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Halbblut

von

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Prolog

Schmerzen durchzuckten ihren Körper, als sie sich in ihre Haut bohrten.

Was war geschehen? Sie wusste es nicht mehr, konnte sich wegen der Schmerzen nicht richtig konzentrieren.

Plötzlich ließ er von ihr ab. Ihre Beine gaben unter ihrem Gewicht nach. Was? Wieso? Sie konnte die Fragen nicht aussprechen. Zu schwach fühlte sie sich.

Er war weg. Das konnte sie noch realisieren, bevor ihre Augenlider drohten zuzufallen. Ihr wurde kälter und kälter, sie spürte, wie sie langsam das Leben verließ. Etwas Brennendes machte sich an ihrem Hals bemerkbar. Ihr geschwächter Körper bäumte sich vor Schmerzen ein letztes Mal auf, bevor sie allmählich die Bewusstlosigkeit einholte.

Während sich ein dunkler Schleier über sie legte und der Schmerz immer größer wurde, konnte sie nur an eines denken: Was war mit ihren Töchtern? Ging es ihnen gut?

Immer weiter glitt sie in die Besinnungslosigkeit, doch der Schmerz ließ nicht nach.

***
 

Ich rannte und rannte. Mein Atem ging keuchend. Lange hielt ich dieses Tempo nicht mehr durch. Ich hatte keine Chance!

Langsam bahnten sich warme Tränen ihren Weg über meine Wangen.

Warum half mir denn keiner? Wo waren meine Eltern? Meine Beine taten weh. Wie lange ich wohl schon rannte? Ich wusste es nicht. Doch eines wusste ich, sie durften mich nicht kriegen.

Mit meinen tränenverschleierten Augen versuchte ich ein Versteck zu finden, doch es war aussichtslos. Ich sah fast gar nichts. Ein Wunder, dass ich noch nicht gegen einen der zahlreichen Bäume gerannt war.

Kaum hatte ich das zu Ende gedacht, stolperte ich über eine Wurzel und landete der Länge nach auf dem Boden. Noch bevor ich mich richtig aufrappeln konnte, hatten sie mich schon eingeholt.

Die drei Männer trugen hellrote Uniformen. Auf ihrer Brust prangte ein blutroter Drachenkopf, der nach unten hin in Flammen aufging. Sie grinsten mich finster an. Einer der drei schnaubte verächtlich.

„Ganz schön flink die Göre! Na, hast wohl gedacht, du könntest einfach weglaufen?“

Zitternd vor Angst stolperte ich ein paar Schritte nach hinten. Er kam auf mich zu und packte mich grob am Arm.

„Du kommst jetzt mit. Wir haben keine Zeit mit einer kleinen Göre wie dir Fangen zu spielen!“

Kaum hatten sich seine Finger um meinen Arm geschlossen, fuhr ein pochender Schmerz durch meinen Kopf.

Was zum … ?

Noch ehe ich diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, wurde alles um mich herum schwarz…
 

Stöhnend öffnete ich die Augen. Was war passiert? Mein Kopf tat höllisch weh.

Vorsichtig setzte ich mich auf und griff nach meiner Stirn. Ich hielt mitten in der Bewegung inne und starrte erschrocken meine Hand an.

Sie war mit einer roten Flüssigkeit beschmiert! Schnell sprang ich auf und sah an mir herunter. Meine ganze Kleidung war damit getränkt. Wo kam das ganze Blut her? Ich suchte mit meinen schock geweiteten Augen die Umgebung ab und blieb mit meinem Blick an drei Gestalten hängen, die vor mir im Laub lagen.

Ein Schrei durchschnitt die Stille. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, dass ich der Auslöser für dieses Geräusch war. Mein Blick war immer noch auf diese Gestalten gerichtet. Es waren meine Verfolger - und furchtbar zugerichtet. Sah es so aus, wenn ein wildes Tier einen Menschen zerfleischt hatte?

Schon wieder kamen mir die Tränen hoch und mit einem panischen Schluchzer fing ich an zu rennen.

Was war bloß passiert?

Ich wollte nur noch hier weg. In meiner Panik stolperte ich und landete mit dem Kopf auf etwas Hartem.

Erneut wurde mir schwarz vor Augen.
 

***
 

Völlig außer Atem fuhr ich aus meinem Schlaf. Schon wieder dieser Traum!

Es dauerte einen Moment, bis ich mich allmählich wieder beruhigt hatte. Meine grünen Augen wanderten zu dem einzigen Fenster in dem kleinen Raum. Die Wolken waren in einem hellen Rotorange gefärbt und schwaches Licht erhellte das spärlich eingerichtete Zimmer. Das Einzige was hier stand, waren ein Bett und ein alter Holzstuhl. Die Wände waren in einem schmutzigen Grau gehalten und der Fußboden sah auch nicht viel besser aus.

Langsam setzte ich mich auf, wobei das Bett leise knarrte. Mein Magen knurrte, wütend darüber, dass er schon länger nicht sehr viel bekommen hatte. Das Leben hier war hart und ich konnte Elena mit meinen zwölf Jahren noch nicht sehr gut helfen.

Die gutmütige Frau in mittleren Jahren lebte ein gutes Stück abseits von den anderen Menschen und pflanzte hier Kräuter an. Sie war die Heilerin der kleinen Stadt.

Jedoch kamen die Leute kaum noch her. Wenn es ihnen möglich war, gingen die Kranken zu der Heilerin im Nachbardorf und das war meine Schuld.

Die Menschen hatten Angst vor mir. Sie glaubten ich sei ein Dämon, der gesandt wurde, um ihnen Tod und Verderben zu bringen. Ich wusste, dass das verrückt klang und ich hatte keine Ahnung, wie sie darauf kamen. Elena hatte mich vor gut acht Jahren blutüberströmt im Wald gefunden und sich seither um mich gekümmert. Sie wollte mir nie erzählen, was damals vorgefallen war. Ich war zwar von oben bis unten mit Blut beschmiert gewesen, aber ich hatte keinerlei Verletzungen gehabt.

Wieder wanderten meine Gedanken zu dem Traum. Ich hatte ihn schon seit einer guten Woche. Ob er wohl etwas zu bedeuten hatte?

Ich konnte mich an gar nichts erinnern, was vor meiner Zeit bei Elena passiert war. Ich wusste nicht, woher ich kam und was mit meinen Eltern war. Ob sie noch lebten? Ob sie sich vielleicht um mich sorgten, mich vermissten? Schnell schüttelte ich diese Gedanken ab und stand auf.

Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich aus dem Zimmer. Der angrenzende Raum war etwas größer, aber sah auch nicht besser aus als der Erste. Hier standen auch nicht viele Möbelstücke. Nur ein alter Tisch, noch zwei weitere Stühle, ein kleiner Schrank, ein kleiner Ofen und in einer Ecke lagen ein paar Decken auf denen Elena immer schlief.

Wir hatten nur ein Bett und das wollte sie unbedingt mir überlassen. Eigentlich war das Bett für die Patienten, aber solange keine da waren, konnte genauso gut auch ein anderer darin schlafen.

Gähnend setzte ich mich an den Tisch und sah auf das kleine Frühstück, welches mir Elena wohl hingestellt hatte. Es bestand bloß aus einer Scheibe Brot und einem Becher mit Wasser. Das war das Einzige, das ich bis heute Abend bekomme würde. Schon wieder knurrte mein Magen. Seufzend biss ich in mein Brot rein und kaute langsam darauf herum.

Nachdenklich sah ich aus dem Fenster und beobachtete ein paar Vögel, die munter von einem Baum zum anderen flogen und dabei regelrecht umeinander tanzten. Mein Blick wanderte zu der Sonne, die immer höher stieg. Ich musste noch zur Stadt und dort ein paar Besorgungen machen. Ich hatte es Elena versprochen.

Ich aß noch mein Brot fertig, trank mein Wasser aus und räumte mein Teller und meinen Becher weg. Anschließend schnappte ich mir den Korb, welcher auf dem Boden stand, und den kleinen Beutel mit Münzen, der im Schrank versteckt war, und lief nach draußen.

Elena saß auf dem Beet vor unserem Haus, pflanzte ein paar neue Kräuter ein und rupfte dabei noch unerwünschtes Unkraut heraus. Als sie die Tür zuschlagen hörte, sah sie kurz auf und ein warmes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.

„Guten Morgen, Leyla! Auch schon wach?“, fragte sie, während sie versuchte ihre kastanienbraunen Haare mit einem Band zusammen zu knoten.

Ich merkte wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breit machte und erwiderte: „Ich gehe in die Stadt und komme spätestens in zwei Stunden wieder.“

Ich wandte ihr den Rücken zu.

„Ach was! Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich bin hier gleich fertig und habe dann den restlichen Tag nichts mehr zu tun. Du kannst auch ruhig den ganzen Tag unterwegs sein. Sei nur bitte heute Abend vor Sonnenuntergang wieder hier.“

„In Ordnung, mach ich. Bis später!“

Und schon war ich im umliegenden Wald verschwunden.
 

Langsam lief ich zwischen den Bäumen hindurch. Das Licht der Sonne schimmerte grünlich durch das Blätterdach und über mir huschte ein Eichhörnchen schnell von einem Ast zum anderen.

Ich schnupperte in der frühherbstlichen Luft. Es roch nach feuchtem Laub, da es vergangene Nacht geregnet hatte, und ich konnte einige Meter rechts von mir ein Reh ausmachen. Ja, es war schon eigenartig, wie viel ich im Gegensatz zu anderen Menschen wahrnahm.

Ich konnte Dinge riechen, die ein Mensch normalerweise nicht wahrnehmen konnte. Ich konnte Dinge sehen, die ein Mensch erst viele Meter, wenn nicht sogar Kilometer, weiter ausmachen konnte. Hören konnte ich auch um ein vielfaches besser.

Manchmal fragte ich mich, ob die Leute hier nicht vielleicht doch recht hatten. In gewisser Weise zumindest. Was war, wenn ich wirklich kein normaler Mensch war, sondern irgendetwas anderes?

Nicht unbedingt ein Dämon. Nein. Ich glaubte nicht daran. Naja, wer würde schon so etwas von sich selbst denken?

In solchen Momenten wie diesen hier dachte ich immer viel darüber nach, wer oder was ich war, woher ich kam oder wer meine Eltern waren und warum sie es nicht waren, die sich um mich kümmerten. Ich wüsste zu gerne die Antworten auf diese Fragen. Das Einzige, das ich wusste, war mein Name.

Leyla.

Wobei ich mir da auch nicht ganz sicher war. Es war nur das Erste, was mir auf die Frage nach meinen Namen eingefallen war.

Es dauerte nicht mehr lange und ich verließ das Labyrinth von Bäumen und trat mit meinen Füßen nun auf einen festen trockenen Weg. Das Rascheln des Laubes unter meinen Füßen ließ nach und gleichzeitig verklangen auch sonstige Geräusche.

Ich konnte mich so ruhig bewegen, dass nicht einmal eine Katze mich bemerken würde, selbst wenn ich direkt hinter ihr stand.
 

Allmählich sah ich die ersten Häuser mit ihren schmutzigen rotbraunen Dächern und hörte auch schon ein paar Leute miteinander sprechen.

Als ich die kleine Stadt betrat, starrten mich alle an. Es waren verächtliche Blicke. Blicke, die man nicht einmal einer Ratte zuwerfen würde. Aber daran hatte ich mich bereits gewöhnt. Ich konnte diese Blicke und das Gefühl der Wertlosigkeit, das mich jedes Mal überkam, mittlerweile ignorieren.

Zielstrebig ging ich weiter. Ein paar Kinder, die ungefähr so alt waren wie ich, blieben stehen und einer von ihnen rief: „Verzieh dich! Wir wollen so eine Höllenbrut wie dich nicht in unserer Stadt!“

Sofort sogen alle Erwachsenen in der Umgebung scharf die Luft ein und starrten mich ängstlich und zugleich erwartungsvoll an. Ich warf dem Jungen nur einen giftigen Blick zu und ging dann einfach weiter. So leicht würde ich mich nicht auf sein Niveau herablassen und solange sie nicht handgreiflich wurden, sah ich keinen Grund darauf zu reagieren.

Ich beschleunigte meine Schritte etwas und lief zielstrebig auf den Marktplatz zu. Allmählich wurden die Häuser etwas größer und schöner. Die rotbraunen Dächer waren fast wie neu und die Hausfassaden waren in einem sauberen hellgrau gehalten.

Direkt am Marktplatz stand die große, rotbraune Kirche und gegenüber das Rathaus. Der Große Platz war voller Menschen, die an den zahlreichen Ständen ihre Waren anpriesen.

Rechts von mir spielten ein paar Leute auf ihren Musikinstrumenten und hofften auf ein paar Münzen, um sich die nächste Mahlzeit leisten zu können. In der Mitte des Platzes befand sich ein großer Brunnen, an dem sich einige Frauen gerade Wasser holten.

Doch das alles interessierte mich nicht weiter, denn ich wollte so schnell wie möglich wieder weg von hier. Ich fühlte mich inmitten solcher Menschenmassen nicht wohl.

Schnellen Schrittes steuerte ich einen Stand an, um meine Besorgungen zu machen und dann schleunigst von hier zu verschwinden.
 

Endlich hier weg! Erleichtert atmete ich aus.

Kaum war ich vom Marktplatz runter, ging es mir schon viel besser. Das war vielleicht ein Stress gewesen!

Diese dreisten Händler hatten die ganze Zeit versucht mich reinzulegen und mir die Ware völlig überteuert zu verkaufen. Allmählich reichte es mir, wie ich von den Leuten hier behandelt wurde. Was gab denen eigentlich das Recht dazu über andere Menschen, die sie noch nicht einmal kannten, zu urteilen?

Völlig in Gedanke versunken, bemerkte ich nicht, dass die Kinder von vorhin wieder da waren. Etwas Hartes traf mich in der Kniekehle und mein Bein knickte zusammen. Mit einem erschrockenen Aufschrei landete ich auf dem steinigen Boden und der Korb schlug neben mir auf.

Was zum…? Vorsichtig rappelte ich mich wieder auf und sah mich suchend um. Zuerst bemerkte ich den Stein, der knapp hinter mir lag und dann sah ich die Gruppe. Der Älteste von ihnen lachte mich aus. Anscheinend hatte er mich abgeworfen.

Jetzt reichte es mir! Wütend drehte ich mich zu ihnen um. Als sie meinen Blick bemerkten war es plötzlich still. Nervös sahen sie zu mir und wichen ein paar Schritte zurück. Innerhalb von nur wenigen Millisekunden stand ich inmitten der Gruppe, direkt hinter dem Anführer. Ich beugte mich leicht nach vorne und flüsterte ihm gerade noch laut genug, dass alle es verstehen konnten, ins Ohr:

„Wenn ihr den morgigen Tag noch erleben wollt, würde ich an eurer Stelle jetzt ganz schnell weglaufen“

Mit weit aufgerissenen Augen sah er mich über seine Schulter hinweg an, während er sich langsam umdrehte und ein paar Schritte zurückwich.

Irgendetwas in seinem Blick war eigenartig. Er sah mich an, als wäre ich der Teufel höchstpersönlich. Leicht irritiert suchte ich nach irgendetwas, das sein Verhalten mir gegenüber ausgelöst haben könnte. Jetzt fiel mein Blick auf seine vor Schreck geweiteten Augen und das, was ich darin sah, jagte auch mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich sah mein Spiegelbild, wie es mir mit blutroten Augen entgegenblickte.

Dieses Gesicht ähnelte mir zwar, aber es hatte nichts mehr mit mir gemein. Dieser Blick gehörte keinem unschuldigen 12-jährigen Mädchen, es gehörte einem blutrünstigen Dämon. Während all das in mein Bewusstsein sickerte, mussten gerade mal ein paar Sekunden vergangen sein, denn die Gruppe stand immer noch dort. Als ich den Blick von dem Jungen nahm, war es, als löse er sich aus einer Starre. Er stolperte panisch einige Schritte nach hinten und rannte dann schreiend davon. Nach ein paar weiteren Sekunden folgten ihm die anderen Kinder.

Ich stand selbst wie erstarrt da und war nicht mehr fähig mich zu bewegen. Allmählich wurde mir auch klar, was ich da eben getan hatte. Ohne darüber nachzudenken, ohne dass mein Gehirn den Befehl dazu gegeben hatte, war ich zu der Gruppe gelaufen und das in einer Geschwindigkeit! Ich hatte innerhalb von einer Millisekunde gute fünf Meter zurückgelegt. Aber das war noch nicht einmal das Erschreckende an der Sache. Ich hatte diesen Kindern gerade eine Morddrohung zugeflüstert und war in diesem Moment wirklich bereit gewesen, diese zu verwirklichen.

Erneut jagte meinem Rücken eine Gänsehaut hinab. Langsam bekam ich wieder die Kontrolle über meine Gliedmaßen. Schnell sammelte ich meine Sachen von der Straße und lief los. Ich wollte einfach nur noch nach Hause, wollte mich in irgendeiner dunklen Ecke verstecken und nicht mehr rauskommen. Ich wurde schneller und schneller, während ich mit den Tränen kämpfte.

Wer oder was war ich?

Ich stand am Waldrand und beobachtete schon seit fast einer Viertelstunde Elena, wie sie vor unserem Haus saß und vor sich hin träumte.

Worüber sie wohl nachdachte? Elena bemerkte fast immer, wenn etwas mit mir nicht stimmte. Ich wollte mich erst einmal beruhigen, bevor sie am Ende noch unangenehme Fragen stellte. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Es gab bestimmt für alles eine plausible Erklärung und zwar eine, die nicht darauf hinauslief, dass ich ein Monster war.

Meine Sinne hatten mir bestimmt nur einen Streich gespielt. Der Junge hatte sich nur vor meiner Geschwindigkeit erschrocken und das Licht war bestimmt nur seltsam auf seine Augen gefallen. Genau! Das war es gewesen und die Geschwindigkeit war nur wieder eine hilfreiche neue Fähigkeit. So wie meine scharfen Sinne. Nichts Schlimmes. Woher diese Fähigkeiten kamen, war nicht wichtig. Solange ich sie nicht benutzte, um anderen Schaden zuzufügen, war ich auch kein Monster.

Ich merkte, dass ich selbst nicht sehr überzeugt von meiner Erklärung war. Trotzdem holte ich tief Luft und ging auf das kleine Haus zu. Elena hob den Kopf und lächelte mich an, als sie mich entdeckte. Ich versuchte ebenfalls zu lächeln. Ob ich bloß eine Grimasse zog? Elena schien nichts zu bemerken, oder ignorierte sie es einfach? Schnell schüttelte ich diese Gedanken ab.

„Hallo, Leyla! Schon wieder da?“

Fragend sah sie mich an.

„Ähm… Ja. Ich wollte nur die Einkäufe heim bringen. Danach hatte ich vor, etwas im Wald spazieren zu gehen. Hast du Lust mitzukommen?“

Ich hoffte inständig, dass sie ablehnte. Warum hatte ich bloß gefragt? Selbst wenn sie bis jetzt nichts bemerkt hatte, würde sie es bestimmt, wenn wir den ganzen Tag gemeinsam verbrachten. Ich könnte mir die Zunge abbeißen für meine Blödheit!

„Nein, tut mir leid. Ich fühle mich heute nicht besonders. Ich glaube, ich lege mich etwas hin.“

Entschuldigend sah sie mich an.

„Nicht schlimm. Ich hoffe es geht dir bald wieder besser.“

Mit diesen Worten reichte ich ihr den Korb und verabschiedete mich.
 

Kaum war ich außer Sichtweite, lehnte ich mich erleichtert an einen Baumstamm.

Mann, hatte ich ein Glück. Ich war noch nie so glücklich wie jetzt darüber gewesen, dass es Elena schlecht ging.

Ich stieß mich wieder von dem Baum ab und verließ den Pfad. Im Wald kannte ich mich besser aus als jeder andere hier. Ich war gewissermaßen hier aufgewachsen. Schon immer hatte ich mich zu der freien Natur hingezogen gefühlt. Ich mochte die Ruhe hier.

Allmählich wanderten meine Gedanken wieder zu meiner Entdeckung am Mittag. Ob ich es wohl wieder schaffte so schnell zu rennen? Ein Versuch war es wert. Ich lief los und nach einer Weile wurde ich immer schneller und schneller. Der Wind zischte an meinen Ohren vorbei und verstrubbelte meine Haare. Ich konnte den Boden unter meinen Füßen kaum noch spüren. Es fühlte sich an, als würde ich fliegen! Trotz meiner hohen Geschwindigkeit, konnte ich alles in meiner Umgebung haarscharf erkennen und hatte keinerlei Probleme den Bäumen auszuweichen.

Das war unglaublich! Lachend bremste ich und blieb nur einen Meter von dem Rand einer Klippe entfernt stehen.

Wow! Das war der Wahnsinn! Immer noch lachend stellte ich fest, dass ich überhaupt nicht außer Atem war. Ich hatte ja schon immer eine sehr gute Ausdauer, aber bei so einer Geschwindigkeit? Bestimmt hatte ich in den paar Sekunden fünf Kilometer zurückgelegt. Wenn nicht sogar noch mehr!

Mein Hochgefühl verebbte allmählich wieder und ich setzte mich in das weiche Gras. Es dauerte nicht lange und meine Gedanken schweiften wieder zu dem heutigen Vorfall.

„Wenn ihr den morgigen Tag noch erleben wollt, würde ich an eurer Stelle jetzt ganz schnell weglaufen!“

Ich hatte ein paar Kindern gedroht sie umzubringen! Menschen sagten viel, wenn sie wütend waren, dass wusste ich aus Erfahrung. Ich war oft sauer gewesen. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal hatte ich diese Drohung wirklich wahrmachen wollen. Ich hatte schon fast so etwas wie Vorfreude empfunden!

Was zum Teufel war ich? War ich überhaupt ein Mensch? Ich hatte noch nie solche schrecklichen Gedanken gehabt. Klar war ich wütend auf diese Kinder. Wütend auf sämtliche Bewohner der Stadt. Aber ich würde doch nie … oder doch? Nein! Ich war noch nie ein gewalttätiger Mensch gewesen und das würde ich auch niemals werden.

Ein Teil von mir glaubte meinen Worten selbst nicht.

„Verdammt noch mal!“

Wütend ließ ich mich Rückwärts ins Gras fallen. Was sollte ich denn bloß tun? Was war, wenn ich wirklich kein Mensch war? Konnte ich dann einfach wie bisher weiterleben? Was war, wenn so etwas nochmal geschah, nur mit einem schlechteren Ende? Konnte ich dann jemals wieder in mein Spiegelbild schauen?

Noch nie hatte ich mir sehnlichster gewünscht, mehr über meine Vergangenheit zu wissen. Warum geschah das denn ausgerechnet mit mir? Wenn es einen Gott gab, warum tat er dann so etwas? Hatte ich irgendetwas getan, wofür er mich jetzt bestrafen wollte? Nein, das hatte nichts mit irgendeinem Gott zu tun. Das Universum trieb nur seine kranken Scherze auf meine Kosten.

Allmählich wurde es düster. Ich sah zum Himmel hoch und bemerkte, dass sich dort dunkle Wolken sammelten. Die ersten Tropfen kamen runter und landeten auf meinem Gesicht. Der kühle Regen tat gut und beruhigte mich irgendwie. Ich schloss meine Augen und genoss noch eine Weile das kühle Nass. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich am Horizont einen leichten Rotschimmer zwischen den Wolken hervorstechen. Es war spät und ich musste langsam nach Hause, bevor Elena sich noch Sorgen um mich machte.

Ich stand auf und machte mich auf den Heimweg. Gedankenverloren sah ich in den Himmel und beobachtete die Regentropfen, wie sie sich ihren Weg auf die feuchte Erde bahnten und sich zu kleinen Pfützen sammelten. Mir fiel auf, dass sie im schwachen Licht wie unzählige Diamanten glänzten. Es sah irgendwie hübsch aus.

Wenn ich ehrlich war, wollte ich nicht zurück. Ich war noch nicht bereit mich den Fragen meiner Pflegemutter zu stellen. Was sollte ich ihr erzählen? Ich wusste es nicht. Am liebsten gar nichts, aber das war wohl kaum möglich.

Meine Schritte wurden immer langsamer. Wo sollte ich sonst hin? Elena würde sich furchtbare Sorgen machen. Das konnte ich ihr nicht antun.

Ich lief wieder etwas schneller, als sich plötzlich ein pochender Schmerz in meinem Kopf bemerkbar machte. Mit einem erschrockenen Aufschrei sackte ich in die Knie. Meine rechte Hand wanderte zu meiner Schläfe, während ich mich mit meiner Linken an einem Baum abstützte.

Was war das?

Der Schmerz verebbte allmählich. Doch kaum war er auf einen aushaltbaren Grad zurückgegangen, kam auch schon die nächste Schmerzenswelle. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich meiner Kehle und mein Körper krümmte sich zusammen. Solche Schmerzen hatte ich zuvor noch nie gespürt. Was war nur los mit mir?

Meine Hand rutschte von dem Baumstamm ab und landete auf der feuchten Erde. Eine weitere Welle überkam mich. Ich bohrte meine Finger fest in den Schlamm und schnitt mich dabei an einem scharfen Stein. Ich nahm kaum wahr, wie sich langsam das warme Blut einen Weg aus meinem Finger bahnte.

Was war das nur?

Die Schmerzen wurden schlimmer und schlimmer. Schwarze Punkte tauchten in meinem Sichtfeld auf und wurden immer größer, bis ich dem Boden immer näher kam und das Bewusstsein verlor.
 

Als ich meine Augen wieder öffnete, war es bereits stockfinster.

Ich nahm nur beiläufig wahr, dass ich im Schlamm lag. Wie lange ich wohl bewusstlos gewesen war? Langsam setzte ich mich auf und griff automatisch an meinen Kopf. Doch die Schmerzen waren verschwunden. Es kam mir fast so vor, als hätte ich sie mir nur eingebildet.

Schnell sprang ich auf und sah in den Himmel. Er war immer noch mit dunklen Wolken behangen.

Wie spät war es? Elena machte sich bestimmt große Sorgen. Ich sollte mich besser beeilen.

Noch ehe ich diesen Gedanken beendet hatte, lief ich auch schon los. Ich rannte so schnell ich konnte. Es dauerte nicht lange, bis ich das kleine Haus zwischen den Bäumen ausmachen konnte. Ob sie wohl noch wach war? Wahrscheinlich schon. Schnellen Schrittes lief ich die drei Stufen zur Haustür hoch und öffnete sie.

Kaum hatte ich den Raum betreten, sprang Elena sofort auf.

„Verdammt noch mal, Leyla! Wo kommst du denn bitte jetzt noch her? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Es hätte Gott weiß was passiert sein können. Ich hatte schon Angst, dass dich vielleicht die Wölfe geholt hätten!“

Sie löste die Umarmung und sah mich fragend und zugleich anklagend an.

„Ich verlange eine Erklärung!“

„Ähm … Ich bin wohl bei den Klippen eingeschlafen.“, kam es kleinlaut von mir zurück.

„Eingeschlafen bei diesem Wetter?“ Ungläubig musterte sie meine Schlamm verschmierte Kleidung.

„Was soll ich sagen? Ich hatte schon immer einen ziemlich festen Schlaf.“

Ihr Blick wurde noch ungläubiger, aber sie ließ es anscheinend auf sich beruhen. Ich wusste nicht, weshalb ich gelogen hatte. Aber irgendwas sagte mir, dass es so besser war. Ich gähnte einmal herzhaft.

„Ich bin furchtbar müde und werde jetzt ins Bett gehen. Tut mir wirklich sehr leid, dass du dir wegen mir Sorgen gemacht hast.“

Mit einem entschuldigenden Blick ging ich auf mein Zimmer, bevor Elena noch einmal das Wort ergriff. Ich wollte sie nicht weiter anlügen müssen.

Bevor ich mich hinlegte, zog ich mich um, wusch mich und verband noch schnell den Schnitt an meiner Hand. Ich lag eine ganze Weile wach in meinem Bett und fiel erst spät Nachts in einen unruhigen Schlaf.

Langsam hellte sich mein Zimmer auf. Der Sonnenaufgang.

Ich hatte fast die ganze Nacht wach in meinem Bett gelegen. Nachdem ich wieder von diesem Traum geweckt wurde, konnte ich nicht mehr einschlafen. Man sollte glauben, ich hätte mich inzwischen daran gewöhnt, doch ich wachte jedes Mal wieder panisch auf. Er war anders als die übrigen Träume, die ich immer hatte. Er fühlte sich viel realer an. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.

Kurz überlegte ich, ob ich noch liegen bleiben oder schon aufstehen sollte. Ein Geräusch im Nebenraum nahm mir diese Entscheidung ab. Ich setzte mich auf und griff nach meiner Kleidung. Als ich den Raum betrat, war Elena gerade dabei ihr Frühstücksgeschirr wegzuräumen.

„Guten Morgen.“

Das war das Einzige, was sie sagte. Sie sah mich noch nicht einmal an. War sie immer noch sauer auf mich? Seufzend holte ich mir einen Teller und eine Scheibe Brot. Während ich mich hinsetzte, beobachtete ich die Braunhaarige ganz genau. Sie sah immer noch nicht in meine Richtung.

„Es tut mir leid.“

Hoffnungsvoll sah ich sie an.

Sie atmete einmal tief durch, bevor sie sich zu mir umdrehte und auf den Tisch zukam.

„Ist schon gut. Es ist nur… Ich hatte mir solche Sorgen gemacht! Was wäre gewesen, wenn dir irgendetwas passiert wäre? Du weißt doch, dass in letzter Zeit sehr viele Menschen in den Wäldern sterben. Die Anzahl der Wölfe steigt von Jahr zu Jahr und sie werden immer aggressiver. Nachts ist es am gefährlichsten. Diese Bestien sind riesig und sehr schnell…“

„…und wenn sie es einmal auf dich abgesehen haben, gibt es kein Entkommen. Ich weiß. Das hast du mir schon mindestens tausendmal erzählt.“

Innerlich musste ich lächeln. Es war schon schön zu wissen, dass sich jemand um mich sorgte. Aber es zu hören war noch viel schöner.

„Das mag sein. Aber ich habe auch allen Grund dazu. So oft habe ich hier schon Patienten gehabt, die nicht gleich nach dem Angriff tot waren. Neun von Zehn sterben in der Regel und die, die es nicht tun, sind für ihr restliches Leben gezeichnet. Diese Wölfe sind erbarmungslos. Ich möchte dich einfach nicht verlieren!“

„Ich verspreche dir, dass ich in Zukunft besser aufpassen werde und immer vor Sonnenuntergang zurück bin.“

Ich sah ihr tief in die Augen und unterstrich meine Worte damit. Hoffentlich reichte es, um sie zu beruhigen. Sie sah mich leicht zweifelnd an. Ihr war bewusst, dass ich die Nacht schon immer dem Tag vorzog. Ich ging nachts nur nicht nach draußen, weil ich ihr keine Sorgen bereiten wollte. Vor den Wölfen fürchtete ich mich seltsamer Weise nicht, obwohl es allen Grund dazu gab. Ich hatte auch schon oft genug mitbekommen, wenn Elena Leute behandelte, die einen solchen Angriff überlebt hatten. Sie versuchte mich zwar immer mit irgendeiner Tätigkeit von dem Anblick fernzuhalten, aber ich sah mehr, als sie glaubte.

Bisher hatten nur eine Handvoll Menschen eine Attacke überlebt und was diese erzählten, war für den gesunden Menschenverstand unmöglich.

Man erzählte sich, dass diese Tiere um einiges größer waren, als es für Wölfe üblich war. Vor einigen Jahren war der erste Riesenwolf, wie die Leute sie nannten, aufgetaucht. Wenige Tage nach der ersten Sichtung wurde erstmals ein Mensch angefallen. Bald darauf wurden weitere dieser Tiere gesehen. Gleichzeitig verschwanden nach und nach die normalen Wölfe aus den Wäldern. Niemand konnte sich das erklären und noch weniger wusste man, wieso sie grundlos Menschen anfielen. Nach sieben Todesfällen innerhalb von zwei Wochen gingen einige Männer aus den Dörfern der näheren Umgebung auf die Jagd. Unter den Jägern befand sich auch Elena's Mann. Ich wusste nichts Genaueres darüber, da Elena über dieses Thema nicht redete. Das Einzige, das ich wusste, war, dass von mehr als fünfzig Personen bloß vier zurückgekehrt waren. Zwei von ihnen starben wenige Tage darauf an schweren Verletzungen, während man die anderen Beiden bis heute kaum ansprechen konnte.

Elena schien das Thema jetzt endgültig beiseiteschieben zu wollen. Sie sah meinen immer noch vollen Teller an.

"Hast du keinen Hunger?"

"Nein, nicht wirklich. Ich esse vielleicht später noch."

Schulterzuckend nahm sie meinen Teller und stellte ihn beiseite. Dann sahen wir uns ein paar Sekunden lang an, bevor sie ein gespielt ernstes Gesicht aufsetzte.

"Was sitzt du noch hier rum? Wir haben zu tun!"

Ich bemerkte sofort ihren Stimmungsumschwung und war erleichtert. Diesen Ton kannte und liebte ich. Sie versuchte zwar ernst zu klingen, aber das misslang ihr immer wieder aufs Neue. Grinsend sprang ich auf.

"Jawohl, Ma'am!"

"Mach jetzt, dass du rauskommst!"

Sie konnte sich das Lachen kaum verkneifen und ebenfalls mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht lief sie nach draußen. Wenige Sekunden später kam auch ich durch die Tür ins Freie geschritten. Es war ein schöner Tag. Doch der blaue Himmel konnte mich nicht täuschen.

"Es, fängt in einigen Stunden an zu regnen."

Jetzt sah auch Elena zum Himmel hoch.

"Wenn ich nicht schon häufiger miterlebt hätte, wie präzise deine Wettervorhersagen sind, würde ich dich jetzt für verrückt erklären. Dann lass uns mal anfangen, bevor wir noch nass werden."

Sofort machten wir uns daran, auf dem Beet Unkraut zu rupfen und neue Kräuter anzupflanzen. Einige Zeit verging und man konnte am Horizont schon vereinzelte Wolken erkennen.

Plötzlich fingen wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen an. Ich griff mir an die Schläfe und sank auf die Knie. Alarmiert durch meine seltsame Bewegung, sprang Elena auf und kam zu mir gerannt.

"Alles in Ordnung? Leyla! Was ist mit dir?"

Ich blickte zu ihr auf und sah den Schrecken, der sich auf ihrem Gesicht breit machte. Ich konnte in der Spiegelung ihrer Augen nur noch etwas Rotes erkennen, bevor alles um mich herum dunkel wurde.
 

Allmählich kam ich wieder zu mir. Ich spürte, dass ich in etwas Nassem lag.

Mir stieg ein eigenartiger, süßlicher Geruch in die Nase. Es roch gut. Solch einen Duft hatte ich zuvor noch nie wahrgenommen. Kurz darauf begann es in meiner Kehle zu brennen. Es fühlte sich furchtbar an. So als würde mir jemand eine brennende Fackel in den Hals stoßen.

Erschrocken über den plötzlichen Schmerz schlug ich meine Augen jetzt gänzlich auf. Hastig setzte ich mich auf und fasste mir an die Kehle. In meinem Kopf drehte sich alles und ich brauchte einen Moment, um mich wieder etwas zu fangen.

Erst jetzt nahm ich meine Umgebung richtig wahr. Zuerst fiel mein Blick auf das verwüstete Beet. Jetzt fiel mir die Pfütze wieder ein, in der ich immer noch saß. Der Blick meiner grünen Augen wanderte nach unten. Ich konnte gerade noch einen Schreckensschrei unterdrücken.

Ich saß in einer roten Flüssigkeit! Blutrot!

Panisch sprang ich auf und sah an mir herunter. Es schien noch alles dran zu sein. Auch spürte ich, bis auf das Brennen in meiner Kehle, keinerlei Schmerzen. Erleichterung durchfuhr mich, doch dann fiel mir etwas ein.

Elena!

Wieder stieg die Angst in mir hoch. Unruhig und mit einer bösen Vorahnung suchte ich die Umgebung ab.

Da!

Irgendetwas lag gute zwanzig Meter von mir entfernt halb im Gestrüpp. In meinem schmerzenden Hals bildete sich ein Kloß. Ich schluckte schwer und setzte langsam einen Schritt vor den anderen.

"Elena?"

Stille.

Nach und nach kam mir die reglose Person bekannt vor. Als ich nur noch wenige Schritte entfernt war, überkam mich eine Welle der Übelkeit. Ich drehte mich zur Seite und musste würgen. Mein Magen war leer. Das Einzige, was hoch kam, war meine Galle. Mein Hals fing noch mehr an zu brennen. Mir schossen Tränen in die Augen.

Die Gestalt, die vor mir lag, hatte kaum noch Ähnlichkeiten mit der Frau, die wie eine Mutter für mich gewesen war. Mein Blick wanderte wieder zu der entstellten Person. Wie betäubt starrte ich durch sie hindurch. Ich wusste nicht, wie lange ich dort bereits stand, als ich ein Geräusch neben mir wahrnahm. Es riss mich aus meiner Starre und ich blickte zum nahegelegenen Waldrand. Dort stand ein Mann. Fassungslos starrte er den regungslosen, blutbeschmierten Körper vor mir an. Langsam wanderte sein Blick zu mir, bevor ihn schließlich die Panik ergriff und er rücklings in den Wald stolperte. In dem Augenblick realisierte ich erst, was das bedeutete. Er würde jetzt in die Stadt laufen und den Leuten hiervon berichten. Sie würden kommen und mich holen. Mein Blick fiel noch ein letztes Mal auf Elena, bevor ich ohne darüber nachzudenken loslief.

Ich rannte und rannte. Genau wie in meinem Traum. Und auch dieses Mal liefen mir die Tränen über das Gesicht. In meinem Kopf spielten sich immer und immer wieder die gleichen Bilder ab. Abwechselnd sah ich die Männer aus meinem Traum und Elena, wie sie da lagen, blutüberströmt und entstellt. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass das niemals nur ein Traum gewesen war. Es war wirklich passiert. Ich hatte diese Männer auf dem Gewissen, genauso wie Elena. Panische Schluchzer stiegen in meiner Kehle auf.

Was zum Teufel war ich?

Die Menschen hier hatten recht. Ich war ein Monster, ein Dämon!

Ein Teil von mir wollte stehen bleiben, wollte sich den Leuten ausliefern. Doch irgendwas hielt mich davon ab. Irgendetwas sorgte dafür, dass ich weiterlief und sogar noch schneller wurde, bis die Bäume um mich herum wieder verschwammen und meine Beine erneut nur noch über den Waldboden schwebten.

Die Sonne war schon längst untergegangen, als ich stehen blieb. Es mussten Stunden vergangen sein. Meine Tränen waren mittlerweile versiegt. Ich setzte mich in das feuchte Laub, zog meine Beine an den Körper und schlang die Arme um sie. Es fing an zu regnen, doch ich nahm es nicht einmal wahr. Die Taubheit ergriff mich wieder und ich war dankbar dafür, dass ich den Schmerz nicht mehr spüren musste.

Ich wusste nicht, wie lange ich so da saß. Irgendwann legte ich mich wie apathisch auf das feuchte Laub und rollte mich zusammen. Kurz darauf fiel ich in einen unruhigen von Albträumen geplagten Schlaf.

Ich schlug meine Augen auf. Die Sonne blendete, tat mir auf der Netzhaut weh. Stöhnend schloss ich sie wieder. Ich fühlte mich ausgelaugt. Mein Hals brannte noch schlimmer als am Vortag. Versuchsweise hob ich wieder meine Augenlider. Mir entfuhr mit einem lauten Zischen die Luft aus den Lungen und ich schirmte mein Gesicht mit den Händen ab.

Warum schmerzte das denn so? Ich konnte mich nicht daran erinnern jemals so Lichtempfindlich gewesen zu sein.

Meine Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, rappelte ich mich auf. Es dauerte einen Moment bis ich mich erinnerte, warum ich auf dem nassen Waldboden lag. Die Taubheit von der letzten Nacht war vollends verschwunden und mich traf der Schmerz mit seiner vollen Härte. Ich sank wieder in mich zusammen und ließ den Tränen freien Lauf. So saß ich eine Weile da und weinte still vor mich hin.

"Wo steckt die Göre nur?"

Ruckartig hob ich meinen Kopf und war wieder voll und ganz da. Aus der Ferne drangen laute Rufe zu mir durch. Offensichtlich war ich gestern doch nicht so weit gerannt wie ich angenommen hatte.

Ich sprang auf und sah mich suchend um. Einige Meter rechts von mir sah ich ein großes Loch unter den mächtigen Wurzeln eines alten Baumes. Es war fast vollständig zugewuchert und ich hatte es nur meinen hervorragenden Augen zu verdanken, dass ich es überhaupt entdeckt hatte. Schnell lief ich hin und sah hinein. Es war gerade groß genug für mich. Ich sammelte noch etwas Laub und ein paar Zweige, kroch in den Hohlraum rein und bedeckte die Öffnung mit dem gesammelten Geäst. Durch eine Lücke zwischen dem Gestrüpp konnte ich noch einen kleinen Teil des Waldes sehen.

Zwei Männer tauchten in meinem Sichtfeld auf. Suchend sahen sie sich um. Ich verlagerte ein wenig mein Gewicht und einer der Zweige unter mir brach mit einem lauten Knacken entzwei. Einer von den Männern drehte sich ruckartig in meine Richtung und kam meinem Versteck gefährlich nahe. Vorsichtig drückte ich mich tiefer in die dunkle Öffnung.

"Was ist?"

Fragend sah der Andere seinen Begleiter an.

"Ich dachte, ich hätte etwas gehört." Schulterzuckend drehte er sich wieder um. "War wohl nur ein Tier."

Sie verschwanden wieder im dichten Wald. Ich blieb noch einen Moment in meinem Versteck, bevor ich vorsichtig wieder hervor kroch.

Das war knapp!

Ich musste schleunigst von hier verschwinden. Schnellen Schrittes lief ich in den Wald.
 

Ich hörte ein dumpfes Geräusch. Und tatsächlich! Als ich aus dem Unterholz trat fiel mein Blick auf ein kleines pelziges Tier. Seine großen, abstehenden Ohren zuckten. Mit den kleinen schwarzen Augen suchte es panisch die Umgebung ab, während es sich versuchte aus der Falle zu befreien. Ich lief hin, hob den provisorisch gebastelten Käfig hoch und packte meine Beute schnell am Nacken. Mit einer Handbewegung tötete ich es.

Auch jetzt noch, nachdem ich bereits ganze drei Monate für mich alleine sorgen musste, tat es mir noch immer etwas in der Seele weh. Ich erinnerte mich noch gut an Zeiten, wo ich die kleinen niedlichen Waldbewohner einfach nur beobachtet hatte und jetzt musste ich auf sie Jagd machen. Aber mir war auch bewusst, dass ich anders nicht überleben konnte. Seit dem Vorfall mit Elena konnte ich kaum noch eine Mahlzeit bei mir behalten. Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber es jagte mir eine Heidenangst ein. Das Essen lag mir von Tag zu Tag immer schwerer im Magen und das schreckliche Brennen in meinem Hals war seither auch nicht verschwunden. Es wurde eher immer schlimmer! Irgendetwas an mir veränderte sich.

Ich band mir meine Beute an den Gürtel und ging wieder zurück zu der kleinen Hütte, die ich, nachdem die Menschen aus der Stadt aufgehört hatten mich zu jagen, im Wald entdeckt hatte. Sie war schon ziemlich heruntergekommen und lag einen guten Tagesmarsch von meiner früheren Heimat entfernt. Ich hatte mich zu Elenas Haus zurückgeschlichen und einige Sachen geholt. Außerdem hatte ich den Leichnam meiner Pflegemutter noch beerdigt. Die Anderen hatten Elena einfach liegen lassen. Wahrscheinlich fürchteten sie sich davor, das Opfer eines Dämonen zu berühren.

Erneut durchfuhr mich eine Welle des Schmerzes. Schnell schüttelte ich den Gedanken an meine Pflegemutter ab. Ich wollte nicht schon wieder in meinen Depressionen versinken. Zügig ging ich auf die Treppe zu, die zu der hölzernen Tür führte. Dort setzte ich mich hin und machte mich daran, meine Beute zu meinem Abendessen zu verarbeiten. Ich setzte das Messer an und machte den ersten Schnitt. Sobald etwas von dem roten Blut an der Klinge entlanglief, hielt ich kurz inne.

Wie gebannt folgte ich der Flüssigkeit, wie sie an meinem Handgelenk herunterlief und schließlich auf den steinigen Boden tropfte. Das Brennen in meiner Kehle wurde stärker. Ich konnte meine Augen nicht davon abwenden.

Plötzlich hörte ich ein seltsames Geräusch aus dem Wald. Ich riss mich widerstrebend von dem Anblick los und bemerkte beiläufig, dass das Brennen etwas nachließ. Schon wieder hörte ich es. Es klang wie das Wimmern eines verletzten Tieres. Ich legte meine Beute auf der Holztreppe ab und stand auf.

Das Geräusch kam aus der Nähe. Ich lief einige Meter in den Wald hinein und kämpfte mich gerade durch ein Gebüsch, als ich einen riesigen graubraunen Fellberg entdeckte. Ich trat nun ganz aus dem Gebüsch heraus und inspizierte dieses ‚Etwas‘ genauer.

Es war ein Wolf! Ein Riesenwolf, um genauer zu sein!

Ich hielt den Atem an und blieb wie erstarrt stehen. Das Tier rührte sich nicht. Ich schlich ganz vorsichtig komplett um den Wolf herum und sah, dass mehrere Pfeile aus seiner Brust herausragten. Er war tot. Es konnte noch gar nicht solange her sein, dass die Jäger ihn erwischt hatten.

Wieder das Wimmern.

Verwirrt blickte ich mich genauer um und entdeckte einen kleineren Fellhaufen, der sich hinter der großen Pranke des toten Wolfes zusammenkauerte. Ich ging näher heran und erkannte einen silbergrauen Welpen, der mich aus großen verängstigten Augen ansah. Aufrecht stehend müsste er mir ungefähr bis knapp unter das Knie gehen, aber man sah anhand seiner Proportionen, dass er vielleicht gerade mal zehn bis zwölf Wochen alt war. Ich hatte schon mal einen verletzten Hundewelpen im Wald aufgesammelt und wieder aufgepeppelt, daher konnte ich das ungefähr einschätzen. Leider hatten wir für uns schon nicht genügend Nahrung gehabt und deswegen hatte Elena für den Hund, als er wieder gesund war, einen neuen Besitzer finden müssen. Der kleine Wolf spreizte eines seiner Hinterläufe unnatürlich von sich weg. Er hatte sich wohl das Bein gebrochen.

Ich kniete mich hin und streckte vorsichtig meine Hand aus. Verängstigt zuckte der Welpe zurück und starrte mich dann mit weitaufgerissenen Augen an.

„Hey, ich tue dir nichts. Ich sehe zwar so aus, wie die, die deine Mutter umgebracht haben, aber ich habe nichts mit ihnen gemein“, sprach ich sanft auf ihn ein.

Mir war zwar klar, dass er mich nicht verstand, aber vielleicht beruhigte ihn ja der Klang meiner Stimme. Der Kleine stellte seine Ohren auf und horchte angespannt. Dann streckte er ganz langsam seine Schnauze zu mir hin und schnupperte vorsichtig an meinen Fingern.

Ich konnte kaum glauben, dass aus einem solch unschuldig wirkenden Tierbaby mal eine menschenfressende Bestie werden sollte. Noch einmal besah ich mir die tote Wölfin, wie sie da im Schlamm lag.

Ich hatte schon davon gehört, dass einige Jugendliche es zu einer Mutprobe machten, diese Tiere zu jagen. Diese Idioten waren auch, wenn ich es mir recht überlegte, für einen beachtlichen Anteil der Opfer verantwortlich. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die Wölfin verzweifelt versucht haben musste, ihr Junges zu beschützen. Mitleid stieg in mir auf. Mir kam gerade das erste Mal der Gedanke, dass eventuell die Menschen die Übergriffe heraufbeschworen haben könnten. Die Wölfe hatten vielleicht die bewaffneten Jäger, die fast täglich auf der Suche nach Wild durch den Wald streiften, als Bedrohung aufgefasst und hatten deswegen angegriffen. Eins führte zum Anderen und es wurde zu einem ewigen Hin und Her.

Langsam hob ich meine Hand und kraulte den Welpen, der sich inzwischen beruhigt hatte, leicht am Ohr. Kurz zuckte er zusammen, aber entspannte sich dann gleich wieder, als er bemerkte, wie angenehm das Kraueln war. Ich rutschte etwas näher heran, packte das Fellknäuel und hob ihn hoch.

Oh Mann, war der schwer. Der Kleine fing wieder leicht an zu zittern und zappelte etwas. Dann folgte ein kurzes Aufjaulen, als er sein verletztes Bein unachtsam bewegte, doch jetzt hielt er wenigstens still. Ich brachte ihn zur Hütte und setzte ihn dort ab. Kurz lief ich rein und holte Kräuter und Verbandszeug.

Als ich das Bein gerichtet und eine Schiene angelegt hatte, machte ich eine Brühe aus schmerzlindernden Kräutern, die ich mit etwas kleingestückeltem Fleisch vermengte, und gab sie ihm. Erst war er etwas misstrauisch, doch nachdem er den ersten Fleischbrocken entdeckt hatte, verschlang er das Ganze gierig. In der Zwischenzeit hatte ich mir aus dem restlichen Fleisch, ein paar Pilzen und einigen Beeren ein halbwegs leckeres Abendessen zubereitet.

Kaum fingen die Kräuter an zu wirken, versuchte der Welpe sich aufzurappeln, was ihn durch die Schiene nicht allzu leicht fiel.

„Was machst du denn? Bleib doch liegen!“ Ich konnte mir bei dem Anblick ein leichtes Kichern nicht verkneifen.

Es sah einfach zu drollig aus, wie er versuchte sich mit der dicken Schiene am Bein zu bewegen.

„Warte noch drei, vier Wochen und du kannst wieder rumtollen. Aber bis dahin bleibst du gefälligst liegen!“, ermahnte ich ihn und drückte ihn wieder sanft in eine liegende Position.

Das konnte ja noch was werden. Wie sollte man einem kleinen Welpen klarmachen, dass er sich schonen musste? Er konnte ja nicht verstehen, dass seine Schmerzen zwar fast weg waren, aber er immer noch verletzt war.

Seufzend stand ich auf und ging in die Hütte. Dort kramte ich einige Decken zusammen und brachte sie zu meinem Schlafplatz. Nicht weit davon bereitete ich ein recht gemütliches Lager für den Wolf vor und ging dann wieder nach draußen.

Der Kleine schaute mir entgegen, als ich herauskam, und fing an, mit dem Schwanz zu wedeln. Ich musste über den Anblick lachen. Mann, wie lange war es nun her, dass ich das letzte Mal so gelacht hatte? Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken. Nachdem ich den Welpen reingetragen und in sein Lager gelegt hatte, machte ich mich ebenfalls fürs Schlafen fertig.

Plötzlich wurde mir speiübel und ich rannte nach draußen. Über ein kleineres Gebüsch gebeugt erbrach ich das Abendessen wieder. Mir stiegen Tränen in die Augen, als die Magensäure das Brennen in meiner Kehle noch verstärkte. Nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte, drehte ich mich wieder in die Richtung der Hütte und lief schnell nach drinnen. Ich schenkte mir ein Becher Wasser ein und stürzte ihn mit einem Zug runter. Das Brennen wurde etwas besser und ich setzte mich an den Tisch.

Was war bloß mit mir los?

Ein lautes Jaulen und Winseln ließ mich aufschrecken. Ich ging wieder zu meinem Schlafplatz und setzte mich neben den Welpen. Ich streichelte ihn noch eine Weile gedankenverloren und legte mich dann hin. Doch einschlafen konnte ich noch lange nicht.



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