war ich einfach nur fertig. Ich vermisste seine fröhliche Art und dieses neckische Grinsen; all die Dinge, mit denen er so leicht umging, obwohl sein Schicksal so hart war. Seine Lebensfreude imponierte mich und insgeheim fand ich ihn schon ganz attraktiv. Besonders sein Lächeln. Aber schwul war ich deswegen noch lange nicht! Als wenn ich mit ihm schlafen würde! Das fand selbst ich ekelhaft.

„Cyle, würdest du bitte deine Sachen ein wenig zusammenräumen? Du bekommst einen Mitbewohner“, sagte Rüdiger plötzlich und ich nickte. Dass er einfach herein kam, war mir mittlerweile egal, er war der Chef und hatte das Sagen. Ich legte mich ungern mit ihm an und da war ich nicht allein. Vor ihm hatten alle Respekt.

Deshalb machte ich etwas Platz und überlegte schon, was für ein Ghettoprinz hier einziehen würde, da tauchte Rüdiger auch schon mit ihm auf.

„Phil? Was machst du denn hier? Und deine Beine, du kannst ja laufen!“, rief ich überrascht und doch glücklich.

Aber was machte er hier? Hatte man ihn rausgeworfen? Seine Mutter vielleicht? Gab es Probleme? Und warum konnte er laufen?

Rüdiger begann zu lachen und Phil sah mich ebenfalls grinsend an. Nur nicht mit dem Grinsen, das ich kannte. Das war nicht sein Grinsen. Das war nicht Phil!

„Ich heiße zwar Sebastian und kann, seit ich klein bin, laufen, aber anscheinend sehen wir uns wirklich so ähnlich“, meinte er schmunzelnd und Rüdiger nickte.

„Ganz genau, das hier ist Sebastian. Basti, das ist Cyle“, stellte er uns einander vor und ich war verwirrt. Wenn Sebastian und Phil sich so ähnlich sahen, mussten sie Zwillinge sein, doch Phil hatte gesagt, dass er außer Charlie keine anderen Geschwister hatte. Und der war nicht mal rein blutsverwandt mit ihm.

Sebastian trat ein, stellte seine Taschen ab und ließ sich auf einem Stuhl nieder.

„Ihr seid nicht zufällig miteinander verwandt?“, hakte ich nach, doch er schüttelte den Kopf.

„Er ist mein bester Freund und ich kenne ihn von klein auf. Dass mit dem Aussehen ist reiner Zufall. Ich bin auch älter als er.“

„Und du bist dir ganz sicher?“, wollte ich wissen und er nickte.

„Ganz sicher. Aber mal zu was Anderem. Du kennst Phil aus dem Krankenhaus, richtig?“

„Ja, warum?“

„Nur so, er hat mir davon erzählt.“ Er schaute aus dem Fenster und lächelte.

„Was hat er dir erzählt?“, fragte ich misstrauisch, erhielt jedoch keine Antwort. Lediglich starrte Sebastian aus dem Fenster und schien nachzudenken.

Dann eben nicht, ich brauchte mir das nicht gefallen lassen. Ignoranz zeugte von Dummheit. Weil sich diese Menschen einfach nicht auf Konfrontationen einließen, wenn es wichtig war. Aber wenn es um Selbstschutz ging oder das Gegenüber die Aufmerksamkeit nicht wert war, konnte man es schon verstehen.

„Kommst du morgen mit zum See? Dann können wir schwimmen gehen“,erzählte Sebastian plötzlich und fügte hinzu: „Phil kommt auch mit.“

Ich sah ihn an und fragte mich, was das auf sich hatte. Aber ich würde Phil wiedersehen, seine Stimme hören …

„Klar, warum nicht?“, antwortete ich automatisch und er grinste.

„Okay, dann machen wir es so!“, lachte er und reichte mir die Hand, um es zu besiegeln.
 

Die Idee war absoluter Müll, da es am Morgen geregnet hatte und Wiesen und Sand einfach nur feucht waren. Außerdem hatte ich keine Lust mehr. Draußen war es nass und nicht gerade so warm, dass man Sonnenstrahlen genießen konnte. Badezeug hatte ich sowieso keins dabei.

Sebastian planschte schon im Wasser herum, ich saß am Ufer auf einer großen Decke und sah ihm mehr oder weniger zu. Phil war noch nicht da und würde, wenn er schlau war, auch gar nicht kommen. Als Gehbehinderter konnte er eh nicht schwimmen und würde es so schnell auch nicht lernen.

„Cyle, hinter dir!“, rief Sebastian und kam aus dem Wasser. Sein schwarzes Haar, das er immer penibel zurecht machte, hing nun strähnig wie ein alter Wischmopp herab.

Ich drehte mich also um und erblickte Charlie, dem sofort die Laune verging, als er mich erkannte. Das interessierte mich weniger, als ich Phil auf seinem Rücken bemerkte.

„Sorry, musste den Wagen noch parken“, entschuldigte sich Charlie und setzte Phil auf der Decke ab.

Ich traute mich nicht, ihn anzusehen. Es war mir peinlich, doch ich freute mich riesig, ihn zu sehen. Ich wollte ihm so viel sagen, doch mein Mund war wie zugeklebt, meine Zunge fühlte sich an, als sei sie tonnenschwer. Selbst wenn ich hätte reden können – rausgekommen wäre nichts.

Also saß ich da wie ein verlegenes Schulmädchen mit feuerroten Wangen und blinzelte immer wieder in Phils Richtung. Ihm war anscheinend nicht bewusst, wie verrückt er mich machte, denn er unterhielt sich freudig mit Sebastian, der mittlerweile neben ihm saß. Ich hätte ddie beiden nicht unterscheiden können, sie sahen sich wirklich unglaublich ähnlich, doch Phils ganze Art war offener und herzlicher. Man spürte seine Lebensfreude und die Wärme, die er ausstrahlte.

Ich konnte warten, wie ich wollte, er schenkte mir kein Lächeln. Er würdigte mir nicht einmal einen Blick, egal, wie sehr ich mich danach sehnte. Nach seinem perfektes Lächeln und seiner Stimme, die meinen Namen aussprach.

Anscheinend waren meine Gedanken so auf Phil fixiert, dass ich erst dann aufschreckte, als man mich anbrüllte.

„Alles in Ordnung, Cyle?“, wollte Phil besorgt wissen und ich nickte, was ihn erleichtert aufatmen ließ.

„Hast du mit offenen Augen geschlafen?“, lachte Sebastian und ich verfluchte ihn innerlich. Der Typ war vielleicht Phils bester Freund, aber auch ein potenzieller Gegner. Okay, er hatte eine Freundin, also fiel er doch weg.

Charlie tauchte plötzlich mit einem Korb auf und sah in die Runde. Ehrlich gesagt hatte ich nicht gemerkt, dass er kurz weg gewesen war. Alles nur wegen Phil.

„Sebastian, mach dich mal trocken! Ich will später nicht mit nassem Arsch zurück fahren, bloß weil du mit deiner Hose hier alles einsaust!“, maulte Charlie und blickte mich dann finster an. Es sagte alles, er wollte mich nicht hier haben und fragte sich innerlich, warum ich ausgerechnet mitgekommen war. Wahrscheinlich war er deshalb auch so unfreundlich Sebastian gegenüber, da dieser mich eingeladen hatte, obwohl ich im Grunde ein Fremder war.

„Ich hab jetzt nur was für drei Leute dabei“, stellte Charlie mürrisch fest, während Sebastian aufstand und sich die Haare trocken rubbelte.

„Ist doch kein Problem, du nimmst einen Teller, Cyle nimmt einen und Phil und ich teilen uns einfach einen“, schlug er vor und Phil nickte zustimmend, worauf mir Charlie murrend einen Plastikteller hinstellte, dem ein Becher folgte.

„Wie viel hat Mama denn eingepackt?“, hakte Phil nach und sein Bruder zog eine vollbeladene Tupperdose aus dem Korb. Alles Sandwiches.

Phil riss ihm die Dose aus der Hand und öffnete sie. Dann hielt er sie mir vor die Nase.

„Nimm, solange noch was da ist“, grinste er und mir huschte fast wie selbstverständlich ein Lächeln über die Lippen. Er hatte mich richtig beachtet und mir wieder sein Grinsen geschenkt.

Ich nahm dankend ein Sandwich und biss hinein. Es war belegt mit Schinken und Ei. Und Käse. Trotzdem ging mir die Zeile eines bekannten Liedes durch den Kopf.

Ich begann zu schmunzeln und brach schließlich in schallendem Gelächter aus.

Charlie dachte sowieso, ich sei die ganze Zeit auf Droge, aber Sebastian und Phil schauten mich verwirrt an. Sie konnten sich meinen Lachanfall nicht erklären – genauso wenig wie ich – und runzelten die Stirn.

„Hast du da irgendwas rein gemischt?“, wollte Phil skeptisch von seinem Bruder wissen, doch dieser schüttelte den Kopf und biss selbst von einem Sandwich ab.

Ich konnte mich nicht zusammenreißen, verschluckte mich fast an einem Krümel, aber aufhören funktionierte nicht.

Phil sah zu Charlie und Sebastian und nickte ihnen zu, worauf sie mich unter den Armen und an den Beinen packten, hoch hoben und in den See warfen. Ich schrie auf und verschwand unter Wasser, strampelte mich nach oben und fand prustend Boden unter den Füßen. Damit hatte ich nicht gerechnet, dass sie mich allen Ernstes mit Klamotten ins Wasser beförderten.

Also stand ich klitschnass in der bräunlich grünen Brühe und sah die beiden Jungs finster an, während die sich am Ufer prächtig amüsierten. Selbst Phil lachte.

„Ich hab keine anderen Sachen dabei!“, rief ich sauer und Sebastian kam auf mich zu, um mich herauszuziehen, doch ich stieß ihn weg und wattete aus dem Wasser. Meine Klamotten klebten an meiner Haut und meine Schuhe erst … ich wollte einfach nur raus aus den Sachen und weit, weit weg. Nur hatte ich ziemliche Hemmungen, vor den anderen die Hüllen fallen zu lassen. Besonders vor Phil.

Doch plötzlich stellte sich mir Charlie in den Weg, ein Handtuch in den Händen, und schaute mich finster an.

„Ausziehen“, sagte er trocken und ich schüttelte heftig den Kopf, sodass mir meine Haare um die Ohren flogen. Ich musste weiß wie eine Wand sein, nicht nur durch die Kälte, die allmählich durch meine Glieder kroch. Meine Lippen bebten durch das leichte Zittern und Sebastian kam langsam aus dem Wasser.

„Jetzt hab dich nicht so, wir sind allein hier!“, rief er und Phil fügte hinzu: „Komm schon, Cyle! Deinen Arsch hast du im Krankenhaus auch ohne Probleme präsentiert!“

„Du denkst auch nur an das Eine, was?“ Sebastian lachte und meine Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Rot. Phil stand anscheinend wirklich auf Kerle. Und das war ein Problem für mich. Denn ich tat es nicht. Natürlich gefiel er mir; er sah einfach nur gut aus und war in gewisser Weise sogar irgendwie niedlich, was aber nicht dafür sprach, dass ich auf ihn – oder irgendwelche anderen Typen – stand. Ich war nicht schwul, das war alles. Ich verliebte mich nicht in Jungs. Ich nicht. Auch, wenn meine alte Schule etwas anderes sagte. Hier brauchte ich dieses Image nicht weiterleben.

„Jetzt hast du ihn verlegen gemacht!“, spottete Charlie und grinste den beiden zu. „Schau dir an, wie rot er ist!“

„Halt die Fresse!“, knurrte ich und riss ihm das Handtuch aus den Händen, egal, ob er sich beschwerte, dass es seines war.

Ich wollte nun endgültig aus den Klamotten raus. Sofort. Und dann den anderen eine donnern für ihre scheiß Aktion. Ganz besonders aber Charlie.

„Zieh endlich deine Klamotten aus oder du wirst krank“, versuchte es nun Sebastian und ich zog mir wütend das Shirt über den Kopf. Dass Phil darauf begeistert applaudierte, war wirklich völlig überflüssig.

„Super! Und das auch noch kostenlos!“, jubelte er und bekam das triefende Shirt auf den Kopf geworfen. Sebastian kugelte sich vor Lachen, während Charlie stumm ein Sandwich aß.

„Phil, du Arsch!“, fauchte ich, doch Phil grinste, nachdem er sich befreit hatte.

„Hab dich mal nicht so!“

„Guck weg!“

„Aber warum –“

„Du sollst weg gucken!“ Ich wurde fast schon hysterisch und war nicht mal ansatzweise eine Frau. Aber Phil gab nach und drehte sich mit Sebastian in eine andere Richtung.

Ich nutzte diese Chance und entledigte mich meiner Klamotten, so schnell ich konnte und rubbelte mich dann ab.

Dabei herrschte eine unglaubliche Stille, weder Sebastian, noch Phil, sagten einen Ton, sondern saßen still da und starrten auf das Wasser. Charlie hielt eh seinen Mund und kaute auf seinem Sandwich herum.

Das war nicht auszuhalten! Ich hatte ernsthafte Probleme, mich mit diesem verdammt kleinen Handtuch trocken zu kriegen und diese Spezialisten schwiegen fröhlich vor sich hin!

„Hat jemand Sachen für mich?“, fragte ich, als ich fertig war und Phil und Sebastian nickten gleichzeitig. Sie deuteten in Charlies Richtung, während sie immer noch den See betrachteten. Charlie nuschelte etwas und erhob sich.

„Ich hole es“, verkündete er und bewegte sich zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.

Ich setzte mich, das Handtuch so gut es ging um die Hüfte gewickelt, mit dem Rücken zu Phil und seufzte.

„Was ist los?“, wollte Phil wissen, drehte sich aber nicht um.

„Weiß nicht“, erwiderte ich und starrte Charlie nach. „Und bei dir?“

„Dasselbe. Hab ein paar Probleme mit ein paar Dingen, aber ansonsten … keine Ahnung.“

„Gut zu wissen.“

„Stimmt.“ Phil seufzte ebenfalls und Sebastian mischte sich ein.

„Ihr habt beide einen Schaden“, meinte er und stand auf, dann lief er ins Wasser. Und ich blieb allein mit Phil zurück, was meinen Herzschlag beschleunigte.

Erst herrschte zwischen uns Schweigen, dann spürte ich sein Kinn auf meiner rechten Schulter. Ich verkrampfte mich kurz, entspannte mich aber recht schnell und sah Phil irritiert an. Er machte mich verrückt!

„Cyle?“, flüsterte er und ich gab leise „Ja?“ zurück.

„Du brauchst keine Angst haben. Ich nehme immer gern mit anderen Menschen Kontakt auf. Und ich will dir helfen.“

„Ich brauche keine Hilfe“, lehnte ich ab und wollte ihn wegschieben, doch er hielt sich an mir fest.

„Verstehst du nicht, Cyle? Du musst lernen, endlich abzuschließen. Endlich nach vorn schauen und alles hinter dir lassen.“

„Vielleicht sollte ich dich mal hinter mir lassen, du Spast!“

„Immer noch ’Krüppel‘.“ Phil schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln und rutschte von mir weg. Mein Herzklopfen blieb, wenn auch ungewollt. Mir rauschte das Blut in den Ohren und ich war anscheinend wieder puderrot.

„Was schaust du denn so?“, kam es von der Seite und mich traf Stoff. Schwarzer Stoff.

„Wie jetzt? ’Slayer‘?“ Ich schaute mir das Shirt skeptisch an und dann zu Charlie, der sich an den Kopf griff.

„Ernsthaft? Du kennst Slayer nicht?“, fragte er verständnislos und ich zog mir das Shirt schnell über, bevor er es sich anders überlegte. Dann noch die Jogginghose, die neben mir lag, so über die Beine. Ohne Unterwäsche, auf die musste ich jetzt wohl oder übel verzichten, auch wenn ich darauf gar nicht scharf war.

„Basti, komm raus!“, rief Phil seinem Freund zu und blickte dann Charlie an. „Wir sollten Cyle zurück bringen, sonst wird er noch krank.“

Charlie selbst knurrte nur unverständliche Dinge, während Sebastian lachend aus dem Wasser wattete.

Phil schaute wieder zu seinem Bruder auf und lächelte ihn unschuldig an.

„Kannst du Cyle bitte schon fahren? Es ist doch etwas frisch“, bat er und mir fiel fast die Kinnlade runter. Ich mit Charlie. Allein. Hatte er wirklich so viel Vertrauen in uns?

Auch Charlie war darüber nicht gerade begeistert und starrte Phil schockiert an.

„Ist das dein Ernst?!“, schrie er entgeistert und sein Bruder nickte.

„Tu es bitte für mich. Du kannst Basti und mich später abholen.“

„Okay …“, gab Charlie seufzend nach und lief voraus.

Ich folgte ihm mehr oder weniger unfreiwillig und schwieg. Weder er, noch ich, wollten mit dem jeweils Anderen reden. Und das anscheinend nur wegen Phil.

Nach einem recht kurzen Fußmarsch kamen wir an einem mir sehr bekannten Auto an. Einem Mercedes.

„Du kennst Rüdiger?“, fragte ich irritiert und Charlie nickte verwirrt.

„Klar, das ist mein Vater“, antwortete er und schüttelte dann den Kopf.

Ich starrte ihn ungläubig an. Raphael Hermann und Phil Hermann? Das ergab Sinn.

„Also hieß Phil früher anders?“, hakte ich nach und Charlie verdrehte die Augen.

„Phil heißt sein ganzes Leben lang schon Philipp Hermann. Steht so auf seiner Geburtsurkunde.“

„Ich denke, dein Vater hat seine Mutter geheiratet.“

„Hat er auch.“ Charlie schloss den Wagen auf. „Trotzdem heißt Phil seit seiner Geburt so. Und jetzt steig ein.“

Ich setzte mich also auf den Beifahrersitz und überlegte, wie es sein konnte, dass Phil schon immer den Name seines Stiefvaters trug.

Regentropfen

Ich hatte meine Mutter seit ihrem letzten Besuch im Krankenhaus nicht mehr gesehen und auch weiter keinen Kontakt mit ihr gehabt. Entweder hatte sie keine Lust und hasste mich oder sie durfte nicht. Ich wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Denn das wäre im schlimmsten Fall eine Enttäuschung und würde mich verletzen.

Aber es betrübte mich doch tief. Sie war schließlich meine Mutter und selbst, als sie nach dem Tod meines Vaters kaum noch Zeit für mich und meine Schwester hatte, konnte ich sie nicht hassen. Ich liebte sie einfach, sie hatte mir das Leben geschenkt und sie war immer da gewesen.

Jedenfalls, man hatte mich aus dem Notdienst geworfen und in ein ”normales“ Zimmer verfrachtet. Zusammen mit Sebastian.

Ich erfuhr von ihm, dass er keine Lust mehr auf seine Eltern hatte. Sie hatten zwar immer für ihm Zeit, schlugen ihn nicht und behandelten ihn gut, er hatte keine Sorgen – aber es war zu viel für ihn. Da man ihn zu gut behandelte, wie er erzählte. Aber vielleicht war das alles auch nur Fassade und seine Eltern kümmerten sich einen Dreck um ihn.

Nun lebte ich also offiziell im Heim, meine Mutter wollte keinen Kontakt zu mir oder konnte es nicht und das Leben in diesem Auffangbecken der Blödheit war alles andere als angenehm. Denn die Leute hier konnten mich – bis auf Sebastian – nicht leiden. Wie gesagt, ich entsprach ihrem Niveau nicht und der Klamottenstil meiner Wenigkeit sagte ihnen auch nicht zu. Aber wenigstens gab es noch Sebastian. Ihn akzeptierte man seltsamerweise hier, obwohl er genauso Emo aussah wie Phil und Charlie. Und da war es wieder. Phil.

Durch Sebastian traf ich ihn nun öfter und ging ihm trotzdem aus dem Weg.

Ich hatte Angst davor, ihm näher zu kommen; Angst, dass er mich aus meiner heilen Welt holte. Dabei wollte ich ihm näher kommen.

Ich wollte sein Lächeln sehen. Einmal seine Hand halten. Aber das traute ich mir nicht zu.

„An was denkst du gerade?“ Sebastian schaute vom Doppelstockbett zu mir hinunter und blätterte in einer Zeitschrift herum.

Ich saß am Schreibtisch und malte mit Filzstiften eine Landschaft. Ganz simpel, grünes Gras mit bunten Blumen und blauer Himmel, in dem weiße Wolken und die Sonne hingen. Alles nur, da mir langweilig war.

„Phil“, rutschte es mir heraus und ich fügte hastig hinzu: „Du weißt ja, weil er im Rollstuhl sitzt und –“

„Ist klar“, unterbrach mich Sebastian skeptisch und sprang vom Bett. „Du weißt, dass er es von klein auf gewohnt ist. Jetzt kommt nur noch seine Therapie, seine nächste Herausforderung.“

Ich nickte nur und seufzte. Phil würde mit seinen ersten Schritten ein anderer Mensch werden. Ganz bestimmt.

„Kommst du heute wieder mit? Phil und ich wollten eine Runde ums Feld drehen“, fragte Sebastian und ich nickte einfach. Das kam mir schon ein wenig spanisch vor, aber das behielt ich für mich.

„Und Charlie?“, wollte ich misstrauisch wissen, doch Basti schüttelte den Kopf.

„Keine Sorge, der ist arbeiten. Also, was ist, kommst du nun mit?“

„Ich habe bereits Ja gesagt“, murmelte ich und er grinste zufrieden, schlug mir auf die Schulter.

„Alles klar, dann gebe ich ihm Bescheid. Es war auch seine Idee, dass du mitkommst.“

„Ich habe ja auch keine Freunde“, entgegnete ich genervt und er lachte.
 

„Wie, du willst woanders hin?“

„Ich will nicht, ich muss. Und ich habe bereits oft genug gesagt, dass ich zum Arzt muss!“

„Das ist die dümmste Lüge, die du je hattest, Basti!“ Phil verschränkte die Arme vor der Brust und unser Gegenüber kratzte sich verlegen am Kopf.

„Es ist wirklich so. Ich bin sowieso schon spät dran!“, entschuldigte er sich und rannte los, was Phil nur den Kopf schütteln ließ.

„Ehrlich, das verstehe ich nicht. Da schlägt er schon was vor und haut einfach ab!“

„Vielleicht … könntest du mir das Feld ja zeigen“, schlug ich vor und er lachte.

„Cyle, es ist ein Feld! Ein normales Kornfeld!“

„Wer sagt denn, dass ich weiß, wie ein Feld aussieht?“

„Ist schon gut, dann schieb mich an“, kicherte er und reichte mir seinen Rucksack, den ich an die Lehne hing, bevor ich mich in Bewegung setzte.

Ich blickte in den wolkenlosen Himmel, in dem die Sonne hing und erbarmungslos auf die Erde strahlte und diese erwärmte, sprich – es war unerträglich heiß und trotzdem trug ich eine lange Jeans und einen dunklen Kapuzenpulli. Auch auf Phils Bitte, wenigstens den Pulli auszuziehen, weigerte ich mich. Es war noch nicht warm genug.

So spazierte ich also mit Phil über den schmalen, steinigen und recht staubigen Feldweg, während rechts von uns die Kornblumen und der Klatschmohn im Korn blühten, Schmetterlinge durch die Luft flogen und die Vögel ihre Lieder zwitscherten. Die perfekte Idylle, die bei mir Brechreiz verursachte. Ich hasste Perfektion und klischeehafte Sachen, wie in diesem Fall die Harmonie.

Phil jedenfalls schien es zu gefallen, da er die Augen geschlossen hielt und ein Lächeln auf den Lippen hatte, als ich mich schweigend zu ihm beugte. Der Anblick machte es für mich schwerer, ihm nicht über die Wange zu streichen. Ich konnte der Versuchung kaum widerstehen. Es machte mich verrückt, weshalb ich so schnell wie möglich vernünftig weiter lief.

In der letzten Zeit wurde meine Zuneigung ihm gegenüber immer stärker und war nicht mehr auszuhalten. Solche Gefühle hatte ich noch nie verspürt. Weder einer Frau gegenüber, noch einem Mann. Langsam ahnte ich sowieso, worauf es hinaus gelaufen war: Ich hatte mich in Phil verliebt.

Diesen Gedanken schob ich schnell beiseite. Ich liebte ihn nicht, niemals. Allgemein liebte ich keine Jungs oder Männer und somit auch nicht Phil. Ja, er war attraktiv, mehr auch nicht.

In diesem Moment drehte sich Phil zu mir um und grinste.

„Sieht es nicht wunderbar aus? Die Blumen –“

„Ich hasse Blumen“, erinnerte ich ihn und er nickte lachend.

„Stimmt ja, du hattest da ja mal was im Krankenhaus erwähnt. Und du magst nicht mal Gänseblümchen oder Kakteen?“

„Nein.“

„Wirklich gar nichts? Schade.“ Betrübt blickte er auf das Feld und seufzte. Dann herrschte auch wieder Stille zwischen uns, was mir das Herz zerriss. Deshalb legte ich meine Hand auf seine Schulter und lächelte.

„Aber wenn du mir Blumen schenken willst, darfst du es ausnahmsweise tun“, gab ich schweren Herzens nach und Phil strahlte bis über beide Ohren.

„Vielen Dank!“, rief er erfreut und das machte mich glücklich.

„Können wir uns mal an den Rand setzen und Pause machen?“, wechselte ich das Thema und Phil sah mich skeptisch an.

„Wenn du deinen Pullover endlich ausziehst. Sonst nicht.“

„Wenn du darauf bestehst.“ Ich verdrehte genervt die Augen und blieb stehen. Dann zog ich den Pulli aus und sah Phil an.

„Besser?“, fragte ich und er nickte.

„Besser. Aber heb mich raus.“

„Komm doch selbst raus.“

„Cyle, das ist nicht lustig.“ Phil streckte die Arme nach mir aus. „Heb mich raus.“

Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich verstand, was er meinte. Ihn heraus heben hieß, dass ich seinen Körper berühren, seinen Duft einatmen, seine Haut spüren durfte. Das wäre das Paradies …

„Was wird denn jetzt? Wie lange willst du noch Maulaffen feilhalten?“, fragte er ungeduldig und ich nickte hastig, bevor ich mich zu ihm beugte und unter seine Arme griff. Dann zog ich ihn in die Höhe und hob mir fast einen Bruch. Er war schwer. Verdammt schwer und dabei kleiner als ich.

Ich taumelte rückwärts und verlor den Boden unter den Füßen. Ich landete also recht elegant im Graben. Lag wie ein Käfer platt gedrückt auf dem Rücken, während Phil sein Gesicht an meiner Brust vergrub und sich an meinem Shirt festklammerte.

Mein Herz klopfte vor Aufregung und wegen Phil, der sich nicht rührte und ich deshalb in den immer noch wolkenlosen Himmel starrte.

Weh tat mir eigentlich nur der Rücken, aber das war nebensächlich, als Phil sichtlich mitgenommen den Kopf hob.

„Alles in Ordnung bei dir?“, erkundigte ich mich besorgt und er blickte mich erschöpft an.

„Ja“, flüsterte er und rollte sich vorsichtig von mir. Sein Blick war leer und schweifte umher.

„Bist du sicher, dass mit dir alles okay ist? Tut dir vielleicht etwas weh?“, hakte ich nach, während ich aufstand und ihn wieder an den Rand des Weges zog.

„Mir geht es wirklich gut, keine Sorge. Ich habe mich nur erschrocken“, beruhigte er mich und lächelte leicht.

„Dann ist ja gut. Machen wir erstmal eine Pause.“

„Gute Idee.“ Er nickte und lehnte sich soweit zurück, bis er schließlich lag. Ich tat es ihm nach und sah ihn an.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, er blickte in den Himmel und schwieg. Ich wollte ihn in seiner Ruhe nicht stören und betrachtete ihn einfach weiter stumm.

Seine wunderbaren weichen Züge, sein längeres, dunkles Haar, dieser zarte Mund …

Ich musste mich zusammen reißen, damit ich ihn nicht küsste. Ich wollte ihn allen Ernstes küssen. Ihn. Einen Jungen wie mich.

Die Schönheit, die er ausstrahlte, war unglaublich; sein Antlitz war wie Medizin, ganz zu schweigen von seiner lebensfrohen Art und diesem kecken Grinsen. Er war einfach … Phil.

Etwas streifte meine Hand und ich zuckte zusammen. Als ich nachsah, was es gewesen war, stellte ich fest, dass es nur Phils Hand war, die an meiner verharrte.

Ich bekam eine Gänsehaut und starrte in den Himmel, während meine Finger vorsichtig näher zu Phils krochen.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich meine Hand halb auf seine legte.

Es war mucksmäuschenstill zwischen uns, jedoch keine peinliche Stille, sondern eine, die Wärme ausstrahlte.

„W-wir … wir sollten weiter“, sagte Phil nach einer Weile und zog seine Hand weg. Er wirkte verlegen. Ich anscheinend auch. Die Situation war zu seltsam.

Ich stimmte ihm zu und stand auf, um ihm in den Rollstuhl zu helfen.

Die Berührung brachte meine ganze Gefühlswelt durcheinander und mich aus der Fassung.

Als er wieder vernünftig in seinem Stuhl saß, schob ich ihn weiter und sah mich wieder um, versuchte, an etwas anderes zu denken und mich abzulenken von Phil. Klappte auch perfekt. Wirklich perfekt. Im Klartext: gar nicht. Phil war direkt vor mir und schwieg ebenfalls.

So zog sich das auch hin, wir blieben stumm, abgesehen von meinen Aussagen über eine Pause oder seine Toilettenpausen, bei denen ich ihm helfen musste.

Irgendwann wurde mir aber der endlose Fußmarsch doch ein wenig zu blöd.

„Sag mal, wie lange dauert es noch? Laufen wir nicht im Kreis herum und kommen vorn an der Straße wieder raus?“, fragte ich und er nickte.

„Klar, aber die Strecke ist halt etwas länger. Wir haben fast die Hälfte geschafft.“

„Die Hälfte?!“ Ich sah ihn entgeistert an und schüttelte ungläubig den Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein! Wie lange wollten wir denn noch unterwegs sein? Bis morgen früh?

„Wie spät ist es?“, wollte ich wissen und Phil kramte seine kleine Taschenuhr aus seiner Hosentasche.

„Sechzehn zwei.“

„Dann sollten wir uns langsam mal beeilen!“ Ich schob den Rollstuhl genervt weiter und fluchte still vor mich hin.

In der Zwischenzeit waren Wolken aufgezogen und verdunkelten langsam den Himmel. Bald würde es regnen, aber noch nicht jetzt. Trotzdem ein schlechtes Zeichen. Als würde der liebe Gott auf uns herabschauen und abwarten, wie lange Phil und ich brauchten, um heim zu kommen. Sehr schöner Humor, ha ha, sehr witzig, ich lach mich kaputt …

Auch Phil sah in den Himmel und runzelte die Stirn.

„Sieht so aus, als würde es bald regnen“, stellte er fest und ich nickte.

„Aber noch nicht jetzt. Dauert noch eine Weile“, erklärte ich und schob ihn weiter. Dass jetzt auch noch Wind aufkam, bedeutete meist ein schönes Gewitter.

Darauf hatte ich wirklich keine Lust. Nass zu werden kannte ich ja schon von meinem unfreiwilligen Abstecher in den See.

Nach ein paar Minuten begann es dann doch tatsächlich zu regnen. Erst vereinzelt ein paar dicke Tropfen, die ich noch ganz angenehm fand.

Von einem Moment auf den anderen kam ein richtig schöner Platzregen. Als würde man unter der Dusche stehen und voll aufdrehen. Nur mit dem Unterschied, dass wir nicht in der Dusche, sondern auf einem Feldweg standen und Klamotten trugen. Dementsprechend waren wir innerhalb von Sekunden bis auf die Knochen durchnässt.

„Cyle?“

„Ja?“

„Ich hasse dich.“ Phil drehte sich zu mir um, schob sich den Pony aus den Augen und sah mich nicht gerade begeistert an.

„Jetzt hab dich nicht so, ist doch nur Regen! Wenigstens gewittert es nicht“, versuchte ich ihn zu beruhigen, was aber nach hinten los ging. Donner grollte durch die Stille des Regens.

Das machte selbst mir Angst, denn selbst, wenn ich manchmal keinen Bock mehr auf mein Leben hatte, von einem Blitz wollte ich nicht unbedingt erschlagen werden.

Aber hey, wir waren von oben bis unten nass. Besser konnten wir den Strom nicht leiten!

Ich rannte über den aufgeweichten Boden, stolperte hin und wieder, schob den Rollstuhl vor mir her, nur um irgendwo Phil in Sicherheit zu bringen.

„Verdammt, was machst du?“, schrie Phil über das nächste Grollen hinweg und ich brüllte: „Schutz suchen!“

„Dann geh in den Wald!“

„Spinnst du? Da werden wir doch erstrecht getroffen!“ Ich blieb stehen und Phil sah mich wütend durch seinen Pony hindurch an.

„Geh in den Wald, die Bäume sind dort doch höher!“, verlangte er und hielt sich ängstlich die Ohren zu, als ein Blitz den Himmel zerriss. Ich fand die Idee ja nicht gerade prickelnd, denn gerade weil die Bäume ja höher waren, wurden sie getroffen.

„Jetzt geh schon!“, schrie Phil verzweifelt und schluchzte auf. Seine Tränen sah man dank des Regens nicht, aber es tat mir weh, ihn so zu sehen.

„Aber wohin willst du dann? Und mit deinem scheiß Stuhl kommen wir eh nicht rein!“, rief und er packte mich am Handgelenk.

„Trag mich oder zieh mich oder was immer du willst, aber bitte bring mich hier weg!“, flehte er und ich gab nach.

„Okay, dann nimm deine Sachen und halt dich an mir fest.“

„Ja.“ Phil nickte und setzte sich den nassen Rucksack auf den Rücken. Ich kniete mich vor ihm hin und irgendwie schafften wir es auch, dass er schließlich auf meinem Rücken hing wie ein nasser Sack.

„Und wo soll es jetzt hin?“, fragte ich gereizt und Phil sah mich aufgelöst an.

„Hier in der Nähe ist eine alte Jagdhütte. Die steht schon lange leer“, flüsterte er mir ins Ohr und ich sprang kurz, damit Phil höher auf meinem Rücken ”saß“.

Eine Hütte klang sehr gut, vielleicht fand sich dort ja noch eine Decke an.

Der Weg durch den Wald war gespickt mit Stolperfallen wie Baumwurzeln, Ästen, Löchern und sonstigem Gestrüpp, was es für mich immer schwieriger machte, ordentlich einen Schritt vorwärts zu gehen, ohne direkt auf die Fresse zu fliegen. Phil auf dem Rücken war da auch keine große Hilfe, ich konnte keine Balance halten, durch den Regen rutschte ich oft aus, doch irgendwie gelang es mir, mich nicht hinzuschmeißen.

„Wo steht jetzt diese verdammte Hütte?“, fauchte ich nach einiger Zeit und Phil deutete wortlos geradeaus.

Ich stand direkt vor der Hütte. Ruine. Bruchbude. Altes, marodes Holzding. Besser konnte man es nicht beschreiben.

Ich trat die angelehnte Tür auf und war überrascht, was ich sah. Ein altes, kaputtes Bett mit schäbiger Decke und eine kleine Kommode. Nichts besonderes, aber auch nicht das … Angenehmste.

Phil setzte ich auf dem Bett ab und zog seine Schuhe aus, dann seine Socken, bevor er sich aufraffte und sein Oberteil über den Kopf zog. Dann öffnete er seine Hose, die ich ihm mitsamt seiner Unterhose von seinen Beinen streifte.

„Wickel dich mal ein“, sagte ich und legte ihm die Decke vom Bett über die Schultern und übernahm das Einwickeln seiner Beine.

Danach legte ich seine nassen Sachen auf die Kommode, damit sie wenigstens etwas trocken wurden.

Ich setzte mich in eine Ecke und zog die Beine an meinen Körper. Es war kalt und nass, ich fror, während Phil es wenigstens etwas wärmer hatte als ich.

„Cyle, warum kommst du nicht her? Du wirst krank, wenn du da sitzen bleibst!“, kam es plötzlich von ihm, doch ich winkte ab.

„Lass mal, du darfst nicht krank werden.“

„Klar, weil ich ein Krüppel und es mich das Leben kosten könnte! Mensch, Cyle, eine Lungenentzündung kann auch für dich tötlich enden! Also zieh dich aus und komm her!“ Phil blickte mich vorwurfsvoll an und ich musste zugeben: In den nassen Sachen war es doch unangenehmer, als ich zugeben wollte.

Also zog ich mich langsam aus und schämte mich dafür. Er sah mich nackt und das wollte ich nicht, dabei hatte ich ihn gerade ausgezogen. Eine Zwickmühle.

„Deinen Hintern durfte ich schon kennen lernen, Cyle! Zier dich nicht so!“, rief Phil ungeduldig und ich zog blank. So rannte ich zu Phil, warf mich auf die Matratze, die bedenklich quietschte, und bekam ein wenig von der Decke ab.

In mir begann es zu arbeiten, mein Herz raste und ich sah zu Phil. Meine Haut berührte seine, wir waren beide nackt in eine Decke eingewickelt und diese Nähe war unglaublich stark. Es war, als würde es mich zerreißen, wenn ich zu Phil spähte. Den interessierte das Gewitter anscheinend gar nicht mehr, er wirkte sehr entspannt und lehnte sich glücklich an mich, was meinen Puls höher steigen ließ. Oh Gott, das konnte gar nicht wahr sein!

„Phil … du …“, begann ich, schüttelte jedoch den Kopf und seufzte. Diese ganze Situation …

Ich blickte mich um, um mich abzulenken, als Phils Hand nach meiner griff und sie sacht drückte, was ich erwiderte. Daraufhin sah Phil mich an und lächelte.

„Cyle …“, flüsterte er nur und seine freie Hand streifte meine Wange, bevor sie dort ruhte und ich meine Hand auf seine legte.

Wir betrachteten uns sprachlos und langsam, ganz langsam, kam Phil auf mich zu. Er schlang seine Arme um meinen Hals, worauf mein Herz zu explodieren schien, da es so stark gegen meine Brust schlug.

Ich erwiderte die Umarmung und drückte Phil an mich. Ich wollte ihn spüren. Ich wollte mich spüren. Ich wollte spüren, dass ich noch lebte.

Auch Phils Herz schlug schnell, seine Atem war hingegen ruhig und streifte jedes Mal meinen Nacken. Von diesem Gefühl erschauderte ich und hielt ihn noch fester. Dabei durfte ich es nicht. Ich mochte keine Männer. Ich war nicht schwul.

„Phil … ich kann das nicht. Das ist nicht richtig“, sagte ich leise und löste mich von ihm, während er mich verwundert ansah.

„Was meinst du?“, wollte er besorgt wissen und ich drehte mich beschämt weg.

„Du und ich, wir beide. Du bist ein Kerl. Ich bin ein Kerl. Das geht nicht!“

„Cyle …“

„Ich bin nicht schwul, ich will es nicht sein! Es –“

„Cyle!“ Phil sah mich eindringlich an, ich blickte aufgelöst zu ihm. Diese ganzen Widersprüche machten mich fertig. Phil machte mich fertig.

„Cyle, was bedrückt dich? Sag es“, flüsterte er und nahm meine Hände in seine. Mir fehlten die Worte und ich wandte meinen Blick dem dreckigen Boden zu.

„Cyle, ich liebe dich“, wisperte Phil und drückte meine Hände stärker. „Seitdem ich dich zum ersten Mal richtig sah. Ich habe mich einfach so in dich verliebt. Einfach so.“

Erstaunt starrte ich ihn an und fasste mir ein Herz. Jetzt musste es raus.

„Ich habe mich auch in dich verliebt“, gestand ich und Phil fiel mir um den Hals. Das öffnete für mich eine ganz neue Welt. Eine neue Welt mit neuen Gefühlen und Erfahrungen.

Phil ließ mich langsam los und sah mich liebevoll an. Er brauchte nichts sagen, ich wusste bereits alles.

Der Moment war perfekt, es knisterte förmlich in der Luft. Dann küsste ich ihn.

Ich konnte nicht anders, ich musste es tun. Er erwiderte den Kuss fast schon sehnsüchtig, als hätte er nur darauf gewartet.

Von diesem Augenblick an wussten wir beide, dass wir zusammen gehörten. Phil und Cyle. Er und ich. Ich und er.

Ich wollte gar nicht mehr aufhören, den Geschmack seiner Lippen auszukosten, doch Phil drückte sich sanft von mir weg.

„Hast du –“, wollte er sagen; ich legte ihm den Finger auf den Mund schüttelte den Kopf.

„Sag bitte nichts“, hauchte ich atemlos und er nickte glücklich lächelnd.

So lagen wir dann da, Arm in Arm, eng umschlungen in einer alten schäbigen Decke, während draußen noch das Gewitter tobte. Doch wir hatten uns und brauchten nicht mehr. Wir waren so, wie wir nun waren, wunschlos glücklich.

Phil sah mich an und ich verschloss seine Lippen erneut mit einem Kuss, bevor er etwas sagen konnte. Das Schweigen sprach für sich. Wir brauchten dafür keine Worte, um zu sagen, was wir spürten.

„Lass mich bitte noch etwas schlafen, okay?“, flüsterte er mir nach dem Kuss zu und icg nickte, strich ihm die Strähnen aus dem Gesicht.

„Dann schlaf, ich passe auf dich auf. Wenn du aufwachst, gehen wir zurück, auch, wenn die Sachen noch nicht ganz trocken sind“, versprach ich und er kuschelte sich an mich. Kurz darauf war er eingeschlafen.

Ich lag ruhelos da und starrte an die Hüttendecke. Wie lange wir wohl schon hier waren? Phil hatte eine Uhr in der Hosentasche, die lag leider nicht in der Reichweite. Ich wollte ihn auch nicht unnötig wecken oder stören, indem ich aufstand wegen dieser Uhr.

Mit der fehlenden Zeit begann ich mich zu langweilen, obwohl Phil an meiner Seite war. Mir blieb also nichts anderes übrig, als ebenfalls die Augen zu schließen und mich zu entspannen, bis auch ich einschlief.

Wie und wann ich geweckt wurde, wusste ich nicht, doch draußen war es bereits dunkel und Phil kuschelte immer noch.

„Cyle? Cyle, bist du hier?“, fragte mich eine weibliche Stimme und runzelte die Stirn. Woher kam sie und wieso war sie mir so vertraut?

„Ja, ich bin hier“, gab ich verwirrt zurück und bemerkte eine Gestalt an der Tür, die nach draußen brüllte: „HEY! Ich habe Cyle gefunden!“

Ich brauchte einen Moment, um die Stimme einem Gesicht zuzuordnen.

„Seba?“

„Was denn?“

„Was machst du hier?“

„Dich suchen, du Vollpfosten!“, erwiderte sie und rannte weg. Fort von dieser Hütte.

War das jetzt Realität oder Einbildung? Ich verstand zwar, warum man uns suchte, wir hatten uns nicht gemeldet oder Bescheid gegeben.

„He, aufwachen! Man hat uns gefunden!“, flüsterte ich und rüttelte an Phils Schultern, worauf er nur murrte und sich wegdrehte. Also wurde ich grober und schüttelte ihn fast durch, aber der Herr schlief.

Im nächsten Moment blendete mich ein helles Licht und ich kniff die Augen zusammen.

„Philipp!“, rief eine männliche Stimme, die Rüdiger gehörte und dann herrschte geschocktes Schweigen.

Ich spürte die entsetzten Blicke, die mir galten und konnte mir regelrecht denken, was man mir am liebsten sagen wollte. Wie ich, Cyle, der böse schwule Junge, sich an den armen behinderten Phil ranmachen konnte. Wahrscheinlich hatte er ihn noch verführt, Gott, nein!

„Los, steh auf und zieh dich an!“, grollte Rüdiger und zog mich unsanft auf die Beine, während Phil sich verschlafen die Augen rieb.

„Mama? Papa?“, fragte er müde und jemand kniete sich zu ihm. Eine Frau.

„Ich bin hier, Phil. Geht es dir gut? Wo sind deine Sachen?“, wollte sie wissen und Phil blickte sich um.

„Wo ist Cyle?“

„Ich bin hier, alles ist gut! Aber bitte sag du mal den anderen, was war. Ich werde in den Köpfen als notgeiler Rammler dargestellt“, maulte ich und Phil hob erstaunt eine Braue.

„Wie? Aber wir haben doch gar nicht …“, murmelte er und sah sich erneut um. Dann schwand der Glanz in seinen Augen.

„Ich will nach Hause …“

„Ist gut, sofort.“ Die Frau, anscheinend seine Mutter, lächelte ihn an und strich ihm liebevoll über die Arme. Und ich war wieder der Böse.

Ein letztes Mal

Nachdem man uns nackt in dieser Decke gefunden hatte, gab es kaum noch einen Tag, an dem Rüdiger mich nicht abschätzend musterte. Bei Charlie war ich so oder so unten durch. Aber Phil … Phil äußerte nicht dazu. Er war so fröhlich und unbeschwert wie eh und je, tauchte oft bei uns auf und strahlte mich an, als wäre nichts gewesen. Als hätte der Kuss zwischen uns nie existiert.

Auch meiner Mutter missfiel es. Ausgerechnet an dem Tag, als es geschah, hatte sie die Erlaubnis erhalten, mich besuchen zu dürfen und war mit Henriette und Seba her gefahren. Dass sie Zeugen meines eher unfreiwilligen Coming-Outs wurden, war also purer Zufall. Für Henriette das i-Tüpfelchen auf ihrem Gerücht. Es war also doch etwas Wahres dran.

Kaum war ich zurück im Heim, bekam ich von fast allen eine Standpauke, weshalb ich nicht Bescheid gegeben habe, dass Phil und ich in dieser Hütte sitzen, schließlich habe er doch immer ein Handy dabei. Aber woher sollte ich das bitteschön wissen? Es war für die anderen doch viel einfacher, die Schuld bei mir zu suchen und mich für alles verantwortlich zu machen. Deshalb zog ich mich zurück. Sebastian tat sowieso seinen eigenen Mist.

Es kam aber wieder einer dieser Tage, an denen Phil aufkreuzte.

„Was willst du?“, fragte ich unfreundlich und er kam auf den Schreibtisch zu, an dem ich saß.

„Cyle, bist du sauer auf mich?“, wollte er bestürzt wissen und ich nickte nur. Sebastian war zum Glück gerade nicht da, denn Phil strich mir über die Wange.

„Ich bin hier der Buhmann und du das unschuldige Opferlamm. Alle stellen mich so hin, als hätten wir miteinander geschlafen und ich dich dazu genötigt. Außerdem glauben alle, ich sei schwul!“

„Bist du denn schwul?“

„Woher soll ich das denn wissen?!“ Ich raufte mir die Haare und Phil legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Fühlst du dich eher zu Jungs hingezogen oder zu Mädchen? Oder doch zu beiden?“, fragte er, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, Phil war schließlich der Erste.

„Und sonst … warst du überhaupt einmal verliebt?“

„Nein.“

„Dann weiß ich auch nicht weiter.“ Phil gab auf und schmiegte sich an meinen Arm. Ich ließ ihn walten; er war ja trotzdem der Junge, den ich liebte.

„Sag mal“, ich sah zu ihm, „sind wir jetzt eigentlich zusammen?“

„Wenn du mit mir zusammen sein willst, gern.“

Wir mussten beide lachen und ich gab ihm einen kurzen Kuss, sozusagen als Antwort. Phil hielt mich am Kragen fest und zog mich wieder näher an sich, worauf wir uns erneut küssten.

„Was wird das?“, kam es von der Tür und erschrocken drückte ich Phil von mir weg, sodass er fast rückwärts gegen die Wand prallte.

Es war Sebastian, der uns beide überrascht ansah, hingegen strahlte Phil.

„Das sollte ein Kuss werden. Man darf seinen Freund doch wohl küssen?“

„Ihr seid zusammen? Wirklich?“, rief er und lachte.

„Klar, warum nicht? Cyle ist einfach so, wie er eben ist. Und er macht mich glücklich!“, erwiderte Phil und lächelte mich zufrieden an. Basti schüttelte nur den Kopf und schritt auf uns zu.

„Meinen Segen habt ihr. Aber warum wart ihr nackt in einer Decke?“

„Wir haben es so richtig geil miteinander getrieben! Cyle kann verdammt gut stoßen und –“

„Phil!“, zischte ich dazwischen und grinste schelmisch.

„Okay, eigentlich waren wir und unsere Klamotten dank des Regens nass. Darum war es besser, sich nackt in einer Decke zu wärmen.“

Sebastian nickte und setzte sich auf mein Bett.

„Kommst du heute mit?“, wollte er von mir wissen und ich runzelte die Stirn. Warum fragte er mich immer so spät oder spontan? Meist kam sowieso Charlie und Phil war auch mit von der Partie. Also nickte ich einfach.

„Gut. Und wohin?“

„Einkaufen!“, antwortete Sebastian und ich schüttelte den Kopf.

„Hab kein Geld, sorry.“

„Ach so … dann eben nicht.“ Sebastian zuckte mit den Schultern, doch Phil klammerte sich an meinen Arm.

„Cyle, du musst doch nichts kaufen, einfach nur mitkommen reicht auch!“

„Du brauchst ihn nicht zwingen! Wenn er nicht will, dann will er nicht!“, ging Sebastian dazwischen und Phil zog beleidigt eine Schnute.

„Zwing ich dich?“, wollte er von mir wissen, doch ich schüttelte den Kopf, was ihn ermutigte, mich erst recht zu überreden.

„Siehst du, Basti? Ich zwinge ihn nicht! Aber du kommst trotzdem mit, oder, Cyle?“

„Okay“, gab ich nach und brachte Sebastian damit zum Seufzen. Aber wenn es Phil glücklich machte …
 

”Einkaufen“ war definitiv was anderes. Für mich bedeutete es, dass man in einen Laden ging, sich die Sachen anschaut und was gefällt, nimmt man mit.

Phil verstand darunter herumspazieren, anschauen, anprobieren, überlegen, weiter suchen, überlegen, den Laden verlassen, den nächsten Laden aufsuchen und so weiter. Diese Unart kannte ich nur von meiner Schwester und Seba, sprich: Frauen.

Dementsprechend langweilte ich mich und schlenderte lustlos nebenher, während die weiblich gewordenen Herren der Schöpfung ausgiebig über ein neues Outfit diskutierten. Ich kam mir wie das fünfte Rad am Wagen vor. Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn Phil augenklimpernd um meine Kreditkarte gebettelt hätte, weil er diese Schuhe unbedingt haben musste.

„Sag mal, Basti“, unterbrach ich die beiden und Sebastian sah mich fragend an, „du hast ja eine Freundin. Liebst du sie?“

„Sicher; warum fragst du?“, wollte er wissen und Phil lachte auf.

„Wahrscheinlich denkt er, dass du als mein Zwilling auch auf Jungs stehst!“

„Ist doch gar nicht wahr!“

„Du bist ein schlechter Lügner, Cyle.“ Sebastian zwinkerte mir zu und schüttelte den Kopf. „Aber ich stehe – ohne Ausnahme – auf Frauen. Anders als Phil und Charlie und –“

„Charlie ist schwul?“, fragte Phil und Basti nickte überrascht.

„Du wusstest das nicht? Dabei hat er sich doch geoutet! Jeder weiß es!“

„Ich habe nichts gewusst“, gestand Phil kleinlaut und mir wurde langsam alles klar. Charlie war in ihn verliebt. In seinen Bruder. Und ich war der potentielle Gegner.

Phil schien von alledem nichts zu ahnen und deutete begeistert auf einen Laden, in dem er eine Hose sah, die ihm gefiel.

Ich folgte ihm und Sebastian und blickte mich selbst etwas um. Die Klamotten waren gar nicht so schlecht, aber teuer. Richtig teuer. Und das Phil einen Goldesel daheim hatte, bezweifelte ich auch. Aber er hatte eine tolle Hose gefunden und wollte diese anprobieren. Sehr schön!

Sebastian verschwand mit ihm in der Kabine und stellte mir wenig später den Rollstuhl vor die Füße. Dann hörte man es rumpeln, kichern, erneut rumpeln und schließlich: „Cyle, wir haben ein Problem …“

Ich quetschte mich also in die Kabine, in der Phil in Unterhose saß und uns erwartungsvoll anschaute.

„Kannst du mal bitte Phil halten?“, bat Sebastian und ich zuckte mit den Schultern.

„Kommt drauf an, für wie lange.“

„Nur kurz.“

„Dann ist es kein Problem.“ Ich nickte und schon zog mich Phil auf seine Augenhöhe. Seine Arme schlangen sich um meinen Nacken und ich sah ihn überrascht an.

„Zieh mich kurz hoch, Basti zieht die Hose hoch und dann kannst du mich wieder runter lassen“, erklärte er und ich griff ihm unter die Arme, hob ihn hoch und ließ ihn wieder auf der Bank nieder, nachdem Sebastian die Hose hoch gezogen hatte.

Kamen wir zum nächsten Problem: der Reißverschluss klemmte. Und weder Phil, noch Sebastian bekamen ihn zu.

„Lasst mich mal“, entschloss ich mich und kniete mich vor Phil, um an dem klemmenden Hosenstall zu nesteln. Eindeutig die falsche Position.

Denn ich wurde mit einem Ruck nach hinten gerissen und taumelte aus der Umkleide. Das konnte nur Charlie sein.

„Phil, alles okay bei dir?“, fragte er und Phil sah ihn verwundert an.

„Ja, alles in bester Ordnung. Warum hast du Cyle jetzt weggezerrt?“

„Der hat dich befummelt!“

„Hat er nicht!“ Phil funkelte seinen Bruder böse an. „Außerdem sind Cyle und ich zusammen, also darf er mich anfassen.“

Charlie verzog keine Miene, sondern drehte sich weg und stieß mich im Vorbeigehen absichtlich mit der Schulter an. Ich sah ihm nach, anscheinend arbeitete er im Laden.

„Ich will heim“, sagte Phil plötzlich und Sebastian nickte zustimmend.

„Na gut. Ich rufe Rüdiger an und wir ziehen dich wieder an“, meinte er und ich half ihnen beim Umziehen. Phil sprach währenddessen kein Wort mit uns, auch nicht, als Rüdiger uns alle abholte.

Was auch immer mit Phil los war, wusste ich nicht. Sebastian anscheinend schon, äußerte sich dazu aber nicht. Er schwieg ebenfalls und stieg mit mir ins Auto, während Rüdiger Phil aus dem Rollstuhl auf dem Beifahrersitz setzte.

„Wer trägt dafür wieder die Schuld? Cyle?“, fragte unser Heimpapa wenig später und blickte mich im Spiegel skeptisch an. Warum sollte ich wieder Schuld sein?

„Nein“, antwortete ich sauer und Phil nickte.

„Ist gut, Papa. Niemand trägt Schuld. Weder Basti, noch Cyle. Er tut mir nicht weh“, mischte er sich ein und drehte sich zu mir. „Cyle würde mich nie verletzen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Midnight
2012-12-31T15:28:56+00:00 31.12.2012 16:28
Uuuuh, hört sich spannend an <3
*___*
Ich möchte bald weiterlesen!


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